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Dritter Teil.
Der objektive Wert der Wissenschaft.


Zehntes Kapitel.
Ist die Wissenschaft künstlich?

 

§ 1. Die Philosophie von Le Roy.

Wir haben viele Gründe zum Zweifel; müssen wir aber diesen Skeptizismus bis an die äußersten Grenzen treiben oder sollen wir unterwegs innehalten? Bis an die äußersten Grenzen gehen ist die verlockendste und bequemste Lösung, die auch viele angenommen haben, die daran verzweifelten, noch etwas aus dem Schiffbruch zu retten.

Unter den Schriften, die von dieser Neigung beeinflußt sind, müssen die von Le Roy Die Schriften von Le Roy, auf die hier Bezug genommen ist, finden sich in den Bänden 7, 8, 9 (1899-1901) der » Revue de métaphysique et de morale«. W. an erster Stelle genannt werden. Dieser Denker ist nicht nur ein Philosoph und Schriftsteller von größtem Verdienst, er hat sich auch eine tiefe Kenntnis der mathematischen und physikalischen Wissenschaften erworben und sogar eine wertvolle mathematische Erfindungsgabe bewiesen.

Fassen wir seine Lehre, die zu zahlreichen Diskussionen Anlaß gab, in einigen Worten zusammen:

Die Wissenschaft besteht nur durch Übereinkommen, und nur diesem Umstand verdankt sie ihre scheinbare Sicherheit; die wissenschaftlichen Tatsachen und um so mehr die Gesetze sind das künstliche Werk der Gelehrten; die Wissenschaft kann uns also keinerlei Wahrheit lehren, sie kann uns nur als Richtschnur unserer Handlungen dienen.

Man erkennt hierin die unter dem Namen Nominalismus bekannte philosophische Theorie; nicht alles an dieser Theorie ist falsch, man muß ihr ihr rechtmäßiges Gebiet einräumen, aber man darf sie auch nicht darüber hinausgehen lassen.

Die Lehre Le Roys ist aber nicht nur nominalistisch, sie hat auch einen anderen Charakter, den sie zweifellos dem Einfluß von Bergson verdankt, sie ist anti-intellektualistisch. Nach Le Roy entstellt der Verstand alles, was er berührt, und das trifft noch mehr zu bei seinem notwendigen Werkzeug, der Rede. Wirklichkeit gibt es nur in unseren flüchtigen und veränderlichen Eindrücken, und selbst diese Wirklichkeit verschwindet, sowie man sie berührt.

Und dennoch ist Le Roy kein Skeptiker; wenn er den Verstand als unabänderlich machtlos ansieht, so geschieht das nur, um anderen Quellen der Erkenntnis einen größeren Platz einzuräumen, dem Herzen zum Beispiel, dem Gefühl, dem Instinkt oder dem Glauben.

Wie hoch ich das Talent von Le Roy auch schätze, wie scharfsinnig diese Behauptung ist, ich kann sie doch nicht ganz annehmen. Gewiß stimme ich in vielen Punkten mit Le Roy überein, und er hat sogar zur Stütze seiner Anschauungen verschiedene Stellen aus meinen Schriften zitiert, die ich keineswegs zurückzunehmen gewillt bin. Um so mehr halte ich mich für verpflichtet, zu erklären, warum ich ihm nicht bis zu Ende folgen kann.

Le Roy beklagt sich, häufig für einen Skeptiker gehalten zu werden. Es kann nicht anders sein, obwohl diese Beschuldigung wahrscheinlich ungerechtfertigt ist. Der Schein ist gegen ihn. Nominalist der Lehre und Realist dem Herzen nach, kann er dem absoluten Nominalismus nur durch eine verzweifelte Anstrengung des Glaubens entgehen.

Indem die anti-intellektualistische Philosophie die Analysis und die Rede zurückweist, verurteilt sie sich selbst dazu, unübertragbar zu sein. Es ist eine wesentlich innere Philosophie, oder wenigstens ist das, was sich übertragen läßt, nur das Verneinende. Es ist also nicht zu verwundern, daß sie für einen äußeren Beobachter die Form des Skeptizismus annimmt.

Das ist der schwache Punkt dieser Philosophie; wenn sie sich treu bleiben will, erschöpft sie ihre Macht in einer Verneinung und einem Ausruf der Begeisterung. Jeder Schriftsteller kann diese Verneinung und diesen Ausruf wiederholen und ihre Form ändern, ohne etwas hinzuzufügen.

Und wäre es nicht viel folgerichtiger zu schweigen? Es sind lange Abhandlungen geschrieben, dazu mußte man sich doch der Worte bedienen! War man hierdurch nicht viel mehr »diskursiv« und infolgedessen weiter von dem Leben und der Wahrheit entfernt als das Tier, das ganz einfach lebt, ohne zu philosophieren? Ist nicht dieses Tier der wahre Philosoph?

Dürfen wir daraus, daß kein Maler jemals ein vollkommen ähnliches Porträt gemalt hat, den Schluß ziehen, daß die beste Malerei die sei, die gar nicht malt? Wenn ein Zoologe ein Tier seziert, so verändert er es freilich, und indem er es seziert, verurteilt er sich dazu, es nie ganz kennen zu lernen. Wenn er es aber nicht sezieren würde, so wäre er verurteilt, niemals irgend etwas davon kennen zu lernen und infolgedessen nie etwas darüber zu sagen.

Sicherlich gibt es im Menschen andere Kräfte als den Verstand; niemand war je so töricht, es zu leugnen. Der erste beste setzt diese blinden Kräfte in Tätigkeit oder läßt ihnen ihren Lauf; der Philosoph muß davon sprechen, und dazu muß er das wenige kennen, was man davon kennen kann; er muß also ihre Tätigkeit beobachten. Aber wie? Mit welchen Augen, wenn nicht mit seinem Verstand? Das Herz, der Instinkt, können ihn leiten, aber nicht überflüssig machen; sie können die Blicke lenken, aber nicht das Auge ersetzen. Man kann dem zustimmen, daß das Herz der Arbeiter und der Geist nur das Werkzeug sei. Immerhin ist er ein Werkzeug, das man, wenn nicht zum Handeln, so doch zum Philosophieren nicht entbehren kann. Darum ist eine wirklich anti-intellektualistische Philosophie unmöglich. Vielleicht müssen wir auf den Vorrang der Tätigkeit schließen; jedenfalls aber ist es der Verstand, der so schließt. Indem er also der Tat den Vortritt läßt, wahrt er die Überlegenheit des »denkenden Rohrs« In den »Pensées« von Pascal heißt es: »L'homme n'est qu'un roseau le plus faible de la nature, mais c'est un roseau pensant.. Auch das ist ein Vorrang, der nicht zu verachten ist.

