Balder Olden
Das Herz mit einem Traum genährt
Balder Olden

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Sechzehntes Kapitel

Nach schwerer Operation und langer Narkose kommen viele Stunden, in denen man nichts von sich weiß, als daß man Durstqualen leidet. Es gibt da ein weißgekleidetes Wesen, das einem Tropfen Citrone auf die Lippen spritzt oder winzige Eisperlen zu kosten gibt, danach schläft man gleich wieder ein, und niemand ahnt, ob man in diesem Pflanzenzustand Höllen durchwandern muß oder am blumengeschmückten Waldrain liegen darf.

Man bekommt viel Morphium mit Kampfer, freilich nicht so viel, wie ein Kranker von Praxmarers Gewohnheiten braucht, und glaubt oft, daß man damals gestorben sei, als die Chloroformmaske sich tiefer senkte und Hammerschläge dröhnend auf einen blechernen Sarg zu fallen schienen. Aber wenn auch das Morphium gütige Neigung zeigt, in purpurner Schwärze zu vollenden, was die Krankheitsmikroben nicht ganz erreicht, versagt dennoch das Präparat. Mit Peitschenhieben treibt Kampfer das ermattete 252 Herz zum Widerstand, man kann sich diesen Sklavenhalter nicht verbitten, und versucht man es doch, bekommt man einen derben Verweis.

»Der Herr Primarius wird schon wissen, warum er das verschrieben hat.«

Ist dieser Kampf zwischen Tod und Leben zu ungunsten eines Patienten wie Praxmarer entschieden, dann läßt das junge, zu neuer Herrschaft einziehende Leben den Enttäuschten nicht ohne Trost. Sein Durst wird gestillt, kühle Sorbetbäche rinnen den brennenden Schlund hinab, das Fieber schweigt, das ihn durch Wochen umrauscht hat. Er speist, ein paar Teelöffel voll geronnenen Beefteas nur, aber diese köstlichen Bissen verbinden einen seltsam wohlig mit vergangenen Tagen, an denen man lebendig und in Saft war. Man fragt:

»Was ist mit mir geschehen?«

»Ein kleiner Eingriff, Herr Praxmarer. Sie werden sehr rasch gesund werden, schlafen Sie nur.«

Ein derber Chirurg sagt vielleicht:

»Die Prostata hab ich herausgenommen, ganz ein schönes Präparat. Aber davon merken Sie gar nichts, wenn'S wieder bei Kräften sind. Jetzt gibt's nur eine Therapie: Schlafen und Essen.«

Danach schläft man wie ein Holzknecht, den herrlichsten Schlaf seit dem im Mutterleib, Stunden und Tage lang. Man tut den Schnabel auf wie ein Vogel im Nest, um sich füttern zu lassen, sieht 253 schattenhaft, daß irgendein Mensch am Lager steht, den man kennt, denkt nicht nach, ob er Cilli oder Felicitas heißt. Winterluft und Wintersonne dürfen herein, man hat's warm genug im Bett, der Verbandwechsel ist eine kurze Tortur, aber gleich kommt dieser balsamische Schlaf wieder, bis man eines Tages aufwacht, ganz andere Augen hat und aus dem Bett springen möchte. Man ist tausendmal gesünder, als man vor dieser Krankheit war, man möchte zupacken und den Acker neu bestellen, hätte nicht geglaubt, daß man so neu auf Erden sein kann. Jedem, der herein kommt, möchte man eine Freude machen, dem Arzt danken, die Schwester umarmen, und wenn man als braver Patient seine Umgebung beglücken kann, indem man ißt, dann tut man's unermüdlich, mit Hingabe. So herrlich ist der Tag, so voll interessanter Dinge die Zeitung, so leicht wird es sein, alles in Ordnung zu bringen, was einst verfahren war.

»Euphorie der Genesung«, Herrlichkeitswahn des Genesenden, auch wenn sie nicht lange anhält, ist das Pflaster auf erlittene Wunden, Lohn für bestandene Qual, ein Zustand, in dem zu unseren besten Taten der Same gelegt wird.

Am Morgen dieses euphorischen Erwachens, das zur Genesung gehört wie Fieber zur Krankheit, stand der Verwalter Bauert am Bett seines Chefs, gratulierte kurz und sachlich zur geglückten 254 Operation. Er hätte seinen Bericht gern hinausgeschoben, aber leider hatte er eine Meldung zu erstatten, die unaufschiebbar war.

