Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einleitung.

Die Wahrheit aufzusuchen soll der Zweck unserer Tätigkeit sein; das ist das einzige Ziel, das ihrer würdig ist. Gewiß müssen wir uns zuerst bemühen, die menschlichen Leiden zu erleichtern; doch wozu? Nicht-leiden ist ein negatives Ideal, das viel sicherer durch die Vernichtung der Welt erreicht würde. Wenn wir den Menschen mehr und mehr von den materiellen Sorgen befreien wollen, so geschieht es, damit er die wiedergewonnene Freiheit zum Studium und zur Betrachtung der Wahrheit gebrauche.

Jedoch zuweilen erschreckt uns die Wahrheit; und wir wissen auch wirklich, daß sie manchmal trügerisch ist, daß sie eine Erscheinung ist, die sich uns nur einen Augenblick zeigt, um endlos zu fliehen, die wir weiter und immer weiter verfolgen müssen, ohne sie je erreichen zu können. Und doch, um zu handeln, ist es notwendig einen Halt zu machen, ἀνάγκη στῆναι, wie irgendein Grieche Aristoteles oder ein anderer gesagt hat. Wir wissen auch, wie grausam sie oft ist, und wir fragen uns, ob die Illusion nicht nur viel tröstlicher, sondern auch viel stärkender ist; denn sie ist es, die uns die Zuversicht gibt. Wird uns die Hoffnung bleiben, wenn sie verschwunden ist, und werden wir den Mut zum Handeln behalten? Es ist wie bei einem Schulpferd das das Vorwärtsgehen verweigern würde, wenn man nicht die Vorsichtsmaßregel träfe, ihm die Augen zu verbinden. Um die Wahrheit zu suchen, muß man unabhängig sein, vollständig unabhängig. Wenn wir handeln wollen hingegen, wenn wir stark sein wollen, müssen wir vereint sein. Das ist es, warum viele unter uns vor der Wahrheit erschrecken; sie betrachten sie als eine Ursache der Schwäche. Und dennoch darf man die Wahrheit nicht fürchten, denn sie allein ist schön.

Wenn ich hier von der Wahrheit spreche, so meine ich selbstverständlich in erster Linie die wissenschaftliche Wahrheit; aber ich meine auch die moralische Wahrheit, von der das, was man Gerechtigkeit nennt, nur eine Seite ist. Es mag scheinen, als ob ich mit Worten spiele, als ob ich unter einem Namen zwei Dinge vereinige, die nichts Gemeinsames haben; daß die wissenschaftliche Wahrheit, die man beweisen kann, in keiner Weise der moralischen Wahrheit gleicht, die man fühlen muß.

Und doch kann ich sie nicht trennen, und die, welche die eine lieben, können nie die andere nicht lieben. Um die eine wie die andere zu finden, muß man sich bemühen, seine Seele vollkommen frei zu machen vom Vorurteil und von der Leidenschaft; man muß zu unbedingter Aufrichtigkeit gelangen. Diese beiden Arten der Wahrheit verursachen uns, einmal entdeckt, die gleiche Freude; von dem Augenblicke an, da man sie erkannt hat, strahlt die eine wie die andere im gleichen Glanze, so daß man sie sehen oder die Augen schließen muß. Alle beide endlich ziehen uns an und fliehen uns; sie stehen niemals fest; wenn man glaubt, sie erreicht zu haben, sieht man, daß man noch weiter gehen muß, und der, der sie verfolgt, ist dazu verdammt, die Ruhe niemals kennen zu lernen.

Es ist noch hinzuzufügen, daß die, welche Furcht vor der einen haben, auch die andere fürchten werden; denn das sind die, die sich in allen Dingen zuerst von den Folgen beeinflussen lassen. In einem Wort: ich vereinige die beiden Arten von Wahrheit, weil uns die gleichen Gründe veranlassen, sie zu lieben, und die gleichen Gründe, sie zu fürchten.

Brauchen wir uns vor der moralischen Wahrheit nicht zu scheuen, so haben wir um so weniger die wissenschaftliche Wahrheit zu fürchten. Und vor allem kann sie nicht in Widerstreit mit der Moral geraten. Die Moral und die Wissenschaft haben ihre eigenen Gebiete, die sich berühren, aber nicht durchdringen. Die eine zeigt uns das Ziel, nach dem wir streben sollen, die andere lehrt uns die Mittel erkennen, das gegebene Ziel zu erreichen. Sie können sich also nie widersprechen, weil sie sich nie begegnen. Es kann keine unmoralische Wissenschaft geben, so wenig wie es eine wissenschaftliche Moral geben kann.

