Wilhelm Raabe
Altershausen
Wilhelm Raabe

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II.

Er wurde einige Tage durch sich unerträglich, und da auch Regenwetter einfiel, gab er natürlich seiner Stimmung oder Verstimmung anderen gegenüber Laut. Er bellte nicht, aber er äußerte, wie seine alte Schwester sagte: gegen Gott und die Welt undankbare Anschauungen und wurde freundlich, aber bestimmt zurechtgewiesen. Karoline hieß sie, und es ist ein Charakterzug, daß sie sich nie, von Kindesbeinen an, auf so was wie »Lina!«, »Line!«, »Linchen!« einließ und draufhin kam, wenn man ihr rief.

Geheimrat Feyerabend erfreute sich der Beaufsichtigung, Bevormundung, Bemutterung durch sie in allen menschlichen und göttliche Dingen in einer Art und Weise, die alle vom Menschen gegen sich selber in Staat und Kirche aufgerichteten Schutzwehren für ihn persönlich überflüssig machten. Zehn bis zwölf Jahre war das Kind jünger als er; aber daß das je ihrer Autorität Abbruch getan hätte, hatte er nie bemerkt und seine dienende Hausgenossenschaft ebenfalls nicht. Sie hatten alle noch immer ihrem bessern Verständnis sich fügen oder, wie er sich ausdrückte: ihr klein beigeben müssen. Klüger als sie war sie stets und nie zu ihrem, des Bruders und des Hauses, Nachteil, wenn das häufig auch nur widerwillig und mit Gemurr anerkannt wurde. –

Nach dem, was auch sie ihres Herrn Bruders »großartigen Ehrentag« nannte, gefiel ihr der »alte Junge« bald gar nicht recht mehr. Mit ihrem Fritz reichte sie auch noch in die Zeit zurück, wo in den Schulanthologien der siebenzigste Geburtstag vom braven J. H. Voß noch zu finden war als ein Musterstück für die deutsche Jugend. Und da das gute Mädchen alle seine Schulbücher in seinem Bücherschränkchen aufbewahrte, so griff es selbstverständlich auch für den vorliegenden Fall hinein und holte das Sachdienliche heraus. Merkwürdigerweise aber benutzte Fräulein Karoline Feyerabend die Idylle als ein warnendes Exemplum und den redlichen Tamm – »seit vierzig Jahren in Stolp, dem gesegneten Freidorf, Organist, Schulmeister zugleich und ehrsamer Küster« –, um ihrem Bruder eine Rede zu halten, welche das liebe Mütterchen Tamm sicherlich in nicht ungerechtfertigtes Erstaunen versetzt haben würde.

»Höre mal, ganz Geheimer (seit seiner demgemäßen Betitelung gab auch sie ihm die Ehre davon), eines sage ich dir: daß du mir jetzt nicht zu früh ein alter Mann wirst! Klateriges, winseliges Hinhocken in Ehren und Würden, wenn man den alten Kaiser, den alten Bismarck, den alten Roon und Moltke an allen Wänden aufgehängt sieht, finde ich lächerlich, und aufs Fliegenabwehren beim Nachmittagsschlaf lasse ich mich fürs erste bei dir auch noch nicht ein. Kommt die Zeit und hat der liebe Gott mir bis dahin das Leben geschenkt, so weißt du, daß ich mich auch dazu mit meinem Strickzeuge zurechtsetzen kann und es gern tun werde. Was sind denn siebenzig Jahre, wenn man noch so gut zu Beinen ist wie du und, soweit ich es beurteilen kann, auch an geistigen Fähigkeiten noch nicht merklich nachgelassen hat? Das letzte Wort behältst du immer noch gern wie sonst; daran merke ich auch noch keinen Unterschied gegen früher und worüber nicht bloß deine gelehrte Zeitgenossenschaft, sondern auch ich hier im Hause wohl ein Wort mitreden könnten.«

Der Jubilar lächelte die wohlmeinende gute Seele freundlich zur Tür hinaus: er hatte sich schon von selber besten Rat gegeben:

