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Rückkehr nach London und Holland. – Fest in Amsterdam. – Abreise von Rotterdam. – Die Reisegesellschaft. – Kinderauswanderung. – Geschichte eines armen Mädchens. – Die Capstadt. – Glückliche Begegnung. – Aenderung des Reiseplanes.

 

Am 12. August verließ ich Paris, wie bereits gesagt, ziemlich unverrichteter Sache, und ging wieder nach London zurück. Ich war unterdessen mit mir selbst zu Rathe gegangen und zu einem bestimmten Entschlusse gekommen. Die ausgezeichnet gute Aufnahme, die ich in Holländisch-Indien auf meiner letzten Reise gefunden, erregte in mir den Gedanken eines zweiten Besuches, um so mehr, als es hier für mich noch manche Inseln und Eilande zu erforschen gab. Auch konnte die Lage der Dinge auf Madagaskar sich während meines dortigen Aufenthaltes ändern und mir vielleicht auf der Rückkehr den Besuch dieser so wenig bekannten Insel ermöglichen. Ich erkundigte mich daher in London sogleich nach dem Preise der Passage, fand ihn aber für meine Börse zu hoch (75 Pfund Sterling oder 750 fl. C. M.). Aus ganz besonderer Rücksicht wollte man mir 5 Pfund nachlassen. Ich schmeichelte mir, in Holland bessere Bedingungen zu finden und die Folge zeigte, daß ich Recht hatte.

Bevor ich London verließ, besuchte ich noch den Sekretär der geographischen Gesellschaft, Herrn Shaw. Er hatte in den Zeitungen gelesen, welche Ehre man mir von Seite der geographischen Gesellschaft in Paris erzeigt hatte. Darüber schien er etwas verlegen und äußerte, er bedauere sehr, daß man hier nicht dasselbe thun könne; allein in den Statuten sei es ausdrücklich verboten, eine Frau als Mitglied aufzunehmen. Was möchten wohl die emancipirten Amerikanerinnen der Vereinigten Staaten zu einem ähnlichen Gesetze sagen? – Daß man mich nicht aufnahm, ist natürlich; denn ich kann nicht den geringsten Anspruch auf eine gründliche Bildung in irgend einem Zweige des Wissens machen. Niemand wird aber läugnen, daß es heutzutage unter den Frauen gar manche gibt, die vollkommen wissenschaftlich ausgebildet sind; und diese nur deßhalb auszuschließen, weil sie Frauen sind, würde ich höchstens im Oriente begreiflich finden, wo das weibliche Geschlecht noch wenig geachtet ist, aber gewiß nicht in dem auf seine Civilisation und seinen Zeitgeist so stolzen England.

Was mich persönlich anbelangt, so habe ich der geographischen Gesellschaft in London nur Dank zu sagen. Sie machte mir ein werthvolles Geschenk, und zwar ohne daß ich mich im geringsten darum bewarb, sowie es überhaupt nie meine Sache gewesen ist, mich irgendwo hinzudrängen, um etwas zu erbitten.

