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Erster Teil.
Die mathematischen Wissenschaften.


Erstes Kapitel.
Anschauung und Logik in der Mathematik.

 

I.

Es ist unmöglich, die Werke der großen Mathematiker zu studieren, ja selbst die der kleinen, ohne zwei entgegengesetzte Tendenzen, oder vielmehr zwei vollständig verschiedene Geistesrichtungen zu unterscheiden. Die einen sind vor allem durch die Logik beeinflußt; wenn man ihre Werke liest, könnte man glauben, daß sie nur Schritt für Schritt vorrücken, nach der Methode eines Vauban, der mit seinen Belagerungswerken gegen eine Festung vorrückt, ohne dem Zufall das geringste zu überlassen. Die anderen lassen sich durch die Anschauung leiten und machen, gleich kühnen Reitern im Vorpostengefecht, mit einem Schlage große Eroberungen, die aber nicht immer zuverlässig sind.

Nicht der zu bearbeitende Stoff veranlaßt sie zur einen oder anderen Methode. Wenn man die ersteren oft Analytiker, die anderen Geometer nennt, so bleiben die einen Analytiker, selbst bei geometrischen Arbeiten, während die anderen auch dann noch Geometer sind, wenn sie sich mit reiner Analyse beschäftigen. Es ist die Anlage des Geistes, die sie zu Logikern oder intuitiven Naturen macht, und sie können sich nicht davon befreien, wenn sie einen neuen Gegenstand vornehmen.

Es ist auch nicht die Erziehung, die in ihnen die eine der beiden Richtungen geweckt und die andere erstickt hat. Man wird zum Mathematiker geboren, nicht erzogen, und allem Anschein nach wird man auch zum Geometer oder zum Analytiker geboren.

Ich möchte Beispiele anführen, und es fehlt mir nicht daran, aber um den Gegensatz deutlich hervorzuheben, muß ich mit einem besonders schlagenden Beispiel beginnen; es sei mir gestattet, es an zwei lebenden Mathematikern zu zeigen.

Méray führt den Beweis, daß eine binomische Gleichung immer eine Wurzel hat, oder, gemeinverständlich ausgedrückt, daß jeder Winkel sich teilen läßt.

Wenn es eine Wahrheit gibt, die uns auf den ersten Blick als solche in die Augen fällt, so ist es diese. Wer zweifelt daran, daß ein Winkel sich immer in eine beliebige Anzahl gleicher Teile teilen läßt? Méray ist anderer Meinung, ihm scheint diese Voraussetzung keineswegs einleuchtend, und er widmet dem Beweis mehrere Seiten.

Nehmen wir dagegen Felix Klein; er studiert eine der allerabstraktesten Fragen der Funktionentheorie. Es handelt sich darum, ob auf einer gegebenen Riemannsche Fläche immer eine Funktion existiert, die gegebene Singularitäten zuläßt. Was macht der berühmte deutsche Geometer? Er ersetzt seine Riemannsche Fläche durch eine Metallfläche, deren elektrische Leitungsfähigkeit nach bestimmten Gesetzen variiert. Er verbindet zwei ihrer Punkte mit den zwei Polen einer elektrischen Säule. Er sagt sich, daß der Strom hindurchgehen muß, und daß die Art, in der er sich über die Fläche verteilt, eine Funktion definiert, deren Singularitäten genau die durch das Problem geforderten sind.

Natürlich weiß Klein sehr gut, daß er damit nur ein Aperçu gemacht hat; trotzdem hat er nicht gezögert, es zu veröffentlichen; und vermutlich glaubte er darin, wenn auch keinen strengen Beweis, so doch eine Art moralischer Gewißheit gefunden zu haben. Ein Logiker hätte eine derartige Vorstellung mit Abscheu von sich gewiesen, oder er wäre vielmehr gar nicht in die Lage gekommen sie abzuweisen, weil sie ihm nie in den Sinn gekommen wäre.

