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Entdeckungsfahrten

Es ist ein Schönes um alles Ding, das zu seiner Zeit kommt, zu seiner Zeit, die nur für das eine Ding die Zeit ist, im rechten Augenblicke, dem Zeitpunkte, in dem sich eine lange gestaltlose Zeitfolge zu einem festen Bilde kristallisiert. Nicht umsonst haben die Hellenen dem »geeigneten Zeitpunkt« und dem »rechten Augenblick« einen Götterbegriff und ein Götterbild, den kairós, aufgerichtet. Es ist der schöne Augenblick der Reise, der Entfaltung, wo die Schale von selbst, oder wenn man sie eben berührt, springt, um den entwickelten Kern schön und leicht zu entlassen.

Der holländische Zug entführte Bernhard Menniken aus der Stadt Aachen, in der eine dichtgedrängte Schar von Türmen die ehrwürdigen steinernen Zeugnisse des karolingisch-fränkischen Weltreiches wie schützende Wächter umsteht. Das turmreiche Bild versank; die Grenze wurde überfahren. An dem Wege, den der Deutsche auf den Rädern der neuen Zeit machte, lagen die Daten und Orte der fränkischen Geschichte, die älter ist als die französische und deutsche um so viel, als die Mutter älter ist denn die Töchter. Zwischen Obstwäldern und Landhäusern von breiter Wohlhabenheit erschien Meerssen. Auf eine bröckelnde Kalkwand war der Name gemalt, der in die Geschichte des nördlichen Europas am tiefsten eingegraben ist. Der unermeßlichen Bedeutung seines Namens unbewußt lag das stille Städtchen in bürgerlicher Ruhe und Behäbigkeit. Die Strecke der Bahn war nicht frei, der Zug mußte längere Zeit auf dem stillen Bahnhof liegen. Als sollte der Reisende ermahnt werden, an diesem Orte nicht vorüberzufahren, ohne über seine Bedeutung nachzudenken. Hier machten im Jahre 870 Karl der Kahle und Ludwig der Deutsche den Vertrag, welcher die Begriffe Frankreich und Deutschland schuf, und genau tausend Jahre später führte das Geschick ein wenig südlich von diesem Orte jenen Waffengang auf, in dem die Kinder derselben Mutter einander ins Herz zu stoßen versuchten.

Der Sperrhebel neben dem Gleise fiel herab, die Lokomotive pfiff, der Zug war im Rollen.

Die Maas. Herstal, die Heimat der Pippine. Maaseyck, die Geburtsstadt der Maler van Eyck. Regelmäßig schlug der Takt der Fahrt.

Nymwegen. Bei Emmerich an der deutschen Grenze kommt den Rhein die Sehnsucht nach dem Meere an. Aus seiner hohen Alpenwiege zwischen Tödi und Kamadra kommend, ist er die lange Gasse zwischen seinen Bergen fröhlich hinabgezogen. Im Schwarzwalde klang die Axt, in den Vogesen die Trompete, in der Pfalz rauchten die Fabriken und im Rheingau hegte und pflegte der Winzer die edlen Rebstöcke und kochte die Mittagssonne den Wein in den Trauben. Im Siebengebirge sind die Berge, die ihn nunmehr verlassen müssen, hoch und heftig zusammengetreten, um ihm noch einmal jubelnd zuzuwinken. Er hat zur Erwiderung freudig um Nonnenwerth gerauscht und die Bilder der Berge in sich hinabgezogen. Trauter Gedanken voll ist er weitergeflossen. Plötzlich – keine Berge mehr, Ebene. Wo sind die Berge geblieben –? Zur Linken eine Stadt, Bonn. Ah, die Berge müssen Platz machen! Links in der Ferne ist ein Höhenzug! Er wird näherkommen! Weiter. Der Höhenzug verschwindet. Flaches Land. Köln. Der Rhein kommt nicht zu Gedanken vor dem Klange der vielen Glocken. Dann wieder Ebene. Wo sind meine Berge geblieben? Düsseldorf, das vornehme, Ruhrort, das rauchende, Wesel, das feste, und rechts und links Fläche, Ebene und ungeheure Weite. Unaufhaltsam schiebt eine starke Kraft ihn weiter. Da fällt den Rhein die Furcht an; die Ebene ist so weit und still, das Korn wogt, ferne sausen unhörbar Züge wie auf Schienen von Filz dahin, der Überdruß fällt ihn an, Verzweiflung und die Sehnsucht nach dem Tode. Bei Emmerich an der Grenze streckt er dem Meere seine Arme entgegen und zieht ergeben weiter. Bei Nymwegen lebt er noch einmal auf, denn da ist etwas wie Berg.

