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Neunzehntes Kapitel.

Einige Meilen von dem Försterhaus, in welchem Paula eine Heimat gefunden, lag, fast noch einsamer, obwohl an der Straße, hoch oben im Gebirge, ein kleines Frauenkloster, weit abgeschnitten von aller Welt. Es war lange leer gestanden, und erst seit einigen Jahren hatte eine Stimme bei der Kaiserin das Bedürfniß geltend gemacht, der armen weithin in den Bergen zerstreuten Gemeinde hier eine Schule für ihre Kinder, eine Zufluchtsstätte für Kranke zu gründen. Das kleine, nur einige Zellen und wenige größere Räume mit einem daran stoßenden Kirchlein enthaltende Gebäude ward mit einer Stiftung bedacht und aus ein paar andern Klöstern Oberösterreichs eine Anzahl besonders opferfreudiger Klosterfrauen berufen, denn es brauchte Opferwilligkeit und Liebe zur Arbeit, um hier zu leben. Aus dem anstoßenden Gärtlein mußte man mit Mühe dem rauhen Klima alles abzwingen, denn der alte Klosterdiener konnte nur einmal die Woche in den nächsten Ort gehen, um das Uebrige zum Bedarf herbei zu holen. Die Zeit, die ihnen die Besorgung der materiellen Bedürfnisse und das Gebet übrig ließ, verwendeten sie für den Unterricht der Kinder, die zu gewissen Stunden des Tages zu den freundlichen Nonnen kamen. Manches der Schwächern darunter wurde des Winters da behalten, wenn es galt, durch Schnee und Eis den Weg in die elterliche Hütte zurück zu suchen. Mancher verlassene Kranke oder verirrte Reisende war aufgenommen und verpflegt worden. Zu den Opferwilligsten und Fleißigsten dieser kleinen Christi geweihten Heerde, gehörte Schwester Beate, der auch ganz besonders die Kranken, wenn solche da waren, anvertraut wurden. Sie war der Liebling des Klosters und der Kinder, denen sie die schönsten Geschichten zu erzählen und alles am leichtesten und faßlichsten beizubringen wußte. »Von allen Nonnen wußte sie am meisten, selbst die alte Oberin holte sich oft Raths bei ihr. Sie ließ nie den Muth sinken, wenn der Winter zu lange dauerte, oder der Regen nicht aufhören wollte, sie fand stets ein blaues Fleckchen heraus am Himmel, wenn er den Andern noch so düster erschien. Die Kinder verglichen auch die blauen Augen Beatens dem Himmel, und für sie konnten nur die Engel schöner sein, als das alternde Antlitz der geliebten Nonne.

Die Hora hatte geläutet und die Nonnen um ihren einfachen alten Seelenhirten in dem kleinen Kirchlein zum Gebet versammelt, als durch den frommen Gesang scharf und deutlich die Glocke an der Pforte erklang. Die Pförtnerin entfernte sich und kam bald wieder herein, um leise Schwester Beate hinauszurufen. Ein abgesandter Bote aus dem Posthause am Fuße des Berges stand am Gitter und erzählte in kurzen eiligen Worten, es sei gestern mit dem Postwagen eine sterbenskranke Frau gekommen, die, unfähig weiter zu reisen, bei ihnen liegen geblieben sei. Ihrer Kleidung und Baarschaft nach müsse sie reich und vornehm sein, habe die Mutter gesagt, die sie ins Bett gebracht habe.

»Die Mutter,« schloß der Knabe seine Erzählung, »hat erst geglaubt, sie werde gleich sterben, so bleich und krank war sie, hatte aber niemand zum schicken, weil ich nicht daheim war; nun soll ich den Herrn Pfarrer holen und zugleich fragen, ob Ihr, wenn es noch länger dauert, sie nicht nehmen wollt, da die Mutter eben gar keine Zeit hat, sie recht zu pflegen.«

Noch an demselben Abend wurde die Kranke, die sich in der Ruhe, die ihr geworden, etwas erholt hatte, in Betten verpackt, unter der Obhut des Geistlichen auf einer Bahre heraufgetragen und der sorgsamen Pflege von Schwester Beate übergeben.

