Wilhelm Raabe
Altershausen
Wilhelm Raabe

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I.

Sein Name war Feyerabend. Fritz nannte ihn seine Schwester Karoline, Onkel Friedrich eine etwas entfernte Nichten- und Neffenschaft, Wirklicher Geheimer Rat die Welt. Wodurch er die letztere Bezeichnung für die »Welt« und durch seine Zeitgenossenschaft verdient haben mag, möge sich dem möglichen Leser im Verlauf des Umwendens dieser Blätter ergeben. Schon seine Erstlingsdruckschrift »Über Gewöhnung an Medikamente« soll von gelehrter Frühreife gezeugt haben; hier aber handelt es sich nur darum, wie er selber sich gegen die toxischen und infektiösen Agenzien des Erdendaseins, auch nach zurückgelegtem siebenzigsten Lebensjahr, mit mehr oder weniger Erfolg »immun« gemacht hatte.

Fürs erste brauchte er volle acht Tage und Nächte, um sich von seinem hohen Freuden- und Ehrentage zu erholen. Nachher nahm er, da er alles, was ihm an Körper- und Geisteskräften beschert worden war, wieder beisammen hatte, was man so nennt, den gewohnten Lebenslauf wieder auf und fand, was jeder sich zur Ruhe setzende Erdenarbeitsmann findet, daß – die Zeit nicht mehr so recht mit ihm fort wollte, ihn durch den Tag voraufhumpeln ließ.

Was wird aus dem Menschen, der endlich Zeit hat und dem nun nichts rasch genug kommen und geschehen kann? Was im vorliegenden Fall glücklicherweise nicht in die Erscheinung trat: ein verdrießlicher Patron und ein Verdruß und Ärgernis zuletzt auch der hingebendsten Umgebung – mißliebig auch den Göttern, die ihn aber recht häufig noch ziemlich lange den Seinen erhalten, wenn auch nicht zu deren Vergnügen! Da sie, die Götter, bei allem einen Zweck haben sollen, so werden sie auch wohl dabei einen haben und verantworten können.

Ja, Gott sei Dank, wem aus besserem Lehm der Titan das Herz geknetet hatte, war Geheimrat Feyerabend, der Postillengreis dieser Blätter! – Der sah zuerst nur etwas häufiger nach dem Barometer und fand, daß sich sein Verhältnis zu ihm merklich geändert habe. Er mochte stehen, worauf er wollte (der Geheimrat hatte da freilich doch auch immer noch das »schöne Wetter« im Auge), es hatte wenig Einfluß mehr auf des Jubelgreises Stehen, Gehen, Sitzen oder Liegen. Stand das Ding auf »Veränderlich« – »Regen oder Wind«, so war ihm das, wenn nicht immer recht, so doch viel gleichgültiger als sonst. »Sturm« hätte ihn wohl noch wie früher interessiert, aber das ist doch eigentlich nur selten, und gute Menschen setzen da auch ihr Interesse – Dabeisein – hintenan und wünschen es sich nicht, anderer wegen.

Was ging den Alten bei seiner Morgenpfeife jetzt noch das Wetter an? Selbst wenn ihn dann und wann so ein bißchen Rheumatismus drauf aufmerksam machte, daß auch er einige Rücksicht auf es zu nehmen habe seinet-, nicht der Witterung wegen. Er war doch wahrlich in seinem Leben genug gelaufen und gefahren durch gutes und schlechtes Wetter, um sich nun zu all dem ihm eben erwiesenen Guten auch das Seinige tun zu dürfen: endlich mal auch seinem eigenen Leibe (die Seele eingeschlossen) die Ehre zu geben und in jegliches Wetter mit vollendeter Gleichgültigkeit seine Rauchwolken hineinzublasen. Um sich dabei nicht zu »versitzen«, ging er denn zum erstenmal seit langer, langer Zeit wieder »spazieren«. Wie lang war's auch her, seit das Kind in das schöne Wetter hineinjauchzte und nach den Eltern zurücksah und seine Frau an seinem Arm auf den Wegen durch Gassen, Ackerfeld, Wiese und Wald zu ihm aufsah: »O das schöne Wetter heute!«...? Nachdem sie ihn allein gelassen hatten, war die Zeit seiner Wanderungen, Reisen, Weltfahrten gekommen: spazieren war er nicht mehr gegangen. Wie hätte er dazu Zeit finden können? – – – – – – – – – – –