Caspari hatte den Rest seines Kaufschillings, einhundertneunzehntausend Schilling, – eine Milliarde, einhundertneunzehn Millionen, wie man in Oesterreich zur Erinnerung an die schöne Inflationszeit sagte, – auf Feldberg exekutieren lassen, ohne Klage, ohne Warnung. Er war im Recht, Bauert hatte sich überzeugt, daß im Kaufvertrag eine Exekutionsklausel stand, die den Gerichtsvollzieher am Tag des Fälligwerdens seiner Forderung in Dienst stellte. Sechs Wochen gab es jetzt noch Frist, dann kam der Feldberg unter den Hammer, und ob er auf der Auktion mehr trug als Casparis Forderung, war äußerst fraglich. Er war nach Bauerts Ansicht ein typisches »Voluptuar«, ein Besitz, den Liebhaber kaufen, weil sie die schöne Aussicht oder die Nähe der Schnellzugsstation und des Badepublikums schätzen, aber auch unter diesem Gesichtspunkt weit überzahlt. Rein landwirtschaftlich – und zur Auktion würden höchstens ein paar Spekulanten kommen – war er kaum eine Milliarde wert. Einstweilen hatte Caspari vom Keller bis zum Dach alles versiegeln lassen, Bauert durfte kein Schwein mehr verkaufen, Herrn Praxmarers Reithosen waren sowohl gepfändet wie der Flügel der gnädigen Frau und Aennchens ausrangierter 255 Kinderwagen. Das Pfändungsprotokoll war siebenunddreißig Schreibmaschinenseiten lang. Bauert wünschte seinem Chef gute Besserung, bat, das Geld schnellstens herbeizuschaffen, und hatte nur noch zu melden, daß sonst in Haus und Hof alles gut stand, bis auf die Löhne, die er nun am ersten Februar nicht aufbringen würde. Auch darauf möge der Herr Chef bedacht sein, hier seien die Protokolle. Strammgestanden, rasch wieder beide Hände in die Hosentaschen, ab.

So, Praxmarer, jetzt hat die Euphorie, der Herrlichkeitswahn des Genesenden, ein wenig an Intensität verloren, und selbst die Nähe des Todes, die dir so lang geschmeichelt hat, ist jetzt kein Trost mehr. Es stirbt sich schlecht, so unter dem Hammer des Gerichtsvollziehers; ein Landgut, in das man alle Lebenskraft und alle Gewinne eines Lebens voll Arbeit und Entbehrung investiert hat, ist ein Stück von dir, auch wenn es nichts gebracht hat als die schlimmste Einsamkeit aus allen Einsamkeiten deines Lebens. Cilli, die vielleicht doch wieder eine Art Kameradin geworden wäre, sie und Aennchen von Tharau würden jetzt mit einem Bündel am Rücken die Halde hinab marschieren, dem Leben der Ruhelosen, dem Morgengrau im Wartesaal der Bahnstationen entgegen, während er selbst mit seinem Rucksack in einer anderen Richtung eine andere Straße zog. 256

Nach diesem Besuch war Praxmarer kein guter Patient mehr, der seinen Wärtern durch tüchtiges Essen Dankbarkeit zeigt; die erste Röte verflog, die sich in seinen Wangen gezeigt hatte, Nase und Zähne hoben sich noch stärker aus seinem Gesicht hervor, und im kurzen Krankenhausbart sah er wie ein Heiliger auf dem Marterholz aus.

Oben auf dem Feldberg aber wachten nun wieder die Habichtsaugen des bösen Wucherers, der seinen Hof verwünscht hatte, als er ihn hergab, und der unten im Dorf erzählt hatte, es sei kein Abschied auf Nimmerwiedersehen.

Diese gelben Raubvogelaugen würden ihnen glitzernd nachspähen, wenn sie davonzogen, auf zwei sich trennenden Landstraßen der Welt.

Felicitas besorgte die Telegramme an Knudsen, und was zum Denkenkönnen und Atmenkönnen nun wieder das Unentbehrlichste war: Morphium, schmuggelte sie ihm ans Bett. Knudsens Antworttelegramm: »Hier keinerlei Fonds, aber Lage keineswegs verzweifelt, abwartet Brief« kam schon am nächsten Tag, aber dazwischen war eine endlose Nacht gewesen. Jetzt hieß es warten, warten auf den Brief, drei Tage und drei Nächte nichts als warten.

