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Was für eine unruhige, qualvoll in die Ferne hingekrümmte Schlange ist doch dieser friedliche, harmlose Neckar, sieht man ihn von ganz oben. Man kann die Strecke von der Mündung bis zur Quelle in einer Stunde fliegen. Aber die Launen, die Spielereien, die Krümmungen des Flusses, man nennt sie die Stromentwicklung, machen aus den hundertfünfundsechzig Kilometer Abstand von Mannheim bis zu dem Dorfe Schwenningen im oberen Schwarzwald die doppelte Länge, ein Viertel der ganzen Länge des Rheins. Das Auge sucht tief in der Ebene den Fluß und findet das schmale Rinnsal wie auf einem Teppich. Dann in den unendlichen Wellungen des Mittelgebirges ist er wie ein dünnes Kinderkettchen aus Silber. Erst wer den Weg des Flusses selber wandert, spürt die Stufen, die er sacht hinabfließt. Es sind fünf Landschaften, die einander folgen wie die fünf Sätze einer Symphonie von pastoralem, heiterem Charakter, mit einzelnen ergreifenden Augenblicken, mit wenigen schwachen, flachen Stellen. Zuerst, von der Quelle her, ist es der wilde, dramatisch verengte, plötzlich geöffnete Hochweg im Schwarzwald. Es folgt die freier bewegte, wie mit grünen Zelten besäte Landschaft der Alb. Dann das schwäbische Unterland, mild verträumt und locker, hügelig und offen. Später das schwellende, gedrungene allegro vivace im Odenwald, und schließlich der klare Abgesang, der ausruhende Neckar der Ebene, der doch in der Korrektur der Ingenieure nichts Müdes, Sentimentales hinschleppt, sondern seine Schiffchen durch die Wiesen trägt wie auf einer fröhlichen Chaussee.
Immer wieder trifft der schmale Fluß auf seinem Weg mit noch schmäleren Wasserfäden zusammen, er nährt sich von ihnen, füllt sich mit ihnen an. Alles Lebendige des Wassers zieht er an sich. Es sind nicht nur die mit pyramidenförmigen Hütten gedeckten kohlesauren Sprudel, die schon am Oberlauf zwischen Tannenwäldern seinen Weg verfolgen, und es sind nicht nur die vielgerühmten Wasseradern der Heilbronner Gegend, deren kostbarste einst unter dem Hochaltar der Kilianskirche entsprang. Die Namen der Nebenflüsse reihen sich am Neckar wie ein klingendes Lied in den Worten einer kaum noch verständlichen Sprache. Auf der linken Seite sind Eschach, Glatt, Ammer, Aich, Kersch und Nesenbach, Zaber, Leinbach und Elsenz. Auf der rechten heißen sie Prim, Schlichem, Ayach, Starzel, Steinlach, Echatz, Erms, Lauter, Fils, Rems, Murr, Kocher, Jagst, Elz und Itter. Wo entfaltet sich inniger das Spiel der deutschen Landschaft, wo wäre sie geschwinder, leichter zu durchreisen. Aber wo läge sie auch voller von den unsichtbaren Fußangeln der sagenhaften, verlockenden Dinge! Überall die Landstraßen, die Feldwege, die abkürzenden Pfade. Immer wieder ein schönes Dorf mit rebengeschmückten Häusern, mit dem behäbigen Wirtshaus zum Wilden Mann, zum Hirschen, zur Traube, mit dem kühlen, fröhlichen Landwein, dem wohlschmeckenden Landjäger und dem Wecken dazu. Immer wieder die kräftig gebauten Städtchen mit der Kirche in der Mitte und dem Brunnen auf dem Markt, im hochgefüllten Brunnenbecken der Fischkasten, das Zeichen der am Fluß gelegenen, Fische essenden Stadt. Immer wieder an Stadttoren, Türmen und Ufermauern die Jahreszahlen der großen Überschwemmungen, man liest sie von 1534 an bis 1824 und 1923 am Tübinger Ufer wie am Schelchentor zu Eßlingen, am Ufer von Cannstatt wie an der Heidelberger Brücke. Bei Hirschhorn sind die Altwasser des Flusses eine kleine Wildnis, dort steht einsam auf ihrer Wiese die Kapelle von Ersheim, letzter Überrest eines vom Hochwasser vernichteten Dorfes, ältestes Bauwerk im unteren Neckartal. Immer wieder in die Kirchen eingemauert die römischen Steine, die Wappen und Grabsprüche vergangener Geschlechter, und über den Haustüren an alten Gassen die Steinmetzzeichen. In den Gesprächen lebt da und dort immer noch ein uraltes Wort, ein Scherz aus verschollenen Zeiten, dunkle Erinnerung an Fehden, Freundschaften und Hänseleien zwischen Dörfern, Städten und Burgen. Und immer wieder erschließt sich der mündliche Katalog über Jahrgänge und Charaktere der am Neckar gedeihenden