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V

Merkwürdiges Schwanken der schwäbischen Seele zwischen den Schauern des tiefsten Empfindens und dem derben Machtwillen, der sich an den Neckar klammert und von ihm verlangt, er müsse ihm doch einmal der Weg zum Weltmeer werden. Was für ein Schlag Leute ist das eigentlich, der noch immer wie zu Urväterzeiten in den Gassen der Dörfer und Kleinstädte am Neckar wohnt. Wird es hier auch in Jahrhunderten noch. Menschen geben, die nicht anders leben wollen, als in diesem eng urwüchsigen Beieinander von Familie, Landbau und Handwerk? Schon ist das Tier, der Stall aus dieser alten Dreiheit im Verschwinden, doch die Teilung des Tages nach dem Glockenschlag von Vesper, Mittag und Abend scheint hier ebenso unzerstörbar wie die aus dem Gaumen gesprochene Sprache. In der Wiesenlandschaft, am Kreuzungspunkt ältester Straßen, liegt das wiederaufgebaute Römerkastell von Köngen und nicht weit davon die steinerne Neckarbrücke. Der Obelisk auf ihrer Mitte erinnert an irgendeinen turbulenten Augenblick in einer historischen Rauferei, als Herzog Ulrich hoch zu Roß in das flache Kiesbett hinabsprang und in die Schweiz entkam. Da ist Nürtingen mit den breiten Dächern über niederen Häusern; der Kirchturm ragt wie der Hirt in der Mitte, ein paar mechanische Fabriken, genug, um Arbeit zu geben, sammeln sich am Fluß. Und an dem Eck, wo der Neckar, vom Zustrom der Fils aus der Bahn geworfen, nach. Norden biegt, liegt das kleine Plochingen nahe der Rauhen Alb in den schaukelnden Wellen der Ebene, die wie ein einziger Weingarten ist. Der Fluß ist noch immer nur ein seichtes Gewässer, aber in der Mitte des Orts steht die Kirche wie eine Festung, ähnlich der frommen Hohencomburg im Kochertal oder den wehrhaften Kirchen in Polen und Siebenbürgen. Ein Stück Kulturgeschichte ist das alles, gewiß, aber wo bleibt die Luft von der See? Von hier aus soll einmal durch die Kunst der Ingenieure die Alb überwunden, und die Donau, schließlich auch das Schwarze Meer erreicht werden. Kühner Gedanke der Zukunft, luftiges Bild in der Wüste!

Bild: Joachim Lutz

Alt-Cannstatt

Aber plötzlich spürt man ja dieses Atlantische, Ozeanische; mit einemmal ist es da, wenn der Fluß, in viele Arme zersplittert, in die Peripherie der schwäbischen Hauptstadt eintritt. Neue Arbeitsstätten, Schienenstränge, Autostraßen sammeln sich um Eßlingen; der dreihundertstufige Wehrgang der Burg führt auf den roten, mit Wein bepflanzten Rücken des Berges nur hinauf, um dem Fremden das Dächermeer einer prosaischen, wachsenden Stadt zu zeigen, drüben die Anhöhe mit vielen roten Villen, zu denen die Elektrische in langer, schräger Straße hinaufsteigt. Hier ist jetzt am Fluß die lockere Reihe der Dörfer in einen einzigen Zusammenhang von Vorstädten verwandelt. Das Auto fährt durch menschenreiche Straßen wie im Ruhrgebiet, wie in der Frankfurter Gegend. Der luftige Bahnhof Eßlingen, von dünnen Flußarmen in langer, unsichtbarer Ellipse umgeben, ruht schon in den Industrien des Tales. Nur die Weinberge begleiten wie immer den versteckten, eingeklemmten Fluß. Von oben gesehen, ist das Tal wie ein See von eintönigem, blankem Grau, mit dem Bleiglanz der Dächer, dem schwarzweißen Gewölk der Schornsteine und der Züge. Die kahle Bergkuppe des Württembergs mit der Grabkapelle des letzten Königs ragt über einem Hämmern und Brausen, das an den Hamburger Hafen erinnert. Dann kommt das großstädtische Cannstatt; das winkelige Städtchen mit dem langen, grünen Streifen des Wasens verschwindet schon in den breiten Straßenzügen des neuen, und ein anderes, korrektes Flußbett, ein Kanal von breitem, tiefem Querschnitt, entsteht schon an der Seite des grünen, stark strömenden Flusses, den die Spundwände bei Seite drängen, damit im Kies daneben, im Grundwasser des breiten Grabens die Kiestrommeln, die Raupenbagger, die Maschinen ihre Arbeit tun. Ein Jahrzehnt des Bauens hat begonnen. Die überlegene, zähmende Behandlung des Flusses macht ihn nüchterner, nützlicher. Chicagohaft ist schon jetzt die Stelle, wo das Viadukt den Fluß überspannt, von Güterzügen befahren, oben die Kalksteinbrüche, deren hellbraungestreifte polierte Platten neue Hausfronten und Caféwände in Mannheim bekleiden, unten noch im Grünen die Baustellen, die Fabriken, die Warenspeicher. Hier kommen die neuen Straßenzüge, die Strandbäder an der Seite des Flusses, und über dem Schiffsweg die neue Brücke, die ein Strahl von Stuttgart ist.

