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Das Haus des Nobile

Eines Tages tat Bernhard Menniken den ersten Spatenstich zu seinem neuen Hause auf der Höhe des Sattels, von dem diesseits der Wildbach herabfließt. Kurz darauf klopfte Johanna Menniken mit dem buntgebänderten Hammer auf den Grundstein. Eines Morgens, nach zweijähriger Arbeit, schaute der Sonne, die über Deutschland heraufstieg, der Bau blank und lachend entgegen.

»Morgensonne« wollten Mennikens das neue Haus nennen – es sind schöne Stunden, in denen eine Familie nach einem Namen für ihr eignes Haus suchen kann – schließlich aber hielten sie sich an den Ort und setzten die Abwandlung des gegebenen Namens fort. Den französischen Namen, über den der deutsche Mund gekommen war, ließen sie dem alten Haus und gaben dem neuen den Namen: Siebenquellen.

Helläugig aus blanken Fenstern sah der Bau ins deutsche Land hinab. Auf dieser Seite war er eine hohe Mauer, durch die sich die Seele des Hauses hinausfühlte. Unsymmetrisch waren Tür, Fenster, Erker und Lichtschlitze auf die Fläche verteilt. Das Gebäude war nicht eine Folge von Stockwerken nach der Höhe, sondern eine Anhäufung von Räumen, zwischen denen sinn- und zweckgemäße Verbindungen und Beziehungen das Haus schufen. Aus der Zusammensetzung kristallisierte sich das schöne Ganze des Wohngebäudes. Der Eingang lag hereingezogen in einer offenen Vorhalle; der freie Vorraum, das schräge, nach innen strebende Gewände, die freundlichen Bildhauereien des Sturzes sagten jedem Fremden ein aufrichtiges Wort des Willkomms. Daß das Haus aber nicht für jedermann offen stände, darüber ließ die eichene, mit Eisenbändern beschlagene Haustür keinen Zweifel. Doch wem die Tür sich öffnete, den empfing als festliche Begrüßung des Freundes und Gerngesehenen eine hohe weite Halle, in der ein Farbengedicht brannte, das Tageslicht und Sonne in dem nach Süden gerichteten wie ein Kirchenfenster großen Glasgemälde der Halle anzündeten, und ein Spruch darin: Ewig ist so lang.

Nach Westen, Welschland, dem ewigen West und dem gewöhnlichen Regen entgegen, fiel das Haus sanft ab wie ein Berg. Die Westseite war ein mit Schiefer bekleidetes, durch Luken unterbrochenes Dach, das fast über den Erdboden schleppte.

Über die absonderliche Form des Gebäudes – es sah von vorn aus wie ein Haus ohne Dach, von hinten wie ein Dach ohne Haus – gab es zuerst lautes Lachen im Lande. Aber bald sah der Spötter seinen Nachbar an, stumm fragend, ob man sich durch Lachen nicht bloßstelle.

Man sprach lange Zeit über das Ereignis. Im Grunde waren schließlich alle Freunde der aus Überlegung und höchster Sachlichkeit gewirkten Neuerung. Nur zu dem, worüber niemand von ihnen wegkommen konnte, zu der Verachtung alles Herkömmlichen, meinte zuletzt einer der besten Köpfe, das sei so, so ... »wie soll ich sagen? ich meine ... wie soll ich mich ausdrücken ... so heidnisch!« sagte der mittlerweile weiß und krumm gewordene Lenates. Ja, das wollten sie ausgedrückt haben! Das hatten sie jeder auf der Zunge gehabt! ... So heidnisch! Und dem Menniken sähe es ähnlich.

Bernhard Menniken war im Laufe der Jahre ein großer und breiter Mann geworden. Sein Haar war lang und schwarz, seine Augen dunkel und versonnen. Starke Brauen und die Piratenflagge um seinen Kopf wollten glauben machen, man habe es mit einem gefährlichen finsteren Menschen zu tun. Doch war der Mund sanft und gütig, und die Hände waren sympathisch.

Johanna Menniken war nun Fülle und Würde des Weibes geworden. Der furchtsame Liebreiz der Jungfrau war abgelöst durch den edeln Anstand der Frau, die erfuhr und weiß und sicher ist in ihrer Macht, schützende Sitten um sich her zu bilden. Ihr Kopfhaar war nach hinten aufgeknotet, während die krause Unruhe der Stirnlöckchen sich geglättet hatte, und die Haare wie die beiden Hälften eines Theatervorhangs über der Stirne hingen, der auseinandergezogen die schöne Szene des Antlitzes enthüllte.

Und der Sohn, der junge Lothar Menniken wuchs heran.

In der Einsamkeit seines Lebens und seiner Gedanken hatte der Vater die öffentliche Erziehung verachten gelernt und sich daran gegeben, seinem Sohne die Dinge der höheren Bildung selbst in vernünftigeren und lebensgerechteren Formen als den üblichen zu vermitteln.

Von dem Webstück ohne Ende, Leben, das auf ewig drehenden Walzen läuft, sollen so kleine Musterstreifen wie Botanik, Zoologie und Geologie eine Vorstellung geben? Die Erkenntnis eines Kreises von Dingen, den man aus dem Zusammenhang des Naturlebens heraushebt, muß erlöschen, Asche und Rauch werden wie das Licht des glühenden Dochtes, der aus dem Öle gezogen wurde. Die Spezialisierung der Wissenschaften konnte nur Methode und notwendiges Übel sein, und es ergab sich kein Widerspruch zwischen Religion auf der einen und Geschichte und Naturwissenschaften auf der andern Seite, wenn jeder kleinste Gegenstand und das geringste Geschehen unter dem Gesichtspunkte des Zusammenhanges mit dem großen Ganzen betrachtet wurde. So lehrte er den Sohn ohne Philosophie und alles, was über die Fassungskraft des Knaben hinausging, das außermenschliche Leben der Welt, das, was sie die »Natur« nennen, die ungeheure selbsttätige Arbeit des Bauens und Zerstörens, Zertrümmerns und Zerfallens, jenes Wirken, Weben, Knüpfen, Knoten, Vereinigen und Zusammenschaffen in der großen Fabrik des Lebens, die in ununterbrochenen Tag- und Nachtschichten nur für eigenen Bedarf arbeitet und niemals etwas andres hervorbringt als sich selbst.