Unermüdlich stand diese an dem Lager und wehrte dem Engel des Todes, der nicht weichen wollte; nur selten überließ sie einer Andern die Pflege, daß nicht noch mehrere die wilden verworrenen Reden hören sollten, deren Inhalt auf ein Geheimniß deutete, mit welchem sich das arme wandernde Gehirn der Kranken zermarterte, denn rastlos strichen ihre Hände über die Decke suchend umher, oder wischten über die Stirne hin, als wollten sie die breite Narbe wegwischen; dort schien der Hauptschmerz. »Hier brennt es,« klagte sie, »o nimm ihn weg, nimm ihn weg den Fluch, wisch es aus, das Brandmal der Lüge, von der reinen Stirne der Jungfrau!« Die sanften Worte der Schwester wirkten meist beruhigend, beruhigender oft als die Medicinen, die der herbeigeholte Arzt verschrieb. Endlich nach Wochen wich das Fieber, aber die Kräfte wollten nicht wiederkehren, und kein gesunder Schlaf Ruhe in die aufgeregten kranken Nerven bringen. So oft Schwester Beate nach dem Abendläuten in das Zimmer kam, fand sie die großen dunkeln Augen auf sich gerichtet.

»Geht Ihr jetzt schlafen, Schwester?« frug eines Abends Paula, denn daß sie es war, die ihre Reise bis hierher gebracht hatte, habt Ihr wohl errathen.

»Noch nicht,« entgegnete Schwester Beate, sich zur Kranken setzend, und ihre weiche Hand auf deren Stirne legend, frug sie sanft: »Will denn immer noch kein Schlaf diese müden Augen schließen?«

»Es wird wenigstens noch einige Stunden dauern,« erwiederte Paula, »wenn Ihr könnt, Schwester, bleibt noch ein bischen bei mir, die Nacht ist gar so lang, aber bedürft nicht Ihr selbst der Ruhe?«

»Nein, nein,« wehrte freundlich die Schwester, »ich brauche nicht viel Schlaf.«

»Ich bin wohl schon sehr lange krank?« frug Paula.

»Pfingsten war nicht lange vorüber, als Ihr kamt,« entgegnete Schwester Beate, »und in dieser Woche feiern wir Maria Himmelfahrt.«

»Traumbilder aller Art schwebten an mir vorüber in dieser Zeit,« sagte Paula nach einer kleinen Pause, in der sie gedankenvoll gerade aus gesehen, »ich sah wieder die Fluren meiner Heimat und mich selbst als glückliches wildes Mädchen – dann kamen andere schreckliche Bilder!« Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust, und sich zur Schwester wendend frug sie: »Redete ich viel im Fieber, Schwester, was habe ich gesprochen? sagt mir's.«

»Wilde verworrene Worte waren es häufig,« entgegnete Schwester Beate, »deren Sinn mir meist dunkel war. Dann aber nanntet Ihr Namen,« einen Augenblick zögerte sie, wie mit sich selbst kämpfend, und fuhr dann fort: »Namen von Gegenden, wo ich geboren, Namen von Menschen, die meinem Herzen einstens theuer waren und von denen keine Kunde mehr an mein Ohr gedrungen, seit ich mich dem Herrn geweiht. Ihr nanntet die Falkenburg; kennt Ihr das Försterhaus im Wald, lebt der alte Förster noch?«

»Vor fünf Jahren lebte er noch und lehrte seinen Sohn, der in sein Amt eintreten sollte; ich sah ihn und die Kinder häufig, schöne blühende Mädchen!« entgegnete Paula und jene Zeiten standen wieder vor ihrer Seele. Die Nachtlampe war hinter der Schwester, so konnte sie nicht die Thränen sehen, die über deren Wangen flossen, nicht den freudigen Blick der Dankbarkeit in ihren Augen.