Man verzeihe mir diese kurzen Bemerkungen, und auch daß ich sie so kurz gemacht und die Frage kaum gestreift habe. Ich will hier nicht die Sache des Intellektualismus führen; ich will von der Wissenschaft und für die Wissenschaft reden. Durch Definition sozusagen ist sie entweder intellektualistisch oder sie ist überhaupt nicht. Es kommt mir gerade darauf an, zu wissen, ob sie ist.

 

§ 2. Die Wissenschaft als Regel des Handelns.

Für Le Roy ist die Wissenschaft nur eine Regel des Handelns. Wir sind unfähig, irgend etwas zu erkennen, und doch sind wir ins Leben hineingestellt: wir müssen handeln, und wir haben uns aufs Geratewohl Regeln festgesetzt. Die Gesamtheit dieser Regeln nennt man Wissenschaft.

Ebenso haben die Menschen zu ihrem Vergnügen Spielregeln festgesetzt, wie zum Beispiel die des Trick-Track, die sich sogar mit noch mehr Recht als die Wissenschaft auf die allgemeine Zustimmung stützen können. Ebenso wirft man auch, außerstande zu wählen und doch zu einer Wahl gezwungen, eine Münze in die Luft, um zu entscheiden nach Kopf oder Schrift.

Die Regel des Trick-Track ist zwar eine Regel des Handelns, wie die Wissenschaft; glaubt man aber, daß der Vergleich zutrifft, und sieht man den Unterschied nicht? Die Spielregeln sind willkürliche Übereinkommen, und man hätte auch die entgegengesetzten Verabredungen treffen können, und sie wären nicht weniger gut gewesen. Die Wissenschaft ist eine Regel des Handelns, die Erfolg hat – wenigstens in den meisten Fällen –, während die entgegengesetzte Regel keinen Erfolg gehabt hätte.

Wenn ich sage: um Wasserstoff herzustellen, lasse man eine Säure auf Zink wirken, so stelle ich eine Regel auf, die Erfolg hat; ich hätte sagen können, man lasse destilliertes Wasser auf Gold wirken; das wäre auch eine Regel gewesen, nur hätte sie keinen Erfolg gehabt.

Wenn also die wissenschaftlichen Rezepte als Regel des Handelns einen Wert haben, so besteht er darin, daß wir wissen, daß sie, wenigstens im allgemeinen, erfolgreich sind. Aber das zu wissen heißt schon etwas wissen, und wie kann man dann sagen, daß wir nichts wissen können?

Die Wissenschaft sieht voraus, und deswegen kann sie nützlich sein und als Regel des Handelns dienen. Ich weiß wohl, daß diese Vorhersage oft durch den Erfolg widerlegt wird; dies beweist, daß die Wissenschaft unvollkommen ist, und wenn ich hinzufüge, daß sie es immer bleiben wird, so bin ich sicher, daß dies wenigstens eine Vorhersage ist, die nie widerlegt werden kann. Sicher ist, daß sich der Gelehrte weniger oft irrt, als der Prophet, der aufs Geratewohl voraussagt. Andererseits ist der Fortschritt langsam, aber beständig, so daß sich die Gelehrten, obwohl sie immer kühner werden, immer weniger täuschen. Das ist wenig, aber es ist doch etwas.

Ich weiß wohl, daß Le Roy irgendwo gesagt hat, daß die Wissenschaft sich häufiger irrt, ab man glaubt, daß die Kometen den Astronomen manchmal Streiche spielen, daß die Gelehrten, die offenbar auch Menschen sind, nicht gern von ihren Mißerfolgen sprechen, und daß sie, wenn sie davon sprechen wollten, mehr Niederlagen als Siege aufzählen müßten.

Hierin geht Le Roy augenscheinlich über seinen Standpunkt hinaus. Wenn die Wissenschaft erfolglos wäre, könnte sie nicht als Regel des Handelns dienen; woher sollte sie ihren Wert nehmen? Daher, daß sie »erlebt« ist, das heißt, daß wir sie lieben und an sie glauben? Die Alchimisten hatten Rezepte, um Gold zu machen; sie liebten sie und hatten Glauben an sie, und doch sind unsere Rezepte besser, weil sie Erfolg haben, obgleich unser Glaube weniger lebendig ist.

Es gibt kein Mittel, aus diesem Dilemma herauszukommen; entweder die Wissenschaft erlaubt nicht, vorauszusehen, dann ist sie als Regel des Handelns wertlos; oder sie erlaubt, vorauszusehen, in mehr oder weniger unvollkommener Weise, und dann ist sie nicht wertlos als ein Weg zur Erkenntnis.

Man kann nicht einmal sagen, daß das Handeln das Ziel der Wissenschaft sei; können wir die über den Sirius angestellten Studien verwerfen, unter dem Vorwand, daß wir wahrscheinlich nie irgendeine Wirkung auf diesen Stern ausüben werden?

In meinen Augen ist im Gegenteil die Erkenntnis das Ziel und das Handeln das Mittel. Wenn ich mich über die Entwicklung der Industrie freue, so tue ich es nicht nur, weil sie dem Anwalt der Wissenschaft ein gutes Beweismittel an die Hand gibt, sondern hauptsächlich, weil sie dem Gelehrten den Glauben an sich selbst stärkt, und auch weil sie ihm ein unermeßliches Feld der Erfahrung eröffnet, wo er auf Kräfte stößt, die zu gewaltig sind, als daß man sie durch eine Handbewegung beiseite schieben könnte. Wer weiß, ob er nicht ohne diesen Ballast, von der Vorspiegelung irgendeiner neuen Scholastik ergriffen, den festen Boden verlassen würde, oder ob er nicht verzweifelte, in der Meinung, daß er nur geträumt habe?

 

§ 3. Die rohe und die wissenschaftliche Tatsache.

Was in der Abhandlung von Le Roy am meisten befremdet, ist die Behauptung, daß der Gelehrte die Tatsache schafft; das ist zugleich ihr wesentlicher Punkt und einer von denen, über die am meisten gestritten worden ist.

Vielleicht, sagt er (und ich glaube, daß dies ein Zugeständnis ist), schafft der Gelehrte nicht die rohe Tatsache, aber sicher schafft er die wissenschaftliche Tatsache.

Dieser Unterschied zwischen der rohen und der wissenschaftlichen Tatsache scheint mir an sich nicht unberechtigt. Aber ich mißbillige zunächst, daß die Grenze weder in genauer, noch in deutlicher Weise gezogen ist, und dann, daß der Verfasser der Meinung zu sein scheint, daß die rohe Tatsache nicht wissenschaftlich sei und außerhalb der Wissenschaft stehe.

Endlich kann ich nicht zugeben, daß der Gelehrte die wissenschaftliche Tatsache frei erschafft, da die rohe Tatsache sie ihm aufzwingt.