Wenn die Augen des Knaben von den Lippen des Vaters die Worte nahmen und mit Staunen in die große wunderbare Welt sahen, fühlte der Vater die tiefgewaltige Freude, ein Kind, das er einmal aus seinem Körper gezeugt, zum zweitenmale aus seinem Geiste, »nach seinem Ebenbilde« zu erschaffen.

Nun fügte es ein Zufall oder in dessen Gestalt ein Gesetz der Natur, daß der bis zur äußersten Vereinsamung getriebene aristokratische Egoismus in seiner Spitze sich umwandte und den Menschen wieder zukehrte. Der Egoismus drehte sich aus sich selbst um, wie sich die Spitze eines überglühten Eisens umbiegt, und wandte sich der Humanität zu, indem er sich selbst befriedigte. Es gesellten sich bald verwahrloste Kinder dem Unterrichte hinzu, oder Waisen und Halbwaisen, deren Väter tot und deren Mütter tagsüber auf den Bauernhöfen verdingt waren; oder Kinder von Zöllnern, die Nachtdienst hatten; oder von Wallonen von der andern Seite der Grenze, wo es keinen Schulzwang gab, die bei den Vätern, Holzfällern oder Köhlern in den Ardennenwäldern und den ungeschlachten Müttern verwilderten.

Ganz zufällig auf Spaziergängen schlossen die Kinder sich an. Zuerst der stille Napoleon Peterpauls, der in den Stunden, da er in Wiese und Stall entbehrlich war, heimlich nach Seffent schlich. Die Zahl wuchs schnell. Der vorzüglichste aber blieb immer der Napoleon mit der Mädchenseele und den weichen Händen, von denen die Kühe sich so gern melken ließen.

Er hatte große Augen mit einer Schärfe im Mittelpunkte; aber wenn ihn einer genau ansah, schlug er die Blicke nieder. Er hatte Angst vor Männern und hielt sich am liebsten bei Frauen auf, weshalb er viel Gespött vom Vater und den Knechten des Hofes zu erdulden hatte. Nur zu Lothar Menniken hatte der melancholische Knabe ein Herz gefaßt. Sein Vater war der reiche und mächtige Peterpauls Hary, der dem Sohne alle Bildungsmittel hätte geben können, der aber nicht wollte, daß der Sohn klüger würde als der Vater. Den Alten reute es, ihn Napoleon getauft zu haben.

»Ich habe Geld,« sagte Lothar eines Tages zu Napoleon, »wir gehen ins Wirtshaus.«

Sie zogen lange Hosen und Stehkragen an, setzten statt des Käppis Filze der Väter auf und zogen auf Umwegen in die »Zeile«. Unterwegs fühlte Napoleon das Bedürfnis, den Freund für die Einladung schadlos zu halten, indem er, wie er es von den Alten gehört hatte, wenn sie jemand etwas Sympathisches sagen wollen, meinte: »Lothar, du siehst schlecht aus.« Napoleon sprach so artig, als ob er die Schwindsucht hätte.

Mutter Marjue Bärb aus dem »klingenden Schellenbaum« war noch immer munter und unternehmend. Freilich bleichte das Alter ihr Haar und machte ihre Haut gelb. Aber aus dem Gesicht sahen zwei blaue kluge Augen heraus. Von jedem heimlichen Kuß und jedem vertrauten Briefchen, die zwischen den Burschen und einer ihrer Töchter gewechselt wurden, wußte sie sofort Bescheid. Noch immer hatte sie die Hand lose im Gelenke hangen, und es kam wohl auch noch vor, daß die kleine Person in die Höhe langte, um einer ihrer langen und mittlerweile wohlgereiften Töchter eine hinaufzuhauen. Und das konnte Mutter Bärb von sich sagen: Nachdem ihr Gott sieben Töchter geschenkt, ihr den Mann zu früh genommen und die schwere Verantwortung für die Mädchen überlassen, hatte sie Zucht und Ordnung geübt so wie es geschrieben steht. Und keine von ihren Töchtern war vorzeitig schwanger geworden.

Vor der Tür der Wirtschaft gaben die Knaben sich Haltung und Miene und traten in den »klingenden Schellenbaum«.

Traten laut und würdig ein – und setzten sich still an den der Tür nächsten Tisch.

Die Wirtskammer war hell, freundlich und so sauber, daß man vom Fußboden hätte essen können. Weißer Sand lag verstreut.

In einer Ecke saß ein halbes Dutzend Männer, Burgs Paulus, der Schreiner, der bartlose Silo Marias Mann, der Steinbrecher de Losy, Fuhrleute und Milchbauern.

Die Knaben saßen trocken. Die Männer beobachteten sie.

Plötzlich überkam den Napoleon etwas von dem Mute seines Namensheiligen. Er rief: »Wirtschaft!«

Im nächsten Augenblick trat Mutter Bärb aus der gegenüberliegenden Tür. Sie blieb im Rahmen stehen, stemmte die Hände in die Seiten und schaute. Nach einer Weile ging sie fort.

Die Männer in der Ecke lachten still.

Die Knaben sahen sich an. Dunkelrot wie die Köpfe des Kappus.

»In der Küche ist etwas angebrannt«, sagte plötzlich Lothar so laut, daß die Männer es hören konnten. Die lachten.

