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Elftes Kapitel.
Die Wissenschaft und die Wirklichkeit.

 

§ 5. Zufall und Determinismus.

Ich habe nicht die Absicht, hier die Frage der Zufälligkeit der Naturgesetze zu behandeln, die augenscheinlich unlösbar ist, und über die schon so viel geschrieben ist.

Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, wie viele verschiedene Bedeutungen dem Wort Zufall gegeben werden, und wie nützlich es wäre, sie zu unterscheiden.

Wenn wir ein beliebiges, abgesondertes Gesetz betrachten, können wir im voraus sicher sein, daß es nur angenähert sein kann. Es ist ja aus Erfahrungen abgeleitet, und diese Erfahrungen waren nur annähernd und können nicht anders sein. Man muß immer gewärtig sein, daß genauere Messungen uns nötigen, unseren Formeln neue Glieder hinzuzufügen; so ist es zum Beispiel mit dem Gesetz von Mariotte ergangen.

Außerdem ist der Ausdruck eines jeden Gesetzes notwendig unvollständig. Dieser Ausdruck müßte die Aufzählung aller vorangehenden Umstände enthalten, aus denen ein gegebener Zustand hervorgehen kann. Ich müßte erst alle Bedingungen des zu machenden Experimentes beschreiben, und das Gesetz würde dann lauten: wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, wird dies Ereignis stattfinden.

Man könnte aber nur dann sicher sein, keine dieser Bedingungen vergessen zu haben, wenn man den Zustand des Weltalls im Augenblick t beschrieben hätte; alle Teile des Weltalls können tatsächlich einen mehr oder weniger großen Einfluß auf das Ereignis ausüben, das im Augenblick t + dt eintreten soll.

Nun ist es klar, daß eine derartige Beschreibung nicht in dem Wortlaut des Gesetzes enthalten sein kann; wenn man sie übrigens machte, so würde das Gesetz unanwendbar; wenn man auf einmal so viele Bedingungen forderte, so wäre wenig Aussicht vorhanden, daß sie je in irgendeinem Augenblick alle verwirklicht wären.

Da man also nie sicher ist, keine wesentliche Bedingung vergessen zu haben, so kann man auch nie sagen: wenn die und die Bedingungen erfüllt sind, wird dieses oder jenes Ereignis eintreten: man kann nur sagen: wenn diese Bedingungen erfüllt sind, ist es wahrscheinlich, daß dieses Ereignis ungefähr eintreten wird.

Nehmen wir das Gesetz der Schwere, das am wenigsten unvollkommene von allen bekannten Gesetzen. Es erlaubt uns, die Bewegungen der Planeten vorauszusehen. Wenn ich mich desselben zum Beispiel bediene, um die Bahn des Saturn zu berechnen, so vernachlässige ich die Wirkung der Fixsterne, und ich bin sicher, mich nicht zu täuschen, wenn ich so fortfahre, denn ich weiß, daß die Fixsterne zu weit entfernt sind, als daß ihre Wirkung merklich wäre.

Ich sage also fast mit Gewißheit, daß die Koordinaten des Saturn zu der und der Stunde zwischen den und den Grenzen liegen. Ist aber diese Gewißheit absolut?

Könnte nicht im Weltall eine riesenhafte Masse bestehen, viel größer als die aller bekannten Sterne, deren Wirkung sich in großer Entfernung bemerkbar macht? Könnte diese Masse nicht eine ungeheure Geschwindigkeit haben, und nachdem sie sich immer in solchen Entfernungen bewegt hätte, daß ihr Einfluß bisher für uns nicht merklich wurde, plötzlich nah an uns vorbeikommen? Sicher würde sie in unserem Sonnensystem mächtige Störungen hervorbringen, die wir nicht voraussehen konnten. Alles, was man sagen kann, ist, daß ein derartiges Ereignis ganz und gar unwahrscheinlich ist, und anstatt zu sagen: Der Saturn wird nah bei dem und dem Punkt des Himmels sein, müssen wir uns darauf beschränken, zu sagen: Der Saturn wird wahrscheinlich nah bei diesem Punkt des Himmels sein. Obgleich diese Wahrscheinlichkeit praktisch der Sicherheit gleichwertig ist, so ist es doch nur eine Wahrscheinlichkeit.

Aus all diesen Gründen wird keines unserer Naturgesetze jemals anders als angenähert und wahrscheinlich sein. Die Gelehrten haben diese Wahrheit nie verkannt; nur glauben sie, mit Recht oder Unrecht, daß jedes Gesetz durch ein anderes noch genaueres und wahrscheinlicheres ersetzt werden kann, daß dieses neue Gesetz selbst nur vorläufig sei, aber daß dieses Verfahren unendlich fortgesetzt werden kann, so daß die fortschreitende Wissenschaft immer wahrscheinlichere Gesetze besitzen wird, daß endlich die Annäherung von der Genauigkeit und die Wahrscheinlichkeit von der Gewißheit beliebig wenig unterschieden sein wird.

Wenn die Gelehrten, die so denken, recht haben, kann man dann noch sagen, daß die Naturgesetze zufällig sind, wenn auch jedes dieser Gesetze für sich genommen als zufällig bezeichnet werden kann?

Oder müßte man verlangen, ehe man auf die Zufälligkeit der Naturgesetze schließt, daß dieser Fortschritt ein Ende habe; daß der Gelehrte eines Tages in seiner Forschung nach einer immer größeren Annäherung aufgehalten wird, und daß er über, eine gewisse Grenze hinaus nichts mehr erkennt als die Laune?

