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Siebentes Kapitel.
Geschichte der mathematischen Physik.

Die Vergangenheit und Zukunft der Physik. Wie ist der gegenwärtige Zustand der mathematischen Physik? Zu welchen Problemen führt sie? Wie wird ihre Zukunft sein? Ist ihre Richtung im Begriff sich zu ändern? Werden Ziel und Methode dieser Wissenschaft in zehn Jahren unseren unmittelbaren Nachfolgern in demselben Licht erscheinen wie uns, oder werden wir im Gegenteil einer Umgestaltung von Grund auf beiwohnen? Dieses sind die Fragen, die wir stellen müssen, wenn wir unsere Untersuchung vornehmen.

So leicht es ist, sie zu stellen, so schwer ist es, sie zu beantworten. Wenn es uns lockte, eine Vorhersage zu wagen, so würden wir dieser Versuchung leicht widerstehen, wenn wir an all die Torheiten denken, die die bedeutendsten Gelehrten vor hundert Jahren gesagt haben würden, wenn man sie gefragt hätte, was die Wissenschaft im 19. Jahrhundert sein würde. Sie würden geglaubt haben, in ihren Voraussagungen kühn zu sein, und wie ängstlich wären sie uns nach dem Ausgang erschienen. Man erwarte also von mir keine Prophezeiung.

Wenn es mir aber auch, wie jedem vorsichtigen Arzt, widerstrebt, eine Prognose zu stellen, so kann ich mich doch nicht einer kleinen Diagnose enthalten. Allerdings, es sind Anzeichen einer ernsten Krisis vorhanden; es scheint, als ob wir uns auf eine nahe Umgestaltung gefaßt machen müßten. Seien wir jedoch nicht zu besorgt! Wir sind sicher, daß die Kranke nicht sterben wird, und wir können sogar hoffen, daß diese Krisis heilsam sein wird, denn die Geschichte der Vergangenheit scheint es uns zu verbürgen. Es ist ja auch nicht die erste Krisis, und um sie zu verstehen ist es wichtig, sich der vorangegangenen zu erinnern. Es sei mir also eine kurze historische Zusammenstellung erlaubt.

Die Physik der Zentralkräfte. Die mathematische Physik ist, wie wir wissen, eine Tochter der Himmelsmechanik, die am Ende des 18. Jahrhunderts in dem Augenblick geboren wurde, wo diese ihre höchste Vollendung erreicht hatte. In den ersten Jahren besonders glich das Kind seiner Mutter in erstaunlicher Weise.

Die Sternenwelt ist aus Massen gebildet, die zwar sehr groß, aber durch so ungeheure Entfernungen getrennt sind, daß sie uns wie materielle Punkte erscheinen; diese Punkte ziehen sich im umgekehrten Verhältnis des Quadrates der Entfernungen an, und diese Anziehung ist die einzige Kraft, die ihre Bewegungen beeinflußt. Wären aber unsere Sinne scharf genug, uns alle Einzelheiten der Körper zu zeigen, die die Physiker studieren, so würde sich das Schauspiel, das wir hier entdecken, kaum von dem unterscheiden, das die Astronomen beobachten. Auch hier würden wir materielle Punkte sehen, die im Verhältnis zu ihren Dimensionen durch ungeheure Entfernungen voneinander getrennt sind und nach regelmäßigen Gesetzen ihre Bahnen beschreiben. Diese unendlich kleinen Sterne sind die Atome, Wie die eigentlichen Sterne ziehen sie sich an und stoßen sich ab, und diese Anziehung und Abstoßung, die in der Richtung ihrer Verbindungslinie wirkt, hängt nur von der Entfernung ab. Das Gesetz, nach dem diese Kräfte als Funktionen der Entfernung variieren, ist vielleicht nicht das Newtonsche Gesetz, aber es ist ein ähnliches; statt des Exponenten -2 haben wir wahrscheinlich einen anderen Exponenten, und aus dieser Änderung des Exponenten geht alle Verschiedenheit der physikalischen Erscheinungen hervor, die mannigfachen Zustände und Empfindungen, die ganze Welt der Farben und des Schalles, die uns umgibt, mit einem Wort, die ganze Natur.

Dies ist die ursprüngliche Vorstellung in ihrer ganzen Reinheit. Es muß nur in den verschiedenen Fällen noch untersucht werden, welchen Wert dieser Exponent haben muß, um sich über alle Tatsachen Rechenschaft zu geben. Nach diesem Vorbild hat zum Beispiel Laplace seine schöne Theorie der Kapillarität aufgebaut; er betrachtet sie nur als einen besonderen Fall der Anziehung, oder wie er sagt, der allgemeinen Schwere, und niemand wundert sich darüber, sie mitten in einem der fünf Bände der Mécanique céleste zu finden. In neuerer Zeit glaubt Briot, das letzte Geheimnis der Optik erkannt zu haben, wenn er beweist, daß die Ätheratome sich im umgekehrten Verhältnis der sechsten Potenz der Entfernung anziehen; und sagt nicht Maxwell sogar irgendwo, daß die Gasatome sich im umgekehrten Verhältnis der fünften Potenz der Entfernung abstoßen? Wir haben den Exponenten -6 oder -5 statt des Exponenten -2; aber es ist doch immer ein Exponent.

