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Es war ein Sonntagmorgen. Große Stille lag über dem Lande. Die Stille klang gewaltig, als läuteten oben in der Himmelsstadt die Glocken zum Hochamt, das Gott selbst zelebrieren wolle.
*
Im Laufe des Vormittags wurde Agnes mit einem Briefe nach dem »Turm« geschickt, wo van den Daeles nach dem Brande des Sterns Wohnung genommen hatten. In dem Briefe sagten sich Mennikens für den Nachmittag zum Besuche an. Sie wartete, bis die Glocken das Ende des Hochamts verkündeten, da die Burschen und Männer in den Schenken blieben, und die Frauen und Mädchen nach Hause gingen. Sie begegnete auch kaum einem Burschen, nur dem Feuerstein. Vor dem errötete sie nicht, denn ein Geistlicher ist kein Mann, er ist ein heiliges Neutrum. Sie sagte im Vorbeieilen: »Gelobt sei Jesus Christus!« Er erwiderte: »In Ewigkeit, Amen«, und dachte dabei: ›Das ist ein schmuckes gesundes Mädchen, das soll unsrer heiligen Kirche viele fromme Söhne gebären.‹ Dagegen begegnete sie, wie beabsichtigt, den Mädchen. Sie sprach mit ihnen. Die lachten, einige kicherten, und eine, welche ein weniger schönes Halstuch hatte als die Agnes, rief ihr laut »Rothaut« über den Kirchweg zu. Da lief Agnes eilig auf einem stillen Wiesenpfade fort. Sie war in tiefem Nachdenken und betete so recht innig zum lieben Gott, er möge ihr Vorhaben doch bitte gelingen lassen.
Eine große Hoffnung erfüllte die Agnes und machte sie sehr froh.
Am Nachmittage kamen Mennikens zu van den Daeles in den »Turm«, die kleine mittelalterliche Wasserburg. Noch lag die Zugbrücke da, jetzt freilich unbeweglich. Früher, als sie vor Erbauung des Sterns auch hier gewohnt hatten, ließ die Hausherrin die Brücke jede Nacht aufwinden, weniger aus Furcht vor Dieben als aus unschuldigen feudalen Gelüsten. Unter den Bauern im Dorfe war, wenn sie das Geräusch in der Dämmerung hörten, großes Vergnügen und Spott über diese verspätete Feudalität. Und wenn sie an lauen Abenden in Hemdärmeln mit der Pfeife im Mund an dem Wassergraben vorbeispaziert waren, hatte es jedesmal über »die Knäuel« so viel salzigen Spott gegeben, daß, wer das Wasser geprüft hätte, es wie Meerwasser hätte finden müssen.
Man saß auf dem platten Dache des »Turmes«, der alte Zinnenkranz die Grenze für die Körper, der Horizont für die Augen, und dazwischen und darüber die ganze weite Unendlichkeit des Himmels für die Gedanken und Träume.
Das grüne Gewoge der Landschaft ging weich und milde. Eine große Lieblichkeit war überall, als hätte Gott, als er über das Chaos dachte, an dieser Stelle besonders lieblichen Gedanken nachgehangen. Es war Nachmittag, und die Sonne war nicht mehr heiß, nur Gold. Die Sonne war wie ein großes Loch im Firmament, durch das aller verbrauchte Glanz des Himmels abfloß. In der Ferne die Wälder gegen die Grenze und gegen die benachbarten Städte standen und hockten über einem Geheimnis und Dunkel.
Die Häuser standen hell und heiter in der Landschaft wie niedliches Spielzeug außerweltlicher Riesen. Aber da solcher Art Riesen derbe Knochen und rohe Finger haben, so schien ihr Spielzeug recht monumental geraten. Die Landschaft zeigte sich in unzählig viele kleine Stücke aufgeteilt, und die meisten Erbe waren mit lebenden Hecken eingefaßt, überall die deutliche Sprache jeden Eigners: dieser Grund ist mein! Aber mochte das grüne Land auch sehr zerstückelt scheinen, wie ein großer Teppich in Lappen verschnitten sein, durch die vielen mit blauem Kleinschlag beschütteten Pfade, die hell durch die Wiesen liefen, waren die Stücke gewissermaßen wieder wie durch Fäden aneinndergenäht.
