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Viertes Kapitel.

An dem bestimmten Tag machte ich meinen zweiten Besuch bei Mr. Raphael, der mich mit freundlichem, wohlwollendem Wesen empfing. Er war, wie er sagte, in betreff der Sicherheit zufriedengestellt und war bereit, mir das Geld zu geben, das ich brauchte. Mr. Jakobs hatte die nötigen Papiere vorbereitet, doch würde ich sie vielleicht lesen wollen, ehe ich sie unterschrieb.

Ich erfreute mich einer ganz hübschen Rechtsunkenntnis im allgemeinen und, was die Übertragung von Rechten im besondern betraf, der denkbar größten Unwissenheit. Außerdem wünschte ich, mein Geld zu erhalten und fortzugehen. Ich unterschrieb also einen Wechsel über einhundertzwanzig Pfund und erhielt dagegen meinen Schuldschein über zehn Pfund und einen Check auf neunzig Pfund.

»Ich habe die Spesen Mr. Jakobs' nicht abgezogen,« bemerkte mein philosophischer Gönner und Freund, »ich will sie selbst entrichten. Vielleicht kommen Sie wieder zu mir, und ich werde mich jederzeit freuen, Sie bei mir zu sehen, das heißt in vernünftigen Grenzen, sowohl in Bezug auf Zeit als auf Beträge.« Bei diesen Worten schien sich mir die unbeschränkte Aussicht auf eine goldne Höhle zu eröffnen; ich kam mir vor wie ein zweiter Aladin, und das Blut stieg mir zu Kopfe.

»Hoffentlich frühstücken Sie einmal bei mir,« bat ich meinen neuen Mäcenas.

»Sie sind sehr freundlich, allein ich darf dies nicht wagen. Meine Verdauung ist gänzlich gestört, so daß ich mich streng nach ärztlicher Vorschrift richte und beinahe nur von Reispudding und Steinwein lebe. Adieu! Doch lassen Sie mich Ihnen noch einen Rat geben, ehe Sie gehen. Wenn Sie Bargeld brauchen, so kommen Sie wieder zu mir. Gehen Sie nirgends sonst hin; ich würde es erfahren, wenn Sie es thäten, und ich wäre dann genötigt, mich dadurch sicher zu stellen, daß ich Ihre Angehörigen über unsre Beziehungen unterrichtete, was, wie ich glaube, nicht ganz angenehm für Sie wäre. Außerdem könnte ich Ihnen auch einen Zahlungsbefehl zustellen lassen. Sie wissen doch, was dies sagen will?«

Errötend entgegnete ich, daß ich es nicht wisse.

»Gehen Sie in Ihr Rechtskollegium zurück und fragen Sie einen Ihrer Freunde. Doch Sie sind ein Gentleman, Mr. Severn, und werden nichts hinter meinem Rücken thun, dessen bin ich sicher. Jetzt habe ich aber zu arbeiten. Gehen Sie nach der ›Münze‹.«

Ich ging nach der »Münze« oder mit andern Worten nach dem Westender Zweighaus der Bank von England und setzte dort meinen Check in Bargeld um. Da diese Zweiganstalt an der Ecke von Burlington Gardens liegt, nahm ich meinen Weg durch die Arkaden gleichen Namens, wo ich einige Kleinigkeiten für Mrs. Brabazon kaufte und auch meine eigne Toilette etwas vervollständigte. Ich wurde »gekämmt und gekräuselt«, bis ich, wie es bei Tenny heißt:

Aussah in meiner Locken Zier
Wie ein frisierter assyrischer Stier!

Ein wenig unterhalb der Burlington-Arkaden, von wo ich einen Fächer, Handschuhe und einen Sonnenschirm mitbrachte, befindet sich der Laden eines berühmten Obsthändlers. Hier holte ich Nektarinen. Die Nektarine ist eine der besten Früchte der Welt, aber sie kommt erst spät im Jahre.