Unter all den Theorien dieser Zeit ist eine einzige Ausnahme, die Fouriersche Theorie der Ausbreitung der Wärme; es gibt auch darin Atome, die in die Entfernung aufeinander wirken; sie senden sich gegenseitig Wärme, aber sie ziehen sich nicht an, sie bewegen sich nicht. Von diesem Gesichtspunkt aus mußte die Fouriersche Theorie in den Augen seiner Zeitgenossen und in seinen eigenen Augen unvollkommen und provisorisch erscheinen.

Diese Vorstellung war nicht ohne Größe; sie war verführerisch und viele unter uns haben noch nicht endgültig darauf verzichtet; sie wissen, daß man die letzten Elemente der Dinge nur erreicht, indem man geduldig das verwickelte Gewebe auseinanderwirrt, das uns die Sinne geben; daß man Schritt für Schritt fortschreiten muß, ohne irgendein Zwischenglied zu übergehen, daß unsere Väter unrecht hatten, wenn sie Stufen überspringen wollten; aber sie glauben, daß man, wenn man zu diesen letzten Elementen gelangt, hier die erhabene Einfachheit der Himmelsmechanik, finden wird.

Diese Vorstellung war auch nicht nutzlos; sie hat uns einen unschätzbaren Dienst geleistet, denn sie hat dazu beigetragen, in uns den fundamentalen Begriff des physikalischen Gesetzes zu befestigen. Ich will mich näher erklären. Wie verstanden die Alten das Gesetz? Für sie war es eine innere Harmonie, sozusagen statisch und unveränderlich; oder es war ein Idealbild, dem nachzustreben die Natur sich bemühte. Für uns hat ein Gesetz nicht mehr diese Bedeutung; es ist eine unveränderliche Beziehung zwischen der Erscheinung von heute und der von morgen; mit einem Wort, es ist eine Differentialgleichung.

Das ist die ideale Gestalt des physikalischen Gesetzes, und das Newtonsche Gesetz hat sich zuerst in dieses Gewand gekleidet. Wenn man später diese Form in der Physik heimisch machte, so geschah es, indem man nach Möglichkeit das Newtonsche Gesetz nachbildete, indem man die Himmelsmechanik nachahmte. Das ist der Gedanke, den ich im sechsten Kapitel hervortreten lassen wollte.

Die Physik der Prinzipien. Trotzdem ist ein Tag erschienen, an dem die Vorstellung der Zentralkräfte nicht mehr zu genügen schien; das ist die erste der Krisen, von denen ich eben gesprochen habe.

Was tat man nun? Man verzichtete darauf, in die Einzelheiten der Konstruktion des Weltalls einzudringen, die einzelnen Teile dieses ausgedehnten Mechanismus zu trennen, die Kräfte, die sie in Schwung setzen, einzeln zu bestimmen, und man begnügte sich damit, gewisse allgemeine Prinzipien zum Führer zu nehmen, deren Zweck es gerade ist, uns dieser kleinlichen Studien zu überheben. Auf welche Weise? Nehmen wir an, daß wir irgendeine Maschine vor uns haben; das Anfangsräderwerk und das Endräderwerk sind allein sichtbar; aber die Übertragung, die vermittelnden Räderwerke, durch die die Bewegungen des einen dem anderen mitgeteilt werden, sind verborgen und entgehen unserem Blick; wir wissen nicht, ob die Bewegung durch Verzahnung oder Riemen, durch Kurbeln oder andere Vorrichtungen übertragen wird. Können wir sagen, daß es uns unmöglich ist, etwas von der Maschine zu verstehen, solange es uns nicht erlaubt ist, sie auseinander zu nehmen? Sicherlich nicht; das Prinzip von der Erhaltung der Energie genügt, um unsere Aufmerksamkeit auf dem wichtigsten Punkt festzuhalten; wir stellen mit Leichtigkeit fest, daß das Endrad sich zehnmal langsamer dreht als das Anfangsrad, da diese beiden Räder sichtbar sind; wir können daraus schließen, daß ein an das erste angelegtes Kräftepaar einem zweiten, zehnmal so großen Paar, das an das zweite angelegt ist, das Gleichgewicht hält. Es ist hierzu durchaus nicht nötig, in den Mechanismus dieses Gleichgewichtes einzudringen und zu wissen, wie sich die Kräfte im Innern der Maschine ausgleichen; es genügt, sich zu überzeugen, daß diese Ausgleichung nicht ausbleiben kann.