Als der Brief kam, war Praxmarer zu schwach, ihn zu öffnen; als er geöffnet war, zu schwach, 257 ihn zu lesen; als man ihn vorgelesen hatte, zu schwach, ihn zu begreifen.

»Geben Sie mir Morphium!«, aber das hatte der Arzt strengstens dosiert, und vor der nächsten Spritze lagen noch Stunden der Qual. Nur ein Morphiumsüchtiger weiß, was Entbehrung ist, Verhungernde und Verschmachtende wissen es nicht, und alle Schmerzen eines Tumors in der Prostata, so gräßlich sie zuweilen sind, Nachwirkung einer Operation, Wundränderreinigen, alles ist Zeitvertreib gegen die Qual dieser Entbehrung. Ach, die Mediziner sind streng, das Brüllen und Heulen von Morphinisten haben sie oft gehört, es rührt sie nicht.

Gottlob, es kam Frau del Ayala, die Dame mit dem beruhigenden Einfluß auf Nr 74, der sonst ein Schrecken seiner Pfleger war. Hatte sie eine halbe Stunde allein mit dem Patienten verbracht, dann besserte sich alles, dann aß er und schlief und röchelte nicht mehr.

In Knudsens Brief stand, daß er längst alles liquidiert und das Resultat in vielen, von Praxmarer anscheinend nicht beachteten Briefen gemeldet hatte. Die Kommandit-Gesellschaft bestand nicht mehr, Praxmarer hatte zwei Jahre lang mit telegraphischen Geldforderungen erzwungen, daß Papier um Papier verschleudert wurde. Das hinschwindende Kapital hatte längst die fünfundzwanzigprozentigen Hypothekarzinsen des Feldberg nicht mehr getragen, 258 zuletzt war alles im Strudel dahin gegangen. Knudsen selbst lebte, schlechter als recht war, von der Miete des alten Geschäftslokals; ein Anteil an einer zurzeit völlig unverkäuflichen chemischen Erfindung war der einzige Gegenwert seiner Hunderttausend, dessen Realisierung er gern erleben würde. Aber danach sah es wirklich nicht aus, er hatte sich buchstäblich krank geärgert, leberkrank nämlich, sonst würde er auch das letzte noch tun: für Praxmarer nach Argentinien fahren und seinen Grundbesitz in den Cordilleren verkaufen. Der müsse nämlich aus einer Anlage von fünfzehntausend Peso bedeutend gestiegen sein, die Bahnlinie zur chilenischen Küste zielte schnurgerade auf diesen Punkt, er dürfte schon heut ein Vermögen repräsentieren. Aber eine rasche und günstige Liquidation sei brieflich nicht zu erzielen, obwohl der Treuhänder in Buenos Aires, der Abogado Dr. Miranda, ein zuverlässiger und angesehener Mann war. Da müßte man selbst erscheinen. Allein das Hin und Her mit zehnfach beglaubigten Vollmachten des Notars, der Polizei, der argentinischen Gesandtschaft würde die sechs Wochen Frist aufzehren.

Knudsen bedauerte sehr, daß Praxmarer im Krankenhaus lag, hoffte ihn aber auf dem Wege der Genesung. Die Tatsache, daß sein argentinischer Besitzzuwachs wahrscheinlich die unglückliche Gutsanlage wieder annähernd ausgleiche, würde ihm 259 vielleicht als Viaticum dienen. Auch er selbst hoffte, aus diesem Verkauf ausgleichsweise befriedigt zu werden.

»Hab Dank, Felicitas, hab Dank!«

Praxmarer klammerte sich an ihren Arm, der sein einziger Halt auf Erden war: »Verlaß mich nicht, bleib bei mir, Felicitas! Hilf mir denken, Felicitas, bleib hier im Hospital, fahr mit mir nach Argentinien, Felicitas!«

Ein Strom von Tränen fiel über ihre Hand, Tränen der Schwäche, die ein dankbares Opfer über die Hand der Priesterin weinte.

 

Hätte Felicitas immer die Korrespondenz mit Knudsen geführt, wäre Felicitas immer Praxmarers Ratgeberin gewesen, hätte er früher gewußt, wie schnell und exakt Felicitas' Hand arbeitete – es wäre alles anders gekommen!

