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Cilli hatte ihre Eltern kaum gekannt. Der Bruder ihrer Mutter war Vormund, ein Junggeselle, der diesen armen Spatzen von Waisenkind manchmal mit großer Zärtlichkeit an sich zog, dann wieder auf geraume Zeit vergaß. Er führte das unruhige Leben der Klassenlosen, verkehrte in der »guten« Gesellschaft wie in der Bourgeoisie und in der Bohême, überall halb ein Fremder. Kam Cilli ihn besuchen, dann wurde sie einmal lauter wohlwollenden »Tantgräfinnen« auf den Schoß gesetzt und atmete Lavendel; ein andermal an die großen Busen von Direktorsgattinnen gebettet, die nach Mehlspeis dufteten und ihr Berge von Kaiserschmarrn auftischten; ein Jahr darauf durfte sie vielleicht ein Fräulein Minnerl da Costa oder Elvira Dompedelli in der Theatergarderobe besuchen, wo vier oder mehr Damen gedankenschnell die Kleider wechselten, wo es nach allem Süßen der Parfumgeschäfte roch, die Türe aufflog, ohne daß man klopfte. 101
Dort war's am schönsten gewesen; denn ging man zur Tür hinaus, durch eine eiserne Tür und einen dunklen Korridor, dann erlebte man aus dem Hintergrund einer Loge, wie jene Damen in Puder und groben Flittern das Schönste wurden, Genien, Engel, Herzoginnen! Männer, die man häßlich bemalt und in Unterhosen gesehen, waren Heldengestalten oder beschwingte Genießer, denen nur selten der Ernst des Lebens nahetrat, wenn sie zu schwierigen Passagen nach dem Taktstock des Kapellmeisters weit den Mund aufreißen mußten. In Duetten und Tänzen war Arbeit zu zweien – Engel, Genie und Beschwingter mußten gehorchen, kunstvoll ausführen, was ihnen befohlen war. Aber gleich darauf kam wieder, wenn die Musik schwieg, das süße sich Rekeln und Plappern, das leichte Fröhlichsein.
Onkel Clemens war katholisch-militärisch erzogen worden und hielt deshalb viel von einer Ausbildung fürs Leben, die ohne Zwang geschah, wichtige Dinge nie verheimlichte, einem heranwachsenden Menschen deutlich und kraftvoll die Tatsachen des Lebens zu schmecken gab. Er schickte Cilli, acht Jahre alt, nicht ins Klosterpensionat, sondern ins Landerziehungsheim, wo Mädchen und Buben zusammen aufwuchsen. Sprachen die Gräfintanten vor Cilli sehr offen von den Liebesaffären ihrer Kreise, noch offener von hygienischen Dingen und viel gynäkologischen, stellten die Damen der Industrie verhüllt 102 neugierige Fragen nach der Koedukation im Landerziehungsheim, das ihnen ein Garten früher Lust und Verderbnis schien, dann gab er Cilli danach die Erklärung von Begriffen, die sie nicht ganz verstanden hatte. Auch was auf der Bühne und hinter der Bühne verhandelt wurde, sollte sie sachlich erfassen, solange sie harmlos war. Gerade dann würde sie harmlos bleiben.
Hielt man ihm vor, dies pädagogische Prinzip sei ein Bruch mit aller Vergangenheit und müßte fehlschlagen, dann meinte er liebenswürdig: »Gehn's, schaun's doch mich an«, und beteuerte, jede Generation sei da, um der folgenden als abschreckendes Beispiel zu dienen.
Da er selbst nur einen Dachstock mit zwei Räumen bewohnte, konnte er Cilli, wenn sie in den Ferien zu ihm kam, kein Appartement anbieten. Sie schlief auf dem Diwan in seinem Wohnzimmer, das er herausfordernd »Arbeitszimmer« nannte. Die Decke war etwas schief, ringsherum liefen Bücherregale aus dunklem Tannenholz, auf denen zusammengeerbte Bibliotheken aus allen Zeiten und Fächern standen.
