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Tönnies, der Hausknecht im Stadtkeller, war so gut gewesen wie sein Glaube an die Trinkgeldbefähigung des »schnurrigen fremden Herrn von gestern abend«. Er war wach und ließ auf das erste Glockenzeichen den Gast, der sich »Altershausen bei Dunkelm besehen wollte«, ein. Er leuchtete ihm auch zu seinem Zimmer hinauf, sah sich einen Augenblick drin um und brummte: »Es wird ja wohl alles in Ordnung sein?«, wünschte eine gutschlafende Nacht, und Geheimrat Feyerabend entließ ihn, ohne ihn zu benachrichtigen, daß er – Fritze Feyerabend aus Altershausen – wahrscheinlich noch allerlei Besuch bekommen werde.
Der kam; aber Tönnies brauchte seinetwegen nicht an der Haustür zu warten und seinerseits wach zu bleiben.
Ein gut Stück Weltgeschichte machte dem Doktor Feyerabend seine Aufwartung in dieser Nacht. Bei der Umschau nach dem Stiefelknecht, vor dem Einschlafen, im Traum und in das hindämmernde langsame Erwachen zu der geschichtlichen Gegenwart von Altershausen hinein: seines Volkes Schicksal, wie er es mitatmend miterleben durfte und mußte seit zwei Menschenaltern, ja seit der Stunde, in welcher er aus einem besseren Jenseits in ein zweifelvolles Hier mit steigender Verwunderung sich versetzt fand!
In aller möglichen Weise kam es an ihn heran in diesem Ratskeller seiner Kindheitsstadt; und einer der ersten, die wiederkamen, war der merkwürdige Besuch im Jahre 1873, der dem damaligen Professor Feyerabend seine Karte hereinschickte mit dem Mädchennamen seiner Großmutter drauf und lächelnd fragte:
»Sie erinnern sich meiner wohl nicht mehr, Herr Neffe?«
In dem Ratskeller zu Altershausen erinnerte sich Wirklicher Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Feyerabend – Fritzchen Feyerabend seiner, aber aus dem Jahre achtzehnhundertsiebenunddreißig! Der Berggipfel hatte dem Alten über die Dächer zugewinkt, der Berg, auf dem der lange Student, der junge Onkel den Neffen sich auf die Schulter hob, ihm nach allen vier Weltgegenden hin zeigte, wie groß und weit die Weit sei, und dabei die Göttinger Sieben hochleben ließ.
»Bei Ihrem Vater – na, wir nennen uns doch wohl du – und deiner lieben, guten Mutter kroch ich damals, in perpetuum relegiert von der Georgia Augusta, unter«, hatte der wohlbehäbige, stattliche Deutsch-Amerikaner im Jahre dreiundsiebenzig gesagt. »Nun, die sieben gelehrten Thebaner, die mich damals in die Ungelegenheit brachten, sind ja auch ganz behaglich untergeschlupft und haben es nach vollendetem Martyrertum dem alten hannoverschen Engländer zum Trotz zu allerlei Ehren im durchlauchtigen Deutschen Bund gebracht und teilweise allerhand Dummheiten ausgehen lassen – noch neulich Anno sechsundsechzig. Reden wir nicht weiter davon, sondern lieber von deinen lieben Eltern und dir, Fritze. Jaja, auch dich haben die letzten Jahre bei uns aus einem Dutchman zu einem German gemacht und bringen mich heute zu diesem Altersbesuch im alten Lande.«
Und im Ratskeller zu Altershausen in Traumland saß Fritzchen Feyerabend wieder auf der Schulter des langen, um die Sieben relegierten Göttingers und ließ sich von ihm weisen, wie weit und offen die Welt rundum sei.
»Herunter mit dem Englishman! es leben Deutschlands Sieben –
Klinge Lied und klinge Pokal!
Es leben die Sieben, die treffliche Zahl!