Jetzt brauchte Praxmarer nur noch zu unterschreiben, brauchte gar nicht zu lesen, was er unterschrieb, und Ordnung kam in all seine Wirrnis. Eine kurze telegraphische Korrespondenz wurde in seinem Namen geführt, von der er nur die Resultate zu wissen bekam. Nach einer heimlichen Morphiumgabe, die ihn klar und rüstig machte, hörte er an, was erreicht war. Er beriet mit Felicitas, schlief ein, ließ sie abermals walten, und am nächsten Tag war ein neuer Sprung vorwärts getan. 260

Dr. Miranda, Advokat in Buenos Aires, taxierte Praxmarers Vermögen hoch, aber nicht halb so hoch, wie es in sechs Monaten sein würde, kaum ein Zehntel so hoch, wie es war, wenn über Praxmarers Gründe die Eisenbahn wirklich dampfte, wenn auf seinem Boden ein Stationsgebäude, ein Dorf aus Wellblechhäusern wuchs, ringsumher Egge und Dampfpflug das Land urbar machten. Praxmarer sollte deshalb noch nicht verkaufen, lieber den Besitz mit einer Hypothek belasten, die mühelos zur Verfügung stand. Wenn es sehr eilig war, müßte er freilich selbst kommen. Zu brieflicher Erledigung waren Formalitäten, dreifache Beglaubigung nötig, die vielleicht Wochen in Anspruch nahmen.

Eine Summe freilich, wie Praxmarer sie als Vorschuß wünschte, stand Dr. Miranda leider nicht zur Verfügung. Aber eine Bagatelle von zehntausend Peso, um die Reise zu finanzieren, kabelte er gern.

Praxmarer lachte selig und kindisch vor sich hin, Stunden lang, als seine Bank den Eingang dieser Summe bestätigt hatte; sie beglückte ihn mehr, als die Kenntnis seines argentinischen Reichtums ihn beglückt. So zermürbt war er vom Groschenelend der letzten Monate, so erniedrigt durch die Gewaltherrschaft seines Verwalters, daß er es in den 261 Schlaf hinein empfunden; das Wort »am weißen Stab« war ihm tief ins Bewußtsein gedrungen, hatte sich in sein Hirn gebrannt; der Raubvogel Caspari, dies Ungeheuer mit gelben Augen und kahlem Hals, hatte seine Träume beherrscht. Jetzt war das vorbei, es war Geld da, knisterndes Papier, das Ehrfurcht und Liebe verbreitet, vor dem die Uniformierten ihre Knochen zusammenrissen und die Hände des Verwalters aus den Hosentaschen flogen. Aus gelben Wolken löste sich das Männerhaupt des Feldbergs, Sonne umstrahlte die Hänge und Halden, sanft blökten die Allgäuer Kühe, pfeifend und schnalzend empfingen die Schweine ihren Trank, goldener Hafer floß klappernd den Pferden zu.

Praxmarers Wunde vernarbte, er aß und schlief, nahm zu und unterschrieb, was Felicitas ihm vorlegte. Er wackelte, auf ihre und der himmlisch guten Schwester Clara Schultern gestützt, durch die Korridore, zum Besuchszimmer, zur Wage.

Er schlief, unterschrieb, lachte vor sich hin, empfing Cilli und bat sie, einen Koffer zu packen, all seine Wäsche, all seine Kleider, seine wenigen Lieblingsbücher, sein Album mit Photographien vom Feldberg, von ihr und Aennchen von Tharau, den Tieren, den Knechten und Mägden. Auch die Bilder von Niëves wollte er gern im Koffer haben, das braune Lederalbum aus seinem Schreibtisch. Niëves zu 262 Pferd, Niëves im Brautstaat, Niëves auf dem Totenbett – drei arme Bildchen besaß er nur.

»Soll gar nichts von dir zurückbleiben, Ernst? Du kommst doch bald wieder?«

»Natürlich, bald! Aber die paar Erinnerungen hätte ich gern mit auf der Reise.«

»Wirst du mir nie verzeihen, Ernst?«

Praxmarer sagte mit dem kindischen Greisenlächeln, das die Zehntausend ihm gegeben hatten:

»Ich hab dir nichts zu verzeihen, Cilli!«

Felicitas streckte den Kopf ins Krankenzimmer und gab den vereinbarten Wink, den Rekonvaleszenten nicht länger anzustrengen.