Am 22. August betrat ich wieder die Küste Hollands, und zwar in Rotterdam. Mein verehrter Freund, Oberst Steuerwald hatte mich da an Herrn Baarz empfohlen, welcher freundliche und überaus gemüthliche Herr mich auf die herzlichste Weise aufnahm. Ich brachte einige recht angenehme Tage in seinem Hause zu. Herr Baarz führte mich bei Herrn Oversee ein, einem der größten Schiffs-Rheder Rotterdams. Gerade lag eines seiner Schiffe für Batavia bereit; es sollte Ende August absegeln. Dieß war eine erwünschte Gelegenheit für mich. Doch rieth mir Herr Oversee ab, mit diesem Schiffe zu gehen, weil bis zum Cap der guten Hoffnung, wo es anzulegen hatte, alle Plätze nicht nur besetzt, sondern überfüllt waren. Außer den Kajüten-Passagieren sollte nämlich eine ganze Schiffsladung Kinder mitgehen, Jungen und Mädchen von 10 bis 14 Jahren, bei hundert an der Zahl, welche von auf dem Cap ansäßigen Holländern verschrieben worden waren, um zu Dienern und Mägden herangebildet zu werden. Da ich aber hörte, daß den Mädchen ein abgesonderter Raum angewiesen sei und sie überdieß unter die Aufsicht einer Frau gestellt wurden, schlug ich, um diese Gelegenheit nicht zu versäumen, Herrn Oversee vor, mir in eben diesem Raume eine Schlafstelle einzurichten. Der gute Mann war es zufrieden; er stellte mich in Kost und allem übrigen den Passagieren der ersten Klasse gleich, wies mir von dem Cap aus eine eigene Kajüte an und verlangte für die ganze Reise nicht mehr als 150 holländische Gulden (12½ Pfd. Sterl. oder 125 fl. C. M.). Als dies Geschäft abgemacht war, ging ich nach Amsterdam, um von der liebenswürdigen Familie Steuerwald Abschied zu nehmen. Ich kam da gerade zu einer großen Feierlichkeit recht, deren Grund mir, aufrichtig gesagt, sehr sonderbar erschien. Man feierte die vor 25 Jahren stattgehabte Trennung Belgiens von Holland. Diese Trennung war von Seite Hollands nichts weniger als freiwillig gewesen. Dessenungeachtet wurde sie mit großem Enthusiasmus gefeiert. Das Fest währte bereits einige Tage und sollte nicht unter drei oder vier Tagen beendet sein. Wie es scheint, kann der Holländer mit einem Feste nicht unter sechs bis acht Tagen fertig werden. Freilich ist das Volk aber auch sehr genügsam – vom frühen Morgen bis späten Abend in den Straßen umherzuziehen, einige Fahnen und hölzerne Triumphpforten zu bewundern und die eigentlichen Festgeber nach dem Festessen und nach den Bällen fahren zu sehen, ist alles, was es verlangt.

Das Hauptfest fand am 27. August statt, an dem Jahrestage der Trennung. Ich kam am 26. Nachmittags an, fand alle Fenster mit Fahnen geschmückt, hie und da einige kleine Triumphpforten mit grünen Zweigen und farbigen Papieren geziert, und in den Straßen ein solches Gedränge, daß mein Wagen kaum durchkommen konnte.

Am folgenden Tage gab es jedoch etwas mehr zu sehen. Trotz der Regenströme, die dem Himmel, vielleicht aus Schmerz über die Theilung der Staaten, entfielen, rückte das Militär in Parade aus; der König erschien auf einer Tribüne, die auf dem Domplatze vor dem Palaste errichtet war, hörte die Reden des Bürgermeisters und der Anführer der noch aus jener Zeit stammenden Krieger an und hielt Gegenreden. Vierhundert Kinder sangen die Volkshymne und andere Lieder. Auch ein Monument wurde enthüllt, ein Obelisk, auf dessen Spitze die Göttin der Eintracht steht und dessen Untertheil auf vielen Löwenköpfen ruht, aus deren Rachen Wasser sprudelt. Abends war Feuerwerk und Beleuchtung. Ein Urtheil über das Volk zu fällen, möchte ich mir nicht voreilig erlauben, um so mehr, da ähnliche Feste eigentlich wenig Gelegenheit dazu geben; denn bei allen Völkern der Welt findet man, wenn es etwas zu sehen gibt, dieselbe Neugierde und Zufriedenheit. Was mir jedoch hier und früher schon in Utrecht und im Haag unangenehm auffiel, war, daß sich Gruppen von drei bis vier ziemlich ärmlich gekleideten Weibern, Arm in Arm gehend, überall lärmend durchdrängten, ja mitunter, gleich Megären, Züge von halbtrunkenen Männern anführten und gleich diesen sangen und tanzten. Die Holländer nennen das Munterkeit – ich nenne es Schamlosigkeit, und finde es traurig, daß weibliche Geschöpfe so tief fallen, ihr Laster öffentlich und so wüst zur Schau zu tragen.

Nach einem herzlichen Abschiede von meinen Freunden ging ich wieder nach Rotterdam zurück und am 31. August begab ich mich an Bord des »Salt-Bommel«, 700 Tonnen, Capitän Juta.

Unser Schiff war das erste, welches eine Kinderladung dem Mutterlande entführte, und da der 31. August ein Sonntag und noch dazu ein sehr schöner war, und die Holländer eben so neugierig sind wie andere Nationen, so ist es nicht zu wundern, daß von dem frühesten Morgen an die Quais und die Ufer von Tausenden von Menschen bedeckt waren. Die guten Leute waren so glücklich, den ganzen Tag über unser Schiff betrachten zu können, denn erst um 4 Uhr Nachmittag kam der Schlepp-Dampfer, um uns bis zu dem »nieuwe Sluis« zu bugsiren.

