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»O Gott, was werden die Leute dazu sagen?«
»Die lassen wir ganz beiseite Minchen. Deren, die aus unserer Zeit sind, werden wohl nur noch wenige dasein, und die besuche ich auch vielleicht noch, wenn es sich tun läßt; doch jetzt bin ich nur bei dir und Ludchen Bock zu Besuch.«
»So sitze doch ruhig bei deinen Schwämmen, Junge! Sortiere sie hübsch auseinander, daß ich nachher nicht die Mühe damit habe. Was hast du denn, Ludchen?«
»Das ist Fritze Feyerabend nicht, Mädchen! Das ist der Herre vom Bahnhofe und von Mordmanns Brunnen. Fritze ist nur so alt wie du und ich, Minchen; und der da ist viel älter. Guck nur mal!«
»Geh hin und hol mir noch ein paar Tannzapfen zum Feueranmachen, Ludchen«, sagte die greise Kinderwärterin in das scheue, leise Geflüster hinein, und widerwillig, doch gehorsam gehorchte das Kind, immer über die Schulter und um die Baumstämme herum den Fremden so lange als möglich im Auge behaltend.
»Er weiß eben nicht, wie viele Zeit hingegangen ist, Herr Geheimrat – Fritz. Er sieht sich und mich und alles, wie es damals bei seinem Fall und Wiederaufwachen gewesen ist. Er ist zehn Jahre alt oder so geblieben, und ich ihm auch. Vater und Mutter sind uns zweien gestorben, so vieles ist um uns weggestorben oder greis und krüppelig geworden oder auch neu in die Welt gekommen und aufgewachsen: er hat nichts davon gemerkt. Wenn du ihn diesen Tag nicht muffen sehen und zum Weinen bringen willst, mußt du es mit ihm machen und ihn nehmen wie ich und ihm nach dem Munde sprechen. Weißt du, so wild wie vor seinem Fall ist er heute nicht mehr. Ach, wenn er heute noch solche Streiche machen wollte wie damals, als ihn nichts zum Weinen bringen konnte, nicht Vater und Mutter und der Herr Rektor Schuster am wenigsten, hätten sie ihn mir doch wohl wegnehmen müssen. Ja, ihr beide! Du liebster Gott, das Wunder wird immer größer, je mehr ich mich drein finde – du, Fritz, warst auch bei so manchem, manchem; nimm es mir nicht übel, und nach euren Eltern und dem Herrn Rektor können die Nachbarn doch nicht mehr gehen mit ihren Klagebeschwerden – o Gott, und nun red ich hier auch so, als ob ich auch noch mit ihm in der alten, alten Zeit steckte! Aber es ist ja auch so: er hat mich mehr bei sich festgehalten, als daß ich ihn durch die Jahre, die langen, langen Jahre in alles Neue, was dem Menschen passieren kann, hereingenommen hätte. Aber nun höre ihn einer da oben in seinem Vergnügen im Dickicht! Und so ist er bei mir doch besser aufgehoben gewesen als in eurem Halah, wo sie die armen Blöden hintun zu ihrem Besten und ihn ohne mich hingetan hätten. Ja, und ich – da du es einmal so willst: Fritz Feyerabend –, ich habe auch ein recht gutes, stilles Leben durch ihn gehabt – jaja, wenn es Gottes Wille gewesen ist, so ist es auch der meinige geworden.«
Er hielt die Hand wieder, die sich vor sechzig Jahren so weich auf ein großes Unglück gelegt hatte. Sie wurde ihm jetzt auch schon vertraulicher, zutraulicher, vertrauensvoller gelassen, und die Kinderfreundin sagte lächelnd:
»O Fritz, wenn ich es auch immer noch nicht glaube, daß du es bist, der hier bei mir sitzt, so bist du von ferne aus mir wirklich immer bekannt geblieben. Du hast auch in unserem Blatt gestanden öfters mit deiner Wissenschaft und deinem Namen. Das Kreisblatt hat's immer gebracht, wenn du in Petersburg oder sonstwo als der berühmteste Doktor und Arzt in der Welt in Empfang genommen bist. Und denn aber neulich dein Jubiläum, wo auch wieder in allen Zeitungen gestanden hat, wo du her bist! Da brauchte ich mich doch gewiß nicht zu fragen: sollte das denn der sein, mit welchem du und dein Ludwig in der Kinderzeit so gut Freund warst? Meinem armen Jungen hättest du wohl auch nicht helfen können; aber gefreut hat es mich immer, nicht bloß deinetwegen, sondern auch um Altershausen, wenn du wieder einen neuen Ehrentitel oder hohen Orden, und von allen ausländischen fremden Potentaten, gekriegt hast und ich davon gelesen oder gehört habe. Aber da es sich dabei immer nur um deine Kunst und Wissenschaft und nichts weiter handelte, so ist es zwar eine Unverschämtheit von mir, es zu verlangen; aber zu gern hörte ich nun auch von dir, wenn du so gut sein wolltest, wie es dir sonst in deinem Leben ergangen ist und vielleicht wie deiner lieben Familie, seit wir, wie wir waren, hier geblieben sind und du mit deinen guten Eltern von hier verzogen bist.«...