»Gelt, das möcht ich auch wissen, was da drinnen steht«, sagte er, wenn Cilli Wissensdurst zeigte. »Aber der Onkel Franzl, von dem ich's geerbt hab, hat's auch nicht gewußt.«
Seine Schlafzimmerwände und der Korridor, das 103 Kammerl sogar, waren mit gerahmten Bildern austapeziert wie der Wohnraum mit Büchern, da hingen nachgedunkelte Familienbilder, Stiche, die kriegerische Szenen, Paraden, Militärexekutionen darstellten, eine ganze Sammlung berühmter Napoleonstiche; dazwischen große Photographien von fremden Städten und Landschaften, alles in Schwarz-Weiß, sonst ein Durcheinander der Stile wie in der Bibliothek. Von so viel Büchern und Bildern waren die Räume voll, daß wenig Möbel nötig waren. Ein riesiger Schreibtisch mit einer großen Pendule, deren rundgeschliffenes Glas das Licht als Regenbogen zurückwarf, schwerem Bronzegerät, einer mächtigen, wappengezierten Schreibmappe, die Cilli sehr viel Geheimes zu bergen schien. Davor ein samtbeschlagener, antiker Stuhl, in dem der Onkel schmächtig unterging, wappenbestickt, aber mit einem anderen Wappen als dem der Schreibmappe. Sonst standen nur Tischchen und kleine Polstersessel herum, die Wohnung war auf Liegen eingerichtet. Er selbst hielt sich auf der breiten Chaiselongue mit dunkelroter Decke oder in dem altfranzösischen Prunkbett auf, das den halben Raum des Schlafzimmers füllte. Auch wenn er Gäste hatte, lag man, vier auf der Chaiselongue, die andern im Bett. Abgetretene Teppiche deckten beide Räume, den Korridor, waren so groß, daß sie an den Wänden gerollt liegen mußten. Sie dämpften jeden Schritt und 104 ließen kein Geräusch aus dem unteren Stockwerk eindringen. Ueber dem Bett wie über der Chaiselongue hing altes Weihwassergerät, in das schwache elektrische Birnen montiert waren; brannten nur sie, dann schwebte über der Wohnung, an sich schon dem Kabinett eines Dr. Caligari ähnlich, berückend-heimliche Dämmerung; durch das Atelierfenster, das eine ganze Wand bildete, schaute gelbliches Straßenlicht herein, beglänzte die triste Stille einer Vorstadtallee.
Das Kind Cilli hatte diese Behausung eines galant-verschlampten, sein Leben selbst in Dämmerung tauchenden Onkels noch nicht ganz verstanden; aber der dreizehn-, vierzehn-, fünfzehnjährigen Cilli gab es nichts Höheres als diesen Dachstock im letzten Vorstadtviertel von Innsbruck. Da war Geheimnis, da war Welt, da war alles schöner und klarer zugleich, war ein Onkel und Vormund, der ihrem Ideal vom Manne nahkam. Wenn Cilli, den Kopf an seine Achsel gedrückt, auf der Chaiselongue lag, nur im Licht der Weihwasserlampe, durfte sie nach allen Dingen und all seinen Erlebnissen fragen, – er hatte Zeit, das herrliche an diesem Onkel-Mann war, daß er Zeit hatte!
Ab und zu verbrannten sie einen Kiefernnadelzweig, davon war immer ein kleiner Vorrat im Haus. Sein Duft gehörte nur in dies Zimmer und durfte niemals ganz entschwinden. Ab und zu stand Cilli 105 auf und zog den dunklen Vorhang von einer Nische, die als Junggesellenküche diente. Man durfte nur Tee und Eier kochen, sonst roch es nach Küche; natürlich auch Kaffee oder Grog, das gab orientalisch wohltuende Düfte. Aber Cilli trug immer kleine Delikatessen zusammen, hielt auf Vorräte, damit man nie Hungers wegen das Caligari-Kabinett verlassen mußte.
»Bleib liegen, Onkel Clemens!«
Sie trug alles zusammen auf ein marokkanisches Bänkchen am Lager, streckte sich wieder neben den Onkel und fütterte ihn.
Beim letzten Bissen schon drängte sie: »Jetzt erzähl weiter!«
Sein Leben war unerschöpflich; all seine Lieben konnte sie aufzählen und war stolz, daß die Reihe noch lang nicht zu Ende ging. All seine Reisen kannte sie, er war ein bißchen Marineoffizier und ein bißchen Konsulatsbeamter gewesen, hatte überall, wohin er getreten, mehr Seltsames erlebt als andere Menschen.