An Bord war das Leben nicht minder rege als am Ufer. Die Kinder rückten nach und nach ein, begleitet von den Ihrigen, bepackt mit Eßwaren und kleinen Andenken. Hier drückte eine Mutter ihr Kind zum letzten Male an die Brust, dort gab ein Vater seinem Sohne noch Ermahnungen und gute Lehren mit auf die Reise; gar manche Eltern, nachdem sie zu wiederholten Malen sich von ihrem Kinde getrennt, kehrten auf halbem Wege um, das geliebte Antlitz nochmals zu sehen. Und als das Schiff sich vom Ufer entfernte, da riefen sie sich noch lange »Lebenwohl« zu, obgleich der Laut nicht mehr so weit reichte. Tücher und Hüte vertraten dann die Stelle der Stimme, das wehte und flatterte wie bei einem Volksfeste, auch kräftige »Hurrah's« schallten dazwischen – es war als ob die ganze Stadt Theil nähme an diesem Ereignisse, als ob die Kinder dem ganzen Volke gehörten. Diese allgemeine Theilnahme und Lebendigkeit verdrängte leicht und schnell jede Trauer. Kinder und Eltern schrieen mit dem Volke um die Wette und die einzelne Thräne, die manche arme Mutter ihrem Lieblinge nachweinen mochte, ging in dem lauten Jubel verloren.

So oft wir an Ortschaften vorüber kamen, fing das Tücher-Schwenken und Hurrah-Schreien von neuem an. Glückliche Jugend, die mit so leichtem Sinne der unbekannten Zukunft entgegenzieht!

Unsere Reise ging diesen Tag nicht weiter als 8 Meilen. (Ich rechne von nun an stets nach englischen Meilen, von welchen 4 auf eine deutsche Meile, und 60 auf einen Grad gehen.) Der Dampfer verabschiedete sich des Abends. Am folgenden Tage schleppten wir uns mühsam bis an die Rhede von »Hellevoestluis«, wo wir aus Mangel an gutem Wind geduldig einige Tage vor Anker liegen bleiben mußten.

Diese wenigen Tage genügten mir, um zu erkennen, daß ich unter der mich umgebenden Gesellschaft auf eine höchst unangenehme Reise gefaßt sein mußte.

Die Kinderladung war, wie gesagt, für die Cap-Kolonie bestimmt; ein Theil sollte in der Capstadt selbst, der andere in Port Elisabeth, einige hundert Meilen entfernt an der Nord-Ost-Küste, ausgeschifft werden. Auf dem Cap ist es beinahe unmöglich, ordentliche, arbeitsame Dienst- oder Handwerksleute zu bekommen; man ist gezwungen Kaffern oder Hottentotten zu nehmen, und diese vermiethen sich nur für Tage, höchstens für Wochen und laufen häufig mitten in der Arbeit hinweg. Die Holländer verschreiben daher Kinder aus dem Mutterlande, in der Absicht, sie zu Dienst- und Handwerksleuten heranzubilden.

Die Kinder bekommen von dem Tage, an welchem sie das Schiff betreten, Verpflegung und Kleidung. An ihrem Bestimmungsorte angelangt, erhalten sie für die ersten 2½ Jahre keinen Lohn (sie dienen in dieser Zeit die Reisekosten ab), für jedes der folgenden Jahre aber außer Beköstigung und Kleidung 60 holländische Gulden, von welchen ihnen jeden Monat ein Gulden auf die Hand gegeben wird. Die übrigen 48 Gulden werden bei dem Gerichte erlegt, und nach erlangtem 21ten Jahre erhalten sie die ganze Summe. Sie haben dann auch das Recht, ihren Dienstherren nach Belieben zu verlassen.