Sieben der Wissenschaft tüchtigste Kenner,
Sieben Demanten im Wappen der Männer!«
klang es aus längst vergangenem Sonnenschein und Wäldergrün von jenem jetzt im Nachtnebel versunkenen Berggipfel hinein in das beste Gastzimmer des Ratskellers von Altershausen, und –
»Da, Junge, guck! Das bombardieren sie heute«, sagte eine andere Stimme, und ein Finger deutete auf ein aufgeschlagenes Bilderbuch. »Aussicht vom Libanon. Ptolemais in der Ferne«, stand unter dem Stahlstich, auf welchem der Vater den Finger auf ein Pünktchen am Mittelmeer setzte. Meyers Universum hieß das Buch, und der Ort, der »bombardiert« wurde und früher Ptolemais hieß, war Saint Jean d'Acre. Von der Quadrupelallianz, die damals im Jahre 1840 mit ihren Schiffen gegen Mehemed Ali und Frankreich vor dem Ort lag, verstand der Junge nichts, und weshalb man damals auch in Altershausen sang: »Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein«, entzog sich seinem Interesse; aber was »Bombardieren« und »Bombardement« bedeutete, wußte er gar wohl. Auf dem Puppentheater hatte er das Bombardement von Antwerpen aufführen sehen mit Blitz und Gekrach, und der alte Chassé und der brave Mijnheer van Speyk, der sein Schiff, sich und so viele Hundert nichtsnutzige Belgier auf der Schelde in die Luft sprengte, gehörten – auch aus dem Bilderbuch – zu seinen guten Bekannten: wie fuhr das Kindernäschen dem deutenden Finger nach:
»Wo? wo? wo? Oh, da möchte ich dabeisein! Vater, fliegt das auch in die Luft?«
Geheimrat Feyerabend bewahrte daheim unter den Cimelien seiner Bibliothek das Buch aus Hildburghausen mit dem Stahlstich: »Aussicht vom Libanon. Ptolemais in der Ferne«; nun lag es auch vor ihm im Ratskeller zu Altershausen. Er sah den deutenden Finger auf dem Stahlstich, er fühlte die väterliche Hand auf dem kahlen Schädel, er hörte das so lange verklungene, behaglich-kluge Lachen und dazu jene liebe Stimme, die fragte:
»Aber Mann, was geht den Jungen der Türkenkrieg da unten an. Und das Küchenfenster, das er gestern der Nachbarin Bock einbombardiert hat, ziehe ich ihm von seinem Taschengelde ab.«
Er verriet es nicht, daß nicht er, sondern sein Freund Ludchen das Fenster eingeworfen hatte; aber seine erste wirkliche politische Erinnerung blieb das Blatt aus Herrn Joseph Meyers Universum. Wer von den Mitlebenden wußte heute noch von dem Bombardement von Saint Jean d'Acre? Er! und zwar immer in Verbindung mit dem Küchenfenster der Mutter Bock.
Es soll auch anderen – und unter den anderen den bedeutendsten Politikern, Staatsmännern und Staatslenkern – mit ihren »politischen Erinnerungen« im hohen Alter ähnlich ergehen! Was sind politische Erinnerungen im Wirbelsturm der Erdengeschichte dem armen mitumgetriebenen Menschenkinde, wenn sich ihm nichts Persönliches dranknüpft? –
Er schlief recht unruhig diese Nacht in seiner Kindheitsstadt und träumte lebhaft; aber nicht etwa aus seiner Wissenschaft heraus und irgendwie von einer höchsten »Lebenshöhe« herunter. Als es achtundvierzig in der deutschen Geschichte schlug, war der Vater schon tot und konnte nicht mehr seinem Sohn die Hand auf das Haupt legen, auf die Gegenwart den Finger setzen und aus Vergangenem auf Kommendes hinweisen; aber nur im Ratskeller von Altershausen hätte der Wirkliche Geheime Medizinalrat Feyerabend so von dem Schwarzrotgold, den Fahnen, Glocken, dem Kanonen- und Kleingewehrfeuer, dem flüchtigen Niedersteigen des Reichs der Himmel auf die Erde träumen können! Nur hier, hier und des Nachts im Traum ließ sich das alles wieder sehen, hören und empfinden mit den Gefühlen des Jungen, der die schwarzrotgoldene Kokarde an die Sekundanermütze steckte und zum erstenmal von seinen Lehrern mit »Sie« angeredet wurde, wie das deutsche Volk von seinen Fürsten oder sonstigen Regimentsinhabern.
Welch eine wunderliche Uhr, die Stadtuhr von Altershausen!
