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IV

Stehst du oben im braunen struppigen Gras des Hochmoores, in dem die ersten Lachen und Rinnsale sich sammeln, so ist es als flösse der Neckar aus regengrauen Wolken hernieder. Man hat in dem Gehölz bei Schwenningen, an den Parkwegen dort, die zu den Torfwiesen hinausführen, ein paar Tropfsteinfelsen aufgerichtet. »Neckarursprung« steht darauf. Spärlich sickert das Wasser durch ihre Fugen. Stacheldraht umzäunt den winzigen braunen Weiher mit dem Inselchen. Das ist künstliche Romantik. Der fertige, wirkliche Neckarbach fließt schon in der Nähe, er füllt die Schwimmanstalt, die hinter hohen Bretterwänden am Wäldchen liegt, er läuft im tief eingeschnittenen Graben weiter zur Arbeit am Sägewerk. Hier ist Stadtperipherie mit Schutthaufen, Unkraut, neuen Bauplätzen. Das Idyll des alten Bauernnestes ist längst aufgegangen in all das leuchtend Neue des Industriedorfes mit seinem Schnellzugsbahnhof, den Uhrenfabriken, Metallwarenfabriken, Schuhfabriken, Eisenwerken, Holzlagern, Landhäusern und Arbeiterstraßen hier in 700 Meter Höhe. In Reih und Glied mit den Typenwohnungen stehen die letzten der mit Schindeln gedeckten Bauernhäuser. Eine Greisin in der Schwarzwald-Tracht mit schwarzwollenem Kopftuch und roten Strümpfen steht in der Tür wie die Großmutter der jungen fleißigen Fabrikarbeiterfamilien im schwäbischen Amerika. Wie eine Nachahmung der alten, auf den Höhen errichteten Begräbnisplätze steht vor Tannenwäldern auf dem Hügel draußen das Krematorium. Erst hier beginnen die Wiesen einer schöngeschnittenen Landschaft. Das Flüßchen gewinnt jetzt erst die Freiheit.

Bild: Joachim Lutz

Rottweil

Wer dann über Rottweil auf dem luftigen Hochturm, fünfzehn Stockwerk über dem Boden, hoch über den Wipfeln dichtgedrängter Bäume die enge Galerie umschreitet, der sieht, wie tief eingeschnitten dieses Tal des kleinen, fleißigen Neckars schon ist. Es ist die gewaltige Arbeit des Wassers seit Jahrtausenden, eine Furche, die sich immer einmal wieder mit den schlammfarbenen Wirbeln eines reißenden Stromes füllt. Fern im Süden sind die schwarzen, flach gewölbten Wälder, über denen zart die Alpenkette schimmert. Im Westen die höheren Schwarzwaldberge. Im klaren nördlichen Horizont die eng gereihten Kuppen der Alb, und im Osten drüben muß die Donau im tiefen Wäldertal des Jura zwischen silbergrauen Kalksteinfelsen fließen. So weit das Auge reicht, dies ist die Welt der jungen Ströme, noch weit vom Meer. Und hier zu Füßen des alten Wachtturmes ducken sich die dunkelroten, hellrot geflickten Dächer der Stadt, die einst zum eidgenössischen Bund gehörte und feste Schlösser brach, wo immer sie auf jenen fernen Höhen standen. Ein mittelalterliches Bild zeigt das hochgebaute Rottweil im Gürtel der Mauern mit vierundzwanzig Türmen, ein steinerner Igel, im Himmel darüber den Adlerschild des Reiches. Die schwärzesten der Türme ragen noch, der Turm der Kapellenkirche in der Mitte ist zierlich wie ein steinernes Vogelbauer. Das Straßenkreuz dort unten zerlegt noch immer die Stadt in die vier fast rechtwinkeligen Örter. Geräumig sind die Straßen, fast wie die von Augsburg. Aber die alten Einkehrhäuser da unten, die Handelshöfe und Zeughäuser von einst mit ihren großen, allegorisch bemalten Wandflächen sind still geworden, in die Anonymität zurückgesunken. In engen Gassen, in dunklen Stuben ist Kleinstadtgeruch; selten Blumen an den Fenstern, auf krachenden hölzernen Stiegen ein Geruch von Katzen. Manches breite Haus ist unter verschiedene Besitzer geteilt, die eine Hälfte frisch geweißt, die andere zerfallen. Die Lage der Stadt hier am Saum der Hochebene, vom Tal aus nur durch, die breiten Rampen erreichbar, durch das Viadukt mit dem Hügelvorsprung verbunden, erinnert an Luxemburg. Sie hat etwas unübersichtliches. In kurzer Schlinge umgeht der Fluß den Hügel; dort unten ist die Halbinsel mit der Mühle. Erst beim Näherkommen wird alles verständlich.