»Und Gräfin Gisela, Vater Johannes?« frug sie weiter. »In unser Kloster drang einige Mal die Kunde von dem bösen Krieg, mit dem Gott die Menschen heimgesucht, ist« – ihre Stimme bebte und wieder zögerte sie – »ist Max von Falkenstein geblieben oder lebt er als Gatte und Vater beglückt und beglückend?«

Immer aufmerksamer hatte Paula die fragende Nonne betrachtet, ihre steigende Bewegung entging ihr nicht.

Endlich ergriff sie ihre Hand, und sie näher zu sich herziehend rief sie erregt: »Nein, ich täusche mich nicht, du bist es, du bist Marie, des Försters Tochter, die Max so sehr geliebt.«

»Ich war es,« sagte die Nonne, »aber wie? Ihr wißt?«

»Ich weiß alles, du edles, herrliches Mädchen,« rief Paula, Mariens Hand an die Lippen drückend, »ach, und ich möchte von dir lernen, möchte lernen, wie du, entsagen mit solchem Frieden im Herzen! – Ja, er lebt noch, deine Gebete behüteten ihn, dein reines Bild begleitete ihn bis vor Kurzem. ...«

»Still, still,« wehrte die Nonne ab, sich bekreuzigend, »schon zu lange verweilten meine Gedanken auf weltlichen Dingen, denen mein Herz seit Jahren fern geblieben. Ich weiß nun, sie leben alle noch, die ich einst im Leben draußen geliebt, und derer ich nur im Gebete noch gedenken darf.« Sie stand auf und mischte einen Trank, den sie Paula gab: »Nehmt und trinkt dies, denn auch Ihr habt Euch zu viel erregt. Laßt uns noch beten und dann schenke Euch Gott stärkenden Schlaf.«

In den letzten warmen Tagen des so hoch im Gebirge früh scheidenden Sommers betrat die langsam genesende Paula zum ersten Mal das kleine Gärtchen. Mit schwachen, unsichern Schritten, von der treuen Schwester sorglich geführt, kam sie heraus und athmete die balsamische Luft in vollen Zügen. Wir mögen noch so unglücklich sein, noch so hoffnungslos, das erste Gefühl nach einer langen Krankheit, wenn wir wieder die frische Luft athmen, wieder das Himmelszelt über uns sehen, und der Duft der Blumen wohlthätig unsere Sinne berührt, ist Freude, ist Dankbarkeit für das wieder gewonnene Gut der Gesundheit; erst wenn die Kräfte sich wieder einstellen, vergessen wir der Leiden der Krankheit und denken an all' das, was uns vorher gedrückt und gequält.

So erging es auch Paula; jede Blume, die ihr Köpfchen begrüßend zu ihr erhob, erfreute sie, jeder Vogel, wenn er vor ihr sich auf einem Zweig wiegte und sein munteres Lied zwitscherte, zerstreute sie, erst als allmälig ihre Kräfte wiederkamen, während sie stundenlang in der kleinen Laube des Gärtchens saß und träumte, kamen auch wieder die Gedanken, die quälenden, die Bilder der Vergangenheit und der düstern Zukunft. Hie und da leistete Schwester Beate, an die Dankbarkeit und Bewunderung sie innig gekettet, ihr Gesellschaft. In einer jener vielen schlaflosen Nächte hatte sie ihr ihre Schicksale erzählt. Die ernste strenge Verschlossenheit, die sie früher so fest bewahrt, war vor der physischen Schwäche gewichen, das Bedürfniß schwächerer Naturen, zu reden, ihre Zweifel, ihren Jammer auszuschütten in eine fühlende Freundesbrust hatte sich auch bei ihr geltend gemacht.