In dem Gedankengang, von dem ich oben gesprochen habe (und den ich den wissenschaftlichen nennen will), ist jedes Gesetz nur ein unvollkommener und vorläufiger Ausdruck; aber es wird dereinst durch ein anderes, höheres Gesetz ersetzt werden, von dem es nur ein grobes Abbild ist. Es bleibt also kein Platz für das Dazwischentreten eines freien Willens.

Mir scheint es, daß die kinetische Gastheorie uns ein schlagendes Beispiel lieferte

Es ist bekannt, daß in dieser Theorie alle Eigenschaften des Gases durch eine einfache Hypothese erklärt werden; man nimmt an, daß alle Gasmoleküle sich in allen Richtungen mit großer Geschwindigkeit bewegen, und daß sie geradlinigen Bahnen folgen, die nur gestört werden, wenn ein Molekül sehr nah an der Wand des Gefäßes oder an einem anderen Molekül vorüberkommt. Die Wirkungen, die unsere groben Sinne uns wahrzunehmen erlauben, sind die Durchschnittswirkungen, und in diesem Durchschnitt gleichen sich die großen Unterschiede aus, oder es ist wenigstens sehr unwahrscheinlich, daß sie sich nicht ausgleichen, so daß die Erscheinungen, die wir beobachten können, einfachen Gesetzen folgen, wie dem von Mariotte oder von Gay-Lussac. Aber diese Ausgleichung der Störungen ist nur wahrscheinlich. Die Moleküle ändern unaufhörlich ihren Ort, und bei dieser unausgesetzten Ortsveränderung gehen ihre Lagenverhältnisse nach und nach durch alle möglichen Kombinationen. Diese Kombinationen sind aber sehr zahlreich; fast alle entsprechen dem Mariotteschen Gesetze, nur einige wenige entfernen sich davon. Auch diese werden sich verwirklichen, nur würde man lange auf sie warten müssen; wenn man ein Gas während einer genügend langen Zeit beobachtet, wird man sicher einmal sehen, daß es sich während einer sehr kurzen Zeit vom Mariotteschen Gesetz entfernt. Wie lange würde man warten müssen? Wenn man die wahrscheinliche Zahl der Jahre berechnen wollte, so würde man finden, daß man, um nur die Anzahl der Stellen zu schreiben, vielleicht noch eine zehnstellige Zahl brauchte. Gleichviel; genug daß die Zahl endlich ist.

Ich will hier nicht den Wert dieser Theorie besprechen. Es ist klar, daß, wenn man sie annimmt, uns das Mariottesche Gesetz nur noch als ein zufälliges erscheinen wird, da ein Tag kommen wird, wo es nicht mehr wahr ist. Soll man daraus schließen, daß die Anhänger der kinetischen Theorie Gegner des Determinismus sind? Keineswegs, es sind die allerüberzeugtesten Anhänger der mechanischen Weltanschauung. Ihre Moleküle folgen strengen Bahnen, von denen sie sich nur unter dem Einfluß von Kräften entfernen, die sich mit der Entfernung nach einem vollständig bestimmten Gesetz ändern. In ihrem System bleibt kein Raum, weder für die Freiheit noch für eine Entwicklung im eigentlichen Sinn noch für irgend etwas, was man Zufall nennen könnte. Ich füge, um ein Mißverständnis zu vermeiden, hinzu, daß es auch nicht eine Fortentwickelung des Mariotteschen Gesetzes gibt; es hört auf wahr zu sein nach wer weiß wieviel Jahrhunderten, aber nach einem Bruchteil einer Sekunde wird es wieder wahr, und zwar für eine unberechenbare Zahl von Jahrhunderten.

Da ich hier das Wort Fortentwickelung ausgesprochen habe, so will ich noch ein Mißverständnis aufklären. Man sagt oft: Wer weiß, ob sich die Gesetze nicht entwickeln, und ob man nicht einst entdecken wird, daß sie zur Zeit der Steinkohlenbildung nicht das waren, was sie heute sind? Was versteht man darunter? Was wir von dem früheren Zustand unserer Erde zu wissen glauben, entnehmen wir aus ihrem jetzigen Zustand vermittelst der als bekannt angenommenen Gesetze. Da das Gesetz eine Beziehung zwischen dem Vorhergehenden und dem Folgenden ist, erlaubt es uns ebensogut, die Folge aus dem Vorhergehenden zu entnehmen, das heißt die Zukunft vorherzusehen, wie das Vorhergehende aus den Folgen, das heißt, vom Gegenwärtigen aufs Vergangene zu schließen. Der Astronom, der die gegenwärtige Stellung der Sterne kennt, kann daraus durch das Newtonsche Gesetz ihre künftige Lage entnehmen; das tut er, wenn er die Ephemeriden aufstellt, und er kann ebensogut ihre frühere Stellung daraus ableiten. Die Berechnungen, die er so macht, können ihn nicht darüber unterrichten, ob das Newtonsche Gesetz in der Zukunft aufhören wird, wahr zu sein, da dieses Gesetz gerade sein Ausgangspunkt ist; sie können ihn ebensowenig lehren, ob es in der Vergangenheit nicht wahr gewesen ist. Immerhin können diese Ephemeriden, was die Zukunft anbetrifft, eines Tages verglichen werden, und unsere Nachkommen werden vielleicht erkennen, daß sie falsch waren. Was aber die Vergangenheit anbetrifft, die geologische Vergangenheit, die keine Zeugen gehabt hat, so entgehen die Ergebnisse dieser Rechnung, wie die aller Forschungen, durch die wir das Vergangene aus dem Gegenwärtigen zu erkennen suchen, ihrer Natur nach jeder Art von Kontrolle, so daß, wenn die Naturgesetze zur Zeit der Steinkohlenbildung nicht die gleichen waren wie im gegenwärtigen Zeitpunkt, wir es nie wissen könnten, da wir von jenem Zeitalter nur das wissen können, was wir aus der Hypothese der Dauer der Gesetze entnehmen.