Dann führte mich mein Kutscher nach Bayswater zurück, mit einem Umweg über den Tattersall, wo er unter dem Vorwand, sein Pferd zu tränken, die neuesten Wetten zu erfahren hoffte. Die Gutherzigkeit der Jugend ist immer überströmend. Als ich ausstieg, gab ich ihm eine Schillingcigarre und zwei Schilling über die Taxe. Er mochte wohl glauben, ich sei über den Betrag des Fahrgeldes, das ich zu bezahlen hatte, nicht genau unterrichtet und wolle mich vermittelst der Regalia einer Erörterung entziehen; wenigstens nahm er Geld und Cigarre ohne den geringsten Versuch, auch nur den Rand seines Hutes zu berühren, und fuhr davon, als wäre er froh, mich los geworden zu sein.

Als ich in den Hausflur trat, waren die Vorbereitungen zum Mittagessen in vollem Gang, und Mrs. Brabazon befand sich in dem Raum des Hauses, den wir bis fünf Uhr abends Empfangs- und von da ab Speisezimmer zu nennen pflegten. Es war gerade fünf Uhr, und ein schmutziges, zerzaustes Dienstmädchen war eben daran, ein drei Tage altes Tischtuch aufzulegen.

»Sie sind unverbesserlich! Offenbar wollen Sie sich für ein Wettrennen trainieren oder zum Lastträger ausbilden. Sie sind ja beladen wie ein Kauffahrteischiff. Sind Ihr Vater und Ihre Brüder gestorben und Sie in den Besitz der Familiengüter gelangt?«

»Keine Spur. Ich habe nur das Schwanzende meines väterlichen Erbes zu fassen gekriegt und dies um ein Gericht Linsen verkauft, das übrigens gar nicht zu verachten ist.«

»Sie haben also eine Dummheit gemacht?«

»Und wenn ich eine gemacht habe?«

»Dann sollen Sie nicht hier in diesem schmutzigen Dunstkreise bleiben und schlechtes Bier und noch schlechteren Marsala trinken und davon zu plaudern anfangen, sondern müssen mit mir auswärts essen. Kommen Sie mit! Ich befehle es Ihnen! Sie brauchen keinen Cognac mit Sodawasser, nicht einmal Riechsalz, obgleich ich welches habe.«

Ich folgte ihr einen Teil der Treppe hinauf, dann zögerte ich, wie ein großer Schuljunge, der ich ja eigentlich war, aufs neue. Sie stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf den Boden.

»Kommen Sie mit hinauf,« sagte sie. So ging ich also mit auf ihr eignes Zimmer.

Ich folgte ihr unterwürfig in ihr kleines Wohnzimmer, und mein Erstes war, meine Pakete auf dem Tisch abzulegen, dann ließ ich mich, ohne eine Aufforderung abzuwarten, in einen großen Korbstuhl nieder. Ohne ein Wort zu sagen, schob sie sich einen Stuhl so herzu, daß sie mein Gesicht in vollem Lichte vor sich hatte und dessen Ausdruck genau beobachten konnte. Dann begann sie:

»Ich wiederhole, was ich schon unten gesagt habe. Ich habe gesagt, Sie seien ein dummer Junge. Jetzt, da wir allein sind, sage ich Ihnen, daß Sie etwas viel Schlimmeres sind. Sie sind so schlimm wie ein unreifer Quartaner und durchaus nicht im stande, sich vorzusehen. Was in aller Welt haben Sie denn gethan?«

»Ich muß einen Cognac mit Sodawasser haben,« schlug ich vor, »dann kann ich's Ihnen erzählen.«