Die Stadt, welche die Ehre und das Vergnügen hatte, diesen Geheimrat zu ihren bekanntesten und geschätztesten Mitbürgern zu zählen, gehörte zu denen, welche wie so manche andere im neuen wirklichen Deutschen Reich seit 1866 und 1870 aus ihrer grünen Umkleidung herausgewachsen war wie ein Junge aus seinen Hosen. Sie war »Großstadt« geworden und bildete sich natürlich was drauf ein und klopfte sich dann und wann darob mit Hochgefühl auf Brust und Magen. Auf letzteren etwas seltener in den Tagen, wo die Gemeindesteuern fällig geworden waren und der Steuerbote jeden Augenblick an die Tür klopfen konnte.

Sie hatte ganz in Gärten und Wiesen gelegen, was die grüne Umkleidung anbetraf. Damit war's nun vorbei; aber einen Kranz von angenehmen grünen, schattigen, blumigen Spazierwegen hatte sie sich doch zwischen dem alten Kern und Weichbild und den neuen Vorstädten erhalten. Ja, wer Zeit dazu hatte, konnte hier immer noch im Baumschatten, durch hübsches, kunstgärtnerisch gepflanztes und gepflegtes Buschwerk, um hübsche Blumenbeete und um Schwanenteiche, die vom mittelalterlichen Stadtgraben und Vaubanscher Befestigungskunde übergespart worden waren, lustwandeln. Es war natürlich hier, wo Geheimrat Feyerabend das Spazierengehen wieder lernen wollte und die ersten Versuche machte, sich endlich einmal wieder in – seiner Umgebung umzusehen. Es gibt immer Leute, die durch Begabung und Beruf zu dem Glauben gebracht werden, sich – der Welt schuldig zu sein. Daß schönste Irrtümer auf diesem Felde am häufigsten sind, dafür können sie nichts. –

Wie gesagt, Geheimrat Feyerabend blieb mit seinen Gehversuchen auf dem »Wall«. Jenseits des bunten, freundlichen Naturgürtels, welcher die Vorstädte von der Altstadt trennt, sollen bereits achtzig- bis neunzigtausend Menschen wohnen, und wer Kunstgeschichte der Neuzeit studieren wollte, brauchte bloß dort durch die breiten, mit »Vorgärten« verzierten Straßen zu wandeln. Da konnte er erfahren, was wir seit des Vitruvius Buch »De Architectura« aus Büchern gelernt haben in der Baukunst und wie wir alles, was wir gelernt haben, zu verwerten wissen! Geheimrat Feyerabend hatte augenblicklich nicht das geringste Interesse dafür; die Gassen waren ihm dort zu breit, zu sonnig und zu staubig, und noch weiter hinaus begann die Öde, die einen wachsenden Mauer- und Menschenhaufen umgibt. Angenehme Bänke, zum Ausruhen für ältere Herrschaften und zur Siesta für Bummler, Arbeitlose, streikende oder ausgesperrte Arbeiter hingestellt, gab es auch nur auf dem »Wall«, aber auf diesen ließ er sich selten nieder, gar nicht auf denen, an welchen ein Täfelchen der »Promenadenverwaltung« kundgab:

Nicht für Kindermädchen!