Die von Le Roy gegebenen Beispiele haben mich in Erstaunen gesetzt. Das erste ist dem Begriff des Atoms entnommen. Das Atom als Beispiel einer Tatsache! Ich gestehe, daß mich diese Wahl so aus der Fassung gebracht hat, daß ich vorziehe, nichts darüber zu sagen. Ich habe augenscheinlich den Gedanken des Autors falsch verstanden, und ich könnte ihn nicht erfolgreich besprechen.

Der zweite als Beispiel verwendete Fall ist eine Verfinsterung, bei der das rohe Ereignis ein Spiel von Licht und Schatten ist, mit dem aber der Astronom sich nicht befassen kann, ohne zwei fremde Elemente einzuführen, nämlich eine Uhr und das Newtonsche Gesetz.

Endlich führt Le Roy die Rotation der Erde an; man hat ihm erwidert, daß dieses keine Tatsache sei, und er hat geantwortet: es war eine für Galilei, der sie behauptete, ebensowohl wie für den Inquisitor, der sie leugnete. Jedenfalls ist es keine Tatsache in dem Sinne wie die beiden vorerwähnten, und wenn man ihr den gleichen Namen gibt, setzt man sich großen Mißverständnissen aus.

Hier haben wir also vier Stufen:

1. Es ist dunkel, sagt der Unwissende.

2. Die Verfinsterung fand um neun Uhr statt, sagt der Astronom.

3. Die Verfinsterung fand zu der Stunde statt, die man aus den nach den Gesetzen von Newton berechneten Tabellen entnehmen kann, sagt derselbe.

4. Das kommt daher, daß die Erde sich um die Sonne dreht, sagt Galilei.

Wo ist hier die Grenze zwischen der rohen und der wissenschaftlichen Tatsache? Wenn man Le Roy liest, so sollte man glauben, zwischen der ersten und zweiten Stufe; wer sieht aber nicht, daß ein größerer Abstand von der zweiten zur dritten ist und ein noch größerer von der dritten zur vierten?

Ich will zwei Beispiele anführen, die uns vielleicht ein wenig aufklären.

Ich beobachte die Ablenkung eines Galvanometers mit Hilfe eines beweglichen Spiegels, der ein Lichtbild oder einen Fleck auf eine geteilte Skala wirft. Die rohe Tatsache ist, daß ich den Fleck sich auf der Skala verschieben sehe, und die wissenschaftliche Tatsache ist, daß ein elektrischer Strom durch die Leitung fließt.

Oder ein anderes Beispiel: Wenn ich ein Experiment mache, muß ich an dem Ergebnisse gewisse Berichtigungen vornehmen, weil ich weiß, daß ich notwendig Fehler begangen habe, und zwar Fehler von zweierlei Art: die einen sind zufällig, und ich berichtige sie, indem ich das Mittel nehme; die andern sind systematisch, und ich kann sie nur durch ein tieferes Studium der Ursachen berichtigen.

Das erste Ergebnis ist dann die rohe Tatsache, während die wissenschaftliche Tatsache das Endergebnis nach allen Korrektionen ist.

Das letzte Beispiel führt uns dazu, unsere zweite Stufe nochmals zu teilen, und statt zu sagen:

2. Die Verfinsterung fand um neun Uhr statt, sagen wir jetzt:

2 a. Die Verfinsterung fand statt, als meine Uhr neun zeigte, und

2 b. Da meine Uhr zehn Minuten nachging, fand die Verfinsterung um neun Uhr zehn Minuten statt.

Und außerdem muß auch die erste Stufe nochmals geteilt werden, und der Abstand zwischen diesen zwei Unterabteilungen wird nicht der kleinste sein. Zwischen dem Eindruck der Dunkelheit, die der Zeuge einer Sonnenfinsternis empfindet, und der Behauptung: es ist dunkel, die ihm dieser Eindruck entlockt, muß man einen Unterschied machen. Gewissermaßen ist nur die erste die rohe Tatsache, und die zweite schon eine Art wissenschaftlicher Tatsache.

Dies ist also unsere Leiter, die sechs Sprossen hat, und obwohl gar kein Grund vorhanden ist, bei dieser Zahl zu verbleiben, wollen wir es dabei bewenden lassen.

Was mir zuerst auffällt ist folgendes: Auf der ersten unserer sechs Sprossen ist die noch vollständig rohe Tatsache sozusagen individuell; sie ist vollständig unterschieden von allen anderen möglichen Tatsachen. Von der zweiten Sprosse an ist es nicht mehr so. Der Wortlaut der Tatsache würde auf unzählige andere Tatsachen passen. Sowie die Sprache dazwischen tritt, verfüge ich nur noch über eine endliche Zahl Redewendungen, um die unendlichen Abstufungen auszudrücken, deren meine Eindrücke fähig sind. Wenn ich sage: es ist dunkel, so drückt das wohl meine Empfindungen bei einer Sonnenfinsternis aus; aber in der Dunkelheit selbst könnte man sich eine Menge Schattierungen denken, und wenn sich statt der tatsächlich eingetretenen eine etwas verschiedene Schattierung gezeigt hätte, so hätte ich diese andere Tatsache doch mit den Worten ausgedrückt: es ist dunkel.

Eine zweite Bemerkung ist die: selbst auf der zweiten Stufe kann der Wortlaut einer Tatsache nur wahr oder falsch sein. Es würde nicht für jeden beliebigen Satz so sein; wenn dieser Satz der Wortlaut einer Übereinkunft ist, so kann man nicht sagen, daß der Ausspruch wahr im eigentlichen Sinne des Wortes ist, weil er nicht unabhängig von mir wahr ist, sondern nur, weil ich will, daß er es sei.

Wenn ich zum Beispiel sage, die Längeneinheit ist das Meter, so ist das ein Gesetz, das ich aufstelle, nicht eine Feststellung, die sich mir aufdrängt. Ebenso ist es, wie ich schon gezeigt zu haben glaube, mit dem Postulat von Euklid.

Wenn man mich fragt: ist es dunkel? so weiß ich immer, ob ich Ja oder Nein antworten soll. Obwohl eine unendliche Menge möglicher Tatsachen unter diesen gleichen Eindruck: es ist dunkel! fallen, werde ich immer wissen, ob die verwirklichte Tatsache zu denen gehört, die diesem Ausspruch entsprechen oder nicht. Die Tatsachen sind in Gruppen geteilt, und wenn man mich fragt, ob die Tatsache, die ich feststelle, zu einer Gruppe gehört oder nicht, so werde ich nicht zweifeln.

Aber diese Einteilung enthält so viel Willkür, daß der Freiheit oder der Laune des Menschen ein großer Spielraum bleibt. Mit einem Wort, sie ist eine Übereinkunft. Wenn man mich nach dieser Übereinkunft fragt: ist diese Tatsache wahr? so werde ich immer wissen, was ich antworten soll, und meine Antwort wird mir durch das Zeugnis meiner Sinne eingegeben.