Die Bahn schlüpft durch Tunnel und Tunnel wie durch ein Rohr. Sie durchstößt jetzt den Felsenvorsprung, der das Tal versperrte. An jener engsten Stelle, wo einmal die Neckarburg den Paß beherrschte, ragen zwischen finstergrünen Tannen graue Mauerreste, schmal wie Säulen. Aber flink wie ein Wiesel eilt noch immer der Fluß, er wirft sich im Zickzack von einer Seite des Tals zur anderen. An geglätteter, schon fast Kanal gewordener Strecke liegen dann in Oberndorf die hellen, korrekten Gebäude der Mauserschen Fabrik, und zum Fabrikhof gehörig, den kleinstädtischen, mit Arbeitsvolk gefüllten Straßen zugewendet, die verstümmelten, barocken Reste des ehemaligen Augustinerklosters. Am Berg empor vor den Wildern reihen sich die Landhäuser, eines steht an freier Stelle, weiß und hellblau wie ein Odolplakat. Dann stellt sich Sulz quer in den Weg mit ziegelroten Werkgebäuden, die dörflich freundliche Oberamtsstadt, zum Kurort aufgelockert um die Solquellen mitten in Wiesen und Wäldern.

Bild: Joachim Lutz

Sulz

Das Tal wird flacher, Fahrstraßen schneiden den Waldrand, alle zum Ausgang des Gebirges hin. Da liegt Horb, von Berg zu Berg gespannt wie eine Hängebrücke, ein Städtchen, den Hügel hinaufgebaut wie mit Leitern, darüber das Gekräusel der Wälder. Wie mit Absicht scheinen Giebel und Breitseiten der alten Häuser nach Süden und Osten gerichtet; gesund und lückenlos sammelt sich alles Gebaute um die beiden Kirchen. Nicht ohne Schwung und Charakter sind die Ausläufer des Gebirges hier. Der Bergrücken, der das Städtchen trägt, liegt wie ein halb zurückgenommener Riegel im Tal, er läßt den Fluß hindurch, es ist als kenne die Stadt die Launen des Wassers, zu dem nur das kleine Turbinenhaus ganz hinabsteigt. Auf der Talsohle ist Raum für die Karusselle der Kirmes, und über den grasbewachsenen Inselstreifen führt das Eisengerüst des Bahnübergangs.

Bild: Joachim Lutz

Rottenburg

So zeigt auch Rottenburg, was selbst ein kleiner Fluß für eine Stadt bedeutet. Da sind die holzgebauten Brücken, die Mühlen am Gebüsch, die Schwemmen, die Hoftore, die kleinen Werkstätten am Wasser. Floße liegen am Ufer, ein Schwarm Enten rudert ein paar Fuß über dem goldbraunen steinigen Flußboden. Die Gassen mit den breiten Torfahrten, die Häuser mit den Heiligenbildern, die stattlichen Altanhäuser sammeln sich um den Marktplatz. Ein wenig kahl erscheint der Martinsdom, er ist einer der kleinen Dome in Deutschland, das Rathaus in seiner Nähe ist größer als er, auf dem First des Rathauses steht das Türmchen wie auf Stelzen. Sieben Heiligen zu Ehren verteilen sich sieben Kirchen und Kapellen im Umkreis der ländlichen Stadt. Die Wälle und Mauern, die großen luftigen Gebäude der Residenz und des Seminars trennen die Stadt von ihren Gärten, Äckern und Hopfenfeldern im breit geöffneten Tal.

Der Fluß sonnt sich in den mit Büschen besäumten Wiesen. Schwimmen Gänse auf der Flut, sind es die weißen Schäume? Drüben erscheint eine Höhe wie eine einsame Woge des Landes. Ackerseite und Weinbergseite steigen vom kleinen Dorf empor. Wenig Wald. Und auf der Spitze, ganz schlicht und frei, die Wurmlinger Kapelle. Man sieht den kleinen Friedhof nicht. Hier ist ein Beispiel dafür, daß ein landschaftlicher Punkt, der wenig auffallendes hat, zauberhaft sein kann. Alles Ergreifende sagen die kindlichen Zeilen des Uhlandschen Gedichts: Einfalt und Schwermut dieser alten Begräbnisstätte hoch über dem Frieden des Tales, mitten im glänzenden Spiel der Wolken.