Ich möchte noch zwei Männer vergleichen, die der Stolz der französischen Wissenschaft sind, die uns erst kürzlich entrissen wurden, aber schon seit langem der Unsterblichkeit angehören: ich meine Bertrand und Hermite. Sie haben gleichzeitig die gleiche Schule besucht, sie genossen die gleiche Erziehung, waren den gleichen Einflüssen unterworfen. Und doch, welcher Unterschied! Das geht nicht nur aus ihren Schriften hervor; in ihren Vorträgen, ihrer Redeweise, ja selbst in ihrem Äußeren spricht es sich aus. Ihre Züge sind allen ihren Schülern unauslöschlich eingeprägt. All denen, die das Glück hatten, ihren Vorlesungen folgen zu dürfen, leben sie in frischem Andenken; es ist uns leicht, sie uns zurückzurufen.

Bertrand ist beim Reden in steter Bewegung; bald scheint er einen äußeren Feind anzugreifen, bald zeichnet er durch eine Handbewegung die Figuren seiner Studien. Augenscheinlich erblickt er etwas und möchte es malen, darum nimmt er seine Zuflucht zu darstellenden Bewegungen. Ganz anders Hermite; seine Augen scheinen die Berührung mit der Welt zu fliehen; nicht außen, in seinem Innern sucht er die Erkenntnis der Wahrheit.

Unter den deutschen Mathematikern dieses Jahrhunderts sind besonders zwei Namen berühmt, die der beiden Gelehrten, die die allgemeine Funktionentheorie geschaffen haben; Weierstraß und Riemann. Weierstraß führt alles auf die Betrachtung von Reihen und ihre analytische Umformung zurück, mit anderen Worten, er gründet die Analysis auf eine Art Erweiterung der Arithmetik. Man kann seine sämtlichen Schriften durchgehen, ohne eine Figur zu finden. Riemann hingegen nimmt sofort die Geometrie zu Hilfe, jede seiner Vorstellungen ist ein Bild, das man nie wieder vergißt, wenn man einmal den Sinn erfaßt hat.

In neuerer Zeit war Lie ein Mann der Anschauung; man konnte zweifeln, wenn man seine Werke las, man zweifelte nicht mehr, wenn man mit ihm gesprochen hatte; man sah sofort, daß er in Bildern dachte. Frau Kowalevski war eine Logikerin.

Bei unseren Studenten kann man denselben Unterschied bemerken. Die einen behandeln ihre Probleme lieber durch »die Analyse«, die anderen durch »die Geometrie«. Die ersteren sind unfähig »im Raum zu sehen«, die andern würden bei langen Rechnungen rasch ermüden und verwirrt werden.

Beide Geistesrichtungen sind dem Fortschritt der Wissenschaft in gleichem Maße nötig; die Logiker sowohl wie die Intuitiven haben Großes geleistet, was die anderen nicht vermocht hätten. Wer wagte zu entscheiden, ob es besser sei, daß Weierstraß nie etwas geschrieben hätte, oder daß es keinen Riemann gegeben hätte? Die Analyse und die Synthese haben also beide ihre berechtigte Stellung, aber es ist interessant zu erforschen, welche Rolle der einen und der andern in der Geschichte der Wissenschaft zukommt.

 

II.

Wunderbar! wenn wir die Werke der Alten lesen, sind wir versucht, sie alle zu den Intuitiven zu zählen. Und dennoch bleibt sich die Natur immer gleich; es ist nicht wahrscheinlich, daß sie erst in diesem Jahrhundert angefangen hat, Geister zu schaffen, die sich der Logik zuwenden.

Könnten wir uns in den Ideengang ihrer Zeit zurückversetzen, so würden wir bald erkennen, daß viele dieser alten Geometer ihrer Neigung nach Analytiker waren. Euklid zum Beispiel hat ein Gerüst des Wissens aufgerichtet, an dem seine Zeitgenossen keinen Fehler finden konnten. Obgleich an diesem umfangreichen Gebäude jedes Stück aus der Anschauung entstanden ist, erkennt man daran auch heute noch ohne Mühe das Werk eines Logikers.

Nicht die Geister sind es, die sich geändert haben, wohl aber die Ideen; die intuitiven Geister sind die gleichen geblieben, aber ihre Leser haben andere Anforderungen an sie gestellt.

Worin liegt der Grund dieser Umwälzung?

Er ist nicht schwer zu entdecken. Die Anschauung kann uns nicht die Strenge, nicht einmal volle Gewißheit geben, davon hat man sich mehr und mehr überzeugt.