Ein paar Tausend, damit Feldberg weiter lief, Cilli und Aennchen nichts entbehrten, wurden beim Anwalt in Echtach hinterlegt. Es wurde ausgeschüttet, was dringend nötig war, das Haus Ayala vor Not zu schützen, solang Felicitas ihre Zeit Praxmarer opferte. Einen kurzen Aufschub der Exekution erreichte Felicitas. Sie verstand, dem Lämmergeier klarzumachen, daß ein gesellschaftlicher Boykott ihm drohte, wenn er ganz erbarmungslos den vom Schicksal Getroffenen die Gurgel abschnitt.

Die Reise war eilig, auf dem schnellsten Prunkschiff von Genua nach Buenos Aires wurden telegraphisch Plätze gebucht und anbezahlt, aber es war eine Eile ohne Angst, es war eine schöne, tätige 263 Eile, die dem Leben noch einmal Schwung gab.

Felicitas hatte längst gelernt, Morphiumrezepte zu schreiben, die Unterschrift von Aerzten zu fälschen, in den Apotheken sicher aufzutreten. Praxmarer brauchte nichts zu fürchten, sie flog wie eine Biene aus und kam heim, die Waben zu füllen, brachte Vorrat für Wochen und Wochen ins Haus. »Kümmere dich um nichts, laß mich sorgen.« Ernst lächelte dankbar.

 

Eine Stunde lang fuhr Cilli mit, eine Schnellzugsstunde im Nord-Süd-Expreß war sie mit Ernst allein. Diskret hatte Felicitas ihr eigenes Abteil bezogen, Praxmarer lag gut im rollenden Bett, Cilli saß auf einem Klappstuhl an seinem Lager. Durchs offene Fenster herein kam frische Luft und kamen viele Bilder.

Der See kam, war wieder grünblau und bewegt, Frühling hing über seinen Ufern, Veilchen mochten schon die Auferstehungsblumen verdrängt haben.

In Johannes am Stein stand Ayala mit den Schmetterlingskindern, er sah frischer und tüchtiger aus, als Praxmarer ihn kannte. Der Zug hielt eine Minute.

»Bleib mein Freund, Ernesto«, rief er in den Zug hinein und hob die Kinder empor, damit auch sie den Abschied empfanden.

Bad Echtach war Haltestelle. Der 264 Stationsvorsteher salutierte, denn alle Welt kannte den Zweck von Praxmarers Reise. Vielleicht brachte er wirklich Millionen heim? Aennchen von Tharau stand auf dicken, nackten Beinen da, zwischen Kutscher und Kindermädchen, wurde heraufgehoben und machte dem liegenden Vater Eiei. Er reckte den Kopf zu ihr, sie reckte das Aermchen, es war ein blasses, trauriges Eiei.

Bald flog die Lokomotive am Feldberg hin, der ihren eisernen Rhythmus widerhämmerte. Dort oben blitzten die Fenster, die Fenster vom Schloß und die vom Gesindehaus. Die Winterfenster der Gärtnerei, eine gewaltige Fläche, zuckten ein hundertfach funkelndes Abschiedssignal.

Praxmarer sah durchs offene Fenster zu seinem Traumberg hinauf. Dann stürzte mit dem Schrei, den er von oben oft gehört, der Expreß sich in den schwarzen Tunnel; was jenseits dieses Tunnels kam, war fremde Welt und war kein Traumland mehr. Praxmarer verlangte ein Glas Wein, Cilli kredenzte es, sie stießen mit rotem Terlaner an. Cilli hatte manches auf dem Herzen, aber sie kam nicht zum Wort. Praxmarer sprach und sprach, sein Lächeln über dem entfärbten Gesicht. Er war beredt, wie sie ihn nie gekannt.

Lauter gute Erinnerungen nahm er mit sich! Die Kuhkälber fielen ihm wieder ein und die Jauchengrube, Aennchen von Tharau ließ er noch einmal 265 grüßen, und Cilli sollte ein Auge für die Wirtschaft haben.