Zu Mittag stieg drüben am Waal die alte Frankenstadt auf sieben Hügeln in den Herbsttag auf. Vom Valkhof rief eine kleinere Schwester der Aachener Pfalzkapelle einen Gruß aus ferner Karolingerzeit herüber. Vom Turme der Groote Kerk läutete Keizer-Karels-Klock.

Weiter strebte die Spannkraft des heißen Dampfes und riß den Zug in das Inselland des Rheindeltas hinein. Es ging durch die fette Landschaft Betuwe, in welcher der Stamm der salischen Franken gereift war, dessen Kraft Gallier, Römer, Araber, Sachsen und alle Deutschen bezwang. Der Wind trug dem enteilenden Zuge den Klang der Kaiser-Karls-Glocke nach. Der Ton des Geläutes, der warme Mittag, der eiserne Takt der Fahrt, der Blick in das ebene Land drohten einschlafen zu machen. Da war es dem Deutschen, als stände der Gedanke des Westens vor ihm auf und als spräche er also: »Wenn auch ein politisches Geschick das Land zwischen Rhein und Seine zerstückelt hat, es ist die Mutterbrust, von der aus die Arme sich ausstrecken nach den beiden großen Töchtern Frankreich und Deutschland, nach den beiden so verschieden geratenen und doch jede in ihrer Art so wohlgeratenen Töchtern, die sich so wenig verstanden und verstehen. Ihr sollt kein fantastisches Weltbürgertum wollen, die Nation ist die natürliche Wiege und Nährstätte eines Stammes wie die Familie die der Individuen. Doch ist es eine Einbildung, wenn die eine sich für besser hält als die andere. Hier am Grabe eurer gemeinsamen Mutter lernt euch verstehen. Westlicher Mann, willst du dich dafür begeistern?« So sprach der Gedanke des Westens. Der Klang der Karlsglocke zu Nymwegen war verhallt, der Himmel bedeckte sich, die Sonne verschwamm in leichtem Gewölk, der Tag wurde hellgrau und weich, die See kündigte ihre Nähe an. Rechts und links war ebene Erde, fruchtbares Polderland, der fette Grund trockengelegter Moräste und Lagunen. Landhäuser, breite Gehöfte, Kanäle und stillziehende Kähne mit roten Segeln. Ruhe und Weite. Der Deutsche saß in einer Ecke gelagert, die Hände im Schoß. Es ging durch den Polder Watergrafsmeer.

Rechter Hand erschien der gewaltige Deichzug der Zuidersee. Wie ein Lineal grenzte er den Erdrand ab. Auf Kilometer hinaus sah ein gesundes Auge die Gestalt eines Mannes oder eines Pferdes über die Deichkrone schreiten. Gelassen breitete der Deich seinen langen Körper vor der See aus. Dem Lande aber hinter seinem Rücken, dem furchtsamen, das tiefer als der Meeresspiegel lag, rief er über die Schulter zu: »Fürchte dich nicht!« So stand der gewaltige Trost, die stumme Predigt der Treue und Verläßlichkeit, geradlinig und ungeheuer vor dem Horizonte. Dann ging es über Inseln, Kanäle, durch Häfen und Docks, bis der Zug auf dem Inselbahnhof des Y stand. Die holländische Hauptstadt.