Ich will einige Beispiele anführen. Wir wissen, daß es stetige Funktionen gibt, die keine Derivierte haben. Nichts ist der Anschauung anstößiger als diese Behauptung, die uns durch die Logik aufgedrängt wird. Unsere Väter würden nicht gezögert haben zu sagen: »Es ist klar, daß jede stetige Funktion eine Derivierte hat, denn jede Kurve hat eine Tangente.«

Wie kann uns die Anschauung so sehr täuschen? Das kommt daher, daß, wenn wir versuchen, uns eine Kurve zu denken, wir sie uns nicht ohne Dicke vorstellen können; ebenso sehen wir eine Gerade, wenn wir sie uns vorstellen wollen, in der Form eines geradlinigen Streifens von einer gewissen Breite. Wir wissen wohl, daß diese Linien keine Dicke haben; wir bemühen uns, sie uns immer schmäler und schmäler zu denken und uns so der Grenze zu nähern; das gelingt uns auch bis zu einem gewissen Grade, aber wir erreichen diese Grenze niemals. Und nun ist es klar, daß wir uns zwei schmale Bänder, das eine geradlinig, das andere gekrümmt, immer in einer Lage vorstellen können, wo sie leicht ineinander eingreifen, ohne einander zu durchdringen.

So kommen wir also dazu, wenn wir nicht durch eine strenge Analyse gewarnt sind, zu folgern, daß eine Kurve immer eine Tangente hat.

Ich wähle als zweites Beispiel das Dirichletsche Prinzip, auf dem so viele Theorien der mathematischen Physik fußen; heute begründet man es durch sehr strenge, aber auch sehr lange Schlußfolgerungen, früher begnügte man sich mit einem summarischen Beweis. Ein gewisses Integral, das von einer willkürlichen Funktion abhängig ist, kann niemals gleich Null werden. Man schloß daraus, daß es einen kleinsten Wert haben müsse. Der Fehler dieser Folgerung zeigt sich uns sofort, da wir den abstrakten Ausdruck Funktion gebrauchen, und da wir vertraut sind mit all den Singularitäten, die die Funktionen aufweisen können, wenn man das Wort in seiner allgemeinsten Bedeutung versteht.

Es wäre nicht so, wenn man sich konkreter Bilder bediente, wenn man zum Beispiel diese Funktion als elektrische Spannung betrachtete; man hätte für erlaubt gehalten zu behaupten, daß das elektrostatische Gleichgewicht erreicht werden wird. Vielleicht aber hätte ein physikalischer Vergleich doch einiges Mißtrauen erweckt. Wenn man sich aber bemüht hätte, diese Folgerung in die Sprache der Geometrie, der Vermittlerin zwischen der Sprache der Analysis und der Sprache der Physik, zu übertragen, so hätten sich diese Zweifel sicher nicht gezeigt, und vielleicht könnte man auf diese Weise sogar heute noch unbefangene Leser täuschen.

Die Anschauung gibt uns keine Sicherheit, darum konnte diese Umwälzung vor sich gehen; jetzt müssen wir ergründen, wie sie vor sich gegangen ist.

Sehr rasch hat man eingesehen, daß die Strenge nicht in die Schlußfolgerungen eindringen konnte, wenn man sie nicht zuvor in die Definitionen einführte.

Lange Zeit waren die Gegenstände, mit denen die Mathematiker sich beschäftigten, zum größten Teil schlecht definiert; man glaubte sie zu kennen, weil man sie sich mit den Sinnen oder der Einbildungskraft vorstellte; aber man hat nur ein rohes Bild, keine genaue Idee, auf die man eine Schlußfolgerung hätte gründen können.

Hier in erster Linie mußten die Logiker mit ihren Bemühungen einsetzen.

So zum Beispiel bei den inkommensurablen Zahlen.

Die unbestimmte Idee der Stetigkeit, die wir der Anschauung verdanken, hat sich in ein kompliziertes System von Ungleichungen aufgelöst, das sich auf ganze Zahlen bezieht.

Hierdurch sind die Schwierigkeiten, die von dem Grenzübergang oder von der Betrachtung des Unendlich-Kleinen herrühren, endgültig aufgeklärt.

Heute bleiben in der Analyse nur noch ganze Zahlen oder endliche oder unendliche Systeme ganzer Zahlen, die untereinander durch ein Netz von Gleichheits- oder Ungleichheitsverhältnissen verbunden sind.

Die Mathematik hat sich, wie man sagt, arithmetisiert.