Seltsamerweise lockten die für solche bestimmten ihn allein an, müde Beine vorzugeben bei diesen seinen Versuchen, sich wieder im Leben außerhalb seiner Wissenschaft wenigstens in etwas zurechtzufinden. Über müde Beine hatte er sich noch nicht zu beklagen: – es waren eben die jungen Dirnen und die Kinder, die ihn anzogen. Seine große Bekanntschaft, die ihn da sitzen sah, schüttelte nur lächelnd den Kopf: »Na, na!«, machte aber sonst nur Anmerkungen wie: »Das sieht ihm wieder ähnlich!«, hielt sich also mäßig bei ihren Betrachtungen, und einige wußten dann und wann genauer als andere, weshalb. –

So schönes Wetter und der Himmel immer noch blau und die Kastanienbäume grün und die Augustsonne, die einmal der jungen Mutter seines Kindes das Herz schwerer gemacht hatte, als es alle Wintermonate, Nachtdunkel, Landregen und Sturm vermocht hätten, auch immer noch dieselbe! Ihn freute der bunte Reif, der ihm zwischen die Beine lief, der Ball, der ihm beinahe den Hut vom Kopfe schlug, und ein stadtbekannter und – weltberühmter Arzt und Wundarzt war er auch und hatte selten seine Künste so gern und willig in Anwendung gebracht wie jetzt hier, einem geritzten Fingerchen, einem blutenden Näschen oder anderem dergleichen Unglück gegenüber. Großmütter, Mütter und Tanten aus den besten Ständen begrüßten ihn häufig auf den Bänken der Kindermädchen, aber seines Bleibens war doch nicht da. Er hatte meistens bald aufzustehen und seines Weges weiterzuwandern, und zwar mit dem Gefühl – zu stören. Zu oft mußte er Seitenblicke auffangen, die deutlich besagten: »Ist der Alte schon wieder da? Was will denn der dumme Alte immer hier auf unseren Bänken?« Und sie hatten recht, die jungen Wärterinnen der Kinder anderer Mütter, und – um so mehr recht, je hübscher sie waren. Geheimrat Feyerabend hatte eigentlich hier nichts zu suchen und nahm nur den Platz anderen weg, die besser und willkommner da sitzen konnten. Hinter dem Gitter des nahen Kasernenhofes waren sie ganz der nämlichen Meinung

Und dann das ewige Grüßenmüssen hier! Dr. Heinrich Fausts Vater, Geheimer Obersanitätsrat und Professor an der Kurfürstlich Sächsischen Landesuniversität Wittenberg, Dr. med. Faust senior, hatte seinerzeit, im sechzehnten Jahrhundert, auf den belebteren Teilen der Promenade das Barett nicht öfter zu ziehen als sein ähnlich betitelter und berühmter Kollege bei seinen Versuchen, das Lustwandeln wieder zu erlernen, den Hut im neunzehnten. Wie Faust junior schlug er sich darob seiner unverdienten Ehren halber in die Büsche und suchte unbetretenere Pfade. Daß ihm da nicht der Teufel in Gestalt eines Pudels begegnen würde, wußte er; aber daß sich ihm hier, grade hier und aus der Blüte der Kultur heraus, die kalte Teufelsfaust entgegenballen würde, hatte er sich auch nicht vermutet. Es war aber so.

Wo er am wenigsten Menschen begegnete, fing er an, nach Bekannten, alten – ältesten Bekannten zu suchen, um sie wieder einmal zu begrüßen, und – er traf auf keinen mehr.

»Ja sehen Sie, Herr Geheimrat (auch die Parkwächter kannten den berühmten Mann), was Sie da suchen, finden Sie, abgesehen von der späten Jahreszeit, jetzt immer hier nicht mehr vor. Ungeziefer gibt es nicht mehr bei uns. Die Zeit, wo man damit seine Last hatte, ist vorbei.«