Wenn man also während einer Sonnenfinsternis fragt: ist es dunkel? so wird jedermann mit Ja antworten. Nur die würden nein antworten, die eine Sprache sprächen, in der hell dunkel und dunkel hell heißt. Aber das hat keinerlei Bedeutung.

Ebenso kann in der Mathematik, wenn ich die Definitionen und die Postulate, die Übereinkommen sind, festgestellt habe, ein Theorem nur noch wahr oder falsch sein. Um aber auf die Frage: ist dieses Theorem wahr? zu antworten, kann ich meine Zuflucht nicht mehr zu dem Zeugnis der Sinne nehmen, sondern zu den Schlußfolgerungen.

Eine Tatsache ist immer beweisbar, und zu diesem Beweis berufen wir uns entweder auf das Zeugnis unserer Sinne oder auf die Erinnerung an dieses Zeugnis. Dies ist es gerade, was eine Tatsache charakterisiert. Wenn man mich fragt, ist diese oder jene Tatsache wahr, so beginne ich damit, festzustellen, welchen Sinn die Frage hat, mit anderen Worten, in welcher Sprache sie gestellt ist. Hierauf befrage ich meine Sinne und antworte mit Ja oder Nein. Die Antwort kommt also von meinen Sinnen, nicht von dem Frager, der mir sagt, ob er Englisch oder Französisch gesprochen hat.

Ist an alledem etwas zu ändern, wenn wir die folgenden Stufen betrachten? Wenn ich, wie eben gesagt, ein Galvanometer betrachte und einen uneingeweihten Besucher frage: geht der Strom durch? so wird er den Draht betrachten und versuchen, etwas darin vorgehen zu sehen; wenn ich aber die gleiche Frage meinem Gehilfen stelle, der meine Sprache versteht, so weiß er, daß das heißen soll: verändert der Fleck seinen Platz? und er wird die Skala betrachten.

Welcher Unterschied ist also zwischen dem Wortlaut der rohen und dem der wissenschaftlichen Tatsache? Es ist der gleiche Unterschied, wie zwischen dem Wortlaut ein und derselben rohen Tatsache in der französischen und der deutschen Sprache. Der wissenschaftliche Wortlaut ist die Übersetzung des rohen Wortlautes in eine Sprache, die sich besonders dadurch vom gewöhnlichen Deutsch und vom gewöhnlichen Französisch unterscheidet, daß sie von einer viel geringeren Anzahl Personen gesprochen wird.

Doch übereilen wir uns nicht! Um einen Strom zu messen, kann ich mich einer großen Anzahl verschiedenartiger Galvanometer oder auch eines Elektrodynamometers bedienen. Wenn ich dann sage, in diesem Kreise herrscht ein Strom von soundsoviel Ampere, so bedeutet das: wenn ich auf diesen Stromkreis ein bestimmtes Galvanometer einstelle, so wird der Fleck auf den Teilstrich a fallen; es bedeutet aber auch: wenn ich auf diesen Stromkreis ein bestimmtes Elektrodynamometer einstelle, so wird der Fleck auf den Teilstrich b fallen. Und es bedeutet noch vielerlei anderes; denn der Strom kann sich nicht nur durch mechanische Wirkungen kundgeben, sondern auch durch chemische Wirkungen, durch Licht und Wärmewirkungen usw.

Dies ist also der gleiche Wortlaut, der auf eine große Zahl durchaus verschiedener Tatsachen paßt. Wie kommt das? Weil ich ein Gesetz annehme, nach dem jedesmal, wenn sich ein bestimmter mechanischer Vorgang zeigt, sich auch ein bestimmter chemischer Vorgang zeigen wird. Sehr zahlreiche frühere Erfahrungen haben mir gezeigt, daß dieses Gesetz niemals trügt, und dann habe ich mir klargemacht, daß ich zwei so unveränderlich miteinander verbundene Tatsachen durch die gleichen Worte ausdrücken könnte.

Wenn man mich fragt: geht der Strom durch? so kann ich verstehen, daß das bedeutet: zeigt sich ein mechanischer Effekt? Aber ich kann auch verstehen; zeigt sich ein bestimmter chemischer Effekt? Ich werde also entweder den mechanischen oder den chemischen Effekt bestätigen; das ist aber gleichgültig, da in einem wie im anderen Fall die Antwort die gleiche sein muß.

Und wenn das Gesetz eines Tages als falsch erkannt würde? Wenn man finden würde, daß die Übereinstimmung der mechanischen und chemischen Wirkungen nicht konstant wäre? Dann müßte man sogleich die wissenschaftliche Sprache ändern, um eine schwerwiegende Vieldeutigkeit daraus zu entfernen.

Und glaubt man denn, daß die gewöhnliche Sprache, mit deren Hilfe man die Tatsachen des täglichen Lebens ausdrückt, frei von Zweideutigkeiten sei?

Wird man daraus schließen, daß die Vorgänge des täglichen Lebens das Werk der Grammatiker sind?

Wenn man mich fragt: ist ein Strom vorhanden? so sehe ich zu, ob sich die mechanische Wirkung zeigt, und wenn sich das bestätigt, antworte ich: Ja, es ist ein Strom da. Man versteht sogleich, daß die mechanische Wirkung vorhanden ist, und daß die chemische Wirkung, die ich nicht untersucht habe, ebenfalls vorhanden ist. Setzen wir jetzt den unmöglichen Fall, daß das Gesetz, das wir für wahr hielten, es nicht sei, und daß die Wirkung in diesem Fall ausgeblieben sei. In dieser Hypothese liegen zwei verschiedene Tatsachen; die eine, die direkt beobachtet und wahr ist, und die andere, die daraus gefolgert und falsch ist. Man kann streng genommen sagen, daß wir selbst die zweite geschaffen haben. So wäre also die Rolle des persönlichen Mitarbeitens des Menschen bei der Erschaffung der wissenschaftlichen Tatsache der Irrtum.

Wenn wir aber sagen können, daß die in Frage stehende Tatsache falsch ist, heißt das nicht, daß sie keine freie und willkürliche Schöpfung unseres Geistes ist, kein verschleiertes Übereinkommen? denn in diesem Falle wäre sie weder wahr noch falsch. Und sie wäre ja auch beweisbar gewesen; ich habe den Beweis nicht geführt, ich hätte ihn aber führen können. Wenn ich eine falsche Antwort gegeben habe, so geschah es, weil ich zu schnell antworten wollte, ohne die Natur zu befragen, die allein das Geheimnis kannte.