 

III.

Eine Hauptfrage drängt sich uns auf. Ist diese Umwälzung beendet?

Haben wir die absolute Genauigkeit schon erreicht? In jedem Stadium der Umwälzung glaubten unsere Väter schon, sie erreicht zu haben. Wenn sie sich irrten, warum sollten nicht auch wir uns irren gleich ihnen?

Wir glauben, in unseren Schlußfolgerungen die Anschauung nicht mehr zu Hilfe zu rufen. Die Philosophen sagen uns, daß dies eine Einbildung sei. Die reine Logik führe uns stets nur zu Wiederholungen, sie könne nichts Neues schaffen, aus ihr allein könne keine Wissenschaft hervorgehen.

Die Philosophen haben in einer Beziehung recht; zur Arithmetik sowohl als zur Geometrie oder zu irgendeiner Wissenschaft braucht es noch etwas anderes als die reine Logik. Dies andere zu bezeichnen steht uns nur das Wort Intuition zur Verfügung; aber wieviel verschiedene Begriffe liegen in diesem einen Wort.

Vergleichen wir die folgenden vier Axiome:

1. Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, so sind sie auch einander gleich.

2. Wenn ein Satz für die Zahl 1 wahr ist, und man beweist, daß er für n + 1 wahr ist, vorausgesetzt, daß er es für n ist, so ist er für alle ganzen Zahlen wahr.

3. Wenn auf einer Geraden der Punkt C zwischen A und B liegt, und der Punkt D zwischen A und C, so liegt der Punkt D zwischen A und B.

4. Durch einen Punkt kann man nur eine Parallele zu einer Geraden ziehen.

Alle vier müssen der Anschauung zugeschrieben werden, und doch ist das erste der Ausdruck eines Gesetzes der formalen Logik, das zweite ist in Wahrheit ein synthetisches Urteil a priori, der Grundstein der strengen mathematischen Induktion; das dritte ist eine Berufung auf die Einbildungskraft, das vierte eine verhüllte Definition.

Die Intuition ist nicht unbedingt auf die Wahrnehmung der Sinne gegründet; die Sinne würden bald machtlos werden; wir können uns zum Beispiel das Tausendeck nicht vorstellen, und doch behandeln wir anschaulich die Vielecke im allgemeinen, unter denen das Tausendeck als besonderer Fall einbegriffen ist.

Was Poncelet unter dem Stetigkeitsprinzip versteht ist bekannt. Was bei einer reellen Größe zutrifft, sagt Poncelet, muß auch bei einer imaginären Größe zutreffen, Was bei einer Hyperbel, deren Asymptoten reell sind, zutrifft, muß auch bei einer Ellipse, deren Asymptoten imaginär sind, wahr sein. Poncelet war einer der allerintuitivsten Geister dieses Jahrhunderts; er war es mit Leidenschaft, fast mit Ostentation; er sah das Stetigkeitsprinzip als eine seiner kühnsten Schöpfungen an, und doch beruht dieses Prinzip nicht auf dem Zeugnis der Sinne, es widerspricht vielmehr diesem Zeugnis, die Hyperbel der Ellipse gleichzustellen. Es war nur eine Art vorschneller und instinktiver Verallgemeinerung, die ich übrigens nicht verteidigen will.

Wir haben also mehrere Arten von Anschauung: erstens die Berufung auf die Sinne und die Einbildungskraft, dann die Verallgemeinerung durch Induktion, die den experimentellen Wissenschaften sozusagen nachgebildet wird; wir haben endlich die Anschauung der reinen Zahlen, aus der der zweite der ebengenannten Grundsätze hervorgegangen ist, und die allein die wahre mathematische Schlußfolgerung erzeugen kann.

Die zwei ersten können uns keine Sicherheit geben, das habe ich oben durch Beispiele gezeigt, aber wer könnte ernstlich an der dritten, wer könnte an der Arithmetik zweifeln?

Demnach gibt es, wenn man sich die Mühe machen will, streng zu sein, für die heutige Analyse nichts als Vernunftschlüsse oder die Berufung auf diese Intuition der reinen Zahl, die einzige, die uns nicht täuschen kann. Man kann sagen, daß heute die absolute Strenge erreicht ist.

 

IV.