Man könnte vielleicht sagen, daß diese Hypothese zu widersprechenden Resultaten führen könnte, und daß man gezwungen wäre, sie aufzugeben. So kann man über den Ursprung des Lebens schließen, daß es immer lebende Wesen gegeben hat, weil uns die heutige Welt das Leben immer aus dem Leben hervorgehend zeigt; und man kann auch schließen, daß sie nicht immer existiert haben können, weil die Anwendung der physikalischen Gesetze auf den gegenwärtigen Zustand unserer Erde uns lehrt, daß es eine Zeit gab, wo diese Erde so heiß war, daß das Leben darauf unmöglich war. Aber derartige Widersprüche können immer auf zweierlei Weise gehoben werden: man kann annehmen, daß die wahren Gesetze der Natur nicht genau die sind, die wir angenommen haben; oder man kann annehmen, daß die Naturgesetze tatsächlich die sind, die wir angenommen haben, daß es aber nicht immer so war.

Es ist klar, daß die gegenwärtigen Gesetze niemals so genau bekannt sein werden, daß man nicht die erste dieser beiden Lösungen annehmen könnte, und die Annahme einer Fortentwickelung der Gesetze ist daher niemals notwendig.

Nehmen wir andererseits eine solche Fortentwickelung an, nehmen wir meinetwegen auch an, daß die Menschheit lange genug existierte, um Zeuge dieser Entwickelung zu sein. Dasselbe vorausgegangene Ereignis habe zum Beispiel eine andere Folge in der Steinkohlenzeit als in der Quarternärzeit. Damit ist offenbar gesagt, daß die vorausgegangenen Ereignisse ungefähr die gleichen waren; denn wenn alle Umstände genau die gleichen wären, so würde die Steinkohlenzeit von der Quarternärzeit gar nicht zu unterscheiden sein. Offenbar aber macht man nicht diese Voraussetzung. Was bestehen bleibt, ist, daß der und der Vorgang, begleitet von bestimmten Nebenumständen, eine bestimmte Folge hat, und daß der gleiche Vorgang, begleitet von anderen Nebenumständen, eine andere Folge hat. Die Zeit tut nichts dazu.

Das Gesetz, wie es die ungenügend unterrichtete Wissenschaft ausgedrückt hätte, und das behauptet, daß ein bestimmter Vorgang immer dieselbe Folge hat, ohne Rücksicht auf die Nebenumstände – ein Gesetz, das nur angenähert und wahrscheinlich wäre – müßte durch ein anderes, genaueres und wahrscheinlicheres Gesetz ersetzt werden, das die Nebenumstände berücksichtigt. Wir verfallen also immer wieder auf denselben Vorgang, den ich weiter oben analysiert habe, und wenn die Menschheit etwas derartiges entdecken würde, so würde sie nicht sagen, daß die Gesetze sich entwickelt haben, sondern daß die Umstände sich geändert haben.

Dies sind viele verschiedene Bedeutungen des Wortes Zufall Le Roy behält alle bei, und er unterscheidet sie nicht genügend; aber er fügt noch eine neue hinzu. Die Gesetze der Erfahrung sind nur angenähert, und sie erscheinen uns nur darum bisweilen genau, weil wir sie künstlich in das umgestaltet haben, was ich weiter oben ein Prinzip genannt habe. Diese Umgestaltung haben wir frei gemacht, und da die Laune, die uns bestimmt hat, sie zu machen, etwas äußerst Zufälliges ist, haben wir diesen Zufall in das Gesetz selbst hineingetragen. In diesem Sinn dürfen wir sagen, daß der Determinismus die Freiheit voraussetzt, denn wir werden freiwillig Deterministen. Man könnte vielleicht sagen, daß dadurch die Rolle des Nominalismus übertrieben sei, und daß die Einführung dieser neuen Bedeutung des Wortes Zufall nicht viel dazu helfen wird, die Fragen zu lösen, die sich naturgemäß ergeben, und über die wir eben einige Worte gesagt haben.

Ich will hier keineswegs die Grundlagen des Induktionsprinzips aufsuchen; ich weiß sehr wohl, daß es mir nicht gelingen würde; es ist ebenso schwer, dieses Prinzip zu rechtfertigen, als ohne dasselbe fertig zu werden. Ich will nur zeigen, wie die Gelehrten es anwenden und gezwungen sind, es anzuwenden.

Wenn sich der gleiche Fall wieder ereignet, so müssen auch die gleichen Folgen wieder eintreten; so drückt man es gewöhnlich aus. Aber in dieser Fassung würde das Prinzip nutzlos sein. Damit man sagen kann, daß der gleiche Vorgang sich wieder ereignet, müßten alle Umstände die gleichen sein, da keiner vollständig gleichgültig ist, und sie müßten genau die gleichen sein. Und da das niemals eintreten wird, könnte man das Prinzip nie anwenden.