Das war eigentlich ganz und gar gegen die Verabredung, die Geheimrat Feyerabend vor seiner Abreise nach Altershausen mit sich getroffen hatte. Er hatte andere ausforschen wollen; er, ein anderes jung gebliebenes, altes, greises Kind, wie der da oben beim Tannzapfensuchen, hätte gern Großmütterchen am Spinnrade aus lange vergangenen Zeiten Wahrheit und Dichtung hermurmeln hören, und nun war er es, der gebeten wurde, zuerst von sich Bericht zu geben und so wahr als möglich zu sein!
Das letztere war wohl leicht mit jener lieben Hand zwischen seinen Händen, und was das Erzählen von sich selber anbetrifft, nun, wenn da mal einer erst angefangen hat, so ist gewöhnlich auf dieser Erde das Aufhören recht schwer und sind die größten und berühmtesten Schweiger oft gradeso redselig wie die anderen aus der Nachbarschaft, der nächsten wie der fernsten. Er für sein Teil benutzte die Gelegenheit, die ihm wahrscheinlicherweise zum letztenmal geboten wurde, und holte auch aus sich selber wieder herauf, was hier interessieren konnte. Des Kindes oben am Berge und seiner nahenden Mittagsessenszeit wegen hatte er, Geheimrat usw. Feyerabend, sich kurz zu fassen, und – je tiefer er hinuntergriff, desto mehr tat ihm das leid. Kein Mensch weiß zu jeder Stunde, was er mit dem Erdengrundschlamm an versunkenen Kleinodien aus dem Brunnen heraufholen kann! –
Einen Augenblick hat er es wie eine Phantasmagorie vor Augen: sie stehen mit auf der Haustürtreppe, vor der die Postkutsche hält, hinter der für sechzig Lebensjahre ihm – Fritze Feyerabend – die Heimatberge versinken sollen. Sie, Ludchen Bock und Minchen Ahrens! Sie schluchzen weder, noch steckt Fritzchens bester Freund, wie sonst gewöhnlich bei einem Abschiednehmen, die Zunge heraus – sie stehen nur verblüfft und von Erwachsenen beiseitegeschoben. Die erwachsenen Herrschaften haben die Vorhand, von der Familie Feyerabend den letzten Abschied in Altershausen zu nehmen. Auch er reicht nur Erwachsenen die Hand aus dem Wagen – den Herren und Damen vom Gericht, dem Herrn Bürgermeister, dem Herrn und der Frau Superintendentin – dann ziehen die Pferde an, und mit Altershausen versinken Ludchen Bock und Minchen Ahrens für zwei Menschenalter.
Von diesen zwei Menschenaltern wollte Minchen Ahrens nun erzählt haben, und Fritze erzählte ihr und – sich selber mit! Er wunderte sich selbst mehrmals über das, was er da von sich erfuhr.
Zuerst hatte Minchen nur von Zeit zu Zeit »Ach Gott!« zu sagen mit einem verschluckten: »O, Herr Geheimrat!« Da handelte es sich aber auch nur kurz über den Aufstieg über Schulbänke, Katheder usw., usw. bis zu den Wonneburgen des Walchenlandes. Was hatte Fritze Feyerabend ihr zu unterschlagen über Examinationskommissionen, über Doktordiplome, Mitgliedschaften sämtlicher gelehrten Gesellschaften und Körperschaften der gelehrtesten Welt, die erhabensten Unterschriften, über Anstellungspatente und Ordensverleihungen als der und der und das und das! Wie unwichtig war das alles vor der Frage der jungfräulichen greisen Kinderfreundin am Maienborn:
»Und verheiratet hast du dich auch in deinem Leben? Und hast zu Hause zu allem andern Wohlsein und Ehren liebe Kinder und Kindeskinder! Aber... daß sie dich so – alleine haben reisen lassen?!«
»Ja, das haben sie, Minchen!« sagte der Gast aus der Welt Wonneburgen und mußte wohl das dazu passende Gesicht gemacht haben: die alte Zeitgenossin sah ihn an und fragte zögernd:
»Sie haben dich doch nicht in der Welt –«
Sie brach ab, und Fritz Feyerabend vollendete:
»Allein gelassen? Ja – doch! aber es ist lange, lange her. So lange Zeit, daß viel Gras darüber wachsen konnte, Minchen. Wie über so viele in Alt-Altershausen, Minchen. Ich habe mich darein finden müssen und gefunden.«
Sie sah ihn betrübt an, schüttelte den Kopf und sah am Berge hinauf nach den Tannen hin, wo sie ihr Kind noch am Leben wußte und es mit Kinderstimme, ob seines Unbehagens vor dem »fremden Mann« aus Rektor Schusters Schulstube her, singen hörte:
»Ich hatt' einen Kameraden –«
Und sie hatten beide recht.