Bild: Joachim Lutz

Schillerhaus in Marbach

Aber stromaufwärts klingt sehr bald wieder die Melodie der offenen Felder und der Weinberge. Pappeln spiegeln sich im blausilbernen Fluß, die Schwalben fliegen, der Fischernachen ruht am Wehr. Als Halbinseln, großen Tatzen ähnlich, stehen die Höhenrücken in das Wasser. An langen Chausseen reihen sich die Dörfer, die einen im Fluß, die anderen am Land, mit farbensatten Bauernbeeten, mit alten Herrensitzen und ummauerten Gärten. Es ist die anmutigste Landschaft, sie lohnt den Wanderer. Schloß Hochberg liegt am offenen Defilé des Tales, jenseits der Welblinger Höhe am weit umherblickenden Ufer das altertümliche Städtchen Marbach mit seinen stufenmäßigen Gassen. Das Geburtshaus Schillers, der steinerne Wilde Mann auf dem Brunnen, der Dachreiter auf der Kirche, alles verwittert ein wenig, doch es ist kaum anders als vor hundertfünfzig Jahren. Da liegt Besigheim, romanhaft mittelalterlich, von doppelter Mauer umgeben, bewahrt von dicken Türmen an beiden Enden, in einem wahren Wasserlabyrinth, mit hoher steinerner Rampe über den mit Büschen dicht besetzten Ufern, längst vergangen und doch ganz lebendig, arbeitsam mit sich selbst beschäftigt und zugleich eine Wonne der Wanderer, der Maler, der Naturfreunde, die froh die exotischen Erosionsreste im Felsengarten am nahen Ufer der Enz bestaunen; schließlich auch ein behagliches Ziel den Kennern des Landweins, die den Wurmberger und den Niedernberger schätzen und lallend den guten alten Neckarspruch nach Hause tragen: »Der Jockel von Bäsige hot'n saumäßige ...« Ein wenig abwärts von Besigheim, an dem sich Bahn und Neckar in starker Kurve berühren, liegt dann Gemmerigheim am andern Ufer. Fabriken drängen sich an den Fluß, es ist einer der hartnäckig wiederholten Ansätze der Industrie, die auch den Anblick von Lauffen ein wenig verstellen.

Bild: Joachim Lutz

Beibingen

Hier ist noch ältestes Bauwerk nah am Wasser, Bauernhäuser und Schuppen auf gemauerten Sockeln. Über den netzmäßig aufgeteilten, dicht aneinandergefügten Giebeln ragt der eckige Turm, hoch genug mit seinen flachen Zinnen, um Spitze und Krone des Städtchens zu sein. Die Stromschnellen von Lauffen sind geglättet, schon seit Jahrzehnten ist ihre Kraft gebändigt, man sandte sie zum Erstaunen der Völker auf Draht zu der berühmten elektrotechnischen Ausstellung von 1890 nach Frankfurt. Aber an der kurzen, starken Neckarbrücke stehen noch wie vor einem halben Jahrtausend die Kaiserpfalz und die festungsmäßige Kirche einander gegenüber. Hier ist ein Boden der ältesten Urbarmachung im Neckartal, tausendjährig wäre jetzt das Kloster der Benediktiner, an dessen nachgelassenem Besitz Hölderlins frühverstorbener Vater das Amt des Klosteramtmanns versah.