»Bleib in den Stiefeln, Mensch! So lange als möglich. Zwackt dich das Podagra an dem einen Fuß, so umwickele die dumme Pfote; aber den Stiefel zieh fernerhin über das gesund gebliebene Glied und tritt fest auf. Es braucht kein Reiterstiefel zu sein, wie der des greisen, gichtischen, rheumatischen und asthmatischen Löwen auf seiner sorgenvollen Terrasse zu Ohnesorge. Man muß immer ein Waffe behalten, um einem Eselstritt, solang es noch angeht, zuvorkommen zu können. Grade nach den größesten Siegesschlachten im Menschenleben ist das am nötigsten und gilt nicht bloß für Potsdam, Sankt Helena und Friedrichsruhe.« –

Größeste Siegesschlachten hatte Geheimrat Feyerabend zwar nicht erfochten; aber eine Autorität in seinen Wissenschaften war er gewesen und hatte auf seinen Berufsfeldern seine von den Fachgenossen anerkannten Siege gewonnen: lassen wir uns herab von der Terrasse zu Sanssouci auf seine arbeit-, erfolg-, sorgen-, freuden- und verdrußbeladene Scholle im Dasein und – lassen wir ihn ja in den Stiefeln bleiben! Das heißt: sehen wir ihn auch in Schlafrock und Pantoffeln seines nächsten Weges durch seine übrige Zeit weiterziehen und sich mit dem im Seiger niederrieselnden Sande abfinden.

Er schnupfte nicht, aber er rauchte und – es kam ein sehr schöner Herbst. Er sah von seinem Fenster aus durch das Gewölk seiner Pfeife die Regenwolken sich verziehen und blies immer künstlerischere, aber auch immer nachdenklichere Ringe dem wieder in Blau erscheinenden Zeus zu. Dabei faßte er sich von Zeit zu Zeit an seinen fachgelehrten Puls, nachgrübelnd, ob auch das, was ihn jetzt überkam, schon mit in das trübe Lebenskapitel vom Kindischwerden und auf die abschüssige Bahn zum Marasmus senilis gehöre, dies

Heimweh nach der Jugend?

Wie kam dem ganz Geheimen von heute der Mühlanger von vor sechzig Jahren, der Mühlanger, wenn die Schafe drüber hingetrieben worden waren und man dalag, bald auf dem Rücken, mit dem blauen Zeus, der einen gar nichts anging, über sich, bald auf dem Bauche mit dem Riechorgan im Duft der kurz abgeweideten Grasnarbe? Dort unten, zur Seite am Bach, lag der Stall, unter dessen Tor dieser Wirkliche Geheimrat es zum erstenmal im Leben erfuhr, wie es bekommt, wenn eine Schafherde über einen wegtrampelt. Es war natürlich sein damaliger bester Freund, Ludchen Bock aus dem Nachbarhause, gewesen, der ihm zu dieser Erfahrung verhalf. Böse meinte der es nicht, der hatte nur seinen Spaß daran. Daß er erzieherisch einwirken wollte, ist gänzlich ausgeschlossen, aber Geheimrat Professor Dr. Feyerabend wußte in der Tat durch ihn, seinen Freund Ludchen, zuerst, daß man sich nie einer nach der Weide hindrängenden Herde, und wenn es auch nur eine Schafherde wäre, in den Weg stellen soll, wenn man nicht von den Füßen gehoben, in den Dreck gelegt und bipedisch wie quadrupedisch übertrampelt werden will. Als unbewußten Pädagogen hatte er ihm überhaupt noch manches zu verdanken. Nicht nur die Häuser und Gärten der Jungen grenzten nachbarlich aneinander, sondern sie waren auch Nachbaren auf der Schulbank beim Rektor und Pastor primarius Schuster.

Bei diesem hatte der Honoratiorensohn Fritze Feyerabend Privatstunden und lernte Latein, was er damals sich, seinem Vater und dem Rektor gern geschenkt hätte. Ludchen Bock lernte es nicht. Dessen Vater war ein begüterter Steinbruchbesitzer und dazu ein Ackermann, und beides sollte auch sein Nachfolger im Erbe werden, und zu beidem brauchte man kein Latein.

Jedenfalls hatte er, Ludchen, als Erzieher einen Vorzug vor dem Rektor: was er lehrte, das wußte er auch; aber ob der alte gute Rektor Schuster wirklich Latein verstand, bezweifelte Fritze Feyerabend zwar nicht, doch war es ihm nunmehr längst zur Gewißheit geworden, daß dem nicht so war.