Eben hatte sie achtundvierzig geschlagen, nun schlug sie dem Geheimrat in seinem Bett im Ratskeller vierundfünfzig. Russen, Türken, Engländer und Franzosen rauften sich an der Donau und in der Krim um die Schlüssel zum Heiligen Grabe, und studiosus medicinae Feyerabend sah im Anatomiesaale zu Heidelberg zum erstenmal seinen Professor das Skalpell einem, wie er sich ausdrückte, »vorzüglichen Objekt«, das heißt einem schönen, reinlichen menschlichen Leichnam, in den Brustkasten stoßen, wobei er das Messer in sich mitfühlte und sich doch an den Platz des sich schaudernd abwendenden Kommilitonen schob, um genauer zu sehen und zu hören und später selber da womöglich besser Bescheid zu wissen als der gegenwärtige Meister! Und neunundfünfzig schlug die Glocke vom Altershausener Kirchenturm. Nach Zeitberechnung wacher Menschen beanspruchte nun der Traum vielleicht kaum den zehnten Teil der Zeitdauer einer Sekunde: dem Geheimrat im Ratskeller währte er länger. An einem wolkenlosen Junitag stieg der Studierende der Medizin zu Wien aus der kühlen, dunkeln Tiefe des Esterhazykellers in den heißen, blendenden Mittag im Haarhof hinauf, von dem bepelzten Mann am Schenktisch, dem Pfiff Süßen und dem Pfiff Herben in diese glühenden Gassen voll Sonnenlicht, voll in Hast aufgerissener Fenster bis zu den höchsten Stockwerken, voll aufgeregter, angstvoller, zorniger Menschengesichter:
»Magenta!«
Aber ist das nicht schon achtzehnhundertvierundsechzig, was die Glocke von Altershausen schlägt? Ja, die Zeit geht rasch hin und nicht bloß im Traum. Jetzt schneit es dem Alten hinein, und der junge Privatdozent Dr. med. Feyerabend in Kiel hört durch das Gestöber Kanonendonner, diesmal aus Norden her: in seinem Traum weiß er wieder nicht, was er zu dem gegenwärtigen Minister des Auswärtigen in Berlin sagen und wie er sich gegen ihn als politisches, jetzt selber den Finger auf die Weltkarte setzendes Tier verhalten soll. Sechsundsechzig muß es auf dem Altershausener Kirchturm schlagen und Geheimrat Feyerabend wach im Bett im Ratskeller sich aufrechtsetzen, um es sich von neuem zurechtzulegen, mit wem der Herr von Bismarck damals Krieg führte, ob mit den Dänen oder dem Durchlauchtigsten Deutschen Bunde und Seiner Apostolischen Majestät von Ungarn und Österreich. Er tat es, aber höchst verdrießlich und mit der Frage an sich selber:
»Zum Henker, was ist denn dies? Habe ich meine alten Knochen deshalb zum Besuch von Ludchen Bock hierher getragen, um im Altershausener Ratskeller im Traum deutsche Geschichte zu treiben?« Und mit einem mürrischen »Dummes Zeug!« ließ er sein Haupt wieder auf das Kopfkissen zurückfallen und verschlief die Zahl siebenzig vom Altershausener Kirchturm völlig. – – –
Die Sonne des gegenwärtigen Tages schien hell durch die Fenstervorhänge, als er wieder im Bett sich aufrichtete und hinsaß, aber nicht mit den Kathedergedanken eines Professors der Philosophie der Geschichte, sondern mit dem Stoppelkinn in der Hand und dem Gedanken an seinen Barbier daheim und – den »Raseur« seines Vaters dort in dem Hause am Markt vor sechzig Jahren!
Was bedeutete ihm in diesem Augenblick all sein weltbedeutendes Nachtgeträume gegen den Barbier – den Raseur seines Vaters, Herrn George?...
»Herr George!« murmelte er. Die »Bärte wallend von zwei Spannen Länge«, die Giacomo Leopardi seinem Freunde, dem Marchese Gino Capponi, im Jahre 1836 als höchste, edelste und ersehnteste Frucht des laufenden Säkulums versprochen hatte, hatte er erlebt, hatte sie auf den Gesichtern der Mannheit seiner Zeitgenossen sprießen, wachsen und zum Walde werden sehen und – ließ sich am Ende des Jahrhunderts »rasieren« wie sein seliger Vater, dort im Hause am Markt, im Jahr 1840.
»Der Barbier?« fragte der Kellner. »Werde sofort nach George schicken«, sagte er, und dem Geheimrat am Frühstückstisch blieb der Bissen des Brodes, das er seit sechzig Jahren nicht gekostet und unverändert wiedergefunden hatte, fast im Halse stecken.
»Nach George?« stammelte er: hatte mit dem Brod seines Vaterhauses auch der Barbier seines Vaters hier auf ihn gewartet, während er, zwei Menschenalter hindurch, draußen beschäftigt gewesen war?
