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Ist es ein Wunder, wenn der Schlaf den König floh? Es sei nur zugegeben: er hatte »Zeit lang«, wie sie in der Munde sagten. Wenn er auch in Illzenau oft Abende allein verbracht oder Sonntage, die seine Kameraden nach der Hauptstadt fuhren, so gab es doch ein gutes Buch, auch was der arme Narr, der Zeichenlehrer Raffael Kreis, ihm beigebracht, kürzte die Stunden. Dann kam wohl der Wachtmeister, es galt, eine Felddienstübung anlegen, Fräulein Inne (Innocentia) Unschuld, Tochter des Hauswirts, plauderte zwischen Tür und Angel oder Piephacke erzählte von Pferden. Hier aber Todesschweigen, und drüben irgendwo lag König Ernst der Zweite, gräßlich aufgeschnitten.
An solches dachte der junge König, der ohne Buch, Malzeug oder Ansprache in seinen einsamen Gemächern saß. Und er beschloß, sich einmal umzuschauen in dem weitläufigen, ihm fast unbekannten Bau. Da Piephacke die bestaubte Uniform zum Reinigen mitgenommen, der König jedoch unmöglich in Unterkleidern hinausgehen konnte, zog er den Zivilanzug an. Es war aber jener, den er beim Kronprinzen, kurz vor dessen Ende, getragen.
Denken wir uns nun Ernst den Dritten in seinem weiten Schlosse alsbald derart verloren, daß er nicht mehr weiß, in welchem Flügel oder Geschoß auch nur er sich befindet. Die Hofdienerschaft scheint nach ereignisschwerem Tage schon zur Ruhe gegangen. Nirgends in den noch durch Öllampen aus Vätertagen dürftig beleuchteten Gängen ist ein Mensch zu sehen, so daß der König, wie er so unangefochten in die Säle treten kann, auf den Gedanken kommt, hier müßten Hotel- und Schloßdieben ungemessene Möglichkeiten offen stehen.
Da begibt es sich, daß Ernst der Dritte von ungefähr, gleichsam wie im Dornröschenmärchen, an eine Kammer gerät, aus der Lichtschein dringt. Er späht hinein und sieht ein blondes Mädel sitzen beim Wäschestopfen. Schon will er sich zurückziehen, als sie auffährt: »Pfui du, bin ich aba erschrocken!« –
»Bist au da Munda?« fragt lächelnd der König. Da der junge Herr wie ein Bauer reden kann, beginnt sie zu schwatzen von der Mutter, die ihr immer gesagt: »Redst zu via! Halt' den Speicher, Lore-Lene!« Und dann fragt hellhörig Lore-Lene: »Bist wohl a Adschutant bei's Begräbnis? Nu is unsa Kenich tot, was hat a nu vom Kenich sein?« Ernst der Dritte fragt besinnlich, was er denn bisher davon gehabt? Lore-Lene zeigt das glänzende Gebiß, Erbteil aus der Munde: »Fressen hat a kunt, was a mag. Pfui du, das wa fein, fressen, was du magst.« Fragt da der König: »Was tatst denn fressen, Lore-Lene, wann du Kenich warst?« »Pamms 's ganze Jahr!« sagt Lore-Lene.
Ernst dem Dritten steigt die Erinnerung auf an selige Tage beim Osterbauer, wo er Pamms umsonst gegessen, und er spricht:
»Pfui du, sollst Pamms kriegen, paß au!« Und ist davon.
Dieses ist geschichtlich Ernst des Dritten erstes Gespräch mit seinem Volke. Seltsame Dinge geschahen noch an jenem Abend. Des jungen Königs Meinung, daß hier Hotel- und Schloßdieben ungemessene Möglichkeiten offen stünden, schien freilich bare Übertreibung. Als er nämlich einen jener endlosen und verwinkelten Gänge hinunterschritt, klang ihm jäh ein »Halt!« entgegen, und der Posten blieb beharrlich dabei, den nächtlichen Zivilisten festzunehmen. Die Lage muß einfach verzweifelt genannt werden, denn der Mann beantwortete die Behauptung Ernsts des Dritten, er sei der König, mit strengem Hohn. Wäre nicht der Hauptmann vom Schloßdienst zufällig auf seinem Rundgange gekommen, hätte der König bis zur Ablösung, das Gesicht zur Wand gekehrt, in der Ecke stehen müssen. Nun fand es sich, daß es kein anderer war als jener Hauptmann von Standfest mit Leberanschoppungsverdacht, den der tote Basileus einst einen aufrechten Mann genannt. Er kannte den jungen Herrscher von seiner Rittmeistermeldung her, schien sichtlich betroffen über solch peinlichen Irrtum, verteidigte jedoch den Posten, weil er nur seine Pflicht getan habe. Ernst der Dritte sah jenen, der ihn vor ein paar Augenblicken erst festgenommen, billigend an und ging mit der Absicht, den Mann belohnen zu lassen. Das sagte er dem Hauptmann, der Seine Majestät begleitete. Im richtigen Geschoß bat der König seinen Führer, sich nicht weiter zu bemühen, und schied mit der in Tillen unter Offizieren üblichen Wendung: »Abendsegen, Herr von Standfest!«
Nun geschah aber das Erstaunlichste dieses Tages: auf seinem Wege zu den »Fremdenappartements« fand Ernst der Dritte eine Tür angelehnt, Kerzen schimmerten, und der König stand unvermutet vor einem einfachen eisernen Bett, darauf unter einem Leintuch ein kaum die Matratze überhöhender, gleichsam ausgeweideter Körper lag, dessen weißer Bart im Winkel fortstand: Ernst der Zweite.