Die Jungens studierten die Anzeigen an den Wänden, welche in deutscher, holländischer oder französischer Sprache Viehmärkte in Rheinland, Limburg und Luxemburg ankündigten. Nach geraumer Zeit kam die Bärb zurück und stellte sich hinter die Theke.

Napoleon sagte: »Zwei...« da verschluckte er sich. »... Glas Bier«, vollendete mit Kraft Lothar.

Mutter Bärb sah sie aus ihren graublauen Augen unentwegt an wie die Leute auf einem Bilde blicken.

Die Männer in der Ecke hatten ihre Karten verlassen. Die, deren Stühle den Rücken kehrten, drehten sich halb um und hängten einen Arm über die Lehne. »Wir möchten zwei Glas Bier haben«, sagte Lothar.

Mutter Bärb verstand Deutsch, auch mit holländischen Käsebauern und französischen Viehhändlern wurde sie fertig. Aber was redeten die da?

»Ich traktiere eine Runde, Bärb!« rief von drüben Burgs Paulus.

Mutter Bärb ging mit dem alten Korn hinüber und schenkte ein. Als sie fertig war, zeigte sie mit der Flasche nach den beiden Jungens hin und zuckte die Schultern.

Nun geschah nichts. Die Männer waren vergnügt. Marjue Bärb stand hinter der Theke. Die Knaben saßen auf den Stühlen.

Über die Straße ging ein Milchwagen in schneller Fahrt vorüber ...

Über die weiße Tischplatte vor den Jungens lief eine Fliege ...

Draußen, irgendwo in der Ferne, brüllte eine Kuh...

Als aus der Küche das Klirren eines zerbrochenen Tellers schallte, ging Mutter Bärb hinaus.

»Ob sie glaubt, wir haben kein Geld?« sagte Lothar leise zu Napoleon und legte zwei Groschen auf den Tisch.

»Der junge Herr traktiert«, sagte drüben halblaut Burgs Paulus zu den andern, indem er mit dem Mundstück seiner Pfeife hinüberwies. Gleich darauf mußte er niesen.

»Gott gesegn' dich die heilige Tauf'«, sagte de Losy.

»Merßi«, sagte Paulus.

Mutter Bärb, die gerade zurückkam, wünschte dem Paulus »hunderttausend Taler und den Himmel«, – »Merßi«, sagte Paulus, »und 's Halbscheid für dich« – ging an den Tisch der Knaben, rückte die Stühle zurecht, wischte mit ihrer Schürze über den Tisch, wie eine saubere Wirtsfrau tut, wenn Gäste weggegangen sind, sah die Knaben an und machte: »Hm.«

»Wir möchten gefälligst ... zwei Bier ...«

Mutter Bärb ging wieder hinaus in die Küche. Nach einer Weile kam sie zurück mit zwei gut mit Butter beschmierten Schnitten weißen Brotes, legte sie vor die Knaben, schob Lothar das auf dem Tisch liegende Geld zu und stellte sich hinter die Theke.

Die Männer lachten laut.

Die Knaben stürzten aus der Wirtskammer und nahmen in Verwirrung und namenloser Verlegenheit die Butterbrote mit.

*

Wer stand da eines Tages in der Tür des ehemaligen Ateliers im alten leeren Hause, das mit seinen weiten Gängen und Hallen bei schlechtem Wetter als Schulhaus diente? Sandra van den Daele.

»Gnädige Frau...«

»Natürlich, ich hätte es mir denken können. Nun kennt der große Bernhard das Weib nicht mehr, das ihn am meisten von der Welt geliebt hat.«

Und da er nicht antwortete –

»Das Weib, das außer ihm keinen andern Gedanken gehabt hat. Dieses armselige Weib, das soviel gelitten hat wie kein andres. Ich armes geschlagenes Tier, es ist doch wirklich wahr!«

Und da er noch immer schwieg –

»Das Weib, das sein Sklave geworden wäre. Das Weib kennt er nicht mehr. Das Weib nennt er nun ›Gnädige Frau‹.«

»Nun muß ich aber doch lachen. Das glaubt dir ja kein Mensch, Sandra, du selbst nicht. Laß das Theater und sei gescheit. Komm her, setz' dich zu mir und sage mir, was du willst.« Und indem er sie auf das Sofa zog: »Um Gottes willen, Sandra, du wirst ja grau!«

»Nein!« rief sie.

»Das hätte ich nicht sagen sollen, aber ich war so erschrocken.«

»Nein, nicht wahr, sag', daß es nicht wahr ist!«

»Das geht ja nun nicht mehr. Haben wir uns so lange nicht gesehen?«

»Ja, so lange ...«

Er saß schweigend, das Gesicht in den Händen. Sie benutzte die kostbare Zeit, zog ihre Börse aus Filigranarbeit heraus und zupfte sich unter Benutzung des darin angebrachten Spiegels den vertrackten Gräuling aus dem noch immer schönen Haare, dessen Farbe gleich der Abendröte im langsamen Verlöschen war.