»Du magst wohl viel anderes erlebt haben, Fritz, und es steht ja auch so in den Zeitungen davon, zu was für hohen Ehren du es gebracht hast; aber du wärest heute nicht hier in Altershausen, wenn das dein Bestes und Höchstes wäre, was du von der Welt gehabt hast! Ach Gott, nimm es nur nicht übel, wenn ich Dummheiten schwatze, denn was verstehe ich davon? Aber ich meine doch, du bist nicht bloß Ludchen Bocks wegen nach hier gekommen!«
»Weshalb denn, Mädchen?« fragte der Greis mit noch tiefer gesenkter Stirn.
»Weil du bei deinem Altersfest Heimweh gehabt hast nach dem – ich weiß ja nicht, aber ich meine, nach dem, was nicht mehr auch dabeisein konnte – dem Besten aus deinen besten Jahren!«...
Sie war im Rechte, und er holte es ihr aus der Tiefe herauf: er war nach Altershausen gekommen und saß hier am Maienborn mit der Vergangenheit auf der Seele, nicht bloß Ludchen Bocks wegen.
Er holte es herauf? Nein, es stieg nun herauf im Sonnenschein der Jugend, beim schönen Wetter des Erdenlebens, wo auch er noch dabeiwar, ganz und gar dabeiwar und vermißt worden wäre wie sein totes Kind von der Mutter, wenn – er seinem Mädchen, seinem Weibe, seinem Kinde hätte ausbleiben müssen im Sonnenschein beim Spiel des Tages.
Nun aber trat ein Merkwürdiges ein. Es blieb für Minchen Ahrens nur das Süße, Liebliche, Lachende über wie – ihm selber! Sie waren eben beide dem Reiche, wo es nicht mehr aufs Erdenwetter ankam, selber zu nahe. Was sollte ihnen da noch verschollenes Leid? Von verblaßtem Menschenglück erzählte Geheimrat Feyerabend der Kinderfreundin derart, daß sie zuletzt nur rief:
»O, da hast du es gottlob doch gut getroffen und gut gehabt, Fritz! Ich wollte wohl, ich wäre manchmal dabeigewesen, und deine liebe kleine Frau hätte mich auch schon gern haben sollen!« –
Nun vermischten sich den beiden die Zeiten mehr und mehr. Sie sah sich aus ihrem heutigen Alter heraus in seinem jungen Haushalt als greise Kindermuhme, Krankenwärterin, Spinnerin und Beraterin am Familienofen, bis es ihr einfiel und sie wie verwundert fragte.
»Ja, aber weißt du wohl, Fritz, als du dich verheiratet hast und nachher, da bin ich ja auch noch jung gewesen?!«
Er nahm den Blick der Alten bei dem Wort noch in manche stille Reiseerinnerungsstunde zu Hause hinein; aber rasch sank das liebe Runzelgesicht am Maienborn nieder, und das greise Haupt wurde leise hin und her gewiegt.
»Ja, ja, ja.«
Dann sagte Minchen Ahrens, seine Hand zum erstenmal von selber fassend:
»Nun möchtest du auch wohl von mir was Näheres hören, da du mir von dir, wie ich es gar nicht verlangen konnte, so gütig und schön, und auch vom Traurigen Bescheid gegeben hast, seit wir uns zuletzt gesehen haben?«
Sie horchte mit der Hand hinterm Ohr am Berge hinauf:
»Wie stille sich der Junge hält! Sonst hört man ihn laut genug; aber es wird immer noch die Scheu vor dir sein. Nu, für jede Essensstunde hat er seine richtiggehende Uhr im Leibe; wenn es zu Mittage geht, wird er schon kommen, ohne daß man ihn zu rufen braucht, und bis dahin reicht es wohl mit der Zeit für das bißchen von mir, was ich erlebt habe, seit wir uns zum letzten Male sahen. Aber Fritz, du bist schuld dran, wenn ich alter Kröppel mir jetzt so vorkomme, als komme ich eben aus der Mädchenschule und als wäre auch beim Rektor Schuster die Schule aus und Ludchen faßte mich wieder beim Zopf. Weißt du, seine Scheu vor dir habe ich nicht mehr, wenn ich mir nur nicht zu dumm bei all diesem großen Wunder von heute morgen vorkäme!«