Wenn ich nach einem Experiment die zufälligen und die systematischen Fehler verbessere, um die wissenschaftliche Tatsache frei zu machen, so liegt die Sache ebenso; die wissenschaftliche Tatsache wird nie etwas anderes sein als die rohe Tatsache in eine andere Sprache übersetzt. Wenn ich sage: es ist soundsoviel Uhr, so ist das ein verkürztes Verfahren, um auszudrücken: soundso ist das Verhältnis zwischen der Zeit, die meine Uhr angibt, und der Zeit, die sie im Augenblick des Durchganges dieses oder jenes Sternes durch den Meridian angab. Und wenn dieses Übereinkommen in der Sprache einmal von allen angenommen ist, und man mich fragt: ist es soundsoviel Uhr? so hängt es nicht mehr von mir ab, Ja oder Nein zu antworten.

Gehen wir jetzt zu der vorletzten Stufe über: die Verfinsterung findet zu der Zeit statt, die durch die nach den Newtonschen Gesetzen berechneten Tafeln gegeben ist. Auch dieses Übereinkommen der Sprache ist vollständig klar für die Kenner der Himmelsmechanik und selbst für die Besitzer der von den Astronomen berechneten Tafeln. Wenn man mich fragt: hat die Verfinsterung zu der vorhergesagten Zeit stattgefunden? so suche ich in der Tafel und sehe, daß die Verfinsterung für neun Uhr angezeigt ist; ich verstehe, daß die Frage bedeutet: hat die Verfinsterung um neun Uhr stattgefunden? Auch hier brauchen wir nichts an unseren Schlüssen zu ändern. Die wissenschaftliche Tatsache ist nur die rohe Tatsache in eine bequeme Sprache übersetzt.

Allerdings ändern sich die Dinge auf der letzten Stufe. Dreht sich die Erde? Ist das eine beweisbare Tatsache? Konnten Galilei und der Groß-Inquisitor, um sich zu verständigen, sich auf das Zeugnis ihrer Sinne berufen? Im Gegenteil, sie waren einer Meinung über die Erscheinungen, und welche Erfahrungen auch angehäuft worden wären, sie würden einer Meinung über die Erscheinungen geblieben sein, ohne sich je über ihre Deutung zu verständigen. Gerade darum waren sie genötigt, ihre Zuflucht zu einer so wenig wissenschaftlichen Art der Verhandlung zu nehmen.

Darum bin ich der Ansicht, daß sie nicht uneinig waren über eine Tatsache. Wir haben kein Recht, der Umdrehung der Erde, die der Gegenstand ihrer Verhandlung war, den gleichen Namen zu geben wie den rohen oder wissenschaftlichen Tatsachen, die wir bis jetzt betrachtet haben.

Nach dem Vorhergehenden scheint es überflüssig, zu untersuchen, ob die rohe Tatsache außerhalb der Wissenschaft steht, weil es weder Wissenschaft ohne wissenschaftliche Tatsache, noch wissenschaftliche Tatsache ohne rohe Tatsache geben kann, da die erstere nur die Übersetzung der zweiten ist.

Und hat man nun ein Recht, zu sagen, daß der Gelehrte die wissenschaftliche Tatsache schafft? Zu allererst erschafft er sie nicht aus nichts, da er sie ja aus der rohen Tatsache erschafft. Folglich tut er es nicht frei und wie er will. Wie geschickt der Arbeiter auch sei, seine Freiheit ist immer beschränkt durch die Eigenschaften des Rohmaterials, mit dem er arbeitet.

Was soll es nach alledem heißen, wenn man von einer freien Schöpfung der wissenschaftlichen Tatsache spricht, und wenn man den Astronomen zum Beispiel nimmt, der tätig in die Erscheinung der Finsternis eingreift, indem er seine Uhr zur Hand nimmt? Soll es heißen: die Verfinsterung hat um neun Uhr stattgefunden? wenn aber der Astronom gewollt hätte, daß sie um zehn Uhr stattfände, so hinge das nur von ihm ab, er brauchte seine Uhr nur um eine Stunde vorzustellen?

Der Astronom hätte aber, wenn er diesen schlechten Scherz machte, augenscheinlich eine Zweideutigkeit mißbraucht, wenn er mir sagt: die Verfinsterung hat um neun Uhr stattgehabt, so verstehe ich, daß neun Uhr die aus der rohen Angabe der Uhr durch die gebräuchliche Reihe von Verbesserungen entnommene Zeit ist. Wenn er mir nur diese rohe Angabe genannt hat, oder wenn er Veränderungen vorgenommen hat, die den gewöhnlichen Regeln entgegen sind, so hat er, ohne mich zu benachrichtigen, die gebräuchliche Sprache geändert. Wenn er mich aber davon in Kenntnis gesetzt hat, so kann ich mich nicht beschweren; dann ist es aber immer dieselbe Tatsache, in einer anderen Sprache ausgedrückt.

Kurz gesagt: alles, was der Gelehrte an einer Tatsache erschafft, ist die Sprache, in der er sie ausdrückt. Wenn er eine Tatsache voraussagt, so wendet er diese Sprache an, und für alle, die sie sprechen und verstehen können, ist seine Voraussage frei von jeder Mehrdeutigkeit. Wenn übrigens einmal diese Voraussage ausgesprochen ist, hängt es offenbar nicht von ihm ab, ob sie sich verwirklichen wird oder nicht.

Was bleibt also von der Behauptung von Le Roy? Es ist folgendes: der Gelehrte greift handelnd ein, indem er die Tatsachen wählt, die beobachtet zu werden verdienen. Eine vereinzelte Tatsache hat an sich gar kein Interesse; sie gewinnt es erst, wenn man Grund hat zu glauben, daß man daraus andere vorhersagen kann, oder auch wenn sie vorhergesagt war, und ihre Verwirklichung die Betätigung eines Gesetzes ist. Wer wählt die Tatsachen, die, einem dieser Umstände entsprechend, ein Bürgerrecht in der Wissenschaft verdienen? Das ist die freie Tätigkeit des Gelehrten.

Und das genügt noch nicht. Ich habe gesagt, daß die wissenschaftliche Tatsache die Übersetzung einer rohen Tatsache in eine bestimmte Sprache ist; ich hätte hinzufügen sollen, daß jede wissenschaftliche Tatsache aus mehreren rohen Tatsachen besteht. Die früher ausgeführten Beispiele zeigen dies zur Genüge.

Was zum Beispiel die Stunde der Sonnenfinsternis betrifft, so zeigte meine Uhr die Stunde á im Augenblick der Verfinsterung und â im Augenblick des letzten Durchganges eines bestimmten Sternes durch den Meridian, den wir als Anfangspunkt der Rektaszensionen annehmen; sie zeigte die Zeit ã im Augenblick des vorletzten Durchganges desselben Sternes. Dies sind drei unterschiedene Tatsachen; (übrigens wird man bemerken, daß jede von ihnen sich aus mehreren gleichzeitigen rohen Tatsachen ergibt; darüber wollen wir aber hinweggehen). Statt dessen sage ich: die Verfinsterung fand um 24 ( áâ) / ( âã) statt, und die drei Tatsachen sind in einer einzigen wissenschaftlichen Tatsache vereinigt. Meinem Urteil nach waren die drei in drei verschiedenen Augenblicken auf meiner Uhr gemachten Ablesungen ( á, â, ã) ohne jedes Interesse und das einzig interessante war die Verbindung dieser drei Ablesungen ( áâ) / ( âã). In diesem Urteil findet man die freie Tätigkeit meines Geistes.