Wenn man aber Furcht vor der Wissenschaft hat, so ist das hauptsächlich, weil sie uns das Glück nicht geben kann. – Nein, augenscheinlich kann sie es uns nicht geben, und man kann sich fragen, ob das Vieh nicht weniger leidet als der Mensch. Aber können wir ein Paradies auf Erden ersehnen, wo der Mensch gleich dem Tiere wirklich unsterblich wäre, weil er nicht wüßte, daß er sterben muß? Wenn man den Apfel gekostet hat, vergißt man den Geschmack durch keine Leiden wieder, sondern kehrt stets zu ihm zurück. Wie könnte man auch anders? Ebensogut könnte man fragen, ob ein Sehender erblinden könne, ohne das Heimweh nach dem Licht zu fühlen. So kann auch der Mensch wohl nicht glücklich werden durch die Wissenschaft, aber heutzutage kann er noch viel weniger glücklich werden ohne sie.

Wenn aber die Wahrheit das einzige Ziel ist, das verfolgt zu werden verdient, können wir hoffen es zu erreichen? Hieran kann man zweifeln. Die Leser meines kleinen Buches über » Wissenschaft und Hypothese« wissen schon, wie ich hierüber denke. Die Wahrheit, die uns flüchtig zu sehen erlaubt ist, ist nicht ganz das, was die meisten Menschen unter diesem Wort verstehen. Folgt daraus, daß unser Streben nach Wahrheit, das sich uns so gebieterisch aufdrängt, zugleich ewig vergeblich ist? Oder können wir trotz alledem der Wahrheit von irgendeiner Seite nahen? Das haben wir zu prüfen.

Vor allem, über welche Werkzeuge verfügen wir zur Lösung dieser Aufgabe? Ist der Verstand des Menschen, oder um uns zu beschränken, der Verstand des Gelehrten nicht einer unendlichen Mannigfaltigkeit fähig? Man könnte, ohne diesen Gegenstand zu erschöpfen, viele Bände darüber schreiben; ich habe ihn nur flüchtig in einigen kurzen Seiten gestreift. Daß der Geist des Mathematikers dem des Physikers oder dem des Naturforschers wenig gleicht, wird jedermann zugeben; aber auch die Mathematiker selbst gleichen einander nicht; die einen kennen nur die unerbittliche Logik, die andern rufen die Intuition an und sehen in ihr die einzige Quelle der Entdeckungen. Dies wäre ein Grund zum Mißtrauen. Können selbst die mathematischen Theoreme so unähnlichen Geistern im gleichen Lichte erscheinen? Die Wahrheit, die nicht für alle die gleiche ist, ist das die Wahrheit? Doch bei näherer Betrachtung sehen wir, wie all diese verschiedenen Arbeiter an einem gemeinsamen Werk schaffen, das ohne ihr Zusammenwirken nicht vollendet werden könnte. Und das gibt uns einige Zuversicht.

Dann müssen wir die Rahmen prüfen, in denen uns die Natur eingeschlossen erscheint und die wir die Zeit und den Raum nennen. In »Wissenschaft und Hypothese« habe ich schon gezeigt, daß ihre Bedeutung nur eine relative ist. Nicht die Natur drängt sie uns auf, wir drängen sie der Natur auf, weil wir sie bequem finden; aber ich habe fast nur vom Raume gesprochen und besonders vom »quantitativen« Raum sozusagen, das heißt von den mathematischen Beziehungen, deren Gesamtheit die Geometrie bildet. Es blieb noch zu beweisen, daß es sich mit der Zeit ebenso verhält wie mit dem Raume und auch ebenso mit dem »qualitativen« Raum; besonders war zu erforschen, warum wir dem Raume drei Dimensionen beilegen. Man wird mir also erlauben, noch einmal auf diese wichtigen Fragen zurückzukommen.

Ist denn die mathematische Analyse, deren Hauptgegenstand das Studium dieser leeren Rahmen bildet, nichts als eine eitle Spielerei des Geistes? Sie kann dem Physiker nichts geben als eine bequeme Sprache; ist dies nicht ein sehr geringer Dienst, den man im Notfalle hätte entbehren können; ja ist nicht sogar zu fürchten; daß diese künstliche Sprache nichts ist als ein Schleier, der zwischen die Wirklichkeit und das Auge des Physikers geschoben ist? Keineswegs; ohne diese Sprache wäre uns der größte Teil des tieferen Zusammenhanges der Dinge für alle Zeiten unbekannt geblieben, und wir wären uns niemals der innersten Harmonie der Welt bewußt geworden, die, wie wir sehen werden, die einzige wahrhafte Wirklichkeit ist.