In verschiedenen Städten Hollands bildeten sich Komité's, um die Kinder aufzunehmen. Aus den Waisenhäusern werden keine geliefert. Die Kinder werden vor dem Gerichte befragt, ob sie damit einverstanden sind, über See zu gehen. Leider scheinen aber die Komité's die Sache sehr leicht genommen und sich nicht im geringsten an die vorgeschriebenen Bedingungen gehalten zu haben. Die Kinder waren keine Kinder mehr; – anstatt 10 bis 14 Jahre zählten sie beinahe durchgehends 16 bis 20, und alle mußten von der Straße aufgelesen worden sein, denn solch' einen Ausbund von Gesindel sah ich noch nie beisammen. Die erwachsenen Mädchen mochten sich schon jahrelang in den Matrosenkneipen umhergetrieben haben, die jüngeren ahmten die älteren nach, und alle fluchten gleich Matrosen, sangen die ausgelassensten Lieder und bestahlen sich gegenseitig. Ihre Unsauberkeit war grenzenlos.

Doch will ich den armen Geschöpfen nicht den Stab brechen, und derjenige, der sie unerbittlich verdammt, möge bedenken, welcher Fluch schon von der Geburt an auf den Kindern der Armuth lastet. Nicht die elende Kleidung ist es, nicht die mangelhafte Nahrung, um derentwillen ich sie bedaure – ihr größtes Unglück ist Niemanden zu haben, der sich der Ausbildung ihres Herzens und Geistes annimmt. Die Eltern sind es gar selten im Stande – derselbe Fluch lastete ja auch schon auf ihrer Kindheit! Wenn sie den Tag über schwer arbeiten und ihrem Kinde das unentbehrliche Brod geben, glauben sie ihre Pflicht zu thun. Folgen mehrere Kinder nach, so reicht das Brod nicht aus, und sie sind gezwungen, die älteren sobald als möglich zur Arbeit anzuhalten. Und wäre dieß noch eine geregelte Arbeit, das würde dem Kinde nur zum Vortheile sein; aber was kann ein kleiner Junge, ein kleines Mädchen von 7 bis 8 Jahren leisten? – In den Fabriken arbeiten, in die Lehre gehen, das ist noch das beste; aber alle finden da kein Unterkommen, und es bleibt ihnen kein anderes Mittel übrig, als allerlei kleine Dienste auf den Straßen zu verrichten, Zeitungen austragen, die Trottoirs reinigen u. s. w. Sich selbst überlassen, ohne Anleitung, ohne Erkenntniß des Guten und Bösen, und leider nur zu häufig das schlechte Beispiel ihrer Eltern vor Augen habend, ist es zu wundern, wenn sie am Ende der Verführung, die sie unter allen Gestalten umgibt, erliegen?

Ungleich verdammenswerther finde ich jene Männer, welche mit der Bildung des Volkes beauftragt sind und ihre Pflicht, wie es leider oft geschieht, so unvollkommen erfüllen. Diese können sich nicht gleich den Kindern der Armen mit Unkenntniß und Unwissenheit entschuldigen – im Gegentheil, wenn sie fehlen, thun sie es mit vollem Bewußtsein ihrer Schuld.

Ich spreche hier von den Priestern und Schullehrern, die meiner Meinung nach die wichtigsten Männer im Volke sind, denn in ihren Händen liegt die eigentliche Volkserziehung. Sie sind in jedem Dorfe die Hauptpersonen, sie können, wenn sie ernstlich wollen, unglaublich viel Gutes wirken, und auf sie sollte daher die Regierung das schärfste Auge haben.

Ist dieß der Fall? – Leider nein.

Die Priester sind von ihrem Consistorien meist so wenig beaufsichtigt, daß oft das ganze Dorf laut von der sittenlosen Aufführung des Pfarrers spricht, während dessen Vorgesetzten nichts davon hören. Und wird die Sache am Ende gar zu arg, worin besteht die Bestrafung? – In der Uebersetzung nach einem anderen Orte.

Was die Schullehrer betrifft, so sind sie so schlecht bezahlt, daß gewöhnlich nur Leute sich diesem Fache widmen, welche keinen anderen Ausweg finden.

Priester und Schullehrer (mit wenigen Ausnahmen) meinen ihre Pflicht zu thun, erstere, wenn sie Sonntags eine trockene Predigt halten, letztere, wenn sie ihren Zöglingen allenfalls Lesen und Schreiben lehren. Sich um die moralische Erziehung der ihnen anvertrauten Kinder bemühen, ihnen die Erkenntniß des Guten beibringen, Geist und Gemüth zu erwecken suchen und vor allem ihnen mit einem guten Beispiele voranzugehen – wie Wenige thun dieß?!