Bebend von Mitleid und innerlichem Schauern sah die fromme Nonne, das einfache Landmädchen, das stürmische Lebensbild vor sich entrollt, und ihr eigener kurzer Liebestraum trat davor in den Hintergrund zurück. Vor diesem, von Selbstvorwürfen gequälten Herzen gewann das ihrige das Gleichgewicht wieder, aus dem die neuerwachten Erinnerungen sie auf kurze Zeit gebracht hatten.

In den bequemen Sessel, den man für Paula in den Garten gebracht hatte, zurückgelehnt, die durchsichtigen magern Hände vor sich gefaltet, sah sie Schwester Beaten zu, die emsig im Garten arbeitete. Eben war sie fertig geworden, zufrieden sah sie das umgearbeitete Ländchen an, prüfte einige Triebe in den nebenanliegenden, und den Schweiß von ihrem Antlitz trocknend, trat sie freundlich lächelnd zu der ernsten Paula und setzte sich neben sie auf die roh gearbeitete Bank.

»Ach, Schwester Beate,« seufzte Paula, »könnte ich wie du den Frieden finden, der in sonniger Klarheit auf deinem Antlitz strahlt. Wohl fühle ich nicht mehr das wilde stürmische Drängen in meiner Brust, wie früher, aber die Ruhe, ach, die Ruhe will auch nicht einkehren.« Sie stützte müde das Haupt auf die Hand. »Manchmal,« fuhr sie fort, »scheint mir, als fände ich sie am ehesten hier in diesem kleinen Winkel, innerhalb dieser Klostermauern;« sie hielt inne und redete dann wie mit sich selbst weiter: »wie sehr bin ich verändert! noch vor Jahren sträubte sich mein ganzes Wesen gegen den Gedanken des Klosters, jetzt sehne ich mich hinein.«

»Trotzdem ist es nichts für Euch,« entgegnete die Schwester, »glaubt mir, für Eure Natur taugt das Einerlei des Klosterlebens nimmermehr.«

»Aber, Schwester,« wandte Paula ein, »du auch hast ja geliebt, hast entsagt und hast Ruhe und Frieden gefunden.«

»Der Segen meines Vaters stärkt mich zu dem Entsagen und begleitet mich auf dem Weg, den ich erwählt,« erwiederte nach einigem Zögern die Schwester; »in der hl. Schrift steht geschrieben: ›der Segen der Eltern baut den Kindern Häuser, ihr Fluch reißt sie nieder.‹ Ob Ihr nun die Ruhe hier suchet oder draußen, ja selbst wenn Ihr das höchste irdische Glück noch erreichen würdet, der Fluch Euers Vaters wird als Schatten zwischen Euch und die Ruhe treten, die Ihr sucht. ›Wenn du beten willst, so gehe erst hin und versöhne dich mit deinem Bruder,‹ wie viel mehr gilt dies vom Kind zum Vater! Zwischen Euer Gebet und Gott tritt der väterliche Fluch! Paula,« fuhr immer erregter Schwester Beate fort und ein heiliges Feuer strahlte aus ihren Augen, »versuche es noch einmal, gehe hin zu dem beleidigten Vater, Gott hat durch Leiden und Krankheit sein Herz erweicht, wirf dich ihm zu Füßen, flehe um seine Vergebung und weiche nicht, bis sie dir geworden; dann erst, dann kehrt Ruhe in dein Herz zurück.«

Aufmerksam hatte Paula zugehört, immer tiefer senkte sie das bleiche Antlitz, endlich bedeckte sie es mit den Händen, und auf den Tisch herabgebogen erschütterte ein krampfhaftes Schluchzen ihren ganzen Körper. Die ersten Thränen seit Jahren! Weit entfernt, sie darin zu stören, saß Schwester Beate still daneben, die Hände zu leisem Gebete gefaltet.

»Ich danke dir, Schwester,« begann endlich Paula, die Thränen trocknend, »deine Worte haben mir wohl gethan wie nichts Anderes, sie haben von Neuem meinen Muth angefacht, den einzigen Weg einzuschlagen, der mir Leben und Ruhe wiedergeben kann!«

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