»Ja, Sandra,« sagte er nachdenklich, »das Ende bringt sich in Erinnerung. Es hat seinen ersten Sendboten geschickt. Es wird Zeit, allmählich an den Abgang zu denken. Daß er würdig werde und sich sehen lassen kann. In der ersten Lebenshälfte sind wir schnell und immer langsamer Lebende, in der zweiten langsam und immer schneller Sterbende. Es ist gut, es im Auge behalten.«

Sie saß da, als ginge sie das nichts an. Die Spitzen ihrer Schuhe spielten umeinander. Bis es ihr einfiel, die Demütige zu spielen. Sie sagte, treuherzig zu ihm aufblickend: »Ich wüßte wohl, wie diesem sterbenden Weibe aufzuhelfen wäre.«

»So, weißt du das?«

»Wenn irgendeiner dazu helfen wollte, wüßte ich es.«

»Irgendein – schöner junger Mann?«

»Du!«

»Um Gottes willen!«

»Siehst du, schimpfen und schmähen kannst du Leute, die nicht das Glück haben, von Statur so gefestigt zu sein wie du, aber eine Hand für sie rühren willst du nicht. Ein rechter Pharisäer, der Steine auf die Sünderin wirft.«

»Bei Gott, Sandra, ich wollte es,« sagte er ernst, »wenn ich glaubte, daß es möglich wäre.«

»Ich will Lehrerin bei dir werden!«

»Lehrerin – ?«

»In diesem Hause. Du hast mir seinerzeit eine lange Rede über Arbeiten gehalten. Ich habe von deiner Schule rühmen hören. Man schreibt ja jetzt über dich überall in den Zeitungen. Du wirst bei den Menschen der neuen Zeit ordentlich berühmt. Man preist dich als einen großen Idealisten. Das Ideal einer neuen Schule sei bei dir Wirklichkeit geworden, schreiben sie. Deine Schule wird wachsen, paß auf. Und da dachte ich ... da meinte ich als deine alte Freundin dir helfen zu können. Ich dachte, wenn du mich in dem Programm einführtest und du die Knaben, ich die Mädchen ...«

»Hast du soviel Langeweile, Sandra?« frug er langsam unter Lachen.

»Ja, schrecklich viel!« entfuhr es ihr.

»So schrecklich viel, daß du, nur um ihr zu entgehen, das für dich Nächstschreckliche tun würdest, dumme Blagen unterrichten?«

»Ich sehe, du willst nicht«, sagte sie ernüchtert.

»Nein, Sandra, ich will nicht. Nicht weil ich dir böse will. Ich würde barfuß von hier nach Rom laufen, wenn dir damit geholfen wäre. Aber meine Vernunft verbietet es. Es ist nichts mehr zu machen.«

Sie ließ ein leises bitteres Lachen hören.

»Dazu fehlen dir unbedingt alle Eigenschaften. Dazu gehört zuerst Liebe, viel, viel Liebe. Ja, lächle nur, du meinst, wenn nach Liebe gemessen werden soll, du unter den ersten sein müßtest. Aber nicht von dieser Liebe rede ich, die, indem man einen andern liebt, die stärkste Form der Selbstliebe ist. Natürlich auch nicht von einer sogenannten selbstlosen Liebe, denn eine solche gibt es nicht. Hier aber ist etwas von jener Liebe und Begeisterung nötig, für die ein großer Mann das Wort geprägt hat: »Lasset die Kindlein zu mir kommen.« Hast du Lust, die Kinder an die Hand zu nehmen, mit ihnen etwa die Napoleonsbahn hinauszuwandern und sie Freude fühlen zu lehren an der schönen festen Oberdecke einer solchen breiten Straße? Willst du ihnen daran Dankbarkeit erwecken gegen die Vorgänger, das Gefühl der Verantwortlichkeit und der Zusammengehörigkeit mit den Mit- und Ummenschen, da nur durch große Verbände solche Werke gebaut werden können? Willst du ihnen auf diese Weise die Notwendigkeit großer Staaten erklären? Willst du sie an Bahnen, Brücken und Straßen über die Gesellschaftsmoral unterrichten, die aus der Erkenntnis der Zusammengehörigkeit von Menschen fließt? Hast du Lust, auf Wegen und Stegen mit ihnen zu streifen, ihnen die größte und kleinste Natur zu zeigen und sie zu warnen vor jeder sentimentalen Auffassung? Willst du sie die Liebe zur Heimat lehren, nicht als etwas Sentimentales, auch nicht, weil dergleichen heute in den Büchern steht, sondern einfach, weil es natürlich ist, weil man unendlich viel aus dem alten Boden nimmt, weil sogar die Linien einer Landschaft mitbestimmend sind für das Wesen eines Menschen?

Willst du sie im Wesertale die Sprache der Eisenbahnschienen verstehen lehren, die alle Kulturmenschen wie mit einem Reifen umschlingen, nicht mit dem goldenen der Schwärmerei, sondern mit dem eisernen der Notwendigkeit? Willst du sie hier an der Grenze eines großen Weltreiches Schätzung der Nationalität lehren, die frei ist von Aufgeblasenheit und jeder Stimmung des ›Über alles‹? Daß wir nicht mit dem Nachbar tauschen mögen, aber daß wir uns auch nicht einbilden dürfen, besser zu sein als der Nachbar? Daß wir nur anders sind? Sieh, solch dumme Gedanken hab' ich mir nun einmal in den Kopf gesetzt«, lachte er.

»Ich verstehe dich nicht recht«, sagte sie.

»Ist auch nicht nötig. Die Hauptsache ist, daß du das Nein herausgehört hast. Wie glücklich würde ich sein, wenn ich dich aufnehmen könnte. Deinethalben, aber auch meinethalben. Die Zahl der Kinder wird zu groß. Wie gerne würde ich dich hier haben! Zwar nicht, um für die Mädchen zu sorgen; die Mädchen sollen nicht von den Knaben getrennt werden, Aber ich könnte dich höchstens als Schülerin aufnehmen.«

»Ja«, entfuhr es ihr.

»So bescheiden?«

»Ja, wenn ...« Sie schwieg.

»Wenn du nur hier sein könntest, Sandra, willst du sagen.«

»Ja, ja«, rief sie.