Wir müssen also den Wortlaut abändern und sagen: Wenn ein Vorgang A einmal eine Folge B hervorgebracht hat, so wird ein Vorgang A', der wenig verschieden von A ist, eine Folge B' hervorbringen, die wenig verschieden von B ist. Wie wissen wir aber, daß die Fälle A und A' »wenig verschieden« sind? Wenn irgendeiner der Umstände durch eine Zahl ausgedrückt werden kann, und diese Zahlen in den beiden Fällen sehr nahe Werte haben, so ist die Bedeutung des Wortes »wenig verschieden« verhältnismäßig klar; das Prinzip bezeichnet dann die Folge als eine kontinuierliche Funktion des Vorangegangenen. Und als praktische Regel ergibt sich die Schlußfolgerung, daß man das Recht hat, zu interpolieren. Das tun die Gelehrten auch wirklich täglich, und ohne Interpolation wäre alle Wissenschaft unmöglich.

Zu bemerken ist jedoch noch eins. Man kann das gesuchte Gesetz durch eine Kurve darstellen. Die Erfahrung hat uns gewisse Punkte dieser Kurve kennen gelehrt. Auf Grund des soeben genannten Prinzips glauben wir, daß diese Punkte durch eine ununterbrochene Linie verbunden werden können. Wir ziehen diese Linie nach dem Augenmaß. Neue Erfahrungen liefern uns neue Punkte der Kurve. Wenn diese Punkte außerhalb der von uns im voraus gezogenen Linie liegen, so müssen wir unsere Kurven ändern, aber nicht unser Prinzip aufgeben. Durch beliebige Punkte, so zahlreich sie auch sein mögen, kann man immer eine ununterbrochene Kurve ziehen. Allerdings wird es uns auffallen, wenn diese Kurve allzu unregelmäßig erscheint, und wir werden sogar Irrtümer in der Beobachtung argwöhnen, aber das Prinzip wird dadurch nicht als falsch erwiesen.

Übrigens gibt es unter den begleitenden Umständen einer Erscheinung solche, die wir als unwesentlich betrachten, und wir sehen A und A' als wenig verschieden an, wenn sie sich nur durch nebensächliche Umstände unterscheiden. Nehmen wir zum Beispiel an, ich habe festgestellt, daß sich der Wasserstoff mit dem Sauerstoff unter dem Einfluß eines Funkens vereinigt, und ich bin überzeugt, daß die beiden Gase sich wieder vereinigen werden, obwohl sich die Stellung des Jupiter in der Zwischenzeit beträchtlich geändert hat. Wir nehmen zum Beispiel an, daß der Zustand entfernter Körper keinen Einfluß auf die irdischen Erscheinungen hat, und das scheint sich uns aufzudrängen; aber es gibt Fälle, wo die Wahl der praktisch unbedeutenden Umstände mehr Willkür zuläßt, oder, sagen wir, mehr Spürsinn erfordert.

Noch eine Bemerkung ist zu machen: Das Induktionsprinzip wäre unanwendbar, wenn nicht in der Natur eine große Anzahl einander ähnlicher oder ungefähr ähnlicher Körper vorkäme, wenn man zum Beispiel nicht von einem Stück Phosphor auf ein anderes Stück Phosphor schließen könnte.

Wenn wir über diese Betrachtungen nachdenken, so erscheint uns das Problem des Determinismus und des Zufalls in einem neuen Licht.

Nehmen wir an, wir könnten die Reihe aller Erscheinungen des Weltalls im ganzen Lauf der Zeiten überblicken. Wir könnten das, was man die Aufeinanderfolge nennen könnte, betrachten, ich meine die Beziehungen zwischen dem Vorhergehenden und dem darauf Folgenden. Ich meine nicht die konstanten oder gesetzmäßigen Beziehungen; ich betrachte die verschiedenen verwirklichten Aufeinanderfolgen einzeln, sozusagen individuell.

Wir werden dann erkennen, daß unter diesen Aufeinanderfolgen nicht zwei sind, die ganz gleich sind. Wenn aber das Induktionsprinzip, so wie wir es ausgedrückt haben, wahr ist, so gibt es wenige, die ungefähr gleich sind, und man kann sie nebeneinander stellen. Mit anderen Worten, es ist möglich, die Aufeinanderfolgen in Klassen zu teilen.

Auf dieser Möglichkeit und Rechtmäßigkeit einer solchen Einteilung beruht im Grunde der Determinismus. Das ist alles, was die vorhergehende Analyse davon bestehen läßt. Vielleicht erscheint er unter dieser bescheidenen Form dem Moralisten weniger erschreckend.

Man könnte sagen, daß dieses auf einem Umweg ein Zurückkommen auf die Schlußfolgerungen von Le Roy sei, die wir doch dem Anschein nach oben verworfen haben: man ist Determinist mit Freiheit. Denn in der Tat setzt jede Klassifikation das tätige Eingreifen des Einteilenden voraus. Ich gebe zu, daß sich das verteidigen läßt; es scheint mir aber, daß dieser Umweg nicht nutzlos war und vielmehr dazu beigetragen hat, uns etwas klarer sehen zu lassen.

 

§ 6. Die Objektivität der Wissenschaft.

Ich komme zu der Frage: Was ist der objektive Wert der Wissenschaft? Zunächst aber ist festzustellen: Was verstehen wir unter Objektivität?

Was uns die Objektivität der Welt, in der wir leben, verbürgt, ist, daß wir diese Welt mit anderen denkenden Wesen gemein haben. Durch die Gemeinschaft, die wir mit den anderen Menschen haben, erhalten wir von ihnen fertige Schlußfolgerungen; wir wissen, daß diese Schlußfolgerungen nicht von uns kommen, und gleichzeitig erkennen wir darin das Werk vernünftiger Wesen gleich uns. Und da die Schlußfolgerungen sich auf die Welt unserer Empfindungen anwenden zu lassen scheinen, glauben wir schließen zu können, daß diese vernünftigen Wesen dasselbe gesehen haben wie wir; daher wissen wir, daß wir nicht nur geträumt haben.