In bezug auf das Weltall kann uns das Prinzip von der Erhaltung der Energie den gleichen Dienst leisten. Es ist auch eine Maschine – und eine sehr viel kompliziertere als die der Industrie – deren Teile uns fast alle tief verborgen sind. Indem wir aber die Bewegungen der Teile, die wir sehen können, beobachten, können wir mit Hilfe dieses Prinzips Schlüsse ziehen, die gültig bleiben, wie auch die Einzelheiten des unsichtbaren Triebwerkes sein mögen.

Das Prinzip der Erhaltung der Energie, oder das Prinzip von Robert Meyer, ist sicherlich das wichtigste; aber es ist nicht das einzige; es gibt andere, aus denen wir den gleichen Nutzen ziehen können:

Das Carnotsche Prinzip oder Prinzip der Abnahme der Energie.

Das Newtonsche Prinzip oder Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung.

Das Prinzip der Relativität, nach dem die Gesetze der physikalischen Vorgänge für einen feststehenden Beobachter die gleichen sein sollen, wie für einen in gleichförmiger Translation fortbewegten, so daß wir gar kein Mittel haben oder haben können, zu unterscheiden, ob wir in einer derartigen Bewegung begriffen sind oder nicht.

Das Prinzip der Erhaltung der Masse oder das Lavoisiersche Prinzip.

Ich füge noch das Prinzip der kleinsten Wirkung hinzu.

Die Anwendung dieser fünf oder sechs allgemeinen Prinzipien auf die verschiedenen physikalischen Erscheinungen genügt, um uns das zu lehren, was wir vernünftigerweise davon zu wissen hoffen dürfen. Das bemerkenswerteste Beispiel dieser neuen mathematischen Physik ist unbestreitbar die elektromagnetische Lichttheorie von Maxwell. Was ist der Äther; wie sind seine Moleküle geordnet; ziehen sie sich an oder stoßen sie sich ab? wir wissen nichts von alledem; wir wissen aber, daß dieses Mittel gleichzeitig die optischen und elektrischen Störungen überträgt; wir wissen, daß diese Übertragung nach den allgemeinen Prinzipien der Mechanik vor sich gehen muß, und das genügt uns, um die Gleichungen des elektromagnetischen Feldes aufzustellen.

Diese Prinzipien sind die Ergebnisse stark verallgemeinerter Erfahrungen; sie scheinen aber gerade dieser Verallgemeinerung einen außerordentlichen Grad von Sicherheit zu verdanken. Je allgemeiner sie sind, um so öfter hat man Gelegenheit, sie zu kontrollieren, und die Bestätigungen lassen, indem sie sich vermehren und die allerverschiedensten und unerwartetsten Formen annehmen, endlich keinem Zweifel mehr Raum.

Der Nutzen der alten Physik. Dies ist die zweite Phase der mathematischen Physik, die wir noch nicht verlassen haben. Dürfen wir sagen, daß die erste unnütz gewesen sei? daß die Wissenschaft fünfzig Jahre lang auf falschen Bahnen gegangen ist, und daß uns nur übrigbleibt, all die angehäuften Bemühungen zu vergessen, die eine fehlerhafte Voraussetzung von vornherein zum Mißerfolg verurteilte? Nichts weniger als das. Hätte die zweite Phase entstehen können ohne die erste? Die Hypothese der Zentralkräfte enthielt alle Prinzipien; sie führte sie mit sich wie notwendige Folgen. Sie enthielt sowohl die Erhaltung der Energie als die der Massen, und die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung sowohl als das Gesetz von der kleinsten Wirkung, die allerdings nicht wie Erfahrungstatsachen erscheinen, sondern wie Theoreme, und deren Wortlaut gleichzeitig etwas Genaueres und weniger Allgemeines hatte als in ihrer gegenwärtigen Form.

Die mathematische Physik unserer Väter hat uns mit den verschiedenen Prinzipien nach und nach vertraut gemacht und uns daran gewöhnt, sie unter den verschiedenen Hüllen zu erkennen, unter denen sie sich verbirgt. Man hat sie mit den Angaben der Erfahrung verglichen; man hat gesehen, wie der Wortlaut abgeändert werden mußte, um sie diesen Angaben anzupassen; von hier aus hat man sie erweitert und befestigt. So ist man dazu gekommen, sie als Erfahrungstatsachen anzusehen; die Vorstellung der Zentralkräfte wurde dadurch eine überflüssige Stütze oder vielmehr ein Hindernis, weil so die Prinzipien an ihrem hypothetischen Charakter teilnehmen mußten.

Die Rahmen sind also nicht zerbrochen, denn sie waren elastisch und haben sich erweitert; unsere Väter, die sie errichtet, haben nicht umsonst gearbeitet, und wir erkennen noch in der heutigen Wissenschaft die Umrisse der Skizzen, die sie entworfen haben.


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