»Sie brauchen gar nichts derart, ebensowenig wie ich Rubinen brauche in diesem Schinken- und Ochsenbratenhaus, wo mir die andern Damen schmeichelhafte Bemerkungen über die Größe meiner Granaten machen würden, wenn ich Rubinen anhätte. Nun, seien Sie artig, schenken Sie sich ein Glas Wasser ein und stecken Sie eine Cigarrette an. Ich weiß so gewiß, daß Sie Cigarretten bei sich haben, als wäre ich dabei gewesen, als Sie sie kauften. Ich schäme mich, daß ich neulich mit Ihnen ausgegangen bin und Sie zu Unfug verleitet habe. Wenn Sie Ihre Cigarrette angezündet haben, können Sie mir alles sagen.«

Damit stand sie von ihrem Stuhl auf und schob sich ein Kissen dicht neben mich heran; dann ergriff sie meine Hand, sah mir voll ins Gesicht und wartete auf den Anfang.

»Nun also,« sagte ich mit beträchtlicher Unruhe »ich bin ausgewesen und habe mir Geld verschafft. Das ist alles. Und ich habe nur einen kleinen Teil davon ausgegeben und alles übrige habe ich bei mir.«

»Soweit sind Sie ein guter Junge. Ich weiß, was ›Geld verschaffen‹ bedeutet. Ich weiß, daß Sie dafür bezahlen mußten, es ist das teuerste Ding in der Welt. Das will ich Ihnen aber verzeihen. Was haben Sie sonst noch gethan?«

»Einkäufe gemacht. Ich bin in Burlington und noch an ein paar andern Orten gewesen und dann geradeswegs zurückgekommen.«

Es entstand eine Pause, während welcher wir einander fest anblickten.

»Sie haben nur Einkäufe gemacht?« fragte sie.

»Ich versichere Sie, Susan, sonst nichts. Ich habe noch einige Schulden zu bezahlen, und außerdem brauchte ich mehr, um mich eine Weile über Wasser zu halten. Ich weiß ja, daß ich Billard spiele, aber ich habe keine einzige Wette stehen, obgleich ich heute noch keine bezahlt habe. Sie verstehen mein Billardspiel nicht recht, Susan; es ist so harmlos für mich, wie Lawntennis. Ich kann es nur nicht vermeiden, dabei zu gewinnen, obgleich ich mir selbst aus dem Weg gehe und dem Gegner vorgebe.«

Sie sprang auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Ich war erstaunt, sie zum erstenmal aufgeregt zu sehen, während ich im Bewußtsein, kein größeres Unrecht begangen zu haben als ein Schuljunge, der einen überhängenden Apfel gepflückt oder verbotener Weise eine Forelle geangelt hat, keineswegs niedergeschlagen war. Ich dachte, sie mache ein unnötiges Wesen aus einer Sache, die eigentlich doch einzig und allein mich anging, und so wartete ich gelassen, mit der philosophischen Ruhe, die einem Manne meines Alters anstand.

»Wir wollen für den Augenblick nicht mehr von Geschäften reden,« sagte sie plötzlich. »Sie sollen mich heute abend wieder an irgend einen hübschen, ruhigen Ort führen, irgend wohin, wo uns gar nichts belästigt oder zwingt, an die Wirklichkeit zurückzudenken. Bleiben Sie hier, ich will mich rasch fertig machen. Was die Leute dazu sagen? Ganz einerlei, wir gehen zusammen aus. Was brauchen wir, Sie oder ich, uns denn um solches Pack zu kümmern? Arme Leute! Sie haben nichts zu thun als zu klatschen, die schnatternden Dummköpfe! Warten Sie! Ich werde mir alle Mühe geben, Ihnen durch mein Aussehen Ehre zu machen.«

Nach ganz kurzer Zeit erschien sie wieder und sah in der That wundervoll aus, und zwar bin ich überzeugt, daß der Höhegrad meiner Bewunderung nicht nur durch meine Ueberschwenglichkeit bestimmt wurde, sondern daß neun Männer unter zehn mit mir übereingestimmt hätten. Sie hatte ein mit möglichster Einfachheit gearbeitetes, dunkelgrauseidenes Straßenkleid angezogen, dazu trug sie um Hals und Hände schlichte Streifen aus weißer Leinwand und lavendelfarbene Handschuhe. Ihr kleines, fest anschließendes, ohne Bindebänder befestigtes Hütchen zeigte als einzigen Schmuck eine Marschall Niel-Rosenknospe. Eine dunkle, wollige Jacke, die offenbar von einem geschickten Schneider gemacht war, und ein Schirm, zu groß für einen Sonnen- und zu klein für einen Regenschirm, vervollständigten ihren Anzug.

