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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Nach dieser Mahlzeit trat der Gerichtshof wieder zusammen, und ich begann meine wenigen wissenschaftlichen Sachverständigen aufzurufen – es waren nur wenige, aber von Mr. Jackson bewunderungswürdig gewählt. Dieser Herr saß unter mir mit unerschütterlichem, festem Vertrauen auf seinen breiten Zügen, und meine Sachverständigen machten ihre Sache ausnehmend gut.

Sie erklärten alle, daß die Thatsachen mit meiner Theorie vollständig vereinbar seien; der Brechweinstein ist ein unsicheres und in seiner Wirkung völlig unberechenbares Gift, von dem schon die kleinsten Dosen verhängnisvoll geworden sind, während es auch schon in großen Mengen ungestraft genommen wurde, und für beide Behauptungen führten sie eine Reihe Beweise an. Es ist ein Gift, das die Mörder immer nur in kleinen Dosen und nach Zwischenpausen anwenden, weil es zu der von den Toxikologen als schleichende Gifte bezeichneten Gattung gehört. Auf diese Weise entgeht es häufig der Entdeckung, weil es selbst von dem Organismus wieder ausgestoßen wird, während seine verderbliche Wirkung fortdauert. Es ist gar kein Zweifel, daß Antimon in der Form von Brechweinstein die Aqua tofana des Mittelalters war.

Sie waren sehr tief und sehr gelehrt, diese Herren, in ihrem ganzen Wesen und Behaben. Einige gaben ihre Aussagen vermittelst eines Dolmetschers, aber die Mehrzahl sprach sehr langsam, jedoch sehr verständlich und in scharf betontem Englisch; sie machten die Geschworenen irre – das war aber auch alles.

Ich faßte ihr Gutachten kurz zusammen, und der Oberstaatsanwalt, sei es nun aus Höflichkeit, sei es, weil er schon alles vorgebracht, was er zu sagen hatte, that wenig mehr, als die Geschworenen an ihre furchtbare Verantwortlichkeit, an den Ernst der Anklage und die Heiligkeit des Eides zu erinnern.

Nun aber kam der Herr Richter Manley an die Reihe. Seine Herrlichkeit war beinahe auffallend unparteiisch, und doch war es nur zu klar, daß er sich seine Ansicht gebildet hatte. Ich konnte an dem, was er sagte, nichts aussetzen, ich konnte nichts dagegen einwenden, aber innerlich fürchtete ich, es möchte gegen jene regungslose Statue dort auf der Anklagebank sprechen, und ich kannte seine Herrlichkeit gut genug, um zu wissen, daß dies auch beabsichtigt war.

Die Geschworenen lauschten mit tiefer Aufmerksamkeit und zogen sich zurück, ohne irgend eine unwesentliche oder thörichte Frage zu stellen.

Es war sieben Uhr, als sie den Saal verließen. Sir John Manley zog sich in seine eignen Zimmer zurück, während die Menge im Zuhörerraum Lebensmittel aller Art zu Tage förderte und den Fall besprach.

Ich folgte der Aufforderung Mr. Jacksons, der ganz vertrauensvoll und siegesgewiß war, und ging mit ihm in dem kalten, mit Matten belegten Flur auf und ab.

»Sie können sich darauf verlassen,« sagte Mr. Jackson, »es wird schon recht werden! Ich kenne unsre nüchternen englischen Tölpel. Unsre Doktoren haben sie ein bißchen umnebelt. Der Kerl war ein ausgesprochener Schurke, etwas, was ihnen von Haus aus zuwider ist, und zudem auch noch ein Fremder, was der englische Kaufmann ohnehin haßt. Das Benehmen unsrer Klientin war tadellos und sprach sehr zu ihren Gunsten. Wenn die Geschworenen sie irgend durchschlüpfen lassen können, so werden sie es thun, aber es ist kein gutes Zeichen, wenn sie länger als eine Stunde draußen bleiben; eine gewisse Spanne Zeit müssen sie natürlich schon des Anstandes halber verstreichen lassen.« Eine Stunde, beinahe auf die Minute hin, mußten wir auf und ab gehen, dann wurde verkündigt, daß die Geschworenen sich über ihren Spruch geeinigt hätten und zurückkämen, und auch wir kehrten eilends in den Saal zurück.