»Du bist doch sehr reich, Onkel Clemens?«
»O ja, so reich bin ich schon, daß ich nicht arbeiten brauch.«
Ein wenig Pension, ein wenig Zinsen aus verschüttetem Familienbesitz, sonst war er »der Flaneur« von Innsbruck, der einzige, der dies Handwerk verstand. Er kannte alle Menschen und hatte überall 106 Zutritt, hatte Beziehungen bis zu dem bißchen »hoch hinauf«, das es im zerstörten Oesterreich gab, galt überall als weltkundiger, redlicher Mann.
Er war nicht hinter dem Verdienen her, nahm nur mit Zurückhaltung, was durch Zufall kam, wenn man zwei Leute, einen vom Sirius und einen vom Mars, zu einem Geschäft zusammengebracht, wenn man als Schiedsrichter einen Prozeß vereitelt oder den Theaterdirektor durch einen Tip vorm Ertrinken gerettet hatte. Antiquare und Kunsthändler achteten ihn als Experten. In Massen kam gerade aus Schlössern und Patrizierburgen der schöne alte Hausrat, kamen Porzellan und Silber, Bilder und Teppiche auf den Markt, mit Tränen und Flüchen beladen. Er beriet Käufer wie Verkäufer, kannte und liebte jedes edle Material und war bei diesem traurigen Handel unentbehrlich für beide Parteien. Manchmal geschah, daß er eine Entdeckung machte, daß ein Schrank oder Bild zehnmal mehr trug, als der Besitzer erhofft hatte. Dann zeigte man sich dankbar, Cilli bekam ein neues Kleid.
Unter seinen Geliebten gab es selten eine, in die Cilli nicht gleich verliebt war. Sie wußte, daß man diskret sein muß, und war viel diskreter als Onkel Clemens und seine Freundinnen selbst.
»Ein klein bissel erinnert sie an die Margot vom vorvorigen Jahr, aber gescheiter, glaub ich, und so entzückend lieb ist sie mit mir. Glaubst du, daß ihr 107 Mann was merkt, Onkel? Gelt, wegen sowas duelliert man sich nicht mehr, heutzutag?«
Kam sie in eine lebhafte Epoche, in der zwei oder drei Freundinnen zugleich sein Leben verschönten, dann hatte sie viel zu tun, zu verstecken, am Telephon Romane zu dichten, vor allem: ihn zu beraten.
»Schaff die Tant' Lilli ab, Onkel! Ich mag sie schon gern, aber schrecklich eifersüchtig ist sie, und das mag ich bei dir nicht. Sie soll dich so lieb haben, wie du bist, oder gar nicht.«
Onkel Clemens hatte kein Badezimmer, nur eine große Gummiwanne. Seine Zugeherin, ein buckliges Kind, nicht viel älter als Cilli, schleppte morgens einen Eimer heißes, einen Eimer kaltes Wasser heran.
»So viel ein lieber Herr, der Herr Onkel«, vertraute sie Cilli an. »Wenn man kommt, wenn man geht, immer ›Grüß Gott, mein Kind‹. Immer ›mein Kind‹, und nie zankt er, wenn's einmal Scherben gibt, und alles, was stehn bleibt vom Essen, g'hört mir.«
Wenn er im Tub kniete, hager wie ein Bub, durfte man ruhig ein- und ausgehen, auch im Nachthemd auf dem Bett sitzen und warten, bis man selbst an die Reihe kam. Aus einem breiten, hölzernen Tiegel, mit englischer Seife ausgegossen, schlug Onkel Clemens mit einem gewaltigen Pinsel Schaum und seifte sich, bis er wie ein Schneemann 108 aussah, dem leider die Beine abgeschmolzen sind. Er rasierte sich ohne Spiegel in zwei Minuten, übergoß sich aus einem mächtigen Schwamm mit lauwarmem Wasser, zuletzt kam ein eiskalter Guß. Dann wurde ein bißchen gemüllert, dann kam ein bunter, prächtiger Bademantel, in dem er wie ein Wüstenkönig aussah, ein Araber-Scheik, dann rief er zum Fenster hinaus: »Achtung, Wasserfall!«, und sein Bad klatschte über die Blumenbeete.