Die Philosophen machen noch einen andern Einwurf: Was ihr an Strenge gewinnt, sagen sie, das verliert ihr an Objektivität. Ihr könnt euch zu eurem Ideal der Logik nur erheben, indem ihr die Fesseln zerschneidet, die euch an die Wirklichkeit knüpfen. Eure Wissenschaft ist makellos, aber sie kann es nur bleiben, indem sie sich in einen Turm von Elfenbein einschließt und sich jede Beziehung zur Außenwelt versagt. Sie ist aber gezwungen, ihn zu verlassen, sobald sie die geringste Anwendung versuchen will.

Ich will zum Beispiel beweisen, daß eine gewisse Eigenschaft einem gewissen Gegenstand zukomme, dessen Begriff mir anfangs undefinierbar erscheint, weil er der Anschauung entstammt. Ich scheitere zunächst mit meinem Versuch, oder ich muß mich mit ungefähren Beweisen begnügen; ich entschließe mich endlich, meinem Gegenstand eine genaue Definition zu geben, die mir erlaubt, diese Eigenschaften in einwandsfreier Weise festzustellen.

Und was dann? fragen die Philosophen. Es bleibt noch zu zeigen, daß der Gegenstand, der dieser Definition entspricht, auch genau der gleiche ist wie der, den die Anschauung dich kennen lehrte; oder auch, daß dieser wirkliche und konkrete Gegenstand, dessen Übereinstimmung mit deiner intuitiven Idee du sofort zu erkennen glaubst, deiner neuen Definition genau entspricht. Nur dann kannst du behaupten, daß er die in Frage stehende Eigenschaft besitzt; du hast die Schwierigkeit nur verschoben.

Das ist nicht richtig; man hat die Schwierigkeit nicht verschoben, man hat sie geteilt. Die Behauptung, um deren Begründung es sich handelte, besteht in Wirklichkeit aus zwei verschiedenen Wahrheiten, die man aber nicht von vornherein unterschieden hatte. Die erste ist eine mathematische Wahrheit, und die ist jetzt streng bewiesen. Die zweite ist eine experimenteile Wahrheit. Die Erfahrung nur kann uns lehren, ob dieses reale und konkrete Objekt dieser abstrakten Definition entspricht oder nicht. Diese zweite Wahrheit ist nicht mathematisch bewiesen, aber sie kann es auch nicht sein, so wenig wie ein empirisches Gesetz der Physik und Naturwissenschaft. Es wäre unvernünftig, mehr zu verlangen.

Ist es also nicht ein großer Fortschritt, unterschieden zu haben, was man lange Zeit mit Unrecht zusammengeworfen hatte?

Soll damit gesagt sein, daß nichts von diesem Einwurf der Philosophen übrig bleibt? Das will ich nicht sagen; die mathematische Wissenschaft nimmt, indem sie streng wird, den Charakter des Künstlichen an, der alle Welt befremdet; sie vergißt ihren historischen Ursprung; man sieht, wie die Fragen gelöst werden können, man sieht nicht mehr, wie und warum sie gestellt wurden.

Das beweist uns, daß die Logik nicht genügt, daß die demonstrative Wissenschaft nicht die ganze Wissenschaft ist, und daß die Intuition ihre Rolle als Ergänzung, ich möchte sagen als Gegengewicht oder als Gegengift, beibehalten muß.

Ich hatte schon Gelegenheit, zu betonen, daß die Intuition ihren Platz im Unterricht der mathematischen Wissenschaft behaupten soll. Ohne sie wüßten sich die jungen Geister nicht in den Sinn der Mathematik zu finden, sie würden sie nicht lieben lernen und darin nichts sehen als ein leeres Wortgefecht. Besonders aber würden sie ohne sie nie fähig werden, die Mathematik anzuwenden.

Heute aber will ich vor allen Dingen von der Rolle der Anschauung in der Wissenschaft selber sprechen. Wenn sie dem Studierenden nützlich ist, so ist sie es weit mehr noch dem schaffenden Gelehrten.

 

V.

Wir suchen die Wirklichkeit, aber was ist die Wirklichkeit?