Auch an Bord hatten wir einen Schullehrer, Herrn Jongeneel mit seiner Frau; er sollte die Jungen, sie die Mädchen überwachen. Beide aßen und tranken ganz tüchtig, beteten auch viel und sangen Psalmen; aber um die Aufführung der ihnen Anvertrauten bekümmerten sie sich wenig. Kaum war die letzte Psalm-Note in dem Munde der Mädchen erstorben, so eilten sie auf das Deck und verschwärmten die Abende und halben Nächte mit den Steuerleuten und Matrosen. Selbst am Tage benahmen sie sich so schamlos, daß ich nebst einer jungen Frau und deren Stieftochter die meiste Zeit in der Kajüte zubringen mußte.

Wie ich vernahm, bekommt Herr Jongeneel auf dem Cap eine Anstellung als Missionär. Was ist von solch' einem Manne zu erwarten? Schon die Reise begann er mit einer Lüge. Er versicherte dem Komité, daß er keine Kinder habe, und er kam an Bord nicht nur mit einem Kinde, sondern seine Frau erwartete jeden Augenblick ein zweites, und ihre Entbindung hatte auch richtig am 3. September statt.

Daß ich unter diesen Umständen nicht in der Kajüte der Mädchen schlafen konnte, versteht sich von selbst. Kapitän Juta, ein überaus guter, gefälliger Mann, sah dieß ein und ließ mir, da durchaus kein anderer Platz vorhanden war, auf einer Bank in der ersten Kajüte ein Lager bereiten. Es war nicht sehr bequem, denn die Bank hatte kaum einen Fuß Breite, und besonders wenn das Schiff rollte, konnte ich mich nur mit Mühe darauf erhalten.

Die übrige Reisegesellschaft, außer der jungen Frau und ihrer Stieftochter noch aus 8-9 Herren bestehend, war ebenfalls keine der besten. Die meisten benützten gar gerne jede Gelegenheit, sich mit den Mädchen zu unterhalten, und zwar ungefähr in derselben Art, wie es die Matrosen thaten. Abends ging es oft so toll zu, daß wir Frauen durchaus kein Fleckchen auf dem Decke fanden, wo wir ungestört der reinen Luft hätten genießen können. Die Herren und Mädchen verfolgten sich, stachen sich gegenseitig mit Nadeln, schrieen, lachten und lärmten wie in der gemeinsten Kneipe. Nur Einer machte eine Ausnahme davon, Herr Schuhmann, ein junger Apotheker.

Erst am 4. September erhob sich etwas Wind und mit seiner Hilfe und jener eines kleinen Schleppdampfers gingen wir über die Rhede in die Nord-See. Die Segel schwellten sich und schon am 5. traten wir in den Kanal, welchen wir in 2½ Tagen durchfuhren – die schnellste Fahrt, die ich auf diesen gefährlichen Fluthen in einem Segelschiffe gemacht habe.

Der 7. September war ein Sonntag. Der Schullehrer oder angehende Missionär hielt den Gottesdienst mit gesenkten halbgeschlossenen Augen, mit einer Salbung und Wichtigkeit, als wäre er schon als Priester auf die Welt gekommen. Seine Rede oder Predigt war so hölzern und erbärmlich, wie sie für Wilde paßt, welche weder eine gute noch eine schlechte verstehen. Beim Essen verstand er das Ding besser, und die vollen Teller verschwanden vor ihm wie durch Zauberei.

Nachmittags hatten wir beinahe Windstille. Der Kapitän, der gerne allen Freude und Vergnügen bereitete, hatte eine schöne Orgel an Bord. Er ließ sie auf das Deck bringen und spielte der Jugend zum Tanze auf. Das gab ein wahres Fest. Alles war lustig, munter und bescheiden, denn der Kapitän blieb stets gegenwärtig. Auch die Matrosen sangen und tanzten theils unter sich, theils mit den Mädchen. Die Jungen kletterten auf dem Tauwerke umher, spielten mit einander oder machten allerlei gymnastische Uebungen. Wir Reisende gruppirten und dazwischen und ergötzten uns an der Jugend Munterkeit.