Dies ist also die erste Bedingung der Objektivität: was objektiv ist, muß mehreren Geistern gemein sein und folglich von einem dem anderen übermittelt werden können, und da diese Übermittelung nur durch die Rede vor sich gehen kann, die Le Roy so viel Mißtrauen einflößt, sind wir gezwungen, zu schließen: Ohne Rede keine Objektivität.

Die Empfindungen anderer sind für uns eine in Ewigkeit verschlossene Welt. Ist die Empfindung, die ich rot nenne, die gleiche wie die, die mein Nachbar rot nennt? Wir haben kein Mittel, es zu beweisen.

Nehmen wir an, daß eine Kirsche und eine Klatschrose in mir die Empfindung A hervorbringen und in ihm die Empfindung B, wogegen ein Blatt in mir die Empfindung B und in ihm die Empfindung A hervorbringt. Es ist klar, daß wir uns dessen nie bewußt werden; denn ich nenne die Empfindung A rot und die Empfindung B grün, während er die erstere grün und die zweite rot nennt. Was wir dagegen feststellen können, ist, daß in ihm wie in mir die Kirsche und die Klatschrose dieselbe Empfindung hervorrufen, weil er seinen Empfindungen den gleichen Namen gibt, und ich ebenfalls.

Die Empfindungen sind also nicht zu übermitteln, oder vielmehr alles, was reine Eigenschaft an ihnen ist, ist nicht zu übermitteln und auf ewig undurchdringlich. Dem ist aber nicht so bei den Beziehungen zwischen diesen Empfindungen.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist alles, was objektiv ist, ganz eigenschaftslos und nur eine reine Beziehung. Ich gehe gewiß nicht so weit, zu sagen, daß die Objektivität nur reine Quantität sei; dadurch wäre die Natur der in Frage stehenden Beziehungen allzu eng gefaßt; aber man versteht so, wie einer – ich weiß nicht mehr wer – dazu gekommen ist, zu sagen, die Welt sei nur eine Differentialgleichung.

Indem wir jeden Vorbehalt über diese paradoxe Behauptung machen, müssen wir doch zugeben, daß nichts objektiv ist, was nicht unmittelbar ist, und daß folglich allein die Beziehungen zwischen den Empfindungen einen objektiven Wert haben können.

Man könnte einwerfen, daß die ästhetische Erregung, die allen Menschen gemein ist, den Beweis liefert, daß die Eigenschaften unserer Empfindungen auch für alle Menschen die gleichen und infolgedessen objektiv sind. Wenn man aber darüber nachdenkt, so findet man, daß dieser Beweis nicht geliefert ist; was bewiesen ist, ist, daß die Gemütsbewegung bei Peter wie bei Paul durch die Empfindungen hervorgebracht wurde, denen beide den gleichen Namen geben, oder durch entsprechende Verbindungen dieser Empfindungen. Es wird also diese Gemütsbewegung bei Peter von der Empfindung A begleitet sein, die er rot nennt, während sie bei Paul von der Empfindung B begleitet ist, die dieser rot nennt. Oder es wird diese Gemütsbewegung nicht eigentlich durch die Eigenschaften der Empfindungen hervorgerufen, sondern durch die harmonische Zusammenstellung ihrer Beziehungen, deren unbewußten Eindruck wir empfangen.

Eine Empfindung ist nicht darum schön, weil sie bestimmte Eigenschaften besitzt, sondern weil sie im Gewebe unserer Gedankenverbindungen einen bestimmten Platz einnimmt, so daß man sie nicht erregen kann, ohne den »Empfänger« in Bewegung zu setzen, der am anderen Ende des Drahtes ist und der künstlerischen Erregung entspricht.

Ob man sich auf den moralischen, den ästhetischen oder den wissenschaftlichen Standpunkt stellt, es bleibt immer das gleiche. Nur das ist objektiv, was für alle dasselbe ist; man kann von einer solchen Identität nur sprechen, wenn ein Vergleich möglich ist, wenn er in »Scheidemünze« umgewechselt und von einem Geist auf den anderen übertragen werden kann. Nur das hat also einen objektiven Wert, was durch die Rede übermittelt werden kann, das heißt, was dem Verstande zugänglich ist.

Das ist aber nur eine Seite der Sache. Eine vollständig ungeordnete Menge würde keinen objektiven Wert haben können, weil sie unverständlich wäre; aber eine wohlgeordnete Menge würde auch keinen haben können, wenn sie nicht tatsächlich empfundenen Gefühlen entspräche. Es scheint mir überflüssig, an diese Bedingung zu erinnern, und ich hätte nicht daran gedacht, wenn man nicht kürzlich behauptet hätte, daß die Physik keine experimentelle Wissenschaft wäre. Obwohl diese Meinung gar keine Aussicht hat, weder von den Physikern noch von den Philosophen angenommen zu werden, so ist es doch gut, gewarnt zu sein, damit man nicht auf der schiefen Ebene, die dahin führen würde, ins Gleiten kommt. Es müssen also zwei Bedingungen erfüllt werden, und wenn die erste die Wirklichkeit Ich gebrauche hier das Wort wirklich als gleichbedeutend mit objektiv; ich richte mich hierin nach dem allgemeinen Gebrauch; vielleicht ist es nicht richtig; unsere Träume sind wirklich, aber sie sind nicht objektiv. vom Traum trennt, so unterscheidet die zweite sie vom Roman.