Die Physiologen lehren uns, daß die Organismen aus Zellen zusammengesetzt sind; die Chemiker fügen hinzu, daß diese Zellen selbst wieder aus Atomen bestehen. Ist damit gesagt, daß diese Atome oder daß diese Zeilen die Wirklichkeit darstellen, oder wenigstens die einzige Wirklichkeit? Ist die Art, wie diese Zellen gestaltet sind, und das, woraus die Einheit des Individuums entsteht, nicht auch eine Wirklichkeit, und eine weit interessantere als die der getrennten Elemente? Würde ein Naturforscher, der den Elefanten nie anders als mit dem Mikroskop studiert hat, glauben, dieses Tier genügend zu kennen?

Und in der Mathematik gibt es etwas dem Entsprechendes. Der Logiker zerlegt sozusagen jeden Beweis in eine sehr große Zahl Elementaroperationen. Wenn man alle diese Operationen, eine nach der anderen, prüft und gefunden hat, daß jede von ihnen fehlerlos ist, wird man dann glauben, den wahren Sinn des Beweises verstanden zu haben? Würde man ihn verstanden haben, selbst wenn es durch eine Anstrengung des Gedächtnisses gelänge, den ganzen Beweis zu wiederholen mit Anführung all der elementaren Schritte, in derselben Reihenfolge, in der sie der Erfinder angeordnet hat?

Offenbar nicht; wir besäßen noch nicht die volle Wirklichkeit; das gewisse Etwas, das die Einheit des Beweises ausmacht, würde uns ganz entgangen sein.

Die reine Analysis stellt uns eine Menge von Verfahren zur Verfügung, für deren Unfehlbarkeit sie uns bürgt; sie öffnet uns tausend Wege, die wir mit vollem Vertrauen betreten können, und bei denen wir sicherlich auf kein Hindernis stoßen; aber welcher von all diesen Wegen wird uns am schnellsten zum Ziele führen? Wer sagt uns, welchen wir wählen sollen? Wir brauchen eine Gabe, die uns von weitem das Ziel sehen läßt, und diese Gabe ist die Intuition. Sie ist dem Forscher nötig, um seinen Weg zu wählen, sie ist dem nicht weniger nötig, der seine Straße zieht und wissen möchte, warum er sie gewählt hat.

Wer einer Schachpartie beiwohnt, dem wird es zum Verständnis der Partie nicht genügen, die Regeln über den Lauf der Figuren zu kennen. Das würde ihm nur erlauben zu erkennen, daß jeder Zug den Regeln entsprechend gespielt wurde, und dieser Vorzug hätte sehr wenig Wert. Es wäre jedoch das gleiche, wie es dem Leser eines mathematischen Buches ginge, wenn er nur Logiker wäre. Die Partie verstehen, das ist etwas ganz anderes, das heißt wissen, warum der Spieler mit dieser Figur zieht anstatt mit jener anderen, was er auch hätte tun können, ohne die Spielregeln zu übertreten; das heißt den inneren Grund erkennen, der aus dieser Reihe aufeinanderfolgender Züge ein organisches Ganzes macht. Mit viel mehr Grund ist diese Fähigkeit dem Spieler selbst nötig, das heißt dem Erfinder.

Wir wollen diesen Vergleich verlassen und zur Mathematik zurückkehren.

Wie ist es zum Beispiel mit der Idee der stetigen Funktion ergangen? Anfangs war sie nichts als ein wahrnehmbares Bild, zum Beispiel ein Strich, der mit Kreide auf einer schwarzen Tafel gezogen war. Dann hat sie sich nach und nach verfeinert, bald hat man sich ihrer bedient, um ein kompliziertes System von Ungleichheiten aufzustellen, welches sozusagen alle Linien des Urbildes wiedergab. Als dieses Gebäude beendet war, hat man gewissermaßen das Gerüst abgebrochen; man hat die grobe Darstellung, die ihm kurze Zeit als Stütze diente und in Zukunft nutzlos war, verworfen; es ist nichts geblieben als die dem Auge des Logikers tadellos erscheinende Konstruktion selbst. Und dennoch, wenn das Urbild unserem Gedächtnis vollständig entschwunden wäre, wie könnten wir erraten, durch welche Laune sich all diese Ungleichheiten in dieser Weise eine auf der anderen aufgebaut haben?

