Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Fast zwei Jahre sind vergangen: vor dem großen Gebäude der von der Kaiserin Maria Theresia gestifteten Militär-Academie zu Wiener-Neustadt tummelte sich in dem großen Garten eine muntere Schaar Knaben. Kampfesmuthig schon jetzt in zartem Alter, konnte Keiner erwarten, daß die Thore der Schule sich ihm öffnen würden, auch er sich in die Reihen der Kämpfenden stürzen dürfe und sein Herzblut verspritzen für die edle erhabene Kaiserin. Sie war den Tag vorher selbst hier gewesen und hatte sich die Zöglinge einzeln vorstellen lassen; ihr zu Ehren hatten sie heute einen freien Tag. Von Schnee und gefallenem Laub, was sie hatten zusammenschleppen können, hatten sie eine Festung gebaut, die ein Theil von ihnen nun mit einem Eifer vertheidigte, als gälte es die Belagerer von der Kaiserburg selbst zu vertreiben. Vergebens suchten sie die schlüpfrigen Wälle hinanzuklettern, überall wurden sie hinabgestoßen; da detachirte der Anführer der Belagerer, einer der Gewandtesten unter den jugendlichen Kämpfern, eine kleine Schaar, umging in der Hitze des Gefechts die Festung und griff von der Flanke an, wo der Feind es nicht erwartet hatte, mit lautem Hurrahrufen den Punkt nehmend, der sich ergeben mußte.
»Brav gemacht, brav gemacht! Ja, an Gewandtheit und List kommt ihm Keiner gleich,« riefen einige in der Ferne stehende Offiziere, während, der siegreiche kleine Held mit hochglühenden Wangen und glänzenden Augen umringt von Freund und Feind seine Taktik auseinandersetzte, als eine leichte Maditschanka Ein Offizierwagen. am Hauptportal des Hauses einfuhr, ein hochgestellter Offizier, in den grauen Mantel gehüllt darauf – blitzschnell standen die Knaben wie die Bildsäulen, mit der Hand an die Mütze langend, der Offizier warf jedoch, ohne sie zu bemerken, dem Kutscher die Zügel hin und trat in das Haus.
»So möchte ich auch einmal aussehen,« sagte ein Junge und suchte nach etwas wie einem Bart auf seiner glatten sammtigen Haut, »solch' einen Schnurrbart, solch' eine gebietende Gestalt!« Starr, wie angewurzelt blieb der junge Sieger von vorhin an der Stelle, wie festgebannt, und blickte dem Offizier nach – jede Spur von Farbe war aus seinem Gesichte gewichen, und ein leises Frösteln zitterte durch seine Glieder. Doch bald schien er sich wieder zu fassen, und in toller, aufgeregter Lustigkeit sich unter die Andern mischend, schlug er ein neues Spiel vor. Inzwischen war der Offizier beim Kommandanten der Anstalt eingetreten, den Mantel einem Diener übergebend. Ueberrascht sprang Oberst Kobinsky von dem Sofa auf und die Pfeife bei Seite legend, rief er freudig mit einer Stimme, die im weiten Gemache widerhallte: »Alle Wetter, Simonitch, mein guter alter Freund! hätte ich dich doch eher bei den Polen, oder drunten bei den Türken geglaubt, als hier in Wiener-Neustadt! Willkommen, willkommen, alter Kriegskamerad, mach dir's bequem, da eine Pfeife, und vor allem einen guten Schluck!«
Als General Simonitch bequem in der Ecke des schwerfälligen, mit Leder überzogenen Sofas saß, sagte Kobinsky, sich zu ihm setzend:
»Willst wohl nach deinem Sohn sehen – hätte dir immer gern Nachricht gegeben, war aber schwer – die Kroaten-Regimenter waren einmal da, einmal dort, und unsere Postverbindungen gehören nicht eben zu den besten.«
»Deswegen erfuhr ich auch erst spät den Tod meiner armen Frau,« versetzte der General, und setzte, einige starke Wolken aus der Thonpfeife hinausblasend, hinzu: »Sie war immer krank gewesen – mag sein, die Trennung von dem Knaben hat ihr vollends –« er endete den Satz nicht, und fuhr fort, »ich konnte es nicht ändern, er mußte endlich fort, ich schrieb dir ja mehrere Mal darüber – du weißt – es ging nicht mehr, der Knabe mußte, in Männerzucht.«