Bild: Joachim Lutz

Besigheim

So tief hier alles mit einemmal in die ersten Wurzeln des geistigen Lebens zurückreicht, so nah ist auch das Neue, Erdhaft-Zeitliche, die nächste große Grabung für eine künftige Neckarstufe. Seitwärts vom Fluß schneidet sie in den Wiesenboden, noch ist das schmale, weitgekrümmte natürliche Flußbett unberührt, doch die gerade Linie des neuen wühlt sich schon mit Baggern und Schaufeln in den Sand und Kies, der die Breite des längst mit Pflanzenerde bedeckten vorgeschichtlichen Flußbetts anzeigt. Auf breiten Dämmen laufen die Kippwagenzüge, Maschinen pfeifen, die Ketten der Bagger rasseln, Arbeitergruppen richten die rauhen betongrauen Wände der Schleusenkammer. Hier bei Horkheim ist mitten im Ländlichen der Umgebung dieses großartige, ameisenhafte Ineinanderarbeiten von Menschen und stählernen Werkzeugen, von ingenieurmäßigem Plan und roher Änderungskraft.

Bild: Joachim Lutz

Lauffen

Von der Höhe herab schaut inselmäßig unberührt der Gutshof des Schlosses Neipperg, bis hinauf reichen vom Erdschnitt der Eisenbahn die sauberen Rebengärten mit ihren niederen Feldsteinmauern, die schmalen Terrassen aus körniger, trockener Krume mit den gradgeschnittenen Stöcken und die in Streifen zerschnittenen Felder. Bis dann hinter Bäumen wieder die doppelte Dampfwolke der Maschinen aufsteigt, der Bagger auf den Kiesfeldern der Stadtgemeinde Böckingen, dann kommt das Erlengehölz, der Saum von Heilbronn. Merkwürdig gemischt aus beharrenden Dingen und Kräften unruhiger Erweiterung ist die fast südliche, mit der Welt nicht genügend verbundene Stadt. Noch immer zeigt der dem Neckar zugewendete Teil ein wenig vom Charakter der Weingärtner und der Fischer. In der ungeschickt erneuerten Gotik des Stadtkernes ist nur die düster hohe Fischergasse ganz erhalten, und dann etwas Unantastbares, der Turm der Kilianskirche. Breit steht der Turm über der Stadt, mit seinen eigenwilligen Kürzungen fast einem steinernen Baugerüst, einem Bauwerk der Alhambra zu vergleichen, und statt des Heiligen steht der eiserne Landsknecht auf seiner Spitze. Bis in den schmalen Heilbronner Handelshafen reicht am Neckar die Kettenschiffahrt. Heilbronn will mehr. Der Stadtplan zeichnet auch hier schon die neue, straffe Sehne der künftigen Neckarkürzung, die den Fluß wie eine blanke Schiene weit vor die Stadt verlegt, wo jetzt noch Wiesen, Sportplätze und Bahngeleise sind. Dann wird das alte Neckargestade mit seinen Ufermauern, an denen sich jetzt noch die Ruderboote wiegen, ein Parkstück werden, und eine neue Stadt drängt sich vor die alte an den Schiffsweg, der ruhig wie ein Teich bis zu den Schleusenkammern von Neckarsulm reicht. Zierlich und fremdartig steht in der Ferne hinter den Gehölzen der Ebene der Förderturm des Salzwerks. Am Ende dieser Ebene mündet nach langer Landreise die Kocher in den Neckar, nicht weit davon ihr Parallelfluß, die Jagst. Schon erscheint die Stadt der Salinen dort wie eine Fortsetzung der jungen Industriestadt Neckarsulm; alles will die dörflichen Anfänge vergessen. Im Bahnhof Kochendorf laufen die Schienen aus den Seitentälern zusammen, Württemberg, Baden und Hessen grenzen aneinander, es ist das hier eine Binnengrenze der Kleinstaaten, die alle ihre eigenen Beamten, ihre besonderen Rechte haben, darum ist es ein Doppelbahnhof, ein Umsteigbahnhof, ein Übergang, man erwartet fast den Zollbeamten. Das Bahnhofsgebäude zeigt die schwere Handschrift des älteren Amtsstils, es ist viereckig, aus schwarzgewordenen Quadern des gelben Heilbronner Sandsteins, mit trübgrünen Fensterläden, und die württembergischen Farben herrschen noch im Dunkelrot der Buchstaben auf den schwarzglänzenden Glasscheiben der Wartesäle.

Bild: Joachim Lutz

Heilbronn


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