Eine große Weichheit und Zwanglosigkeit, ein Verschmähen aller Gewalt lag über die grünen Fluren gebreitet. Im Ackerlande wird der Boden Zoll für Zoll vielfach bearbeitet, gelockert und zerkrümelt, damit jedes Körnchen Grund seine volle Kraft hergeben könne, durch Dung und künstliche Mittel zu Leistungen, die das von der Natur gegebene Maß übersteigen, getrieben; die Wiesen geben, nur eben regiert und in allgemeiner Ordnung gehalten, soviel, als ihnen das Fett des Bodens und die Feuchte des Himmels zu spenden erlauben; auch das Vieh, das rupfend über den Rasen schreitet, scheint im stillen Einverständnis mit den Trieben der Erde nur die freie Gabe zu achten: die Stellen, an denen ein Kuhfladen gespreitet wurde, wo das Gras von der Kraft des Dungs fett gemacht zu üppiger Höhe taumelnd aufschoß, werden verschmäht, die rauhe Rinderzunge weidet scharf um die Figur herum, und die tiefgrünen Halbmonde bleiben auf dem bis zum gelbgrünen Grunde gerupften Wasen übrig, sodaß die Sense kommen und die Gräser fällen muß. Das Wiesenland leistet wie ein Bruder des Menschen in Freundschaft und Freiheit, vom Sonnenglanze erheitert und verschönt, das Ackerland wie sein stöhnender Sklave, dampfend unter den Gluten der Sonne. Über dem Ackerlande liegt feierliche Schwüle, ein hohes Pathos der in Millionen Ähren zu außerordentlicher Fruchtbarkeit angestrengten Erde. Im Wiesenlande aber bedient der Boden gefällig den Menschen, der nicht mehr verlangt, als jener unter alltäglichen Umständen hervorzubringen vermag, der Mensch bedient den Grund, er sammelt die verstreuten Steine und wirft sie auf die Straßen, sticht den sich breitmachenden Wegerich aus dem Wasen, hält die Hecke um die Wiesen instand und vertraut das übrige der gütigen Natur und den gnädigen geschicken des Himmels.
Ernst und mächtig bewegte sich das Vieh in der Nachmittagssonne auf den Weiden, mit der Wucht und Andacht, mit der in der Natur ein animalisches Bedürfnis befriedigt wird. Der Kopf mit den rupfenden Lippen wandert vor, ein Bein wird dem andern langsam nachgesetzt, und schwerfällig bewegt sich die plumpe Macht des Körpers über die Wiese. Weiße Kühe, rote Kühe, weiß und rote Kühe, mausgraue, schwarze, weiß und schwarze Kühe, bunte Farbmassen, die über den grünen Untergrund sich rühren. Und über allem der Goldglanz der Sonne.
Weiße breite Landstraßen zogen umher, auf gemächlichen Umwegen eine Höhe nehmend und in bedächtigen Windungen einen Abfall. Die führten eine große Sprache. Die waren die hohe Note in der Landschaft. Geringschätzig sahen sie auf die Wiesen nebenan und sagten: »Was wißt ihr, ihr dummen grünen Kuhweiden! Ihr seht nichts als das Stück Himmel, das über euch hängt, erlebt nichts als eine Kuh und ein Kalb, oder gar einen Sommer durch langweiliges Heu und einen Winter lang Nässe, während euch kein Fuß betritt. auf unserm Rücken aber bewegt sich der Verkehr, durch uns erst werdet ihr zugänglich und nutzbar. Und was erleben wir den Tag über an Fuhrwerken, Wanderern, Viehzügen, an Hoffnungen, die über uns hinwegeilen, an Enttäuschungen, die über uns schleichen! Wie anders dienen wir unsern Göttern als ihr! Wir gehören ihnen allen, werden von der Liebe aller geschaffen und gepflegt. Ihr seid der Willkür eines Einzelnen ergeben ... ihr dummen grünen Kuhweiden, ihr! Nun ja, aus euch machen unsre Herren und Götter ja auch etwas, sie streichen die Falltore in euern Hecken rot an ... ihr dummen grünen Kuhweiden. Wenn wir Wege nicht wären, was wärt ihr ohne uns, ihr – ›die am Wege‹.«
Wenn sie aber an einem der festen Häuser vorbeistrichen, wurde ihr Ton sehr viel bescheidener. Sie wagten keinen Laut und sahen bloß an den grauen Mauern andächtig hinauf, hinter denen ihre Gebieter wohnten.
Aber draußen zwischen den Wiesen verfielen sie wieder in ihre hohe Tonart.