Hatte Onkel Clemens jetzt seinen Tee mit Toast und Jam am Bett, dann stieg Cilli in die Wanne; es tat ihr leid, daß sie sich nicht zu rasieren brauchte, so schön war es, alles zu tun, was er getan, den Mantel aus schäumender Seife um sich zu schlagen, die warmen Wassergüsse – und dann, von seiner Hand, die fürchterliche, kalte Dusche zu nehmen. Müllern wie er, ein buntes Gewand wie er, Tee und Toast und Jam im warmen Bett!
Schon mit Fünfzehn wurde Cilli manchmal für Onkel Clemens' Freundin gehalten und erglühte in Seligkeit. Sie spielte nachts »ich fürcht mich, es hat so gegauzt, nein, geröchelt« und flüchtete in sein riesiges Bett, in dem es bei weit offenem Fenster nach Mann, nach Seife und kölnischem Wasser roch. Am schönsten war das in den Weihnachtsferien, wenn draußen Frost in den Bäumen knarrte und das Zimmer bei offenen Fenstern kalt wie ein Schneehaus war. 109
»Du wärmst gut, du wirst mal eine brave Frau, Cilli.«
»Und du bist überhaupt ein Ofen von Onkel! Ich weiß nicht, wie Papa und Mama ist, aber Onkel ist das Wärmste, was ich mir denken kann.«
Cilli ging immer mit offenen Zöpfen und ohne Hut, strahlend von jener Sauberkeit kräftiger Menschen, die sich sehr viel nackt bewegen. Im Sommer ließ er sie ganz transparent gehen: »Es macht nichts, wenn man die Anzahl deiner Beine feststellen kann«. Er kaufte ihr Wäsche, wie kaum ein anderes Schulmädel trug, statt ethischer Maxime lehrte er: »Une femme vaut autant que son linge«. Im Winter sorgte er für eine Pelzjacke, wie sie nur Damen haben, Strümpfe aus Kamelhaar und Hosen aus Seidenwolle; dazwischen, die nackten Knie, waren manchmal blaurot, aber der Frost tat nicht weh. Vom Hemdchen bis zum Pelz war alles von ihm beraten, ausgesucht, voll vom Duft seiner Seife und seines kölnischen Wassers.
»Wirst du nie heiraten?« fragte sie manchmal.
»Ich glaub, nie.«
»Warum nicht?«
»Weil ich ein Onkel bin.«
»Und wenn ich erwachsen bin?«
»Das erlaub dir nie, du Fratz! Da kannst du was erleben.« 110
War Cilli allein außer Haus gewesen, dann hatte sie jedesmal phantastische Dinge erlebt.
»Also ich hab doch heut früh gesagt, heut passiert was!«
Die Elektrische war plötzlich stehen geblieben, sie saß ganz allein drin und dachte an nichts – da sprang der Fahrer ab, und wo er gestanden, schlugen mannshoch die Flammen empor. Sie wollte zum andern Ausgang flüchten, da brannte es auch . . . Vorn und hinten alles in Flammen.
»Da warst du also rettungslos verloren?« fragte er trüb.
Sie hatte sich festgelogen, konnte nur noch piepsen: »Ja! Aber dann . . .«
Ein Automobil hatte auf einen Hund gezielt, »richtig gezielt, weißt du, aus Gemeinheit!« Sie hatte den Hund gerettet, war aber selbst überfahren worden. Danach hätte man den Chauffeur fast gelyncht, bis sie für ihn bat.
Der Unfall hatte Spuren hinterlassen, ein Loch im Strumpf und ein Stückchen blutiges Knie, diesmal gab's keinen Zweifel.
Man behauptete, daß Cilli mit fünfzehn Jahren genau so klug und gebildet sei wie Onkel Clemens, was für einen Mann von siebenunddreißig wenig bedeutete, aber sehr viel für einen Backfisch. Nur daß er der Führende blieb: in Politik, Literatur, Theater und ganz besonders in Dingen der 111 Menschenkenntnis pflichtete sie ihm bei, nachdem sie lang genug widersprochen hatte. Natürlich gab sie nie zu, daß er recht hätte, – nach langer Diskussion wechselte sie einfach den Standpunkt, handhabte seine Argumente gegen ihn und hatte alles selbst gefunden. Sie nahm seine eben gelesenen Bücher mit ins Landerziehungsheim, sammelte seine Zeitschriften, blieb in seiner geistigen Atmosphäre, auch wenn er Wochen, ja einen Monat lang nicht schrieb. Tauchte sie wieder auf, besann er sich ihrer wieder, dann war es schön, daß sie geistig Schritt gehalten, auch ohne Hilfen. Von den Stunden im Pensionsbett, die sie durchweint hatte, weil kein Brief, kein Brief, kein Wort von ihm kam, sprach sie nicht. So war Cillis Kinderzeit hingegangen.