Im ersten Augenblick prallte der junge König zurück, um so mehr, als er mit dem Toten allein war. Dann beugte er das Knie, betete an der Leiche, deren scharfe Denkerfalten sich geglättet, so daß die beruhigten Züge die Allerhöchste Majestät, jene des Todes, zeigten. Die Nase, über dem fest geschlossenen Munde an der Spitze herabgezogen, sprang nun edler noch als im Leben vor.
Ernst der Dritte blieb unbeweglich. Wer soll sagen, was sich regte hinter seiner jungen Stirn, ruhiger geschwungen als jene gewaltige Wölbung des toten Königs? Haben Ernst den Dritten Königsgedanken bewegt oder die ebeneren Überlegungen eines, dem Mensch immer Mensch gewesen, ob mit Zepter oder mit dem Grabscheit in der Hand? Gingen ihm vielleicht jene Worte durch den Sinn aus dem Briefe des Königs: »Deutsch soll sein, etwas der Sache wegen tun; deshalb gibt es wahrscheinlich so wenig gute Deutsche, denn sie dienen alle sich selbst oder ihrer Partei.«
Zogen durch dieses junge Königshirn menschlich schwache Gedanken wie jene: Was bedeutet es, daß meine Schwadron schlecht war, mit der ich mich doch vom Morgen bis zum Abend gequält? Nun brauche ich nicht mehr zu überlegen, ob ich Einfach- oder Lagerbier trinken darf. Nun kann ich Rache nehmen an Rechenembryonen, bösen Wettern, Rittmeistern, Hermunduren, Quatschern und Kutschern!
Den jungen König traf ein Luftzug: der alte Kammerdiener Treu verbeugte sich mit grauem verfallenem Gesicht. Ernst der Dritte reichte ihm die Hand:
»Sie haben viel verloren!« »Seine Majestät war mir immer ein gnädiger Herr.«
Der König flüsterte:
»Warum liegt er ganz verlassen?«
Der Greis entschuldigte sich, er habe nur ein Viertelstündchen geruht. Ernst der Dritte schüttelte den Kopf:
»Ihnen mache ich keinen Vorwurf, aber warum ist kein Posten aufgezogen?«
Sie waren aber in das Nebengemach getreten, das Arbeitszimmer des Königs, denn der Herr über Schlösser und Säle hatte für sich nur zwei Räume bewohnt. Nun hörte Ernst der Dritte, daß man die Posten zurückgezogen, als die Königshülle zur Leichenöffnung fortgebracht worden, und es jetzt so gelassen, denn schon früh fünf Uhr sollte die Aufbahrung beginnen. Der junge König aber sprach ein bitteres Wort vor sich hin: (Der Alte hat es später erzählt.)
»Vor dem Lebenden lagen sie auf dem Bauche, nun er tot ist, liegen sie auf dem Rücken – sie schlafen. In meiner Schwadron sind viel anständigere Kerle, wenn sie vielleicht auch nicht orthographisch schreiben können.«
Klang das nicht fast wie Ernst der Zweite? Dachte er mit solcher Wendung an ihn? Wir wissen es nicht. Wissen nur, daß eine Viertelstunde darauf ein junger Rittmeister der Zweiten Dragoner, statt eines Adjutanten einen Gefreiten hinter sich, auf der Leibdragonerschloßwache erscheint, den Leutnant weckt und sagt:
»Seine Majestät der Hochselige König liegt oben ganz verlassen. Sorgen Sie dafür, daß sofort ein Doppelposten auftritt. Das ist eine Sauerei, Herr Leutnant!«
Der Leutnant, übrigens Graf Druff, Sohn jenes ersten Kommandeurs des Prinzen Arbogast, ist so erschrocken gewesen, daß er später nur noch gewußt hat: der König trug den Waffenrock, das Großkreuz des Hausordens darauf. Vielleicht, um nicht gleich am ersten Tage seiner Regierung ein zweites Mal festgenommen zu werden.