Jawohl, was Ludchen Bock lehrte, das wußte er. Wie manche tiefgefühlte Lücke in seiner Bildung hatte er dem Schulbank- und Lebensgenossen ausgefüllt, wenn auch nicht aus dem Schulsack. Freilich, Fritzchens Eltern und vorzüglich seine Mutter durften besser nicht von allem wissen, was Ludchen schon verstand und gerne als Nachbar und Freund weitergab.

Wie kam der große Mann seiner Wissenschaft, die Leuchte der Hörsäle rund um den Erdball, durch den Rauch seiner Alterspfeife auf seine Kaninchenzucht mit Ludchen Bock?

Wie kam er überhaupt wieder auf seinen ersten und besten Freund im Leben, auf seinen Freund Ludchen Bock? auf Altershausen und Ludchen Bock? Wann tauchten das alte Nest und der alte Junge nach ungezählten Jahren der Vergessenheit zum erstenmal wieder in ganzer Frische in seiner Erinnerung auf?

Der neuliche Jubilar rieb sich erst lächelnd, nachher sogar lachend die Stirn: bei seinem Ehrenfestmahl im Königshof sah er Ludwig Bock so deutlich, wie im Königssaal zu Fores Macbeth seinen Freund Banquo, wenn auch nicht mit dem knieschlotternden Schauder des mörderischen Schottenkönigs. Gemordet hatte Fritzchen sein Ludchen nicht, wenn auch oft genug Blut zwischen ihnen geflossen war – glücklicherweise meistens nur aus den Nasen. Wer obenauf gekommen war, hatte mit der einen Faust im Haarbusch des Gegners die andere jedesmal zu grimmigster Hammerarbeit auf Maul und Riecher des Gegners verwendet, und der nächste Brunnen oder Bach hatte genügt, mit dem Blut die Wut, das Gift, den Neid und – die Gewissensbisse wegzuspülen. An der Festtafel im Königshof war der Freund dem Freunde nur in der Jacke erschienen, die gewöhnlich die Spuren der letzten Balgerei aufwies. Auf der Schulbank des Rektors Schuster war Ludchen Bock neben Fritzchen Feyerabend nicht aus dem Boden aufgestiegen, sondern er hatte sich aus dem Lichterglanz, dem festlichen Gedünst, dem Stimmengewirr und Tafelmusiklärm entwickelt.

Folgendermaßen:

Selbstverständlich trug das siebenzigjährige Geburtstagskind alle seine Orden. Auch der jüngste, letzte legte sich ihm an einem feuerfarbenen Band um den Hals und leuchtete unter den rundum flimmernden und blitzenden wie der Mond unter den niederen Sternen oder gab doch jedenfalls keinem an Glanz was nach. Und Exzellenz, der Kultusminister, hielten die Rede, die Tischrede auf den berühmten Mitbürger und sein segenreiches Erdenwallen und -wirken – so eine Rede, während welcher der Beredete nicht weiß, ob er sich aus Schämigkeit und Bescheidenheit unter der Tafeldecke verkriechen oder mit dem belorbeerten, mehr oder weniger kahlen Schädel, seines Selbstbewußtseins schon von selber voll genug, die Saaldecke durchstoßen muß. Und während dieser Rede, in einer Kunstpause dieser Rede, als aller Augen auf den Gefeierten gerichtet waren, als die Festmusik oben im Jubelbratendunst jedwedes Blasinstrument zum Tusch schon gegen den Mund hob und die Paukenschlegel zum letzten höchsten Losdonnern fester in die Fäuste faßte, ist es gewesen, daß Ludchen Bock plötzlich wieder neben Fritz Feyerabend auf der Schulbank vorm alten Rektor saß, heimtückisch grinsend und zähnefletschend an seiner Schulter schnüffelte und, als ob er dem Rektor zeigen wolle, daß er aus seiner Jacke herausgewachsen und der Ärmel, vom letzten Kampf her, dazu ein Loch am Ellbogen habe, den Zeigefinger »petzend« zum Lehrstuhl aufreckte:

»Herr Rektor, Feyerabend ist unrein!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Diese Punkte bedeuten das Erschrecken und Erstarren, das Zusammen-, Auf- und Auseinanderfahren im Festsaal, wenn Exzellenz, auf den Brustkasten des gefeierten Greises deutend, statt: »Auch durch dieses hohe Zeichen Höchstihrer Gnade haben Majestät unserm hochverehrten usw.«, gesagt haben würde: »Meine Herrschaften, mein lieber alter Freund und Whistgenosse Feyerabend hat eine Laus!«

Solches nämlich bedeutete vor dem Katheder des Pastor primarius Rektor Schuster zu Altershausen bei erhobenen, wenn nicht Schwur-, so doch Zeigefinger vor sechzig Jahren der Ruf: »Herr Rektor, Müller – Schulze – Meier – Schmidt – Karl – Willi – Fritze«, oder wie deutsches Volk sonst benamset wird, »ist unrein!« Und die von der höchsten Aristokratie der Planetenstelle bestens erzogenen und reinlichst gehaltenen Honoratiorensöhne und -töchter konnten dergleichen Ruf und Anklage über sich ergehen lassen müssen und aus dem Umgang mit ihren Zeit- und Altersgenossen eine Insektensammlung nach Hause bringen, nach der sie wahrlich nicht so lange vergeblich in den »Büschen« um sich her zu suchen hatten, wie neulich der alte Doktor Feyerabend im Buschwerk seiner Spazierwege nach den Kerbtieren seiner Jugendzeit.

Zu Hause gab es denn selbstverständlich bei den Müttern viel Ekel und ein großes Geschrei, während die Väter unbegreiflicherweise nur lachten und nicht mit dem Rektor über die Schande reden wollten. –

Durch die Sonntagmorgenstille an seinem offenen Fenster, einigen neuen Ringen seines Tabakdampfes nachschauend, vernahm Wirklicher Geheimer Obermedizinalrat Professor Dr. Feyerabend eine Stimme, die man sich nur in Verbindung mit dem heftigsten Händeringen vorstellen konnte:

»Der Umgang mit diesem Jungen, diesem Schmutzfinken, diesem Ludchen Bock hört aber von heute an auf! Hörst du, Fritz? und das ist mein letztes Wort – man sollte sich ja des Nachts bis in seinen Traum hinein schämen!« – – – – – – – – – – – – – – –

»Na, na!« erklang ein behaglich begütigendes Gemurr, und: »Ich hatte sie ja gar nicht von ihm!« winselte – an seinem Fenster der wirklich ganz Geheime aus seinem Alterstraume heraus. »Seine Mutter kämmt ihn grade so gut als du mich, Mama, und er hat es auch bloß aus Rache angezeigt!«

»Nun höre nur dieses wieder, Mann!«

»Na, na, na!« – – – – – – – – – – – – – –

Auch der nachforschungseifrigste Cid Hamed ben Engeli würde es unaufgeklärt haben lassen müssen, von wem Fritzchen Feyerabend sie hatte; aber wissen konnte er, daß sie die Wirkung der Dankrede des wirklich Geheimen Medizinalrats Professor Dr. Feyerabend beinahe zwei Menschenalter später, an dem größesten, dem schönsten, dem erhebendsten Tage seines Lebens, beinah völlig gestört hatte. War es denn unbedingt notwendig gewesen, daß Freund Ludchen Bock mit seiner Laus grade dazu aus der Nacht der Zeiten aufstieg und ihm in diesem erhobenen, erhabenen und erhebenden Moment damit kam?

Es soll nachher in den höchsten Zirkeln der Gesellschaft von dieser Rede mehrfach die Rede gewesen sein. Hier mit einigem Kopfschütteln; dagegen in unbefangeneren, harmloseren Sphären, als da sind Klubs, Spiel- und Stammtische, wissenschaftliche Vereinigungen und dergleichen andere Gelegenheiten zu Zusammenkünften denkender und mitempfindender Menschen, mehr mit einem heiteren Achselzucken: »so was bei solcher Gelegenheit sei freilich noch nicht dagewesen!«

Großer wissenschaftlicher Ruhm ist viel wert, aber angenehm ist's für den Inhaber, wenn er dabei in dem Rufe steht, daß er auch in der Narrenteidung das Seinige leisten könne und nicht immer ernst genommen zu werden brauche.


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