»Doch das schmeichelt mir gar nicht. Du würdest mir nur Unheil anstifte. Außerdem will ich nicht eine solche Versuchung, wie du noch immer bist, in meiner Nähe haben.«

»Ja –?« rief sie und blickte wieder sieghaft. »Weißt du, was ich dachte, Bernhard?«

»Nun?«

»Du seist ein heiliger Mann geworden.«

»Ein heiliger Mann –?«

»Ja, und alle Heiligen waren Schmutzfinken, die sich nicht ordentlich wuschen und den Leib vernachlässigten. Ich freue mich, daß du keiner bist. Nun wollen wir wieder Freunde sein, ja?«

»Sandra, du gehst jetzt aus meinem Hause!«

»Bernhard!«

»Um es nie wieder zu betreten! Du verstehst zu spotten, aber im Spott hat man immer nur zur Hälfte recht. Die andre Hälfte ist Karikatur. Einer von jener Art Heiligen bin ich nicht, aber auch nicht von den Menschen deiner Ideale.«

»So laß mich zu deinen Füßen sitzen und lernen.«

»Damit du mir die Knaben verdirbst, wenn ich nicht dabei sein kann –?«

»O du harter Mann! Und du sagst, ich sei krank, und behandelst mich so!«

»Die einzige Behandlungsart für dich ist, dir hart und schonungslos die Wahrheit zu sagen.«

»Das hast du doch schon einmal getan, damals in Paris...«

»Nein, nur hart, nicht schonungslos.«

»O du edler Peiniger!«

»Spotte und geh'!«

»Ist mir denn gar nicht mehr zu helfen ...? Kann ich mich denn nicht ändern?«

»Ich glaube nicht, daß ein Mensch sich ändern kann, wenn es nicht schon in ihm liegt. Man kann einer Sache einen Geruch oder Geschmack beimischen, ihr Element kann man nicht ändern. Jeder Mensch ist ein Schicksal.«

»Und ich will mich auch nicht ändern!« rief sie heftig und reckte sich auf.

»Das war ein Wort, Sandra! Um dieses Wortes willen will ich die Sperre aufheben. Geh' und sieh' zu, wie du mit dir fertig wirst. Irgend etwas wird doch mit dir, Gutes oder Böses. Eine Notwendigkeit wird sich erfüllen. Nimm meine wünsche mit und vergiß meine Worte, mit denen du doch nichts anzufangen weißt. Leb' wohl. Da hast du meine Hand und laß dich von Zeit zu Zeit einmal bei uns sehen.«

Als sie die Türklinke gefaßt hatte und sie sich noch einmal ansahen, hob er die Hand und fuhr ihr sanft über die Wange.

Indem sie ging, dachte sie: ›Der Bernhard Menniken ist doch ein heiliger Mann‹, und überlegte, wie es mit einer Reise nach Ägypten wäre.

Es war spät im Jahre und eine kalte Nacht. Der Himmel stand wie eine klare Glasglocke auf der gebackenen Erde. Die Kälte biß mit hartem Zahn in die Steine, daß sie krachten. Die Sterne am Himmel flimmerten und zitterten, als könnten sie die Wärme ihrer Lichter in der kalten Nacht nicht behaupten. In der Luft knisterte es leise. Das Wasser in Tümpeln und Weihern ließ sich, wie das Wild zur Winterszeit tut, eine schützende Hülle aus seinem eigenen Leibe wachsen: eine Eisdecke nennen's die Menschen. Es klangen in den Nächten da unten im Wesertal die Schienenstränge, wenn ein leuchtender Zug über sie dahinrollte, nach Belgien und England hinüber, nach Frankreich und Spanien hinab.

In der hellen Nacht hörte Bernhard Menniken den Mitternachtzug weit drunten auf den klingenden Schienen donnern. Am späten Abend noch hatte er von Sandra van den Daele eine kurze kühle Nachricht erhalten, in der sie ihn von der Absicht, auf immer aus diesem öden Lande fortzugehen, unterrichtete. Sie fuhr in dem Mitternachtszuge davon.

*

Jahre, Monate, Tage vergingen; an einem von ihnen sollte Lothar Menniken in die Fremde gehen. Bernhard Menniken war den ganzen Lag durch den Ardennenwald marschiert, um den Schmerz des bevorstehenden Abschieds totzulaufen, Außerdem wollte er Mutter und Sohn, die ihre Zärtlichkeit füreinander scheu wie ein Liebespaar verbargen, diesen letzten Tag allein lassen. Da, gegen Abend, als er schon in der Nähe der deutschen Grenze war und von plötzlichem Heimweh überfallen einen abkürzenden Pfad einschlug, da, was war das? Ein altes Männchen lag im Graben und schlief. Er hob es auf, stellte es gegen das Licht, und es war – »ei, sieh da, das ist ja der Professor Sartorius!«

»Ja, der bin ich ... derselbe,« sagte das Männchen, »woher kennen ... mit wem habe ich ...?«

»Bernhard Menniken. Ich habe vor zwanzig Jahren in Bonn zu Ihren Füßen gesessen und Philosophie gehört.«

»So, Philosophie? ... Aber, Verzeihung, haben Sie etwas zu essen, Herr Menniken?«

»Zu essen nicht, aber ich habe Kognak.«

»Kognak ist gut«, sagte der Alte. Er trank einen heftigen Schluck. »Ich darf Ihnen das Fläschchen austrinken?«

»Ganz zu Ihren Diensten.«

Das Männchen kräftigte sich. Es kam Haltung in die Gestalt und Glanz in die Augen. »Ich bin nämlich«, sagte er zwischen den einzelnen Schlücken, »zur Kur in Spa ... machte eine Tageswanderung ... verirrte mich im Walde ... schlief hier vor Hunger und Ermüdung ein und wäre wohl die Nacht still und gottergeben erfroren, wenn nicht durch einen romanhaften Zufall, wie er auch nur im Leben möglich ist, ein alter Schüler erschienen wäre, der in Bonn von mir ein Kolleg über Spinozas Substanz und Leibnizens Monade gehört hat ..., nicht, las ich das nicht damals?« – »Ja«, lachte Menniken – »während er etwas Besseres hätte tun sollen, z.B. mit hübschen Mädchen ins Siebengebirge fahren ..«