Mit sechzehn hatte Cilli sechs Mittelschulklassen absolviert, Schulpreise im Schnellauf über dreihundert Meter und im Kunstfahren auf dem Eis erkämpft, konnte tanzen und ein klein wenig lauter singen als der Durchschnitt ihrer Mitschülerinnen. Da Onkel Clemens, dieser einzige Mann von Bedeutung, sich nie zur Autorität erklärt hatte, gab es für Cilli überhaupt nichts dergleichen; sie sprach mit ihren Lehrern von Gleich zu Gleich, kannte Bücher, die keiner von ihnen gelesen hatte, und hielt ihrem höchst liberal gefärbten Weltbild ein eigenes, sozial-anarchistisches so selbstverständlich entgegen, daß man dies Kind mit offenen Zöpfen und nackten 112 Knien, dies echteste Defregger-Mädel, zu fürchten begann.
»Das war nicht ungezogen! Nur denke ich über Disziplin anders als Sie, Herr Direktor«, war etwa ihre Entgegnung, wenn sie getadelt wurde. Es klang nicht frech, wenn sie es sagte – ihre Frühreife war vielleicht echt? Fast ohne Interpunktion, mit vielen orthographischen Fehlern und unfertiger Hand schrieb sie ja Aufsätze, die ein gebildeter Mann von extremen Ansichten hätte schreiben können. Aber die anderen Kinder, vor allem schwächer begabte Lehrer, verstanden das nicht. Als sie anfing, einen Schülerrat zu konstituieren, zur Delegierten gewählt wurde und den Direktor zu einer Konferenz über »dringende Reformen im Geschichtsunterricht« einlud, schrieb er an den Vormund, selbst sein Institut, auf absoluteste Freiheit und individuellste Entwicklung gestellt, sei für dieses Mädchen zu eng geworden.
»Das Theater kenn ich schon, Onkel Clemens, dort gefällt mir's am besten.«
Er war dagegen, denn ihre Mutter wäre sicher dagegen gewesen, die Braunsburgs würden ihn steinigen.
»Was gehn dich die Braunsburgs an? Außerdem gibt mir keiner was, sie haben ja selbst nichts.« 113
»Ein paar Jahre Studium, irgendwas Praktisches, Cilli?«
»Bis mein Gerstel aufstudiert ist? Viel kann's doch nicht mehr sein?«
Es war nicht mehr viel und nie viel gewesen, aber das ging sie nichts an. Zusammen würden sie schon durchkommen. »Zwei Unkrauteln wie wir zwei verderben schon nicht.«
»Eh ich dir auf der Tasche lieg, geh ich Stein klopfen.«
Sie hakelten zum erstenmal, dann gab er nach, schnell und galant vertauschte Cilli die Waffen.
»Natürlich hast du recht, Onkel Clemens, absolut! Etwas lernen muß ich schon, aber dafür bleibt mir der ganze Tag, und wenn ich mir abends das Brot verdiene, hab ich ein bißl mehr Geld fürs Studieren. Du hast wieder so recht!«
Zögernd und arm an Gegengründen, ließ er's zu.
»Aber eine Bedingung, Cilli: nicht in den Wirtshäusern essen, kein unregelmäßiges Leben! Das verschlampt, das macht garstig. Du wohnst in einer guten Pension, machst dir einen Stundenplan, fehlst bei keiner Mahlzeit!«
»Was?«
Sie war bleich wie ein Taschentuch.
»In einer Pension wohnen?«
Das Kabinett des Dr. Caligari war ihr Zuhause, nach dem sie sich immer gesehnt; deshalb war sie 114 glückselig aus der Schule geflogen, deshalb schien das Leben »draußen« so kanten- und mühelos, deshalb, deshalb alles . . .