Der beste Ausdruck für diese Harmonie ist das Gesetz; das Gesetz ist eine der neuesten Errungenschaften des menschlichen Geistes; es gibt noch Völker, die in einem beständigen Wunder leben und die nicht darüber erstaunen. Wir dagegen sollten staunen über die Regelmäßigkeit der Natur! Die Menschen verlangen von ihren Göttern, daß sie ihr Dasein durch Wunder offenbaren, aber das ewige Wunder ist, daß nicht endlos Wunder geschehen. Und darum ist die Welt göttlich, weil sie darum harmonisch ist. Würde sie durch Laune regiert, was bewiese uns, daß sie nicht durch den Zufall regiert wird?

Diese Errungenschaft des Gesetzes verdanken wir der Astronomie, und darin liegt eben die Größe dieser Wissenschaft, mehr noch als in der Erhabenheit des Gegenstandes, den sie behandelt.

Es war also ganz naturgemäß, daß die Himmelsmechanik das erste Vorbild der mathematischen Physik war; seither hat sich aber diese Wissenschaft entwickelt, sie entwickelt sich noch, ja sie entwickelt sich schnell. Und schon ist es nötig, das Bild, das ich im Jahre 1900 entworfen und dem ich zwei Kapitel von »Wissenschaft und Hypothese« gewidmet habe, in einigen Punkten zu verändern. In einem Vortrag auf der Weltausstellung von Saint-Louis 1904 habe ich versucht, den zurückgelegten Weg zu bemessen; was der Erfolg dieser Untersuchung war, wird der Leser weiterhin erfahren.

Die Fortschritte der Wissenschaft scheinen die feststehendsten Grundsätze in Gefahr zu bringen, sogar die, welche als fundamental angesehen wurden. Jedoch ist durch nichts bewiesen, daß es nicht gelingen wird, sie zu retten, und wenn es auch nur unvollkommen gelingt, so werden sie doch fortbestehen, indem sie sich umgestalten. Man muß den Gang der Wissenschaft nicht der Umgestaltung einer Stadt vergleichen, in der die alten Gebäude schonungslos niedergerissen werden, um neuen Bauwerken Platz zu machen, sondern der stetigen Entwicklung der Tierformen, die sich unaufhörlich fortbilden und schließlich dem gewöhnlichen Blick unkenntlich werden, während ein geübtes Auge immer die Spuren der Arbeit verflossener Jahrhunderte wiederfindet. Man darf also nicht glauben, daß die veralteten Theorien unfruchtbar und vergeblich gewesen sind.

Wenn wir hier stehen blieben, so fänden wir in diesen Seiten einigen Grund, Vertrauen zu dem Wert der Wissenschaft zu fassen, aber viel mehr Gründe ihm zu mißtrauen. Wir behielten den Eindruck eines Zweifels; das muß jetzt richtiggestellt werden.

Manche haben die Rolle des Übereinkommens in der Wissenschaft übertrieben, sie sind so weit gegangen, zu sagen, das Gesetz, die wissenschaftliche Tatsache selbst sei von den Gelehrten geschaffen. Das heißt viel zu weit gehen auf dem Weg des Nominalismus. Nein, die wissenschaftlichen Gesetze sind keine künstlichen Schöpfungen. Wir haben durchaus keinen Grund, sie für etwas Zufälliges zu halten, wenn es uns auch nicht möglich ist, zu beweisen, daß sie es nicht sind.

Besteht die Harmonie, die die menschliche Intelligenz in der Natur zu entdecken glaubt, auch außerhalb dieser Intelligenz? Nein, zweifellos ist eine Wirklichkeit, die vom Geist, der sie begreift, sie sieht oder fühlt, vollständig unabhängig ist, eine Unmöglichkeit. Wenn wirklich eine derartige äußere Welt bestände, sie wäre uns für alle Zeiten unzugänglich. Das aber, was wir objektive Wirklichkeit nennen, ist, wenn man es recht überlegt, das, was vielen denkenden Wesen gemein ist und was allen gemein sein könnte. Dieses Gemeinsame kann, wie wir sehen werden, nichts anderes sein als die Harmonie, ausgedrückt durch die mathematischen Gesetze.

Die Harmonie ist also die einzige objektive Wirklichkeit, die einzige Wahrheit, zu der wir gelangen können, und wenn ich hinzufüge, daß die allgemeine Harmonie der Welt die Quelle aller Schönheit ist, so wird man einsehen, welchen Wert wir dem langsamen und mühseligen Fortschritt beimessen müssen, der sie uns nach und nach immer besser erkennen lehrt.


 << zurück weiter >>