»Ja, ja,« sagte Kobinsky, »deine Frau schrieb mir auch ein paar Male darüber in rührender Weise.«
»Ihr zu Liebe that ich ihn zu dir, meinem alten Freund, von dem ich hoffen durfte, daß er mit dem schwächlichen Knaben die Rücksichten haben werde, die seiner trostlosen Mutter zur Beruhigung dienen konnten.«
»Und die auch möglich waren, da nur wenige Zöglinge noch in der Anstalt waren und sein Rang ihm eine Ausnahmsstellung gewährte,« versicherte gutmüthig der Oberst, »die aber lediglich nur die übergroße Aengstlichkeit einer zu zärtlichen Mutter für nöthig gehalten hatte. Der Knabe ist seit zwei Jahren kerngesund und blühend wie eine Rose. Aber noch mehr als dies, lernbegierig wie Keiner, ist er bei weitem der Beste unter den Knaben, weshalb er auch gestern, da unsere große Kaiserin selbst die Anstalt inspizirte, öffentlich belobt wurde. Sie hatte ihre Freude an seinen strammen Antworten, obwohl er nicht so disponirt wie sonst war, und ungewöhnlich scheu erschien.«
»Ich sagte es ja meiner Frau,« rief erfreut Simonitch, »ich sagte es ihr ja, es werde des Knaben Glück sein, daheim konnte nichts mehr aus ihm werden, als, was Gott verhüten wolle, ein Mönch. Kann ich ihn nun sprechen?«
»Ich werde ihn sogleich in das Sprachzimmer rufen lassen, wo Ihr ganz ungestört sein könnt.« Er läutete hierauf und gab einer eintretenden Ordonnanz den Befehl, Wilmos von Simonitch in das Sprachzimmer zu beordern.
Der General verabschiedete sich für eine kurze Zeit und folgte der Ordonnanz, die ihm die Thür des Zimmers öffnete und dann abmarschirte. Die Thüre schloß sich und Vater und Kind standen sich nach zwei Jahren wieder gegenüber. Das Licht des Fensters war hinter der Gestalt des Knaben, der regungslos den Vater erwartete, welcher auf ihn zuschritt mit den Worten: »Grüß dich – mein Wilmos –« als habe ihn der Blitz getroffen, blieb er aber auf halbem Wege stehen, wie seinen Augen nicht trauend, nach dem Knaben starrend, der vortrat und niedersinkend des Vaters Knie umfaßte, mit leiser Stimme flehend:
»Verzeihung, Vater, deiner Paula.«
Mit einem fürchterlichen Fluche stieß er sie von sich: »Verworfne!« rief er, mit vor Wuth erstickter Stimme, indem er einen kleinen Dolch aus der Uniform zog, sie mit eiserner Faust bei der Schulter packend.
Furchtlos blickte ihn Paula an: »Graf von Simonitch,« sagte sie leise, »um Euretwillen gedenket der Ehre Eures Namens!«
Er warf die Waffe fort und stieß die Tochter von sich. »Betrogen,« knirschte er und stampfte mit dem Fuß auf den Boden! »Betrogen durch ein krankes Weib – durch einen elenden Knaben – und eine freche Dirne!«
»Ihr selbst, mein Vater,« sagte Paula mit tiefer bebender Stimme, »habt einen Knaben aus mir gemacht, so lange ich Euch als Spielzeug diente – die Natur schien alle Fähigkeiten und Kräfte eines Knaben in mich gelegt zu haben – da, als es Euch gefiel, sollte der Knabe ein Mädchen werden und in ein Kloster gehen, sollte auf immer einer Freiheit entsagen, die Ihr sie gelehrt – mit den ersten Worten, die sie sprach, mit den ersten Schritten, die sie ging.«
»Und sie wählte dafür die Lüge,« unterbrach sie der Graf die Arme kreuzend und mit dem Ausdruck von Verachtung herabblickend auf den Pseudoknaben, »und mit der Lüge trat sie vor die Kaiserin selbst – Tod und Teufel! kann ich es jetzt ändern und ein ganzes Geschlecht brandmarken, indem ich sie aufdecke!« rief er, auf den Boden stampfend, »und Wilmos, was ist mit ihm – dem echten, haha! und doch so unechten Wilmos Simonitch geworden?«
»Er ist in dem Kloster, dem die Mutter ihn in früher Kindheit geweiht,« entgegnete Paula leise.