Bernhard Menniken sprach über die geschichtliche Vergangenheit des Landes. Seinen Weg, das Land für sich neu zu entdecken, begann er bei der Geschichte. Doch nur Frau van den Daele war bei seinen Ausführungen, und auch das nur so lange, als er ihrer Behauptung, der »Turm« sei ein Jagdschloß Karls des Großen gewesen, nicht widersprach. Als er aber darauf hinwies, daß es in diesem alten Lande selbstverständlich üblich sei, jedes ein wenig graue Gemäuer auf diesen Ortshelden zurückzuführen, daß übrigens das Volk den Turm wegen seiner Form das »Käsbecken« nenne, da war Frau van den Daele sehr auf den Fuß getreten. Menniken sprach von seinem Gute Seffent, ursprünglich einer keltischen Ringburg, die die Römer zu einem quadratischen castrum umwandelten, wie es im Mittelalter zuerst Feudalburg, in der Kannenbäckerzeit Wohnsitz der Menniken wurde, und wie sich zuletzt noch Napoleon mit dem Gedanken getragen hatte, diesen bedeutsamen Punkt an der wichtigen Straße zu einer Festung umzugestalten. Begreiflicherweise war das für Frau van den Daele zu viel der historischen Ansprüche und Merkwürdigkeiten, sie widersprach und wollte schließlich die Behauptungen nur zugeben, wenn Herr Menniken einräume, daß der »Turm« ein Jagdschloß Karls des Großen gewesen sei.
Auch Herr Dalton, Frau Sandras Gatte, war da; er verbrachte sein Wochenende im Kannendorf. Sein Äußeres war untadelig, Kleidung und Bart, Gebaren und Krawatte, Sprache und Schuhwerk. Die Schwiegermutter nannte ihn in ihren liebenswürdigen Stunden: »Mon cher commee-il-faut«. Dieser Ritter Tadellos war auch ein rechter Ohnefurcht, wenn es die Schwiegermutter zu veranlassen galt, Geld in seinem Hypothekengeschäft anzulegen. Ritter Ohnefurcht und Tadellos, Olivier Dalton, Hypotheken- und Effektengeschäft, Pfand- und Darlehenbüro.
Um den Mund herum hatte das widrige Geschick diesem Ritter Ohneglück einige Runen geschrieben. » Monsieur de malheur« nannte ihn tieflaunig und bedauernd Frau van den Daele und machte ihn darauf aufmerksam, daß das Unglück die beste Erziehung für die Menschen, eine wahre Hochschule für Helden sei. Er bekam aber keine hundert Mark.
Frau van den Daele erzählte Frau Menniken, sie trage sich wieder mit dem Gedanken zu bauen, nur wußte sie noch nicht, ob nach dem Muster von Sanssouci oder der Alhambra. Sie teilte auch einen Ruhmeskranz aus an Bernhard Menniken für seine idealen Bemühungen, das Volk zur Kunst zu erziehen. Unerwartet sagte Menniken, er habe eine solche Erziehung nicht mehr im Auge.
»Nicht –?«
»Ich meine, man sollte die Leute nur möglichst in Ruhe lassen«, äußerte Herr Dalton.
»Ist es denn unrecht, Herr Dalton, etwas für die Leute zu tun?« frug Frau Menniken.
»Aber, gnädige Frau, wollen die Leute das denn? Die sind doch wohlhabend und fleißig, und das Land ist blank und reich. Es ist eine merkwürdige Sucht in unserer sozialdenkenden Zeit, für das Volk zu arbeiten. Man soll die Leute nur in Ruhe lassen, ich glaube, das ist ihnen am liebsten.«
»Aber diejenigen, welche das Land nicht ernährt?« frug Menniken. »Diese Milchwirtschaft ist ein bequemes Gewerbe, und die Städte sind nahe Absatzgebiete. Aber es ernährt nur den alten eingesessenen Stamm der Bevölkerung. Sie darf sich nicht vermehren. Sehen Sie dort den Haufen Leute, welche mit dem roten Packen durch die »Zeile« herkommen und zum Bahnhof hinaufsteigen, um an ihre Arbeit auf die Baugerüste und vor die Hochöfen zu treten. Wöchentlich oder vierzehntäglich kommen sie auf einige Stunden nach Hause und bringen fremde Sitten und Ansprüche mit, wenn sie nicht draußen bleiben und das städtische Proletariat vermehren. Was soll mit denen geschehen?«
Da schwieg auch Herr Dalton.