Es mag scheinen, als treibe ich Mißbrauch mit Vergleichen; trotzdem möchte ich noch einen anführen. Allgemein bekannt sind die feinen Gefüge von Kieselnadeln, die das Skelett gewisser Schwämme bilden. Wenn die organische Materie vergangen ist, bleibt nichts wie ein zerbrechliches und zierliches Spitzengewebe. Es ist in Wirklichkeit nichts als Kieselsäure: aber was interessant ist, das ist die Form, die diese Kieselsäure angenommen hat, und wir können sie nicht verstehen, wenn wir nicht den lebenden Schwamm kennen, der ihr gerade diese Form aufgeprägt hat. So ist es auch bei den alten intuitiven Begriffen unserer Väter, die, selbst wenn wir sie aufgegeben haben, ihre Form noch dem logischen Gerüst aufdrücken, das wir an ihre Stelle gesetzt haben.

Dieser Überblick ist dem Erfinder nötig; er ist dem ebenso nötig, der den Erfinder wirklich verstehen will; kann ihn die Logik uns geben?

Nein, der Name, den ihr die Mathematiker geben, genügt, um das zu beweisen. In der Mathematik heißt die Logik Analysis, und Analysis bedeutet Zerteilung, Zergliederung. Sie kann demnach keine anderen Werkzeuge haben als das Seziermesser und das Mikroskop.

Also hat die Logik sowohl als die Anschauung jede ihre unentbehrliche Aufgabe. Beide sind notwendig. Die Logik, die allein die Gewißheit geben kann, ist das Werkzeug des Beweises; die Intuition ist das Werkzeug der Erfindung.

 

VI.

Aber in dem Augenblicke, wo ich diesen Schluß ziehe, befällt mich ein Zweifel. Zu Anfang habe ich zwei Arten mathematischer Geister unterschieden, die einen logisch und analytisch, die anderen intuitiv und geometrisch. Nun sind aber auch die Analytiker Erfinder gewesen. Die Namen, die ich soeben angeführt habe, ersparen mir, das auszuführen.

Das ist – wenigstens scheinbar – ein Widerspruch, der erläutert werden muß.

Glaubt man erstens etwa, daß die Logiker immer vom Allgemeinen zum Besonderen zu Werk gegangen sind, wie es ihnen die Regeln der strengen Logik vorzuschreiben scheinen? Auf diese Weise hätten sie die Grenzen der Wissenschaft nicht erweitern können, wissenschaftliche Eroberungen macht man nur durch die Verallgemeinerung.

In einem Kapitel von » Wissenschaft und Hypothese« hatte ich Gelegenheit, die Natur der mathematischen Schlüsse zu behandeln, und ich habe gezeigt, wie uns diese Schlüsse, ohne dabei ihre unbedingte Strenge einzubüßen, vom Besonderen zum Allgemeinen führen können durch einen Vorgang, den ich die mathematische Induktion genannt habe.

Durch dieses Verfahren haben die Analytiker die Wissenschaft gefördert, und wenn man die Einzelheiten ihrer Beweise prüft, so findet man es jeden Augenblick neben den klassischen Syllogismen des Aristoteles.

Wir sehen also schon, daß die Analytiker nicht, nach Art der Scholastiker, nur Syllogismen bilden.

Glaubt man ferner, daß sie immer Schritt für Schritt vorgegangen sind, ohne das Ziel, das sie erreichen wollten, vor Augen zu haben? Sie mußten auch den Weg vorhersehen, der sie dahin führte, und dazu brauchten sie einen Führer.

Dieser Führer ist in erster Linie die Analogie.

So ist zum Beispiel eine den Analytikern wertvolle Schlußfolgerung die, die sich auf die Anwendung der Majoranten gründet. Es ist bekannt, daß sie schon zur Lösung vieler Probleme gedient hat. Worin besteht nun die Arbeit des Erfinders, der sie auf ein neues Problem anwenden will? Er muß zuerst die Analogie seiner Frage mit denen, die schon auf diese Weise gelöst sind, erkennen; er muß dann ergründen, wodurch diese neue Frage sich von den anderen unterscheidet und die Abänderungen klarlegen, die an der Methode vorgenommen werden müssen.

Aber wie erkennt man diese Übereinstimmungen und Unterschiede?

In dem Beispiel, das ich soeben angeführt habe, sind sie fast immer augenfällig, aber ich hätte andere finden können, wo sie weit versteckter sind; oft bedarf es eines ungewöhnlichen Scharfsinnes, um sie aufzudecken.