Selbst zum Zorn schien die Macht gebrochen zu sein; wie gebeugt unter der Wucht des ungeheuren Schmerzes starrte der Graf, auf den Säbel gestützt vor sich hin. »Daß doch die Erde sich unter mir geöffnet hätte und mich verschlungen,« sprach er dumpf vor sich hinstarrend, »und die Himmel über mir eingefallen wären, ehe ich erleben mußte, daß der Letzte meines Stammes ein greinender Mönch geworden! Mein Gut und Stammsitz für meine Nachkommen verloren und meine Tochter eine lebende Lüge, Fluch, Fluch und dreimal Fluch der Lüge, die für dein Lebelang die reine Stirne eines Mädchens brandmarkt! – trage ihn fortan den Lügennamen, den du gestohlen – selbst im Tode lüge noch, daß die Nachwelt nicht mit Fingern deute auf das alte Geschlecht der Simonitch! Ich aber gehe dahin, ein alter Mann, mein Sohn ein Mönch, meine Tochter todt – und das Wesen, dem ich meinen Namen leihen muß – eine Lüge, die zu entlarven ich nicht die Kraft in mir fühle.«
»Vater, Vater, Barmherzigkeit!« flehte das unglückliche Mädchen, dem zum ersten Mal mit grellem Flammenschein das ganze Folgenschwere seiner That auf die Seele brannte. – Sie wurde nicht mehr gehört, längst waren die Tritte des schwerbetrogenen Vaters auf dem langen Korridor verhallt. In stumpfer Betäubung sank sie in die Knie, den Kopf in beide Hände stützend – sollte sie zu ihrer Rechtfertigung die todte Mutter anklagen, sollte sie schildern, wie sie sterbend gefleht, den Sohn vor dem verhaßten »Muß« zu retten, sollte sie den schwachen, irregeleiteten Knaben selbst beschuldigen – alle, die mitgeholfen? – pfui! sie selbst hatte die That gethan, nun galt es auch den Fluch zu tragen, der Mutter Gelübde war gehalten, der Bruder vor dem sichern Tod gerettet, was sie einmal gethan, mußte durchgeführt werden, wohl hatte der Vater recht gesprochen, Paula Simonitch, das wilde Mädchen ihrer Heimat, war für immer todt und wenn je die Lüge an den Tag kam, so war Wilmos Simonitch eine unbekannte Betrügerin gewesen, aber den Namen, den sie an jenem dunkeln Herbstmorgen hinausgetragen in die Welt, den mußte sie unbefleckt erhalten und kein Makel durfte darauf kommen. – Festen Schrittes trat »Wilmos« wieder unter seine Kameraden am heutigen Freudentag, den die Huld der Kaiserin ihnen gewährt, ein neues Spiel zu beginnen – die Komödie des Lebens hatte jetzt erst mit vollem Bewußtsein für Paula begonnen. –
»Schon wieder fort, alter Freund,« murrte Kobinsky, als der Graf sich erheben wollte, »hat es so große Eile?«
»Meine Stunden sind gezählt,« erwiederte mit übermenschlicher Fassung der Graf, blieb jedoch nach einiger Ueberlegung wieder sitzen. Noch eins – ich werde dir einige Papiere zuschicken, den Erbantheil betreffend meiner vor zwei Jahren verstorbenen Tochter Paula mit der Bitte, sie meinem Sohne Wilmos einzuhändigen, es ist sein von seiner Mutter ererbter Vermögensantheil, dessen alleiniger Erbe er ist. – Meiner Frau Vermögen war nicht unbedeutend, und diese Hälfte – über die andere Hälfte hat sie selbst verfügt – stellt Wilmos von Simonitch ganz unabhängig, sollte er wieder Jahre lang nichts von mir hören.«
»Das soll alles besorgt werden, lieber Freund,« versicherte Kobinsky ihn begleitend, »es wird wohl kein Monat vergehen, so wird die ganze Altersklasse in verschiedene Regimenter eingetheilt werden, um so bald als möglich nachzurücken. Und nun lebe wohl! nun, wo ist denn der Blitzjunge?«
»Laß nur,« wehrte der General mit von innerer Bewegung, wie es schien, erstickter Stimme, »wir haben uns schon verabschiedet!«
Einen kräftigen schönen Mann hatten die feuerigen Pferde hergeführt – eine Stunde später führten sie einen gebeugten greisen Mann hinweg, der sich fröstelnd in seinen Mantel hüllte, dem Kutscher die Zügel überlassend.