Mit einem Male geschah es, er konnte nicht sagen woher und weshalb, sie fiel vor ihn nieder, wie ein reifer Apfel einem vor die Füße fällt, wenn man unter den Bäumen sinnend wandelt, die Erkenntnis des tiefen seelischen Harmes, seiner großen Lebenssehnsucht: Sehnsucht nach Einfachheit und großen Werten. Nach kurzem Aufenthalt in der Hauptstadt fuhr er ins Land hinaus, in die Käseprovinz nach dem Helder zu und sah und hörte das Meer. Zwischen Wijk und Egmond aan Zee lag er einsam viele Tage. Die Dünen waren hoch, ein mächtiger Landwall, den das Meer in einer guten Stunde, seinen Jähzorn kennend, vor sich selbst aufgetürmt hat. Hier war Natur in ungeheurer Einfachheit des Bildes. Wohl ist auf einer ländlichen Ebene mehr Leben in den unzähligen Gewächsen, aber welches Auge vermag es einheitlich aufzunehmen? Hier war auch Statur in gewaltiger Einfachheit des Tones: Ein Geräusch, immer das eine selbige Meeresbrausen. Welches Ohr kann die tausend Stimmen von Wind und Vogel im Walde fassen! Hier war ein Laut, das einsame Gebrüll der Bestie Natur, die aus den fernen Höhlen der Welttiefe ruft.

Bernhard Menniken saß auf der Höhe der Düne. Wenn er sich, im trockenen Lande liegend, vom Lücken auf den Leib drehte, sah er auf die Fläche der Provinz Nordholland hinab, die im Westen gegen das Meer vom Dünenzuge, im Osten gegen die Zuidersee von starken Deichen geschützt wie ein flacher Riesenteller mit hohem Kranze ist. Viele Stunden, Tage sah er hinab in das Kennemerland, das in seiner Fruchtbarkeit sich hinbreitete. Vor den Augen diese ganz einfache, ganz große Kulturlandschaft ... da wußte er plötzlich – es war wie ein Blitzschlag – was eine Landschaft ist!

Und das war nicht etwas geographisch Wißhaftes oder es kam doch nicht vor dem philosophisch Werthaften auf. An irgendeiner Erkenntnis öffnet sich uns die ganze Erkenntnis, um die unser Geist ringt – da Menniken um Land und Volk und Heimat rang, so bei ihm zufällig-naturgemäß am Landschaftlichen. Landschaft ist im Geographischen schon mehr als irgendein Stück Land, es ist geklärtes und verklärtes Abbild einer irdischen Lebensversammlung in unserm Geiste. Im höheren Verstande aber ist es die seelische Einheitswelt, in der wir im gründlichsten Sinne heimisch sind. Nur-Stoffliches ist wie im Geographischen so auch im Geistigen an sich gleichgültig, es ist irdisch und menschlich so oder so gegeben – es ist am Geiste, die in der Lebensversammlung wesende Seele für sich zu entdecken und zu erobern. Es hat lange gedauert, ehe die Menschheit im Geographischen die Landschaft entdeckte – spät pflegt der Mensch sie in seinem Seelischem zu entdecken. Dann heißt es, sie erobern und beherrschen! Es gibt keinen Streit um Art und Grad der Gegebenheit, zum Ganzen dieser Seelen-Einwelt ist alles Tüchtige gut, die Liebe ist das Tüchtigste. Jede Landschaft ist von der anderen verschieden nach den Spielarten der Seelen, wie es auch auf der Oberfläche der Erde unzählige gibt. Und dann ist Landschaft der Naturbezirk unseres Schicksals. Ist recht eigentlich und im großen Sinne nicht nur der uns zugemessene, sondern auch der angemessene Lebenskreis, der rechte und gerechte, der in den wir kurzerhand hineingeboren wurden, der aber auch mit uns geboren wurde und der zu gleicher Zelt mit uns sterben wird. Denn genau so wie wir einmal stehen zur Welt, steht die Welt einmal zu uns, diese namentliche Beziehung war so noch nie und kehrt so auch nie wieder, die unvergleichbare Einmaligkeit dieser unserer allereigensten Welt ist so hehr wie die unbedingte Ähnlichkeit aller Welten am einen Horizontkreise der Welt. Darum find wir sowohl einmalig wie wir Teil an allen Malen haben, und wir sind ein bestimmter Zeitfall, wie wir eine Ewigkeit sind. Nur in solch feiner und heldischer, weil mit Entbehren und Tod geweihter Form, können wir ewig und unsterblich sein, die linienhaft aus unserem irdischen Dasein gerade hinaus verlängerte Unsterblichkeit des gemeinen Wunsches ist eine Denkunmöglichkeit. Und wenn wir uns einmal erfüllt haben, dann haben wir uns für alle Male erfüllt, etwas hinzufügen wollen hieße, auf das volle Glas gießen. Sich erfüllen, neidlos gegen andere Erfüllungsmöglichkeiten und -aufgaben und treu gegen die eigenen, alle Vermögen gebrauchen von der Vernunft, dieser höchsten, bis zur kleinsten schönen Menschlichkeit eines gütigen Lächelns, leidenschaftliches Kraft-Wollen und einsichtigen Verzicht, die immer geheimnisvoll verbundenen, verbinden und verbunden sein lassen, das ist die ganze Weisheit, und sie ist, wie alle wahre Weisheit, ebenso klein wie sie groß ist. Denn eines ist in allem und alles in einem. Das recht innerlich und wahrhaftig nach beiden Seiten erkannt – von selbst fällt alles falsche atemlose Streben, alle unangemessenen Ehrgeize und bösen Mißgünste ab. Sie sind in einer Stilvernunft solcher Landschaft fremd, unlogisch und fallen aus dem Kreise.