Weinsorten. Immer wieder die kleinen Buchhandlungen mit den Bilderchen und Karten des Neckarlaufes, die lehrhaften Sagenbücher mit ihren weitschweifigen, rührenden Strophen. Jeden Sommer in irgend einem Städtchen oder im verlassenen Burghof drohen ein Festspiel mit Landsknechten, Ritterfräulein, Herolden und Bauern zwischen einer Menge Stadtvolk, das auf Rädern und Automobilen, mit Wimpeln und Zelten herbeiströmt, ein Zeichen, daß das Vergangene nicht weniger ein Phantasiebild vor den Augen der Gegenwart ist als die Zukunft. Du möchtest unbefangen die von Wäldern überzogenen, von Ackerstreifen bedeckten, durch Baumreihen mit einander verbundenen, mit altem Gemäuer gekrönten Höhen betrachten, aber ein Gefühl für das Allseitige, Vollständige treibt dich immer aufs neue an, den Zusammenhängen, den Andeutungen eines Schicksalhaften nachzuforschen. Geschichte ist nicht immer ein abgestandener Trunk. Ein wenig Geschichtliches wissen, dann hat man von der Landschaft noch einmal so viel; man ahnt den Sinn der kleinen Städte, die einst den Kaufmannsweg am oberen Neckar bewachten, es war der Weg vom Bodensee herauf in das innere Schwaben, so entstanden die festen und selbstbewußten Reichsstädte Rottweil und Nürtingen, Reutlingen, Eßlingen, Heilbronn. Noch jetzt steht der Gerichtsstuhl des Kaisers, ein barockes Steinungetüm aus dem 18. Jahrhundert, unter der Linde an der Stadtgrenze von Rottweil. Die Zehntscheuer im grauen Rottenburg trägt noch das riesige Habsburgerwappen, Erinnerung an die Wichtigkeit der Stadt, der eine Erzherzogin das köstliche Bildwerk des Marktbrunnens schenkte. Die Kirchen am oberen Neckar verleugnen nicht ihre Verwandtschaft mit einander, ihre Herkunft aus der katholischen Zeit; es ist die selbe Schule des gotischen Bauens zu St. Lorenz in Rottweil, St. Martin in Rottenburg, St. Moritz in Ehingen, St. Marien in Reutlingen, an der Stiftskirche zu Tübingen und an der Eßlinger Frauenkirche. Selbst die dörflichen Kirchtürme haben ihre charakteristische Haube. Und wie stattlich aufgerichtet mit allem Schnörkelwerk der Wandbilder und der weithin sichtbaren figurengeschmückten Uhr sind die Rathäuser, ein Ausdruck des einstigen Machtgefühls der Städte, am stolzesten der Eßlinger Rathausgiebel; scharf beleuchtet bis hinauf zur Glockentraube im luftigen, zweistöckigen Türmchen ragt er in die Nacht. Am Tage bestaunen die Fremden diese alte Front mit den kleingekästelten Fenstern, die Kühnheit des fünffach gestaffelten, bunten Baues zwischen den hohen Fachwerkhäusern der Altstadt mitten im neuzeitlichen Leben dieser häuserreichen Stelle des Neckartales. Und in den Städten immer wieder die schattigen, nachdenklichen Alleen, die den Fluß begleiten wie die Maille in Eßlingen, die an den grünen Parksaum vor Jena erinnert, die Berger Insel in Cannstatt, die alte Mühle, die Gartenmauern. Und erst die Brücken! Wie Archen stehen sie im holzreichen Oberland mitten in den Wiesen. Dann sind es die wohlgefügten, kurzen, festen Bogen der altmeisterlichen Steinbaukunst, wie die Brücke von Unterboihingen, wie die fünfbogige Tübinger Stadtbrücke, wie die niederen breiten Bogen unter der Straße mit der Brückenkapelle in der Eßlinger Altstadt, wie die steile, wuchtige Heidelberger Alte Brücke zwischen ihren Türmen. Ganz anders die jüngeren, breiteren Straßenbrücken von Cannstatt, Heidelberg und Mannheim, die neuartig linienschlanken, aus Beton und aus Eisen gebauten Brücken unserer Zeit, leicht wie Angelruten über den Fluß gebogen, und die klar geschnittenen starken Stauwehre von Neckarsulm und von Wieblingen, diese quer über den Fluß gezogenen Galerien mit ihren Aufzugtürmen, mit ihren tiefen Schleusenkammern und den schmalen Fischtreppen. Endlich auch die finsteren, nur von den Zügen des Fahrplans erzitternden, quer über den Fluß gestellten Eisengerüste der Bahn. Umso lebendiger die alten, an Seilen und Schwimmern befestigten Pendelfähren, die Fergennachen an den bequemen Stellen des Übergangs. Und immer wieder die Wehre, die den Fluß flach durchschneiden, oben der breite Wasserglanz mit vielen Spiegelungen, unten das von sprudelnden Bächen benetzte Geröll.