Nur eines der Mädchen nahm keinen Theil an diesem Freudenfeste; die Arme allein schien zu fühlen, wie traurig es sei, ohne Stab und Stütze in die weite Welt hinauszugehen. Schon in der ersten Nacht, die ich in der Kajüte der Mädchen zubrachte, fiel mir ihre Traurigkeit auf; unter Thränen schlief sie ein, im Schlafe rief sie nach ihrer Mutter und des Morgens, als sie erwachte und all' die fremden Gesichter um sich sah, da ward ihr gar bange um's Herz. Sie kauerte sich in eine Ecke und weinte lange bitterlich. Wie groß muß die Noth der Eltern gewesen sein, daß sie sich von einem Kinde trennten, das so leidenschaftlich am väterlichen Hause hing, wie schmerzlich muß der Abschied der armen Mutter von ihrem Kinde gewesen sein, das hinging nach einem fremden Welttheile, von welchem es wohl schwerlich wieder zurückkehren dürfte! Wahrlich eine solche Trennung ist bitterer, als wenn die Eltern der Leiche des Kindes nach dem Grabe gefolgt wären; da wüßten sie wenigsten die Seele geborgen – so aber auf der weiten Reise unter den fremden Menschen waren Seele und Körper jeder Gefahr ausgesetzt.

O daß doch alle jene, die dergleichen verwaiste Kinder in ihrem Hause aufnehmen, ihnen nur einigermaßen durch liebevolle Behandlung ersetzen möchten, was die Armen verloren haben! Ich suchte das Mädchen so viel als möglich zu trösten, auch der gute Kapitän sprach der Armen freundlich zu und bot ihr an, sie wieder nach Europa zurückzunehmen, wenn es ihr auf dem Cap nicht gefiele. Doch wie es leider nur zu häufig der Fall ist, die Traurigkeit nahm von Tag zu Tag ab, das Mädchen fing nach und nach an, Wohlgefallen an dem Benehmen seiner Gefährtinnen zu finden und nach wenigen Wochen waren Eltern und Heimath vergessen.

Das einzige Mädchen an Bord, das gesittet blieb, war gerade eines, von welchem ich dieß am wenigsten erwartet hätte. Marie, so hieß es, stammte nebst ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder aus der ersten Ehe eines Mannes, der sich kurz nach dem Tode ihrer Mutter mit einem anderen Weibe verheirathete. Dieses Weib mochte die Kinder aus der ersten Ehe nicht leiden, zankte fortwährend mit ihnen und mißhandelte sie bei jeder Gelegenheit, besonders wenn sie zu viel Branntwein getrunken hatte, was, wie es schien, ziemlich häufig der Fall war. Als Marie das 18., ihr Bruder das 16. Jahr erreicht hatten, meinte das Weib, sie seien nun alt genug, ihr Brot selbst zu verdienen, und stieß sie aus dem Hause. Die Armen schliefen drei Monate hindurch auf der Straße oder in irgend einem Winkel, niemand wollte sie aufnehmen, kein Mensch erbarmte sich der halbverhungerten, in elende Lumpen gehüllten Geschöpfe. Gelernt hatten sie nichts; es gelang ihnen daher kaum, durch Betteln und durch kleine Hilfeleistungen hie und da einige Pfennige zu erhaschen, um sich etwas Brot zu kaufen. Ein einziges Mal hatten sie Hoffnung, ihr Schicksal gebessert zu sehen. Eines Abends, an der Ecke einer Straße stehend, sahen sie einen schon bejahrten Mann mit einem kleinen Mädchen an der Hand über dieselbe gehen. Ein munterer Junge von 7 bis 8 Jahren folgte ihnen, war aber mit einem Reife spielend einige Schritte zurückgeblieben. Als er sich gerade mitten auf der Straße befand, kam plötzlich um die Ecke ein Wagen gefahren. Der Junge erschrickt, will auf die Seite springen, fällt jedoch über seinen Reif und würde wahrscheinlich, wo nicht von dem Wagen, so doch wenigsten von den Pferden beschädigt worden sein, wenn Marien's Bruder, der zufällig ganz nahe stand, nicht auf ihn zugestürzt wäre und ihn auf die Seite gerissen hätte.

Der alte Herr eilte so rasch als möglich herbei, nahm den Jungen in seine Arme, untersuchte ihn von allen Seiten und konnte kaum glauben, daß er ohne alle Verletzung davon gekommen sei. Da sich unterdessen einiges Volk versammelt hatte, bedeutete er Marien's Bruder, ihm zu folgen und ging mit den Kindern nach seinem Hause. Er ließ die beiden Bettler – denn Marie hatte ihren Bruder nicht verlassen – eintreten und fragte sie, wovon sie lebten. Sie erzählten ihm mit wenigen Worten ihr ganzes Schicksal. Der alte Herr schien gerührt, schrieb sich die Adresse ihres Vaters auf und entließ sie mit einem kleinen Geschenke und mit dem Bedeuten, sich am folgenden Abende in seinem Hause einzufinden.