Er hatte den Kellner, nein, den »Marqueur« seines Vaters mit einer Handbewegung nach dem Revenant weggeschickt und schritt nun, den Traum der Nacht ebenfalls noch spukhaft im Gedächtnis, im sonnenhellen Zimmer auf und ab. Von dem Markt drang das frohe Morgenleben mit all seinen Tönen, all seinen Gerüchen in die offenen Fenster. Von der Wand über dem Sofa blickte das Bild des nun längst höchstseligen Landesvaters, der seines seligen Vaters Anstellungspatente zu unterschreiben hatte, auf ihn herab. Wie lange schon wurde diese Lithographie dieses jungen militärischen Herrn mit dem Federhut im Arm als eine patriotische Rarität gesucht und über ihren Wert bezahlt! Und wie gehörte diese verschollene Hoheit von vor sechzig Jahren mit allem, was von Weltgeschichte an ihr hing, in die jetzige Morgenstimmung des alten Altershausener Kindes, Geheimrats Dr. Friedrich Feyerabend!
So hatte sie von der Wand im Vaterhause wohlwollend herabgesehen, wenn die Meldung kam:
»Der Barbier, Vater. Herr George ist da.«
»Herein mit ihm! Natürlich wieder fünf Minuten zu spät. Aber, Herr George?«
»Der Barbier, Herr Doktor!« meldete der Kellner im Ratskeller zu Altershausen, und Wirklicher Geheimrat Professor Dr. Feyerabend brummte nicht lächelnd wie sein seliger Vater, sondern stotterte nur:
»Herein denn!«
Wie in einem der weltgeschichtlichen Erlebnisse aus den Träumen der vergangenen Nacht saß er nun an seinem hellen Frühstückstisch dem Gebilde, das sich jetzt wieder aus dem Nebel der Vergangenheit entwickeln sollte, gegenüber und sah ihm entgegen.
»Na, was gibt es Neues in Altershausen, Herr George?« hörte er seinen Vater fragen, und – »Einen Augenblick, Herr George, ich bin sofort zu Ihrer Verfügung«, sagte er selber, kopfschüttelnd, aber lächelnd und aller seiner Seelenkräfte behaglichst mächtig. Neun schlug's auf dem Kirchturm von Altershausen: was ging es Fritze Feyerabend auf Besuch bei Ludchen Bock nun noch an, wie sich die alte Schäkerin von Stadtuhr in die Weltgeschichte und die Träume der Nacht eingemischt haben mochte? Aus den sonnenhellsten Morgenstunden des Vaterhauses lächelte Wirklicher Geheimrat Feyerabend:
»Aber bitte so behutsam wie Ihr Herr Großvater, Herr George. Nicht schneiden!«
Es war wohl nicht zum Verwundern, daß der junge Mann mit dem Scherbeutel bei dieser Mahnung aufsah und den fremden Herrn im Ratskeller etwas betroffen an. Sie mußten erst eine Weile mit sich allein gelassen worden sein, der alte Medizinalrat und der junge Barbier, ehe sie sich so nahe kamen, wie es unbedingt notwendig war zu unblutiger Mensur.
Nun war der Kellner gegangen, Meister George der Jüngere schlug seinen Schaum, und Geheimrat Feyerabend, mit der Serviette unter dem Kinn und zurückgelegtem Hals und Kopfe, hörte seinen Vater fragen und fragte ihm nach.
»Na, was gibt's heute Neues in Altershausen, Herr George?«
Wenn er's aber drauf angelegt hätte, von dem zeitgenössischen Schermesser geschnitten zu werden, so hätte er das gewiß nicht bedachtsamer bewerkstelligen können als durch solche Unterhaltung.
»Der – Herr, Herr Doktor scherzen wohl nur. Was – was sollte – man hier, hier – am Orte viel erleben können?« stotterte das jüngere Gespenst, dem älteren die Seife um Kinn und Wangen legend.