»Wieso denn?«

»Ja, da sind die jetzigen städtischen Verhältnisse dran schuld, Herr Geheimrat. Und zu jeder Jahreszeit, nicht bloß weil es jetzt in den Herbst geht und ihre Flug- und Brütezeit hin ist. Das ist jetzt so bei uns hier mit die Vögels wie mit die Buttervögels, das Raupenzeug, die Käfers und was sonst so, vorzüglich im Frühjahr und um die Blüte, hier in meine Herrschaft in die Büsche und Blumerei nach des Herrgotts Willen sich zusammentun, aus dem Ei und Kokon kommen, krauchen, fressen und 'rumflurren und sonst sein Wesen und Unwesen haben sollte. Sie können so manches nicht mehr vertragen, was der heutige Mensche doch immer mehr zu seinem täglichen und nächtlichen Wohlsein nötig hat.«

»Sie meinen?«

»Ganz gewiß! Was wir nicht riechen, das riechen sie und gehen davon ein oder anderwärts hin. Selbst in den höchsten Lüften ist das so geworden über der Stadt. Bin auch ein alter Mann, Herr Geheimrat, und brauche nur aus älterer Zeit an unsere hiesigen Dohlen zu denken. Die des Abends um die Kirchtürme und nachher auf die Dächer aufgereiht waren wie nach der Schnur! Wo sind sie geblieben? Mit Respekt zu sagen, Herr Geheimrat, wir riechen ihnen nicht mehr gut genug, und des Nachts nehmen wir ihnen den Schlaf und die nächtliche Ruhe mit dem Gas und dem elektrischen Licht und allen anderen Erfindungen in dieser Bransche bis an den hellen Morgen. Daß es bei uns in der Nacht nicht mehr Nacht und Schlafenszeit wird, das hat sie von den Hausdächern und Türmen vertrieben, wie der Geruch die Käfers und Raupen und Buttervögels hier aus dem Buschwerk und sonstiger unserer Kunstgärtnerei. Da draußen jenseits der Vorstädte möchten sie sich ja wohl noch halten; aber da kommen denn wieder die Fabriken mit ihren Schornsteinen und Gequalme und verekeln ihnen ihre Daseinslust, und es wird wohl auch nichts mehr für sie sein. Ich komme wenig dort hinaus und kann's also nicht sagen.«

Er hatte auf mancher Schulbank gesessen, bis er es zu seiner jetzigen Stellung in seiner wissenschaftlichen Welt und zu seinem Titel Geheimrat bracht hatte: selten war er so mit der Überzeugung, daß der Professor auf dem Katheder recht habe, nach Hause gegangen.

Er ging nach Hause, Professor Dr. med. Geheimrat Feyerabend, und kam unterwegs in seinen Gedanken auf die der Merkwürdigkeit wegen übriggelassenen fünfzig Stück Präriebüffel, auf das neue afrikanische Kolonial-Jagdgesetz, betreffend »Löwen-Schonzeit«, und auf das ihm gleichfalls als »etwas Neues aus Afrika« bekanntgewordene Handbuch über rationelle Straußenzucht. Damit zuletzt zu der Überzeugung, daß, wenn das so weitergehe, der Mensch sich zu Ende des zwanzigsten Jahrhunderts unzweifelhaft recht praktisch und verständig mit dem fünften Schöpfungstage und unseres Herrgotts großem Tiergarten auseinandergesetzt haben, aber eine Kinder-Naturgeschichte mit den dazu gehörigen Abbildungen aus dem Anfang des neunzehnten Säkulums ein bibliographischer Schatz sein werde.

Daß das biblische Wort:

»Füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über Fische im Meer und Vögel unter dem Himmel und über alles Tier, das auf Erden kreucht« –

ihm die Lust, das Spazierengehn wieder zu erlernen, merklich erhöht habe, konnte er nicht sagen und seine Umgebung zu Hause auch nicht.

Im Gegenteil. Es kam ihm zu Hause vor, als ob die Erdoberfläche von »Uns«, d. h. seinesgleichen, reichlich, überreichlich gefüllt und es durchaus nicht notwendig sei, daß er mit seiner Person, trotz aller vom Staat und von Privaten anerkannten Verdienste, das Gedränge drauf noch länger vermehre.


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