Die Angeklagte stand an den Schranken vor der Anklagebank – unbeweglich, regungslos stand sie da und starrte ins Leere. Noch jetzt sehe ich ihr ganz außergewöhnlich schönes Antlitz vor mir. Ihr Haar war schlicht zurückgekämmt, wie man es bei den griechischen Statuen der Artemis sieht. Die klaren, edel geschnittenen Züge wurden durch das eng anschließende schwarze Kleid und das schwarze Hütchen in ihrer ganzen totenähnlichen Blässe hervorgehoben.

Der Herr Richter Manley war offenbar so unruhig und ängstlich wie alle andern, und das ist genug gesagt für die, welche ihn kennen.

»Meine Herren Geschworenen,« fragte der Gerichtsschreiber, nachdem die Namen aufgerufen worden waren, »haben Sie Ihren Wahrspruch einstimmig gefällt?«

»Ja,« antwortete der Obmann entschlossen.

»Ist die Angeklagte schuldig, den Achille Daubray vorsätzlich getötet und diese That mit Ueberlegung ausgeführt zu haben?«

»Nein!« erwiderte der Obmann fest.

Dann begab sich mehreres zumal. Der Gerichtsschreiber sprach die übliche Formel: »Sie erklären sie für nicht schuldig, und das ist ihr einstimmiger Wahrspruch.« Sir John Manley hob gebieterisch die Hand in die Höhe, und die Thürsteher geboten Stille, die dann auch im Saal eintrat, obgleich das Lärmen und Tosen der Menge draußen die metallische Stimme seiner Herrlichkeit fast unvernehmlich machte.

»Sie haben eine schwere und verantwortungsvolle Pflicht zu erfüllen gehabt,« sagte er, »und ich werde anordnen, daß Sie von fernerer Dienstleistung vor diesem Gerichtshof für einen längeren Zeitraum entbunden werden.«

Die Geschworenen verbeugten sich zustimmend und verließen ihren Platz. Der Richter eilte durch seinen Privatausgang in sein Zimmer. Ich wandte mich nach der Anklagebank, aber das freigesprochene Mädchen war verschwunden, ebenso auch Mr. Jackson. Dann kletterte ich, um die Menge zu vermeiden, über die Sitze der Richter und ging in das Anklagezimmer. Hier traf ich Mr. Jackson an der Thüre; wir schüttelten uns herzlich die Hände.

»Unsre Klientin hat mich beauftragt, Ihnen in ihrem Namen zu danken,« sagte er, »und ich möchte Sie beglückwünschen zu der glänzendsten, wirkungsvollsten Verteidigungsrede, die ich je gehört habe. Ich werde mir erlauben, morgen früh Ihren Schreiber aufzusuchen.« Damit verbeugte er sich zum Abschied.

Ich legte rasch die Robe ab und fuhr nicht in meinen Klub, wo ich mit Fragen halb umgebracht worden wäre, sondern in eine Restauration, wo mich niemand kannte und wo ich in aller Stille ein ausgezeichnetes Mahl zu mir nahm. Eine ungeheure Last war von meiner Seele genommen, und ich fühlte mich so erleichtert, daß ich noch den Klub eines Freundes besuchte und einige Partieen Billard spielte, allerdings mit wechselndem Glück, denn nun, wo alles glücklich vorüber gegangen, war meine Hand doch nicht ganz so fest, wie sie hätte sein können.

Nach beendetem Spiel steckte ich mir eine Cigarre an, sagte meinem Freund gute Nacht, schlenderte nach Chapel Street zurück und legte mich ganz prosaisch zu Bett. Nur unter der Thür war ich von meinem Hauswirt noch einen Augenblick aufgehalten worden.

»Ganz London spricht darüber, Mr. Severn,« sagte dieser Herr. »Alles ist ganz voll davon, und ich erlaube mir, Ihnen meinen ehrerbietigen Glückwunsch auszusprechen. Um welche Zeit wollen Sie morgen geweckt werden?«

Mein Hauswirt war für gewöhnlich ein Mann von wenig Worten, und seine freundliche Aufmerksamkeit rührte mich so, daß ich ihm kaum antworten konnte, aber ich brachte doch die gewöhnliche Zeit heraus und ging die Treppe hinauf. Und so endete der im gewissen Sinne wichtigste und ereignisreichste Tag eines nicht ganz ereignislosen Lebens.


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