Hiermit habe ich aber auch meine Macht erschöpft; ich kann nicht machen, daß die Verbindung ( áâ) / ( âã) gerade diesen Wert habe und nicht einen anderen; weil ich weder den Wert von á noch den von â oder den von ã beeinflussen kann, die mir als rohe Tatsachen gegeben sind.

Kurz, die Tatsachen sind Tatsachen, und, wenn es sich trifft, daß sie mit einer Voraussage übereinstimmen, so ist das nicht ein Ergebnis unserer freien Tätigkeit. Es gibt keine scharfe Grenze zwischen der rohen und der wissenschaftlichen Tatsache; man kann nur sagen, daß der Ausdruck einer Tatsache roher oder wissenschaftlicher ist als ein anderer.

§ 4. Der »Nominalismus« und die »universelle Invariante«.

Wenn wir von den Tatsachen zu den Gesetzen übergehen, so ist es klar, daß die Rolle der freien Tätigkeit des Gelehrten viel größer wird. Wir wollen aber untersuchen, ob sie Le Roy nicht dennoch zu groß macht.

Erinnern wir uns zuerst an die Beispiele, die er gegeben hat. Wenn ich sage: Phosphor schmilzt bei 44°, so glaube ich, ein Gesetz ausgesprochen zu haben. In Wahrheit gehört das zur Definition des Phosphors; wenn man einen Körper entdeckte, der alle Eigenschaften des Phosphors hat, nur daß er nicht bei 44° schmilzt, so würde man ihm einen anderen Namen geben, und das Gesetz bliebe wahr.

Wenn ich sage: schwere Körper durchlaufen bei dem freien Fall Räume, die dem Quadrat der Zeit proportional sind, so gebe ich gleichfalls nur die Definition des freien Falles. Jedesmal, wenn die Bedingung nicht erfüllt ist, sage ich, daß der Fall nicht frei war, und so kann das Gesetz nie falsch sein.

Es ist klar, daß die Gesetze, wenn sie sich hierauf beschränkten, nicht dazu dienen könnten, vorherzusagen: sie könnten also zu nichts dienen, weder als Mittel der Erkenntnis noch als Grundsatz des Handelns.

Wenn ich sage: Phosphor schmilzt bei 44°, so will ich damit sagen: jeder Körper, der die und die Eigenschaften besitzt (nämlich alle Eigenschaften des Phosphors außer dem Schmelzpunkt), schmilzt bei 44°. So verstanden ist meine Behauptung wohl ein Gesetz, und dieses Gesetz kann mir nützen; denn wenn ich einen Körper treffe, der diese Eigenschaften besitzt, so kann ich voraussagen, daß er bei 44° schmelzen wird.

Freilich ist es möglich, daß man entdeckt, daß das Gesetz falsch ist. Dann wird man in den Lehrbüchern der Chemie lesen: »es gibt zwei Körper, die die Chemiker lange unter dem Namen Phosphor vereinigt haben; diese zwei Körper unterscheiden sich nur durch ihren Schmelzpunkt.« Es wäre das nicht das erste Mal, daß die Chemiker dazu kämen, zwei Körper zu unterscheiden, die sie vorher nicht unterscheiden konnten, zum Beispiel das Neodym und das Praseodym, die lange unter dem Namen Didym zusammengeworfen waren.

Ich glaube nicht, daß die Chemiker fürchten, daß ein derartiges Mißgeschick je den Phosphor betreffen könnte. Und wenn es gegen alle Wahrscheinlichkeit doch einträte, so hätten die zwei Stoffe voraussichtlich nicht genau die gleiche Dichtigkeit, genau die gleiche spezifische Wärme und so weiter, so daß man, wenn man zum Beispiel sorgfältig die Dichtigkeit bestimmen würde, doch noch den Schmelzpunkt vorhersagen könnte.

Das ist übrigens von keiner großen Bedeutung; es genügt, einzusehen, daß es ein Gesetz gibt, und daß dieses Gesetz, ob es wahr oder falsch sei, nicht auf eine Tautologie hinauskommt.

Wenn wir aber auch auf der Erde keinen Körper kennen, der bei allen anderen Eigenschaften des Phosphors nicht bei 44° schmilzt, so können wir doch nicht wissen, ob er nicht auf anderen Planeten vorhanden ist. Offenbar kann man eine solche Annahme machen, und man wird dann folgern, daß das in Frage stehende Gesetz, das uns, die wir auf der Erde wohnen, als Regel des Handelns dienen kann, gar keinen allgemeinen Wert vom Gesichtspunkt der Erkenntnis hat, und daß es seinen Wert nur dem Zufall verdankt, der uns auf dieser Erde hat geboren werden lassen. Das ist möglich; wenn es sich aber so verhielte, dann wäre das Gesetz nicht deswegen wertlos, weil es ein Übereinkommen wäre, sondern weil es falsch wäre.

Ebenso verhält es sich mit dem freien Fall Es würde zu nichts dienen, den Namen »freier Fall« dem Fall zu geben, der dem Galileischen Gesetz entspricht, wenn ich nicht andererseits wüßte, daß unter bestimmten Umständen der Fall wahrscheinlich frei oder wenigstens nahezu frei ist. Dies ist dann ein Gesetz, das wahr oder falsch sein kann, das sich aber nicht auf ein Übereinkommen beschränkt.

Ich nehme an, die Astronomen haben entdeckt, daß die Sterne dem Newtonschen Gesetz nicht genau gehorchen. Sie haben die Wahl zwischen zwei Annahmen; entweder können sie sagen, daß die Anziehung nicht genau im umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernung variiert, oder sie können sagen, daß die Anziehung nicht die einzige Kraft ist, die auf die Sterne wirkt, und daß sich eine Kraft anderer Art damit vereinigt.

In diesem zweiten Fall wird man das Newtonsche Gesetz als die Definition der Anziehung betrachten. Das wäre die Stellung der Nominalisten. Die Wahl zwischen den zwei Ansichten steht frei und geschieht nach Gründen der Bequemlichkeit, wenn auch diese Gründe meist so mächtig sind, daß in Wirklichkeit wenig von dieser Freiheit bleibt.