»Für manches ist es noch zu früh, für andres zu spät, Jack, zu spät am Tage und zu spät in der Jahreszeit. Wir wollen zuerst an einem anständigen und doch nicht allzu langweiligen Ort zu Mittag essen.«

Einen Ort vorzuschlagen, der anständig und doch nicht langweilig war, überschritt die Grenzen meiner Erfahrung, und dies sagte ich ihr ehrlich.

»Dann überlassen Sie es mir.«

Sie führte mich in den St. Jameser Distrikt, in einen Gasthof mit einem öffentlichen Kaffeezimmer, wo man Table d'hote oder à la carte speisen konnte. Es war ein hübscher Raum, der nichts vom Restaurationslokal und nichts Ueberladenes an sich hatte; in ruhigen Farben gehalten, großenteils mit Wachskerzen erhellt, machte er einen ausgesprochen englischen Eindruck.

»Ich werde alles bestellen,« sagte sie. »Sie sollen sehen, welch unendliche Fähigkeiten zu großen Thaten in mir erwachen, sobald der Wind aus Westen weht.«

Ich wiederhole die Speisenfolge nicht aus dem Gedächtnis, sie wurde von ihr auf eine zierliche Karte geschrieben, die ich mitnahm und noch heute sorgfältig aufbewahre – nicht weil ich ein Brillat Savarin bin, sondern weil mir die Erinnerung an dieses Diner oder vielmehr an die Veranlassung dazu wichtig ist. Wir hatten Austern, Frühlingssuppe, Soles au vin blanc, Cotelettes à la Soubise, Rebhuhn, Salat, Omelette, Reispudding, Trauben und Parmesanbiskuits. Der einzige Wein war Rheinwein, der schon mit den Austern erschien, und danach gut gekühlter 68er Sekt, Perrier Jouet. Gern überlasse ich die Beurteilung dieses Menüs solchen, die mehr davon verstehen als ich.

Von da, wo wir aßen, ist es nur eine kurze Fahrt nach der Alhambra, dem Londoner Versuch eines Trokadero. Dorthin gingen wir und nahmen eine kleine Loge für uns, wo ich rauchen und Susan eine Tasse schwarzen Kaffee und ein Gläschen Chartreuse genießen konnte.

Die Alhambra bot uns diesen Abend ihr gewöhnliches Programm, oder besser gesagt, ihre gewöhnliche Abwechselung: fremde Sänger, Akrobaten und Ballett.

Als wir die Alhambra verließen, rief ich einen Wagen und hieß den Kutscher mich früher absetzen und dann Mrs. Brabazon vollends nach Hause fahren. Da es voraussichtlich seine letzte Fahrt war in dieser Nacht, fuhr er langsam, um seine Pferde für den andern Tag zu schonen.

»Sie sind zu den Juden gegangen, Sie schlechter Junge, Sie,« begann Susan, sobald das Pferd sein regelmäßiges Stoßen begonnen hatte und wir aus dem geräuschvollsten Verkehr hinausgekommen waren.

»Und, und wenn auch? Das ist meine Sache.«

»Nicht so ganz allein Ihre Sache, denn jedenfalls sind Sie mir so wert, daß ich Ihnen sagen muß, daß alles, was Ihrer Zukunft im Wege steht, einen Schatten auf den Rest meines Lebens werfen würde. Kommen Sie. Es ist nichts unheilbar als die Ehrlosigkeit, und eine solche zu begehen, sind Sie nicht fähig. Sagen Sie mir alles.«


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