»Das hab' ich auch getan.«

»So, recht. Schöne Mädchen, wenn man sich freut, und Philosophie, wenn man sich langweilt.«

»Herr Professor, Sie sind müde. Spa ist drei Stunden von hier entfernt. Sie sind mein Gast in meinem Hause, das ich hier in der Nähe besitze.«

Der Alte war sehr matt, der Ohnmacht nicht fern. Doch scherzte er: »Und eines von den hübschen Mädchen werde ich in diesem Hause als Hausfrau finden?«

» Das schöne Mädchen.«

»Ah, so treu find Sie? Wissen Sie, ich war zu meiner Zeit weniger treu.«

Dann schwiegen sie. Nach einer halben Stunde mühseliger Wanderung kamen sie in Siebenquellen an.

Es war nach zehn Uhr, der Tisch war abgetragen. Sie saßen beisammen, die Hausfrau, der Gast, der Hausherr, der Sohn. Der Professor war kaum wiederzuerkennen. Der schwarze Rock war gebürstet, die Binde geknotet, die langen weißen Haare gestriegelt und etwas jugendlich pathetisch auf die eine Seite geworfen, die Hände waren weiß und die Nägel glatt und rund.

Der Greis redete, der Hausherr frug, die Dame hörte zu, der Jüngling schwieg. »Mit dem einen Auge müssen wir weinen, mit dem andern lachen, und manchmal meine ich, wir wüßten weiter gar nichts als das einzige: Ich bin. Und könnten mit diesem Wissen zufrieden sein. So mit diesem Augenblicke, da ich in Ihrem schönen Hause sitze im Kreise einer lieben Familie, regiert von einer Frau, die vielleicht alles verbergen kann, nur nicht ihre angeborene Güte, der ich hiermit dieses Glas huldigend zutrinke.«

»Und ich«, sagte der Hausherr, »gebe trotz der Selbstverleugnung unseres Gastes meiner Bewunderung Ausdruck für den Namen Professor Sartorius. Sie ist nicht die jugendlich schwärmerische des Schülers gegenüber dem Lehrer, sie ist vielmehr durch die Jahre, da ich Ihre philosophischen Arbeiten verfolgt habe, stetig gewachsen.«

»Ich danke,« sagte der Professor, »das höre ich gern. Aber ich bleibe bei dem, was ich sagte.«

»Nun erlauben Sie mir eine Frage, verehrter Herr Professor, warum begnügen Sie sich damit, auszulegen und nachzuschaffen? Warum erfinden Sie selbst nicht? Es ist ehrlich gemeint, wenn ich sage: Sie können es.«

»Ich kann es nicht, mein lieber Herr Menniken, ich bin nur ein Professor der Philosophie, kein Philosoph.«

»Nein, nein...«

»Ich will Ihnen auch genauer das Warum sagen: – ich weist zu viel.«

»Sie wissen ...«

»... zu viel. Das ist es!«

Tiefes Schweigen. Die Lampe summte.

Unwillkürlich entfuhr es Lothar Menniken: »Das verstehe ich nicht.«

»Ich verstehe, das Sie das nicht verstehen«, sagte freundlich der Greis. »Es ist auch für Sie gar nicht wahr, und es ist nicht gut, wenn sie meine Worte glauben. Für Sie ist es keine Wahrheit, darf es wenigstens keine sein. Es gibt alte und junge Wahrheiten und unter diesen wieder Wahrheiten für Alte und Junge. In diesem Sinne kann man wohl sagen: Alles ist Wahrheit, es muß nur gehörig behauptet werden. Wir verstehen uns, nicht wahr, und meinen kein kindisches Rechthabenwollen, Ein Beispiel ungeheuerlicher Behauptung, nicht Beweises – wer will überhaupt auf der Welt etwas beweisen? – seiner Lehre war der Nazarener, nämlich Behauptung durch seine Persönlichkeit, seine Taten, sein Leben und – zuletzt zubest! – Sterben. Darum ist das Christentum eine Wahrheit.«

Der Alte trank bedächtig seinen Wein aus. Der Hausherr vergaß nachzuschenken. Lothar bediente. Frau Menniken, eine Hand vor den Augen, meinte leise: »Ich glaube, ich verstehe Sie.«

»Nun?«

»Sie glauben nicht naiv und unbefangen an sich selbst.«

»Ja, gnädige Frau,« fiel der Gast ein, »Sie verstehen. Sie fühlen, welche Kraft des Selbstvertrauens, welche Stärke des Ichbewußtseins notwendig ist, um das skeptische Gewissen und die historische Kritik, diese bösen Feinde alles Neuentstehenden, zu schlagen. Denn die schufen, das waren nur die Einseitigen und Eigenwilligen, die starken Geistes und Herzens waren, die das hatten, was der Franzose den esprit fort nennt. O die Schaffenden! Die den lächelnden Übermut haben, als kleine Götter ihre Skizze des Weltbildes für die Welt auszugeben. Ich habe nicht die heitere Ursprünglichkeit, die gottlose Unbefangenheit. Ich bin keiner von denen, die tun müssen, was sie nicht lassen können. Sie verstehen also, daß ich kein Philosoph bin. Die Philosophen sind nicht die Vielwissenden, sondern die Starkwissenden. Nicht der Umfang, sondern die Intensität macht es. Ein Wald entsteht nicht durch wohlüberlegte Zusammenstellung von Stämmen, Ästen und Blättern, sondern aus zufällig gesäten Kernen. Sehen Sie, auf die unheimliche Kraft der Kerne kommt es in der Welt an ... ach, was rede ich. Da Ihr Herr Sohn morgen in die Welt hinausgeht, soll er und seine Jugend leben!«