»In einer Pension . . .?«
Kluge Leute befehlen nie, sie argumentieren: als Kind konnte man auf Onkels Diwan zuhause sein, die Ferien über, konnte aus dem Handkoffer leben. Aber eine junge Dame . . .
»Ja, bin ich denn erwachsen!« schrie sie mit entsetzten Augen. Das war ja, was sie ganz weit weg fürchtete; das war seine einzige Drohung gewesen: sie könnte was erleben, wenn sie sich je erlaubte, erwachsen zu sein.
»Wirfst du mich raus, weil ich zu alt bin?«
Ueber die Ferien oder auf die Dauer, das war nicht dasselbe. Man geht sich auf die Nerven, wenn man immer zusammenhockt?
»In der Schulgemeinde hab ich auch keine Dreizimmerwohnung für mich allein gehabt!«
Dann »die Leute« . . .
Die Leute gingen sie gar nichts an und ihn auch nicht. Wenn er aber nach denen schaut, soll er sie adoptieren, in Gottes Namen; oder, als letztes:
»Dann nimm mich eben in deinen Harem auf! Du hast nur Angst um deinen Harem! Wenn ich durchaus erwachsen sein soll, geht das ja ganz leicht . . .«
Endlich war sie doch in einem weißen Zimmer 115 untergebracht, nah beim Theater, aber viel zu weit von ihm. Eine Frau Pastor hielt diese Pension, in der man vorzüglich aß, eine fast berühmte Küche! Onkel Clemens abonnierte sich für einen Monat auf den Mittagstisch, es war keine Spur von Trennung.
»Diese Wirtin sieht aus, als wollte sie mich vergiften. Dies Zimmer ist mein Sarg!«
Im Augenblick fand sie hundert Klagen. »Sowas wie diese Pension hab ich tatsächlich in meinem ganzen Leben nicht gesehen.«
Er gab ihr zwanzig Schilling, damit sie immer ein bißchen Taschengeld hatte, verbot ihr, sich von irgend einem Menschen, Mann oder Frau, auch nur auf der Trambahn freihalten zu lassen, gab ihr einen Kuß auf die schrecklich gerunzelte Stirn und ging; mit schlechtem Gewissen, denn im Innersten kam er sich grausam vor.
Als er um Mitternacht heim kam, stand ein Auto vor dem verschlossenen Gartentor, darin saß Cilli mit ihrem Handköfferchen.
»Es hat gegauzt und geröchelt, ich bin vor Angst fast gestorben.«
Sie gab dem Kutscher die Zwanzigschillingnote, schlief auf ihrem Diwan wie ein junger Vogel im Nest. Das wiederholte sich ein paarmal; dann fuhr er sie im selben Auto gleich wieder in die Pension zurück, saß an ihrem Bett, bis nichts mehr 116 gauzte und röchelte, weil das müd geweinte Kind in Schlaf gefallen war, Selbstmordpläne im Kopf, seine Hand in ihren Händen.
Als »Cilli Stuckmann« – alle Welt wußte doch, daß sie eine Braunsburg war – zum erstenmal auftrat, war Sensation im Theater. Es gab eine Revue, nach bescheidenen Innsbrucker Finanzen den großen Weltstadt-Revuen nachgeschneidert, und Stern der Figurantinnen war natürlich dieser Ausbund von schönem Kind. Man hatte sie ziemlich gründlich entkleidet, was sie kaum bemerkte, denn in der Schulgemeinde wie bei Onkel Clemens war sie an Nacktsein gewöhnt. Weil sie ein paar Worte sprechen, ein paar Töne trällern und ein paar Schritte solo hüpfen durfte, stand sie auf dem Theaterzettel: »Ninette-Cilli Stuckmann«.
Natürlich war sie beklommen, deshalb bewegte sie sich so feierlich, sprach und tanzte so ernst, daß ihre Nacktheit etwas von edlem Kult bekam. Sie war größer als die anderen Mädchen im Chor, ihre Augen, die nicht den Kapellmeister, sondern Onkel Clemens im dunklen Parkett suchten, waren nicht die Augen einer Ninette, fast die einer Iphigenie. Von Bühnentalent verriet sich keine Spur, nicht einmal ein Versuch, etwas anderes als Cilli zu sein. Sie war nur da, ein ernstes, edles Kind, das sich in seiner Reinheit zeigte.