»Mit der Zeit wird sie dir Freude machen, Cilli. Es gibt nichts Schöneres als Pflanzen und Wachsenlassen. Weißt du noch, wie der Hof aussah, als wir ihn übernommen haben? Und du bist kein Kind mehr, du bist jetzt lang allein gewesen, und vielleicht war das eine gute Schule.«

»Ich glaub schon.«

Zum Abschied küßte Cilli ihm die Hand, sie war doch noch ein Kind, ihr Mund lag warm und feucht auf seiner Haut. So küssen die Kinder im Dorf ihrem geistlichen Herrn die Hand.

»Tu alles für dich, Ernsterl, komm mit dem nächsten Schiff wieder heim!«

Zuletzt stand sie allein auf einem großen Bahnhof. Sie war eine schöne Frau, ihre Kindlichkeit voll Majestät. Sie trug die Nutriajacke offen; als die Lokomotive anzog, hob sich ihr Busen, der ein Kind genährt hatte, ohne zu leiden. Ihr Mund, den Praxmarers Hand noch fühlte, weich wie eine Ponyschnauze, trug einen Zug von Wehmut. Den würde das Leben leicht verwischen, ihre Augen waren ja hell wie ihre Stimme. Sie winkte, und Ernst winkte zurück, sie trennten sich wie zu einer Spazierfahrt oder wie zwei Menschen, die sich flüchtig, aber herzlich begegnet sind. 266

 

Gegen Abend lenkte Cilli mit fester Hand ihren Wagen den Berg hinauf, am Verwalter vorbei, der, beide Hände in den Taschen, »Grüß Gott, Frau Praxmarer« sagte.

Sie öffnete ihre Schränke und Laden, suchte die redliche weiße Wäsche hervor, die sie in Innsbruck von sich geschleudert, und dachte »une femme vaut autant que son linge«. So kleidete sie sich zu den versprochenen Taten ein, in derbe Strümpfe und Haflinger Schuh, den schweren Bauernrock, das feste Mieder.

»Zeigen Sie mir die Bücher, Herr Bauert.«

Mit Lächeln legte er sie vor, obwohl es ihn schon verdroß, daß Cilli am Schreibtisch »seines« Büros saß.

Sie verstand nichts von Büchern, wußte nicht, was Soll und Haben ist. Aber sie las die Zahlen, eine Stunde lang, und stellte Fragen.

Frau Bauert, die nicht aufgestanden, als Cilli ins Büro trat, warf ihre Näherei klatschend auf den Boden, rollte die Augen und winkte ihrem Mann mit den Fäusten zu.

»Beruhigen Sie sich, Frau Bauert, ich frage nur nach meinem Eigentum.«

Der Verwalter sprang aus dem abgeschabten Klubsessel, in dem er gelümmelt, als wollte er Cilli anfallen.

»Wenn Ihnen meine Geschäftsführung nicht paßt, 267 packen wir unsern Koffer und gehen unserer Wege.«

»Wenn es Ihnen nicht paßt, daß ich von jetzt ab das Regiment in meinem Haus führe, wird das auch am besten sein.«

»Wissen Sie, was der Hof uns schuldig ist?«

»Das können Sie beim Rechtsanwalt in Echtach holen. Es liegt schon dort und wartet auf Sie.«

»Das ist der Dank!« riefen Herr und Frau Bauert. Aber Cilli entzog sich ihnen.

Am anderen Tag, im Morgengrauen, ging Cilli ihre Ställe und Felder ab, ließ die Leute zum Appell antreten und ernannte den Stallschweizer zum »Mar«. Sie war eine prachtvolle Bäuerin, das hatte ihr Gesinde nicht gewußt.

»Laßt euch nicht einreden, daß hier alles auseinanderfliegt«, sagte sie. »Alles bleibt beieinander, außer Leuten, die nicht arbeiten wollen, wenn eine Frau das Regiment führt. In vier Wochen ist das Geld aus Amerika da, dann sieht kein Gerichtsvollzieher den Feldberghof wieder.«

Die Schlüssel im klirrenden Bund an der Schürze, mit straffen, eiligen Schritten, ging sie Stunde um Stunde ihr Eigentum ab, griff im Kuhstall und in der Milchkammer zu, kannte bald Ergiebigkeit und Fettreichtum jedes einzelnen Euters. Das Gesindeessen wurde besser, seit sie selbst ihre Mahlzeit aus der großen Küche bekam, die Kühe wurden runder, seit ihr Auge im Stall war. 268

 


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