Was ist nun die Wissenschaft? Ich habe es im vorhergehenden Paragraphen erklärt, es ist vor allem eine Klassifikation, eine Art, Tatsachen zusammenzustellen, die der Anschein trennt, obgleich sie durch irgendeine natürliche und verborgene Verwandtschaft verbunden sind. Die Wissenschaft ist, mit anderen Worten, ein System der Beziehungen. Wir haben es ausgesprochen, nur in den Beziehungen muß die Objektivität gesucht werden; es wäre vergeblich, sie in den Dingen selbst, ganz ohne Beziehung zueinander, suchen zu wollen.

Die Behauptung, daß die Wissenschaft keinen objektiven Wert haben kann, weil sie uns nur die Beziehungen kennen lehrt, wäre verkehrt, weil es gerade die Beziehungen allein sind, die als objektiv zu betrachten sind.

Die äußeren Gegenstände zum Beispiel, für die das Wort Objekt erfunden worden ist, sind eben Objekte und nicht flüchtige und ungreifbare Erscheinungen, weil es nicht nur Gruppen von Empfindungen sind, sondern Gruppen, die durch eine beständige Verbindung zusammengekittet sind. Diese Verbindung ist es, und nur sie, was an ihnen Objekt ist, und dies ist eine Beziehung.

Wenn wir also fragen, was der objektive Wert der Wissenschaft ist, so heißt das nicht: Lehrt uns die Wissenschaft die wahre Natur der Dinge kennen?, sondern es heißt: Lehrt sie uns die wahren Beziehungen der Dinge kennen?

Auf die erste Frage würde niemand zögern, Nein zu antworten; aber ich glaube, man kann noch weitergehen; nicht nur die Wissenschaft kann uns die Natur der Dinge nicht kennen lehren, sondern nichts ist imstande, sie uns kennen zu lehren, und wenn ein Gott sie kennt, so würde er keine Worte finden, um sie auszudrücken. Wir können nicht nur keine Antwort geben, sondern wenn man sie uns auch gäbe, so würden wir sie nicht verstehen; ich zweifle sogar, ob wir die Frage verstehen.

Wenn also eine wissenschaftliche Theorie den Anspruch erhebt, uns zu lehren, was die Wärme oder die Elektrizität oder das Leben sei, so ist sie von vornherein verurteilt; alles, was sie uns geben kann, ist nur ein grobes Bild. Sie ist also unvollständig und hinfällig.

Da die erste Frage also beseitigt ist, bleibt die zweite. Kann uns die Wissenschaft die wahren Beziehungen der Dinge lehren? Muß vielleicht das, was sie zusammenfügt, getrennt und das, was sie trennt, zusammengefügt werden?

Um den Sinn dieser neuen Frage zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, was wir weiter oben über die Bedingungen der Objektivität gesagt haben. Haben diese Verbindungen einen objektiven Wert? heißt: Sind diese Verhältnisse für alle die gleichen? werden sie noch die gleichen sein für die, die nach uns kommen?

Es ist klar, daß sie nicht die gleichen sind für den Gelehrten und den Unwissenden. Das macht aber nichts; weil der Unwissende sie nicht sogleich sieht, kann es dem Gelehrten gelingen, sie ihm zu zeigen durch eine Reihe von Experimenten und Schlußfolgerungen. Das wesentliche ist, daß es Punkte gibt, über die alle, die die gemachten Erfahrungen kennen, übereinstimmen.

Die Frage ist, ob diese Übereinstimmung dauernd sein und bei unseren Nachkommen fortbestehen wird. Man kann sich fragen, ob die Verbindungen, die die Wissenschaft von heute macht, durch die Wissenschaft von morgen bestätigen werden. Man kann gar keinen Grund a priori anführen, diese Frage zu bejahen; aber es ist eine tatsächliche Frage, und die Wissenschaft hat schon lange genug gelebt, daß man, wenn man ihre Geschichte befragt, wissen kann, ob die Gebäude, die sie errichtet hat, die Probe der Zeit bestehen werden, oder ob es nur vergängliche Bauwerke sind.

Was sehen wir aber da? Beim ersten Blick scheint es uns, daß die Theorien nur einen Tag dauern, und daß sich Ruinen auf Ruinen häufen. Heute entstehen sie; morgen sind sie in der Mode; übermorgen sind sie klassisch; am nächsten Tage sind sie veraltet und dann werden sie vergessen. Wenn man aber genauer zusieht, so erkennt man, daß das, was so verfällt, solche Theorien sind, die beanspruchen, uns zu lehren, was die Dinge sind. Aber es gibt etwas in ihnen, was fortbesteht. Wenn eine von ihnen uns eine wahre Beziehung enthüllt hat, so ist diese Beziehung endgültig gewonnen, und man findet sie unter einer neuen Hülle in den anderen Theorien wieder, die in der Folge an ihrer Stelle herrschen werden.

Nehmen wir ein Beispiel: Die Theorie der Ätherwellen lehrte uns, daß das Licht eine Bewegung sei; heute bevorzugt man die elektromagnetische Theorie, die uns lehrt, daß das Licht ein Strom sei. Wir wollen nicht prüfen, ob man sie in Übereinstimmung bringen könnte und sagen, daß das Licht ein Strom, und dieser Strom eine Bewegung sei. Da es auf jeden Fall wahrscheinlich ist, daß diese Bewegung nicht mit der identisch wäre, die die Anhänger der alten Theorie annahmen, könnte man sich für berechtigt halten, zu sagen, daß die alte Theorie abgesetzt ist. Und doch bleibt etwas davon, da zwischen den hypothetischen Strömen, die Maxwell annimmt, die gleichen Beziehungen bestehen, wie zwischen den hypothetischen Bewegungen, die Fresnel angenommen hat. Es bleibt also etwas stehen, und dieses Etwas ist das wesentliche. Das erklärt, daß die gegenwärtigen Physiker ohne jede Schwierigkeit von der Sprache Fresnels zu der Sprache Maxwells übergehen konnten.