Wir können den Satz (1): »die Sterne folgen dem Newtonschen Gesetz« in zwei andere zerlegen: (2): die Anziehung folgt dem Newtonschen Gesetz, (3): die Anziehung ist die einzige Kraft, die auf die Sterne wirkt. In diesem Fall ist der Satz (2) nur eine Definition, die der Kontrolle der Erfahrung entgeht; dagegen kann diese Kontrolle auf den Satz (3) ausgeübt werden. Das muß sie auch, weil der daraus hervorgehende Satz (1) beweisbare, rohe Tatsachen vorhersagt.

Durch solche Kunstgriffe haben die Gelehrten durch einen unbewußten Nominalismus über das Gesetz das gestellt, was sie Prinzipien nennen. Wenn ein Gesetz eine genügende Betätigung durch die Erfahrung bekommen hat, können wir ihm gegenüber zwei Standpunkte einnehmen. Entweder lassen wir das Gesetz in seiner Mischung; es wird dann einer unaufhörlichen Durchsicht unterworfen sein, die ohne jeden Zweifel damit enden wird, zu beweisen, daß es nur angenähert war. Oder man kann es zum Prinzip erheben, indem man durch Übereinkommen annimmt, daß der Satz sicher wahr ist. Dabei geht man immer in gleicher Weise vor. Das ursprüngliche Gesetz drückt eine Beziehung zwischen zwei rohen Tatsachen A und B aus; man schiebt zwischen die beiden rohen Tatsachen ein abstraktes Mittelglied C ein, das mehr oder weniger erdichtet ist (wie in dem vorhergehenden Beispiel das ungreifbare Wesen der Gravitation). Dann haben wir eine Beziehung zwischen A und C, die wir als streng annehmen können und die das Prinzip ist, und eine andere zwischen C und B, die das der Durchsicht unterworfene Gesetz bleibt.

Das von nun an sozusagen kristallisierte Prinzip ist der Kontrolle der Erfahrung nicht mehr unterworfen. Es ist nicht wahr oder falsch, es ist bequem.

Man hat oft großen Vorteil daraus gezogen, so vorzugehen; aber es ist klar, daß, wenn alle Gesetze in Prinzipien umgestaltet worden wären, nichts mehr von der Wissenschaft geblieben wäre. Jedes Gesetz läßt sich in ein Prinzip und ein Gesetz zerlegen, aber daraus geht klar hervor, daß, so weit man auch diese Zerlegung treibt, immer Gesetze bleiben werden.

Der Nominalismus hat also seine Grenzen; das könnte man verkennen, wenn man die Behauptungen von Le Roy buchstäblich nähme.

Ein flüchtiger Überblick über die Wissenschaften wird uns diese Grenzen besser erkennen lassen. Der nominalistische Standpunkt ist nur gerechtfertigt, wenn er bequem ist; wann aber ist er das?

Die Erfahrung lehrt uns Beziehungen zwischen den Körpern kennen; das ist die rohe Tatsache; diese Beziehungen sind außerordentlich kompliziert. Statt die Beziehung zwischen dem Körper A und dem Körper B direkt zu betrachten, führen wir ein Zwischenglied ein, den Raum, und wir betrachten drei verschiedene Beziehungen: die des Körpers A zu der Figur A' des Raumes, die des Körpers B zu der Figur B' des Raumes, die der Figur A' und B' zueinander. Warum ist dieser Umweg vorteilhaft? Weil die Beziehung zwischen A und B kompliziert ist, sich aber wenig von der Beziehung zwischen A' und B' unterscheidet, die einfach ist, so daß diese komplizierte Beziehung durch die einfache zwischen A' und B' und durch zwei andere ersetzt werden kann, die uns erkennen lassen, daß der Unterschied zwischen A und A' einerseits und zwischen B und B' andererseits sehr klein ist. Wenn zum Beispiel A und B zwei feste, natürliche Körper sind, die ihren Platz ändern, indem sie ihre Gestalt ein wenig ändern, so betrachten wir zwei unveränderliche, bewegte Figuren A' und B'. Die Gesetze der relativen Ortsveränderungen dieser Figuren A' und B' sind sehr einfach; es sind die der Geometrie. Dann fügen wir hinzu, daß der Körper A' der immer sehr wenig von A unterschieden ist, sich durch die Wirkung der Wärme ausdehnt und sich durch die Wirkung der Elastizität biegt. Diese Ausdehnung und Biegung ist, eben weil sie sehr klein ist, für unseren Geist verhältnismäßig leicht zu studieren. Man denke sich, welcher Verwickelung der Sprache es bedurft hätte, wenn man die Ortsveränderungen des festen Körpers, seine Ausdehnung und Biegung in einen Ausdruck hätte zusammenfassen wollen.

Die Beziehung zwischen A und B war ein rohes Gesetz, das zerlegt ist. Wir haben jetzt zwei Gesetze, die die Beziehungen von A zu A' und von B zu B' ausdrücken, und ein Prinzip, das die Beziehungen von A' zu B' ausdrückt. Die Gesamtheit dieser Prinzipien nennt man Geometrie.

Hier sind noch zwei Bemerkungen zu machen: Wir haben eine Beziehung zwischen zwei Körpern A und B, die wir durch zwei Figuren A' und B' ersetzt haben; aber diese selbe Beziehung zwischen den beiden Figuren A' und B' hätte ebensogut eine Beziehung zwischen zwei anderen Körpern A'' und B'' vorteilhaft ersetzen können, die von A und B vollständig verschieden sind, und zwar auf viele Arten. Wenn man nicht die Prinzipien und die Geometrie erfunden hätte, so müßte man, nachdem man die Beziehungen von A und B studiert hätte, mit dem Studium von A'' und B'' wieder ab ovo beginnen. Das ist es, warum die Geometrie wertvoll ist. Eine geometrische Beziehung kann in vorteilhafter Weise eine Beziehung ersetzen, die, auf den rohen Zustand bezogen, als mechanisch angesehen werden kann; sie kann eine andere ersetzen, die als optisch betrachtet werden kann, usw.

Darin darf man aber nicht den Beweis sehen, daß die Geometrie eine experimentelle Wissenschaft sei, und daß man sie durch Absonderung der Prinzipien von den Gesetzen künstlich von den Wissenschaften getrennt habe, denen sie ihren Ursprung verdankt. Die anderen Wissenschaften haben auch ihre Prinzipien, was aber nicht hindert, daß man sie experimentell nennt.

Man muß zugeben, daß es schwer gewesen wäre, diese Trennung zu vermeiden, die man für künstlich erklärt. Die Rolle, die die Bewegungslehre der festen Körper in der Entstehung der Geometrie gespielt hat, ist bekannt; dürfte man danach sagen, daß die Geometrie nur ein Zweig der experimentellen Bewegungslehre wäre? Auch die Gesetze der geradlinigen Ausbreitung des Lichtes haben zu der Ausbildung dieser Prinzipien beigetragen. Müßte man daher die Geometrie gleichzeitig als einen Zweig der Bewegungslehre und einen Zweig der Optik ansehen? Ich erinnere außerdem daran, daß unser Euklidischer Raum, der der eigentliche Gegenstand der Geometrie ist, aus Gründen der Bequemlichkeit aus einer gewissen Zahl von Formen gewählt worden ist, die in unserem Geist schon vorgebildet waren, und die man Gruppen nennt.