»Nehmen's ein bißl Sprechunterricht, Baroneß«, 117 sagte der Direktor. »Wir versuchen es mit einer ernsten Rolle, sobald wie möglich.« Cillis einzige Antwort:
»Zu allen sagen Sie ›du‹, nur zu mir nicht!«
Für Innsbruck war »Frühlings Erwachen« noch ein Wagnis. Aber wenn dies feierliche Mädchen aus einer der besten Familien des Landes auftrat, würde es ein geringeres Wagnis sein. Cilli las das Stück und war selig, denn auf jeden Fall, ob Wendla, Ilse oder nur ein Nebenröllchen: sie hatte ein Kind zu spielen! Sie studierte eine Woche lang sprechen, gehen, lernte eine Rolle nach der andern aus »Frühlings Erwachen«; aber nicht bei einem Schauspieler sondern bei Onkel Clemens, der mehr davon verstand als die Fachmänner. Abends trat sie als Statistin oder Dienstmädchen auf, bekam einmal Beifall auf offener Szene, der nur ihrer Jugend und Lieblichkeit galt. Sie schloß Freundschaft mit den kleinen Kolleginnen, ließ sich von alten Mimen küssen und anpatschen, ohne davon berührt zu werden.
»Jetzt hab ich doch einen Beruf und verdien mir mein Brot. Siehst du, wie recht du gehabt hast, Onkel Clemens! Und einen Beruf, in dem ich mit meiner Ausdauer alles erreichen kann!«
Eines Tages erschien sie ein bißchen grünlich im Kabinett des Dr. Caligari, zitterte, als sie den Tee servierte, probierte schlecht und warf sich bald 118 ermüdet auf den Diwan. Aber so gern sie Abenteuer beichtete, – diesmal war nichts passiert.
»Da tut's mir ein bißl weh, das ist alles.«
Sie war bei Glatteis ausgerutscht und hatte sich mit einem hörbaren Ruck auf die Straße gesetzt, recht energisch auf den Allerwertesten. Die Leute hatten gelacht, weil sie so verdutzt da saß, eine Kollegin hatte ihr auf die Beine geholfen, und dann war sie zu ihm heraus gelaufen, studieren.
»Ich weiß nicht, Cilli, du gefällst mir nicht.«
Sie erklärte sich bereit, ausnahmsweise nicht ins Theater zu gehen, sondern die Nacht unter seiner Aufsicht zu verbringen. Aber daraus wurde nichts; als es Zeit zum Theater war, fuhr er sie in die chirurgische Klinik, ein grünlichgelbes, schweißbedecktes Kind, das in sein Taschentuch Galle brach, weil nichts mehr im Magen war. Rückenmarkserschütterung wurde das Ende von Cillis Bühnenlaufbahn.
So fing es an: zwischen Eisbeuteln liegen, Fenster verhängt, ein Kruzifix am Bett und Weihwasser darunter, ganz allein, auf Tage und Wochen kein Buch, kein Besuch! . . . Die schmerzhafte Mutter schaute von der Wand herab; wenn Cilli Fieber bekam, stieg sie aus dem Rahmen, trug ein dunkles Klostergewand, tröstete, kühlte, tränkte. Ein Jüngling kam oft ans Bett, weißgekleidet, sehr sanft und 119 weise. Das Brechen hörte auf, und alles war schön. Nur manchmal gab es einen Schock, die Tür flog auf, man schrie vor Angst, vier Männer in den Kitteln von Totengräbern kamen polternd herein, standen ums Bett, einer fragte, donnerte Kommandos, die andern nickten unheilvoll. Aber unter den Vieren war einer ja der sanfte, weiße Jüngling, der strahlte sie an. »Grüß Gott, Baroneß« im Chor, – dann verlor sich der Spuck.
So vergingen die Fiebertage, dann wußte man, daß die schrecklichen Männer »Visite« hießen, der Donnerer ein Professor war, der Sanfte Assistenzarzt Dr. Mühlgrabner; daß die Madonna nicht aus dem Rahmen kam, sondern durch die Tür, Schwester Hedwig hieß, eine Klosterfrau war. Aber diese Wirklichkeit nahm nichts von den Gesichten der Fiebernächte, sie gab noch dazu, denn Schwester Hedwig wurde Cillis erste, angebetete und mit Inbrunst geliebte Freundin. Sie war es gleich, ohne Tasten und Einander-Kennen-Lernen, als Cillis Denken wieder klarer wurde.