Freilich sind viele Verbindungen, die man für wohl befestigt hielt, aufgegeben worden; aber die Mehrzahl besteht und scheint weiter bestehen zu sollen. Und was ist nun für diese das Maß der Objektivität?

Es ist ganz das gleiche wie für unseren Glauben an die äußeren Objekte. Diese letzteren sind insofern wirklich, als die Empfindungen, die sie in uns erregen, uns untereinander durch ein gewisses unzerstörbares Bindemittel verknüpft scheinen, und nicht durch einen flüchtigen Zufall. Ebenso enthüllt uns die Wissenschaft zwischen den Erscheinungen andere, feinere, aber nicht weniger haltbare Bande; es sind so dünne Fäden, daß sie lange unentdeckt geblieben sind; seit man sie aber einmal bemerkt hat, kann man sie nicht mehr übersehen; sie sind also nicht weniger wirklich als die, die den äußeren Gegenständen ihre Wirklichkeit gaben; es kommt nicht darauf an, daß sie erst viel kürzer bekannt sind, denn die einen werden nicht vor den anderen vergehen.

Man kann zum Beispiel sagen, daß der Äther nicht weniger wirklich ist als jeder beliebige äußere Körper; wenn man von einem solchen Körper sagt, er existiert, so heißt das, daß zwischen der Farbe, dem Geschmack, dem Geruch dieses Körpers ein haltbares und dauerndes inneres Band besteht; wenn man sagt, der Äther existiert, so heißt das, daß es eine natürliche Verwandtschaft zwischen allen optischen Erscheinungen gibt, und von diesen beiden Behauptungen hat die eine augenscheinlich nicht weniger Wert als die andere.

Und selbst die wissenschaftlichen Zusammenstellungen haben in gewissem Sinn mehr Realität als die des gesunden Menschenverstandes, weil sie einen größeren Umfang haben und danach streben, die partiellen Zusammenstellungen in sich aufzunehmen.

Man könnte sagen, die Wissenschaft sei nur eine Klassifikation, und eine Klassifikation kann nicht wahr, sondern nur bequem sein. Es ist aber wahr, daß sie bequem ist; es ist wahr, daß sie es nicht nur für mich, sondern für alle Menschen ist; es ist wahr, daß sie für unsere Nachkommen bequem bleiben wird; es ist endlich wahr, daß dies nicht zufällig sein kann.

Kurz gesagt, die einzige objektive Wirklichkeit sind die Beziehungen der Dinge, aus denen die Harmonie der Welt hervorgeht. Allerdings könnten diese Beziehungen, diese Harmonie nicht außerhalb eines Geistes, der sie begreift oder sie fühlt, begriffen werden. Aber sie sind nichtsdestoweniger objektiv, weil sie allen denkenden Wesen gemein sind und bleiben werden.

Dies führt uns auf die Frage der Rotation der Erde zurück, die uns gleichzeitig Gelegenheit bietet, das Vorhergehende durch ein Beispiel zu erklären.

 

§ 7. Die Rotation der Erde.

»… Daher«, habe ich in » Wissenschaft und Hypothese« gesagt, »hat die Behauptung, die Erde dreht sich, gar keinen Sinn; oder vielmehr, die beiden Sätze, die Erde dreht sich, und, es ist bequemer, anzunehmen, daß die Erde sich dreht, haben ein und denselben Sinn.«

Diese Worte haben zu den seltsamsten Auslegungen Anlaß gegeben. Man hat geglaubt, darin die Wiederherstellung des Ptolemäischen Systems zu sehen, und vielleicht die Rechtfertigung der Verurteilung Galileis.

Wer den ganzen Band aufmerksam durchgelesen hat, kann sich jedoch nicht täuschen. Die Wahrheit, die Erde dreht sich, wird auf dieselbe Stufe gestellt, wie zum Beispiel das Postulat von Euklid; heißt das, es verwerfen? Aber noch mehr; in der gleichen Sprache kann man sehr gut sagen: die beiden Behauptungen, die äußere Welt existiert, oder, es ist bequemer anzunehmen, daß sie existiert, haben ein und denselben Sinn. Also behält die Hypothese von der Rotation den gleichen Grad von Sicherheit, wie die Existenz der äußeren Gegenstände.

Aber nach dem, was wir oben auseinandergesetzt haben, können wir noch weiter gehen. Eine physikalische Theorie ist um so wahrer, je mehr wahre Verhältnisse sie hervortreten läßt. Unter der Beleuchtung dieses neuen Prinzips wollen wir die Frage, die uns beschäftigt, prüfen.

Nein, es gibt keinen absoluten Raum; von den beiden widersprechenden Theorien »die Erde dreht sich« und »die Erde dreht sich nicht«, ist also, von dem kinematischen Standpunkt betrachtet, die eine so wenig wahr oder unwahr als die andere. Die eine bejahen und die andere leugnen, wäre, im kinematischen Sinn die Existenz des absoluten Raumes zugestehen. Wenn uns aber die eine wahre Verhältnisse aufdeckt, die uns die andere verhüllt, so kann man die erstere dennoch für physikalisch richtiger ansehen wie die andere, weil sie einen reicheren Inhalt hat. In dieser Hinsicht ist gar kein Zweifel möglich.