Tübingen. Der schönste Blick auf die Stadt ist doch von der Neckarinsel zwischen den schmalen Flußarmen unterhalb der Brücke. Die nach außen gebogenen Äste der Platanen beschatten die Ruhebank. Gegenüber sind die kleinen Gärten des Ufers mit den Hängeweiden und einzelnen Tannen. Aus dem Fenster des Halbturmes da drüben hängen Betten in der Sonne. Seltsamer Gedanke, daß ein Mann ein Menschenalter lang dort im Turm leben konnte wie ein Gefangener und ruhig, gutwillig tausendmal dieses selbe Gärtchen Schritt für Schritt, hin und her, durchmaß. So lebte Hölderlin dort in Frieden, silberweiß. Die Lichtreflexe des Wassers spielten auch damals an der Hauswand empor, das taktmäßige Poltern der Ruderboote vermischte sich oft mit dem Mittagläuten wie jetzt. Die Häuserwände, die Giebel stiegen aufwärts, Reihe um Reihe, oben steht das Stift und das Seminar, übereck, rosa. Der Turm der Stiftskirche ragt in die Luft, eine Art Pyramide; schwere gotische Bogen tragen die Brüstung, darauf der faßähnliche Aufsatz, die wie mit Stacheln besetzte Spitze und ein undefinierbares Filigran als Schmuck. Wo Turm und Kirchendach zusammenstoßen, hat der Regen einen Streifen Ocker, Giftgrün, Violett und Weißlichrosa aus der Ziegelfläche ausgewaschen, das ist etwas fremdartig Buntes über der grauen Stadt. Enge graue Gassen, und die verblaßte Bilderfront des Rathauses mit dem spielenden Übereinander der Stockwerke, den dreifach übereinandergesetzten Dachfenstern und dem Türmchen obendrauf. Der Marktbrunnen spritzt noch immer seine dünnen Strahlen, und auf dem Kopf des steinernen Neptun, der einst sein Dreizack durch das Gewicht einer darauf geflogenen Taube verlor, sitzt auch jetzt, wie der Helm auf einem lebhaft umherschauenden Haupte, eine Taube. Bäurisch sind die Gassen, die abwärts führen, bäurische Leute wohnen da. Neben der schmalen, steinernen Haustür, neben geschlossenen Scheunentoren ist fast vor jedem Haus das kleine offene Mauernviereck, aber der Stall ist leer, man bewahrt dort jetzt das saubere Reisig. Erstaunlich alte Hauswände sind mit frischem Rebenlaub bewachsen bis unter die klar gewaschenen Fenster. Auch den Berg hinauf reichen diese Treppen-Gassen, bis an den schrägen Platz, zwischen dessen Steinen das Gras wächst. Dort ist das breite Tor mit dem gewölbten Durchgang, darüber das enorme Wappen, seltsam genug von dem englischen Schnallenband und dem altfranzösischen Wahlspruch des Ordens umschlungen. Derbe, breite Akropolis hoch über dem Tal, und mitten im alten Viereck der hölzernen Galerien, der Türen und Portale, der Schloßhof mit dem stets gefüllten Brunnen. Hinter ihm an der Hauswand steht in verwischter Ölfarbe zu lesen: Fliegerunterstand. Es ist ein Durchgang in die Gärten, eng und dunkel wie eine Höhle. Oft beschriebenes, liebevoll ergründetes, unergründliches, paracelsisches Tübingen, Oxford des europäischen Hinterlandes, aus dem zwar nicht die Bauherrn eines Weltreichs hervorgingen, und doch eine Schar von Geistern, die Europa Kraft, Größe und Süßigkeit gegeben haben. Hier war ihre seelische Heimat, ihr Bienenstock, ihre Nährstätte. Sie bedurften nicht der Meerfahrt. Ein kleiner Fluß genügte ihnen, um die alte ewige Melodie des Wassers zu vernehmen.

Bild: Joachim Lutz

Tübingen


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