Die Sonne wurde größer und massiger und sank tiefer, als zöge ihr Gewicht sie nieder. Sie rollte zum Horizont hinab wie eine Goldkugel, mit der die Engel auf dem weiten Himmelsplan den Tag über gespielt haben, die sie am Abend gleichgültig von sich stoßen.
Drunten ging das abendliche Leben der Milchdörfer vor sich. Aus den Brunnenhäuschen trug man in die Höfe und Ställe das Trinkwasser für die Kälber, Auf den Benden ging das Vieh zur Tränke. Hier und da war ein kleiner Teich mitten in der Wiese, ein helles Wasser mit Weiden umstanden. Wie ein von Wimpern umrahmtes Auge. Wo Hof und Wiese beisammenlagen, stand das Vieh wartend und brüllend vor den Stalltüren, denn die Euter taten weh. Zu den abseitigen Erben bewegten sich die kräftigen Bauernmädchen mit blanken Melkeimern an hölzernen Tragjochen. Mit ihnen gingen schleppenden Fußes die Burschen und Männer, blinkende Mistforken auf den Schultern. Und während die Mädchen molken, spreiteten sie den Kuhmist in die Halbmonde. Ein gewisser warmer Geruch von Milch und Stall erfüllte die Luft.
Im Westen, am Rande der Landschaft zog sich die »Zeile«, eine herrliche lange Straße her, an der kein offenes Haus, nur geschlossene Höfe lagen. Ein großes, grünes Fahrtor in der Mitte des ganz ummauerten Anwesens, daneben eine kleine Schlupfpforte, an der einen Seite hohe Stallgebäude und Scheunen, an der andern das Wohnhaus, dessen Schmalseite mit einigen Fenstern wie über die Schulter herüberschaute, wer denn nur vorüberging. Die »Zeile« war eine historische Straße, voll von steinernen Zeugnissen alter Bauernherrlichkeit.
Geschlossen war sie von einem breiten Wirtshaus, dessen Vorplatz eine mächtige Linde überschattete. Darunter standen Steintische, Bänke und ein langer steinerner Trog mit einem Laufbrunnen als Pferdetränke. Auf einem grünen Schild stand in roten Buchstaben: »Zum grünen Lindenbaum«. In der Schenke waren sieben Töchter, sieben wohlerzogene brave Töchter, welche die Mutter, die Wittfrau, in Zucht und Gottesfurcht hielt. Die Jüngsten waren noch Kinder, und bei den Älteren duldete sie keinen städtischen Putz, kein Korsett vergewaltigte ihren Leib. Schöne junge Weiber, von denen junge Männer sich Kinder wünschen konnten.
Auf dem Vorplatz unter der Linde saßen Dorfburschen, tranken und sangen zu einer Harmonika. Die Mädchen gingen ab und zu und bedienten sie oder waren lustig und saßen unter ihnen. Mutter Marjue Bärb lehnte mit gekreuzten Armen am Türpfosten über der Steintreppe. Einmal war es vorgekommen, daß sie einem baumlangen roten Burschen, dem eben vom Militär zurückgekehrten Scharlemang, der sich zudringlich einem der Mädchen gegenüber benommen hatte, von unten her – sie war eine kleine Frau – zwei Maulschellen angehängt hatte, die man weithin hatte läuten hören. Der Scharlemang, dem es von dem Schlage im Kopf raunte und sang, hatte ein langes Gesicht gemacht und Mutter Bärb von oben eine Weile unschlüssig angeschaut. Dann hatte er plötzlich über das ganze rotgehauene Gesicht gelacht und gerufen: »Das ist ja wie ein Schellenbaum!« Seitdem hieß die Wirtschaft statt »zum grünen Lindenbaum« im Volksmunde »im Schellenbaum« oder »im klingenden Schellenbaum«.
Die Sonne sank. Auf dem Rande der Landschaft stand eben ein gewaltiger Stier, gerade vor dem Himmel. Regungslos. Die Sonne stieg hinter ihm nieder, einige Minuten befand sich der Stier vor der leuchtenden roten Scheibe, Urbild der Schöpfung. Dann tauchte die Sonne unter den Horizont, und der Stier stürzte mit lautem Gebrüll ins Tal.
In der Ferne rannte der Vikar Feuerstein mit fliegendem Talar durch die dämmernde Landschaft nach der Gegend hinüber, wo die Steinbrüche lagen.