Da ist die scheinbare tägliche Bewegung der Sterne und die tägliche Bewegung der anderen Himmelskörper und andererseits die Abplattung der Erde, die Drehung des Foucaultschen Pendels, die Wirbelbewegung der Zyklonen, die Passatwinde und was noch alles. Für die Anhänger des Ptolemäus haben alle diese Erscheinungen gar keine Verbindung untereinander; für den Anhänger von Kopernikus sind sie durch eine gemeinsame Ursache hervorgebracht. Wenn ich sage, die Erde dreht sich, bestätige ich, daß alle diese Erscheinungen eine innere Beziehung haben, und das ist wahr, und das bleibt wahr, obgleich es keinen absoluten Raum gibt und geben kann.

Das spricht für die Umdrehung der Erde um sich selbst; was soll man von ihrer Bewegung um die Sonne sagen? Auch hier haben wir drei Erscheinungen, die für den Anhänger von Ptolemäus vollständig unabhängig, und für den Anhänger von Kopernikus auf den gleichen Ursprung bezogen sind; es sind die scheinbaren Ortsveränderungen der Planeten an der Himmelskugel, die Aberration der Fixsterne und deren Parallaxe. Kann es Zufall sein, daß alle Planeten eine Verschiebung zeigen, deren Periode ein Jahr ist, und daß diese Periode genau dieselbe ist, wie die der Aberration und der Parallaxe? Das System von Ptolemäus annehmen, heißt: Ja antworten, das von Kopernikus annehmen, heißt: Nein antworten, heißt bestätigen, daß es eine Beziehung zwischen den drei Erscheinungen gibt, und auch das ist wahr, obgleich es keinen absoluten Raum gibt.

In dem System von Ptolemäus können die Bewegungen der Himmelskörper nicht durch die Wirkung der Zentralkräfte erklärt werden; die Himmelsmechanik ist unmöglich. Die inneren Beziehungen, die uns die Himmelsmechanik zwischen allen Himmelserscheinungen enthüllt, sind wahre Beziehungen. Die Unbeweglichkeit der Erde zugeben, hieße, diese Beziehungen verleugnen, also sich täuschen.

Die Wahrheit, für die Galilei gelitten hat, bleibt also die Wahrheit, auch wenn sie nicht ganz den gleichen Sinn hat wie für den gemeinen Mann, und ihr wahrer Sinn viel feiner, viel tiefer und viel reicher ist.

 

§ 8. Die Wissenschaft um der Wissenschaft willen.

Nicht gegen Le Roy will ich die Wissenschaft um der Wissenschaft willen verteidigen; es ist vielleicht das, was er verurteilt, aber er fördert es auch, da er die Wahrheit liebt und aufsucht und ohne sie nicht leben könnte. Ich muß aber einige Betrachtungen anstellen.

Wir können nicht alle Tatsachen kennen, und man muß die auswählen, die wert sind, gekannt zu werden. Wenn man Tolstoi glauben wollte, so träfen die Gelehrten diese Wahl nach dem Zufall, statt sie, wie es vernünftig wäre, in Anbetracht der praktischen Anwendungen zu treffen. Die Gelehrten halten dagegen gewisse Tatsachen für interessanter wie andere, weil sie eine unvollendete Harmonie vervollständigen, oder weil sie zahlreiche andere Tatsachen voraussehen lassen. Wenn sie unrecht haben, wenn diese Rangordnung der Tatsachen, die sie stillschweigend fordern, nur eine leere Täuschung ist, so könnte es keine Wissenschaft um ihrer selbst willen geben, und folglich keine Wissenschaft. Ich für meine Person glaube, daß sie recht haben, und habe zum Beispiel oben den hohen Wert der astronomischen Tatsachen nicht darin gesucht, daß sie sich zu praktischen Anwendungen eignen, sondern darin, daß es die lehrreichsten von allen sind.

Nur durch die Wissenschaft und die Kunst hat die Kultur Wert. Man hat sich über die Formel gewundert: »die Wissenschaft um der Wissenschaft willen«, und doch ist das mehr wert als: »das Leben um des Lebens willen«, wenn das Leben nur Elend ist, und selbst mehr als »das Glück um des Glückes willen«, wenn man nicht glauben will, daß alles Vergnügen gleichwertig ist, nicht zugeben, daß es der Zweck der Kultur ist, denen Alkohol zu liefern, die gerne trinken.

Jede Tätigkeit muß ein Ziel haben. Wir müssen leiden, wir müssen arbeiten, wir müssen unseren Platz im Schauspiel bezahlen; aber es geschieht, um zu sehen, oder wenigstens damit andere einst sehen.

Alles, was nicht Gedanke ist, ist das reine Nichts, weil wir nur den Gedanken denken können, und weil alle Worte, über die wir verfügen, um von Dingen zu sprechen, nur Gedanken ausdrücken können; zu sagen, daß es etwas anderes gibt als den Gedanken, ist also eine Behauptung, die gar keinen Sinn haben kann.

Und doch – seltsamer Widerspruch für die, die an die Zeit glauben – zeigt uns die geologische Geschichte, daß das Leben nur eine kurze Episode zwischen zwei Ewigkeiten des Todes ist, und daß in dieser Episode selbst der bewußte Gedanke nur einen Augenblick gedauert hat und dauern wird. Der Gedanke ist nur ein Blitz inmitten einer langen Nacht.

Aber dieser Blitz ist alles.


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