Die Analytiker müssen, um sich diese verborgenen Analogien nicht entgehen zu lassen, mit anderen Worten, um Erfinder sein zu können, wenn sie ihre Zuflucht nicht zu den Sinnen und der Einbildungskraft nehmen wollen, ein unmittelbares Gefühl davon haben, was die Einheit eines Schlusses ist, was sozusagen seine Seele und sein inneres Leben ist.

Wenn man sich mit Hermite unterhielt, so zog er nie ein greifbares Bild heran, und doch bemerkte man sehr bald, daß ihm die allerabstraktesten Begriffe gleich lebenden Wesen waren. Er sah sie nicht, aber er fühlte, daß sie nicht eine künstliche Zusammenfügung sind, sondern daß sie ein Prinzip innerer Einheit haben.

Aber, wird man einwerfen, das ist ja auch noch Intuition, Müssen wir daraus schließen, daß der zu Anfang gemachte Unterschied nur Schein war, daß es nur eine Art Geister gibt, und daß alle Mathematiker von der Anschauung beherrscht werden, wenigstens alle, die fähig sind zu erfinden?

Nein, unsere Unterscheidung entspricht etwas Wirklichem. Ich habe oben gesagt, daß es mehrere Arten der Anschauung gibt. Ich habe gesagt, wie sehr die Intuition der reinen Zahlen, aus der strenge mathematische Folgerungen hervorgehen können, von der Intuition der Wahrnehmungen unterschieden ist, bei der, genau genommen, die Einbildungskraft alle Kosten tragen muß.

Ist der Abgrund, der sie trennt, weniger tief, als es zuerst den Anschein hatte? Wird man mit einiger Aufmerksamkeit erkennen, daß sogar diese reine Intuition nicht ohne die Hilfe der Sinne bestehen kann? Das ist Sache der Psychologen und Metaphysiker; ich will mich mit dieser Frage nicht befassen.

Es genügt, daß die Sache unentschieden ist, um mir ein Recht zu geben, einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Arten der Anschauung zu erkennen und festzustellen. Sie haben nicht den gleichen Gegenstand und scheinen zwei verschiedene Fähigkeiten unserer Seele in Tätigkeit zu setzen. Man könnte sie zwei Scheinwerfern vergleichen, die auf zwei einander fremde Welten gerichtet sind.

Die Intuition der reinen Zahl, der reinen, logischen Form erleuchtet und leitet die, die wir Analytiker genannt haben.

Sie ist es, die ihnen nicht nur zu beweisen, sondern auch zu erfinden erlaubt. Durch sie können sie mit einem Blick den allgemeinen Plan eines logischen Aufbaues erkennen, und zwar ohne daß die Sinne helfend einzugreifen scheinen.

Wenn sie auch die Hilfe der Einbildungskraft zurückweisen, die, wie wir gesehen haben, nicht immer unfehlbar ist, so können sie doch vorrücken ohne Furcht sich zu täuschen. Glücklich die, die diese Stütze entbehren können! Wir müssen sie bewundern; aber wie selten sind sie!

Es gibt also Erfinder unter den Analytikern, aber es gibt wenige.

Die meisten unter uns fühlen sich, wenn sie von weitem durch diese einzig reine Intuition sehen wollen, bald vom Schwindel erfaßt. Ihre Schwäche bedarf eines kräftigeren Stabes, und trotz der Ausnahmen, von denen wir eben gesprochen haben, ist es unzweifelhaft, daß die sinnliche Anschauung in der Mathematik das gewöhnlichste Werkzeug der Erfindung ist. Hier stellt sich eine Frage, die ich jetzt nicht nach allen ihren Einzelheiten erörtern und beantworten kann.

Ist es angebracht, hier eine neue Einteilung zu machen und unter den Analytikern die zu unterscheiden, die sich besonders dieser reinen Intuition bedienen, und die, die sich in erster Linie durch die formale Logik beeinflussen lassen?

Hermite zum Beispiel, den ich vorhin angeführt habe, kann nicht zu den Geometern gezählt werden, die Gebrauch von der sinnlichen Anschauung machen; aber er ist auch kein Logiker im eigentlichen Sinne. Er verbirgt seine Abneigung gegen das rein deduktive Verfahren nicht, das vom Allgemeinen ausgeht, um zum Einzelnen zu gelangen.


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