Wenn wir auf die Mechanik übergehen, so sehen wir auch große Prinzipien von entsprechendem Ursprung, und da ihr »Wirkungsradius«, sozusagen, kleiner ist, hat man keinen Grund, sie von der eigentlichen Mechanik zu trennen und diese Wissenschaft als deduktiv zu betrachten.

In der Physik endlich ist die Rolle der Prinzipien noch mehr vermindert; denn man führt sie nur ein, wenn man Vorteil davon hat. Sie sind aber gerade deswegen vorteilhaft, weil es wenige sind, weil jedes von ihnen eine große Zahl von Gesetzen angenähert ersetzt. Man hat also kein Interesse daran, sie zu vermehren. Übrigens muß man ans Ziel kommen, und dazu muß man schließlich die Abstraktion verlassen, um mit der Wirklichkeit in Berührung zu treten.

Das sind die Grenzen des Nominalismus, und diese Grenzen sind eng.

Le Roy ist jedoch weiter gegangen und hat die Frage in anderer Form gestellt.

Da der Wortlaut unserer Gesetze nach den Übereinkommen, die wir annehmen, verschieden sein kann, da diese Übereinkommen sogar die natürlichen Beziehungen dieser Gesetze abändern können, so entsteht die Frage: Gibt es etwas in der Gesamtheit dieser Gesetze, was unabhängig von diesen Übereinkommen ist, was sozusagen die Rolle der universellen Invariante spielen könnte? Man hat zum Beispiel die Vorstellung von Wesen eingeführt, die ihre Ausbildung in einer von der unseren verschiedenen Welt erfahren haben und dazu gekommen sind, eine nicht Euklidische Geometrie zu schaffen. Wenn diese Wesen dann plötzlich in unsere Welt versetzt würden, so würden sie die gleichen Gesetze beobachten wie wir, aber sie würden sie in ganz anderer Weise ausdrücken. Allerdings wäre noch etwas Gemeinsames in den beiden Ausdrucksweisen, aber nur weil diese Wesen noch nicht verschieden genug von uns wären. Man kann sich noch viel fremdere Wesen denken, und der gemeinsame Teil zwischen den beiden Systemen würde sich mehr und mehr verringern. Wird er sich der Null nähern, oder bleibt ein unauflösbarer Rückstand, der dann die gesuchte universelle Invariante wäre?

Diese Frage muß genau gefaßt werden. Verlangt man, daß der gemeinsame Teil der Anschauung in Worten ausdrückbar sei, dann ist es klar, daß es keine gemeinsamen Worte in allen Sprachen gibt, und wir können nicht beanspruchen, irgendeine universelle Invariante zu bilden, die gleichzeitig von uns und von den gedachten, nicht-Euklidischen Geometern, von denen ich eben gesprochen habe, verstanden würde; ebensowenig wie wir einen Satz bilden können, der gleichzeitig von Deutschen, die nicht Französisch können, und von Franzosen, die nicht Deutsch können, verstanden würde. Wir haben aber feste Regeln, die uns erlauben, die französischen Sätze ins Deutsche zu übersetzen und umgekehrt. Darum hat man Grammatik und Wörterbücher gemacht. Es gibt auch feste Regeln, um die Euklidische Sprache in die nicht-Euklidische Sprache zu übersetzen, oder, wenn es keine gibt, könnte man solche machen.

Und selbst wenn es weder Dolmetscher noch Wörterbücher gäbe, wenn die Deutschen und Franzosen, nachdem sie jahrhundertelang in getrennten Welten gelebt hätten, plötzlich in Berührung miteinander träten, würde es dann nichts Gemeinsames zwischen der Wissenschaft der deutschen und der der französischen Bücher geben? Die Franzosen und die Deutschen würden sich sicherlich bald verständigen, wie die Indianer in Amerika nach dem Eindringen der Spanier die Sprache ihrer Überwinder verstehen lernten.

Gewiß, wird man sagen, die Franzosen werden fähig sein, die Deutschen zu verstehen, auch ohne es gelernt zu haben, aber nur, weil zwischen den Franzosen und den Deutschen etwas Gemeinsames ist, da die einen wie die anderen Menschen sind. Es würde auch gelingen, sich mit unseren hypothetischen nicht-Euklidikern zu verständigen, obgleich sie keine Menschen mehr wären, weil sie doch etwas Menschliches an sich haben. In jedem Fall ist aber ein Minimum von Menschlichkeit notwendig,

Das ist möglich, aber ich bemerke zuerst, daß das bißchen Menschlichkeit, das den nicht-Euklidikern bliebe, nicht nur genügte, ein bißchen von ihrer Sprache zu übersetzen, sondern ihre ganze Sprache.

Also, daß ein Minimum nötig ist, gebe ich zu; nehmen wir aber an, daß ein gewisses Fluidum existiert, das zwischen die Moleküle unserer Materie eindringt, ohne irgendwelche Wirkung auf sie auszuüben und ohne irgendwelche Wirkung von ihnen zu empfangen. Nehmen wir weiter an, daß Wesen gegen den Einfluß dieses Fluidums empfindlich seien und unempfindlich gegen den unserer Materie. Es ist klar, daß die Wissenschaft dieser Wesen vollkommen von der unseren verschieden, und daß es vergeblich wäre, eine gemeinsame »Invariante« für diese beiden Wissenschaften zu suchen. Oder nehmen wir an, daß diese Wesen unsere Logik nicht anerkennten, und zum Beispiel das Prinzip des Widerspruchs verwerfen. Ich glaube aber, daß es nicht von Interesse ist, derartige Hypothesen zu prüfen.

Wenn wir nun die Phantasterei nicht so weit treiben, wenn wir uns nur solche Wesen denken, die den unseren ähnliche Sinne haben, empfänglich für dieselben Eindrücke, die überdies die Prinzipien unserer Logik anerkennen, so können wir schließen, daß ihre Sprache, so verschieden sie auch von der unseren sein mag, immer übersetzbar sei.

Die Möglichkeit der Übersetzung schließt aber das Vorhandensein einer Invariante ein. Übersetzen heißt gerade diese Invariante freimachen. Eine Geheimschrift entziffern heißt suchen, was in diesem Dokument unveränderlich bleibt, wenn man die Buchstaben durch andere ersetzt.

Was ist nun die Natur dieser Invariante? Es ist leicht, sich Rechenschaft darüber zu geben, und ein Wort wird genügen. Die invarianten Gesetze sind die Beziehungen zwischen den rohen Tatsachen, während die Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen Tatsachen immer von gewissen Übereinkommen abhängig bleiben.


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