»Ihr seliger Großvater wußte immer was, lieber Freund. Hat sich Altershausen seit seiner – meiner Zeit so hierin verändert?«
»Seiner – des – Herrn Doktors Zeit? Hat mein Großvater –«
»Eingeseift und barbiert hat mich der selige alte Herr zwar nicht; aber er war ein sehr guter Bekannter von mir – zum Donner auch!«
Den Schnitt in die Backe hatte der große, seiner Seelen- und Körperkunde wegen so berühmte Unbekannte im Ratskeller zu Altershausen nur sich selber zuzuschreiben. In eigensten Angelegenheiten von Körper und Seele wissen auch die bedeutendsten Ärzte nicht für sich Bescheid. Mit einem »Na, na, aber Herr Wirklicher Geheimrat!« würde schon der Stadtphysikus von Altershausen den Kopf geschüttelt haben.
»Bitte tausendmal um Verzeihung!« stotterte Herr George von heute. »Ein bißchen Heftpflaster – es passiert mir ja nie – aber der Herr Doktor sagten – der Herr Doktor haben meinen seligen Großvater gekannt – haben sich von meinem Großvater barbieren lassen?«
»Mein seliger Vater unter den Händen Ihres Großvaters legte Zunder auf; was aber Ihre Frage anbetrifft, Herr George, so frage ich: Können Sie auch wie Ihr Großvater schweigen, junger Freund?... Sie können es? Gut! Dann lassen Sie uns unsere Unterhaltung ruhig miteinander fortsetzen und tun Sie derweilen mit derselben Geschicklichkeit Ihr Werk an mir, wie Ihr Großvater an meinem Vater vor – sechzig Jahren.«
»Vor sechzig Jahren!« murmelte wie beruhigt der jetzige Barbier von Altershausen und führte das Messer ohne weitere Fährlichkeiten für den eben noch so gespenstischen Greis, dessen weltbekannte Nase er dann und wann zwischen seine Finger nehmen durfte.
»Ich bin hier auch in die Schule gegangen – damals, Herr George. Beim Rektor Schuster, wenn Sie von dem vielleicht noch gehört haben.«
»Von dem? Oh, an den hat ja auch mein seliger Vater noch hingereicht. Es gibt auch noch heute Geschichten von ihm. Ja, wenn – der Herr Doktor deswegen – nach Altershausen gekommen sind, so ist –«
»Und damals hatte ich hier einen intimen Freund, den ich gern besuchen möchte, wenn er noch am Leben wäre, Herr George. Ihr Großvater wußte meinem Vater immer Bescheid zu geben, wenn er nach Leben und Tod unter seinem Messer in Altershausen fragte. Lebt hier noch ein Herr Bock? Ludwig Bock war sein Name. Damals rief ich ihn Ludchen.«
»Und der Rektor Schuster wollte ihn zum Klügsten nicht bloß hier in der Stadt, sondern in der ganzen Welt machen! Ludchen Bock! Ja, das – die Geschichte davon, Herr Doktor, ist freilich von meinem Großvater her über meinen Vater an mich gekommen! Wer ihn heute sieht, glaubt nicht daran. Ja, er lebt noch! Ludchen Bock lebt noch, Herr Doktor! Aber den wollen der Herr Doktor besuchen?«
»Es war meine Absicht, doch – ich habe Sie gefragt, ob Sie schweigen können, Herr George«, sagte Geheimrat Feyerabend, der eben vor dem Spiegel die Krawatte umband, über die Schulter zu dem jetzigen Barbier von Altershausen. »Ich wünsche von Ihnen zu erfahren, was Sie von meinem Freunde wissen, und die Gewißheit zu haben, daß diese Sache – unter uns bleibt, das heißt bis morgen früh zwischen mir und Ihnen, Herr George!«
»Soll ich es schwören, Herr, Herr – Herr –?«
»Wirklicher Geheimrat Professor Doktor Feyerabend aus Altershausen – nein, das wird grade nicht nötig sein; aber Ihre Berufswege haben Sie wohl so ziemlich beendet?«
»Der Herr, Herr Geheim – rat waren der letzte, der mich befohlen haben«, stammelte Herr George, und Fritze Feyerabend klopfte ihn lächelnd auf die Schulter:
»Nun, Kind, dann haben Sie ja wohl eine Viertelstunde Zeit für einen alten Mann aus hiesigem Orte?«
Die vertrauliche Unterhaltung dauerte eine halbe Stunde. Nachher wußte Geheimrat Feyerabend für seinen Zweck ziemlich genau Bescheid in Altershausen. Es ist merkwürdig und eine Beruhigung, daß sich der Menschheit Kern so gar nicht verändert, daß zwei Menschenalter ebensowenig dabei bedeuten wie zwei Jahrtausende oder nach der Historiker Belieben mehr dessen, was sie Weltgeschichte nennen!