Lothar war tief bewegt. Er sagte: »Ich danke Ihnen für den Spruch, Herr Professor, ich will ein tüchtiger Mensch werden und verspreche ...«

»Versprechen Sie nichts, junger Herr, Sie werden es doch nicht halten. Wir hoffen, daß Sie einer von denen werden, die tun müssen, was sie nicht lassen können. Daß Sie die schöne frische Unbefangenheit haben werden. Und nun, meine liebe und verehrte Hausfrau, bitte ich Abschied nehmen und schlafen gehen zu dürfen. Morgen, ehe Sie auf sind, bin ich über die Wälder weg.«

Man verabschiedete sich, sprach die Absicht aus, sich von jetzt an häufig zu sehen und Freundschaft zu pflegen, und sagte sich gute Nacht.

*

Die Abschiedsstunde schlug. Vater, Mutter und Sohn stiegen die malerisch aufgebauten Treppen zwischen den Terrassen vor Siebenquellen hinab in den Quellhain, der wie ein heiliger mystischer Garten in den Bering des großen Hauses gezogen war. Zwischen den Bäumen rauschten die sieben Quellen des Wildbaches. Line, die größte von ihnen, war künstlerisch gefaßt, und das Wasser floß in zwei Strahlen aus den Brüsten einer erhabenen Weibesgestalt, die als Bildnis der Erdmutter in einer Nische der Rampenmauer angebracht war. Andre waren mit niedrigen Mauern eingefaßt, in die steinerne Bänke eingebaut waren. Ein Becken war ausgetieft, mit Steinplatten belegt, und Treppenstufen führten in das offene Sommerbad hinab. Weißgestrichene hölzerne Bänke und Tische standen an den mit dem blauen Brockengrus des Steines bestreuten Wegen.

Auf der Einfassungsmauer eines der Quellbecken saßen die drei Menniken. Lothar war reisefertig. Der Stock lehnte neben ihm, der Wanderranzen hing am Rücken.

Von den Menschen sprach niemand; der Mund der Erde redete einsilbig und ununterbrochen. Da klang aus der Halle des Hauses durch die offen stehende Tür das Schlagen der großen Uhr. Schweigend hörten sie zu, wie die Schläge fielen.

Eine Weile still.

»Jetzt mußt du gehen«, sagte leise die Mutter.

Sie standen auf. Lothar setzte den Hut auf, nahm den Stock in die Hand, und sich zum Vater wendend, frug er etwas ironisch: »Mußt du mir nicht noch etwas sagen, Vater?« Und sich selbst unterbrechend, heftig: »Vater, sag' mir doch noch zum Schluß, du bist bisher immer ausgewichen, warum schickst du mich nach Frankreich?«

»Damit du Frankreich kennenlernst – und Deutschland. In Frankreich ist mir zuerst klar geworden, daß ich ein Deutscher bin.«

»Wie meinst du das?«

»Als ich französisches Wesen sah und mit dem meinigen verglich, da verstand ich erst, wie anders ich geartet war. Aus dem Gegensatz erkennt man immer am besten. Wir Grenzbewohner, die wir die Fremden sehen und, wie man sagt, von ihrem Wesen beeinflußt sind, kennen das deutsche Wesen besser als die Stockdeutschen im Land. Und ich glaube, wir schätzen es auch mehr als die im Reiche. Freilich werden wir niemals Chauvinisten, ›Über-alles‹-Patrioten werden.«

»Worin besteht deutsches und französisches Wesen?«

»Es hat keinen Zweck, es dir zu erklären, du mußt es erleben. Wenn du im Auslande die Augen aufmachst, wirst du mit einem Male beides wissen. Wenn du ins Reich gingest, würdest du das eine kaum erfahren. Auch in Frankreich wirst du verrückte Leute finden, die ihrerseits träumen, daß Frankreich ›über alles in der Welt‹ sei. Das sind Leute, die niemals über die Grenze gekommen sind, die von Deutschland nicht anders denken als wir etwa von Sibirien. Störe dich daran nicht. Durch Oberitalien und die Schweiz kehrst du zurück, und wenn du dann bei Basel über den Rhein gehst, wirst du mit der Freude, die du empfindest, wieder in Deutschland zu sein, erkennen, was Deutsch ist und daß du ein Deutscher bist. Also nach zwei Jahren kommen wir dir bis Köln entgegen und holen dich ab. Du darfst mehr, aber nicht weniger als zwei Jahre ausbleiben.«

»Es ist Zeit, mein Sohn, daß du gehst«, drängte die Mutter. »Ich möchte, daß du durch den Wald wärst, bevor die Sonne untergegangen ist.«

Der Sohn aber sah den Vater erwartend an. »Hast du mir nicht noch etwas zu sagen, Vater?«

»Nein, ich glaube dir alles Nötige gesagt zu haben. Im übrigen sieh zu, wie du durchkommst.«

»Ich danke dir sehr, Vater. Weißt du, was ich noch erwartet hatte?«

»Nein.«

»Nun, ich dachte ... man hört und liest das ja so ... ich danke dir, daß du mir keine Moralrede gehalten hast.«

Der Vater lachte. Dann küßten die Männer sich, und Bernhard Menniken sagte: »Sieh zu, wie du fertig wirst.«

Lothar ging mit seinem schweren Überlandstock von dannen und summte ein lustiges Lied, während ihm die Tränen über die Backen liefen. Seine Schritte verhallten auf der Straße ...

»Es ist hart«, sagte Bernhard Menniken, schwermütig an die Rampenmauer gelehnt.