Ein gewaltiges Staunen durchrüttelte ihn; denn es war ihm, als ob Tag geworden wäre, wo vorher Nacht war, nicht so wie in der Natur, wo die Dämmerung den Morgen langsam heranleitet und der Morgen allmählich zum hohen Mittag steigt, sondern wie es in einem Zimmer, dessen Läden dicht geschlossen waren, Licht wird, wenn sie am Tage aufgerissen werden und der helle Mittag hereinbricht.

Die Landschaft war wagerecht wie ein Bretterboden. Durch schmale Kanäle waren die zahlreichen kleinen Stücke getrennt. Wenn das Vieh sich auf diesen Wiesen bewegte, sah es aus der Ferne aus, als hätte es den grenzenachtenden Instinkt des Mannes von Welt und Ehre. Nur auf den Dämmen standen Tore, vereinzelt und scheinbar sinnlos, da man die die Hecken vertretenden Gräben nicht sah, blau oder weiß gestrichen, deren Gestänge die Dammabhänge hinab sich im Wasser verlor. An den Kanälen rührten kleine Windmühlen flink ihre Flügel im Seewinde und bewegten das zum Stehen neigende Wasser. Ein Mann wanderte entlang und fischte Schilf und Binsen heraus. Eine große dunkle Kornmühle drehte gemächlich hinten tief im Lande ihre Windflügel, der Wind kam vom Meere her und machte die Dünengräser leise klirren, am Fuße der Düne rupfte eine Kuh den Rasen. Segel strichen langsam durch die Fläche, welche Kähne mit Dung und Grasschnitt trieben. Und über dem Lande war große Stille.

An diesem Orte pflückte Bernhard Menniken von seinem Lebensbaume lauter reife Früchte. In stiller Fröhlichkeit verweilte er noch Tage an der einsamen Küste. Weit zogen sich die einförmigen Linien, und bei Ebbe lag der Strand glatt geschlagen da wie ein Tanzboden. Stundenweit konnte er wandern. Und stets neu und immer gleich stürmten von draußen die Wogen heran, bäumten sich hoch auf, als sei es Kinderspiel, den Strand zu nehmen, bis sie schwächer wurden, eine nach der andern zurückblieb und eine einzige als ein dünner Glasfluß daherkam, sich in Schaum zerkräuselte und in dem sanftansteigenden Sande leise knirschend zerging.

Weit lag die Küste, sandig und grau. Hartes Riedgras klang auf den Dünen. Auf dem Meerboden war weit zu wandern.

Nicht lange, so setzten die Herbststürme ein.


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