Die Geschwister waren ganz glücklich; zum ersten Male nach drei Monaten konnten sie etwas Warmes genießen und unter einem Dache schlafen, und dann hofften sie, am folgenden Abend werde ihnen der gute Herr Arbeit verschaffen, sie vielleicht gar in sein Haus aufnehmen. Die Stunde konnten sie kaum erwarten, mehrmals gingen sie an dem Hause vorüber – endlich wird es Abend, und zagend klopfen sie an die Thüre. Ein alter Diener erscheint und heißt sie warten; nach einiger Zeit kommt er wieder, drückt ihnen einige Gulden in die Hand und sagt ihnen, daß sein Herr nichts weiter für sie thun könne. Man denke sich den Schmerz der armen Geschwister – da sie nicht wagten den Diener zu befragen, so zogen sie weinend fort.

Wahrscheinlich war der alte Herr unter Tags nach dem Hause ihrer Eltern gegangen, hatte wohl die Stiefmutter allein getroffen und das böse Weib, um sich zu rechtfertigen, daß es die beiden Kinder aus dem Hause gestoßen, mochte die abscheulichsten Dinge über sie gesagt haben.

Die Armen sahen mit der größten Angst dem kommenden Winter entgegen, da hörten sie glücklicher Weise von dem Komité, welches junge Leute für das Cap anwarb. Sie gingen sogleich dahin und ließen sich aufnehmen.

Ein Mädchen, das unter solchen Umständen tugendhaft bleibt, verdient es nicht die größte Bewunderung, die höchste Achtung? – Nicht die böse Stiefmutter konnte es verderben, nicht das kummervolle Leben, nicht das schlechte Beispiel auf dem Schiffe. Gott gebe der armen Marie Glück und Segen, sie verdient es vor allen! –

Am 19. September hatten wir eine sehr merkwürdige Erscheinung. Wir gingen ruhig vor dem Winde, als dieser plötzlich umsetzte und wir eine volle Ladung von vorne bekamen. Die Segel konnten nicht so rasch eingerefft werden, ohne daß die Bramstange brach, eines der Segel in Stücke ging und das Schiff sich zweimal umdrehte. Alles war in wenig Minuten vorüber, die Passagiere, die in der Kajüte waren, bemerkten gar nichts davon. Der Kapitän schrieb diese Erscheinung einer starken Windhose zu; wir sahen sie zwar nicht, waren aber wahrscheinlich in den Bereich des sie verursachenden Wirbelwindes gerathen.

Zum Schlusse der Reise, die sonst ohne weitere Zufälle etwas langsam vor sich ging, hatten wir einen Todesfall; das ältere Kind des Schullehrers starb an der häutigen Bräune. was mich bei diesem Ereignisse am unangenehmsten berührte, war das Benehmen der Mutter. Sie hatte das Kind noch auf dem Schooße, es war vor wenigen Augenblicken verschieden, da verlangte sie Brod, Butter und Käse nebst einem Glase Wasser. Als sie das Wasser trinken wollte und es ungezuckert fand, schalt sie das Mädchen aus und ließ Zucker holen. Nachdem sie Hunger und Durst gestillt, wurde das Kindchen angekleidet, und nun begann die Schmerzens-Scene. Sie nahm es in die Arme, weinte und schluchzte und that als könnte sie sich gar nicht davon trennen. Einige Stunden später verschwand alle Trauer, es war, als hätten die Leute das Kind gar nie gehabt.

Am 16. November Mittags sanken endlich unsere Anker vor der Capstadt. Was die Beschreibung dieser Stadt anbelangt, so verweise ich meine Leser auf mein voriges Werk: » Zweite Weltreise.«

Es war gerade Sonntag und deshalb ging ich nicht an's Land; wo Engländer die Hauptzahl der Bevölkerung bilden, ist es nicht Sitte an diesem Tage Besuche zu machen; die Leute sind von Morgens bis Abends entweder in der Kirche oder sie beten zu Hause, oder sie thun wenigstens so.