»Mir wollen auf den Söller steigen, wir können dort die Straße bis zum Wald hinab sehen.«

»Ja, Johanna«, erwiderte er, trocknete ihr die Tränen und küßte sie auf die Wangen.

Sie standen oben auf einem Balkon. Drüben unter den Ulmen der Napoleonsbahn wanderte Lothar nach Westen. Er ging schnellen Schrittes und wandte sich nicht ein einziges Mal um, als fürchte er, daß er, von dem Hause angelockt, umkehren müsse und nicht wieder fortgehen könne.

»Ob er sich nicht mehr umschaut?« sagte die Mutter.

»Er denkt schon nicht mehr an uns. Du weißt nicht, wie es einem jungen Manne ist, wenn er in die Welt geht.«

Die Ardennenwälder standen in der Ferne, rot schob sich die herbstlich blühende Heide hinein.

»Wenn er sich doch nur einmal umsähe«, entwand es sich der Mutter.

»Du würdest es doch nicht mehr erkennen können, er ist schon zu weit.«

Wie ein kleiner beweglicher Schattenriß wanderte Lothar in der Ferne. Jetzt kam er an die belgische Zollschranke. Man sah vor dem Horizont einen langen schwarzen Strich aufragen und mehrere Schattenfigürchen hinzutreten.

Zur selben Zeit, als die Eltern ihrem Kinde nachschauten, stand auf dem Hügel, von dem seinerzeit der unheimliche Abschied von dem Lande und dem Hause, in dem Johanna Menniken wohnte, genommen hatte, der stille Napoleon und sah mit nassen Augen dem Jugendkameraden nach, der in die Welt wanderte, dorthin, wo Bücher und Gelehrsamkeit waren. Auch er war der Sohn eines reichen Mannes und hätte sehr wohl reisen können zu den Quellen der Weisheit, die draußen in der großen Welt flossen. Aber der Vater wollte nicht, daß der Sohn klüger werde als der Alte. Und der gute Junge hatte zuviel Ehrfurcht vor dem Vater, um ihm davonzulaufen. Es war wie ein Preis der durch die Hände geleisteten Arbeit, da die Sonne in der vom Spreiten des Kuhdrecks blank gewordenen Schaufel blitzte, als Napoleon sich seufzend umwandte und langsam hinüberging nach den Bikkelsteinen, wo die Kuhherde heute auf der Lichtung graste. –

»Warum hast du ihn für so lange weggeschickt?« frug Johanna Menniken, sich plötzlich umwendend, heftig.

Er antwortete zuerst nicht, aber sah sie mit milden schmerzlichen Blicken an; und es war, als ob ein feines feuchtes Häutchen sich über die hellen Augensterne zöge.

Da kam sie schnell herzu und sagte leise: »Verzeih.«

»Last es gut sein, Johanna.«

»Nun verstehe ich erst, was es dich gekostet hat.«

»Er war der einzige, auf den ich wirken konnte. Niemals hab' ich auf jemand eingewirkt, auf dich nicht, du warst fertig; der Kannegiester, den ich lieb hatte, ging fort, der geniale Zillikens brannte mit der Agnes und jenem unheimlichen Gesellen durch; Lenates liest mich im Stiche; auf die Masse derer, die mit uns im Lande wohnen, habe ich keinen Einfluß gewonnen, die waren in ihrer Art auch fertig; aber auf Lothar habe ich zu sehr gewirkt. Er muß sich selbst finden, ich habe dazu beinahe ein ganzes Leben gebraucht. Ich kann ihm das Beste geben; wenn er das vielleicht weniger Gute seines eigenen Wesens nicht findet, ist er trotzdem unglücklich. Man darf der Natur niemals etwas antun.«

»Verzeih mir, Bernhard.«

»Komm, Johanna, für uns fängt des Lebens Nachmittag an. Darin müssen wir uns ergeben. Wir wollen suchen, ihn so schön, ruhig und sommerlich zu machen als eben möglich. Es ist keine schlechte Zeit ... Du, Johanna, weißt du, was mir da plötzlich einfällt?« sagte er heiter. »Der Mensch braucht gar keinen sozialen Beruf zu haben! Wer weiß, ob nicht meine Schule eingeht, nachdem Lothar fort ist? Ob ich nicht gar selbst die Lust daran verlieren werde, denn ich bin nicht eben besessen von den Aufgaben, die ich mir stelle. Der Mensch braucht gar keinen sozialen Beruf zu haben, um sozial zu sein! Er ist sozial, für die anderen, wenn er echt, für sich ist. Alles, was echt und gut in der Natur ist, wirkt unmittelbar und unwillkürlich auf das, was sich nicht vollenden konnte. Nenn's Vorbild – das ist unangenehm – nenn's Vollendung – das ist selbstgefällig – aber nenn's wie du willst, es ist unser eigentlicher Beruf! Die Natur will sich im Ganzen und in ihren Teilen vollenden. Es ist falsch, daß die Natur nichts anderes als ununterschiedliches Leben wolle. Und wenn sie nichts anderes will, so wollen wir Menschen anders, so sehr wir uns ihr verbunden fühlen. Der Mensch ist in seiner reinen Form ein Geist, daran ist nichts zu ändern.«

Sie lächelte ihn aus verweinten Augen an. »Sagte ich es dir vor langer Zeit nicht schon, daß du ein Aristokrat bist?«

»Meinetwegen,« sagte er leicht errötend, »ich habe mich nicht gemacht, ich habe einen Beruf, ich will annehmen, der Geist in der Natur – du darfst ihn Gott nennen – hat gewußt, was er gewollt hat. Soviel ist sicher: ganz zuletzt ist nur das Aristokratische sozial.«

»Ich sehe Lothar nicht mehr!« rief sie aus.

Das Pünktchen war in das Dunkel des Ardennenwaldes getreten.

Es ging ein Mann nach Westen.


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