Die Capstadt ist nicht so groß, daß nicht schon nach wenig Stunden bekannt war, wer alles angekommen sei, und noch denselben Nachmittag bekam ich für die Zeit meines hiesigen Aufenthaltes zwei freundliche Einladungen, die eine von Madame Bloom, die andere von Herrn Apotheker Juritz.

Am 17. November Morgens war ich eben beschäftigt meine wenigen Sachen zusammenzupacken, um mit dem Kapitän an's Land zu gehen, als ein Herr an Bord kam, mich aufzusuchen. Er stellte sich mir als einen Franzosen Namens Lambert vor, sagte mir, daß er bereits seit Jahren auf der Insel Mauritius lebe und vor wenigen Tagen auf der Rückreise von Frankreich dahin im Cap angekommen sei. Er habe bereits in Paris von meinem Vorhaben nach Madagaskar zu gehen gehört und eben so, daß mir die Reise abgerathen worden sei. Gestern meine Ankunft vernehmend, beeile er sich, mich einzuladen, die Reise nach Madagaskar – wenn ich nicht ganz darauf verzichtet habe – in seiner Gesellschaft zu machen. Er sei bereits vor zwei Jahren auf dieser Insel gewesen und kenne die Königin persönlich. Schon von Paris aus habe er an sie geschrieben und um die Erlaubniß zu einer zweiten Reise angesucht (ohne die Erlaubniß der Königin kann nämlich niemand Madagaskar besuchen). Er hoffe diese Erlaubniß in Mauritius vorzufinden und würde sofort nach unserer Ankunft daselbst auch um die meinige schreiben, an deren Erlangung er nicht im geringsten zweifle; nur müßte ich mich, im Falle ich die Reise unternehmen wollte, gleich dazu entschließen, da der Steamer nach Mauritius schon den folgenden Tag abginge. Die Reise von Mauritius nach Madagaskar könnte, der jetzt dort herrschenden Regenzeit wegen, zwar erst zu Anfang April unternommen werden, doch würde ich bis dahin in seinem Hause die herzlichste Aufnahme finden.

Man denke sich meine Freude, meine Ueberraschung! Aller Hoffnung hatte ich bereits entsagt, diese Reise je auszuführen, und nun konnte ich sie machen und noch dazu auf so bequeme und gefahrlose Weise. Ich wußte gar nicht, was ich Herrn Lambert antwortete – ich hätte laut aufjubeln und jedem Menschen mein Glück verkünden mögen. Ja, Glück habe ich auf meinen Reisen – ein nie endendes Glück. In Rotterdam finde ich gerade ein Schiff, welches an dem Cap anlegt – eine Sache, die sich kaum zweimal im Jahre ereignet, da die Holländer beinahe in gar keiner Verbindung mit dem Cap stehen. Hier am Cap komme ich gerade zu rechter Zeit an, um Herrn Lambert noch zu treffen – 24 Stunden später, und er hat das Cap verlasen. Das sind von jenen glücklichen Ereignissen, welche man in Romanen so häufig, in wirklichem Leben aber so selten findet.

Ich sandte augenblicklich mein Gepäck nach dem Dampfer und eilte an's Land, meine Freunde zu begrüßen. Ein Adjutant des Gouverneurs Mr. Gray suchte mich auf, um mich in des Letzteren Namen einzuladen in dessen Landhause abzusteigen. Ich konnte der schmeichelhaften Einladung nicht widerstehen und brachte den ganzen Abend bei Sr. Excellenz zu. Mr. Gray machte mir den verführerischen Vorschlag, in seiner Gesellschaft einen großen Theil des Cap-Landes zu bereisen; allein um nichts auf der Welt hätte ich auf Madagaskar verzichtet. Ich dankte ihm daher für sein freundliches Anerbieten, dessen Werth ich vollkommen erkannte und das ich unter anderen Umständen gewiß mit der größten Freude angenommen hätte. Dieser gute Herr nahm sehr viel Antheil an mir, es schien ihm wirklich leid zu thun, mir in nichts dienlich sein zu können. Ich mußte ihm versprechen, mich schriftlich an ihn zu wenden, wenn ich irgendwo auf meinen Reisen seiner Empfehlung oder sonst etwas bedürfe.

Am 18. November Morgens ließ mich Mr. Gray nach der Stadt zu Herrn Lambert bringen, und einige Stunden später ging es wieder unter Segel.


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