»Wenn sie nur Zeit hätte, wenn sie nur einmal Zeit hätte« betete Cilli und läutete oft, verlangte Unnötiges, ließ die Angebetete laufen und warten, nur um sie nahe zu wissen. Auf ihre seltenen freien Stunden aber legte Cilli völlig Beschlag.
Diese Klosterfrau war Siebenundzwanzig und wußte nichts, ahnte nichts von der Welt, vom See und 120 den Bergen, Wettlauf und Sozialismus, freien Schulgemeinden und Caligari-Kabinetts. Eine Bibliothek konnte sie sich nicht vorstellen, Republik war ihr ein verwaistes Land, dessen Kaiser, dem Volk zur Strafe, gegangen war, ein in Sünde gefallenes Land, das vaterlos seine Buße tut. Männer waren Aerzte oder Patienten – unter einem gesunden Mann, der nicht Arzt war, konnte sie sich wenig vorstellen. Er stand halt zitternd draußen, wenn operiert wurde, oder er kam mit Paketeln und Blumen, auf Zehenspitzen, ans Bett seiner Frau. Priester waren keine Männer, sondern einfach Geweihte des Herrn.
Theater: das gab es nicht, und das faßte sie nicht. Sich verkleiden tat man doch nur zum Karneval, aus Jux. Es war ein unfrommer Jux, aber was man draußen sah, durch die Krankenhausfenster, war oft unfromm und häßlich. Jedoch: sich als Beruf vermaskieren, heut als Bauernmädel und morgen als Engerl, Auswendig-Gelerntes sprechen wie in der Kommunion oder früher im Unterricht, etwas vorstellen, was man ganz und gar nicht war! . . . Nein, da mußte sie noch oft zuhören, bis sie das glauben konnte.
Oft sagte sie »der Jud« und bekreuzte sich; es stellte sich heraus, daß »Jud« ein frommeres Wort für den Teufel war. Cilli war mit jüdischen Kindern in die Schule gegangen, ihr Theaterdirektor war auch 121 ein Jude. Die Schwester bekreuzte sich: »Dann war das eine Teufelsschul und ein Teufelstheater?«
Cilli tat ihr leid, weil sie durch solche Verderbnis gegangen. Aber als sie erfuhr, daß der Bankdirektor Wiener und die liebe Frau Henkelsheimer, die sie gepflegt hatte, wahrscheinlich – nein, ganz sicher, auch Juden gewesen, dachte sie anders. »Du meinst halt Israeliten, Cilli, wo die Männer beschnitten sind. Geh, du erschreckst einen ja.«
Schwester Hedwig hatte nie ein weltliches Buch gelesen und würde nie eins lesen dürfen, soviel Nachtwachen sie getan, so viele Bücher auf den Nachtkasteln ihrer Patienten lagen. Ihr Orden war gar streng, sie hatte auch kein Verlangen danach. Eine schöne Frau Gräfin, die sie gepflegt, hatte einen Herrn Dichter zum Bruder, ein lieber Herr, der hatte ihr ein Büchel von sich schenken wollen, weil sie brav war – aber nur, wenn sie's auch las, es stünde nichts Unfrommes drin. Das hatte sie nicht versprechen dürfen, es wär halt doch eine Sünde gewesen, sie hätt's beichten müssen.
Cilli riß die Augen weit auf, wenn sie vom Leben der Klosterfrauen hörte. Nie ein Spaziergang, nie ein Fest, kein Geschenk, kein Heller eigenes Geld, jede dritte Nacht Dienst, dann zwei Nächte mit je sechs Stunden Schlaf! – Das addierte sich: sechzig Stunden Wachsein, davon fünfzig Stunden Dienst, auf zwölf Stunden Schlaf . . . 122
Sterz zum Frühstück und Suppe zum Mittagessen, aber zuschauen, wenn die Patienten Hühnerbrust aßen, und ihnen die goldenen Orangen schälen, pressen . . . Kein Bonbon und keinen Apfel zum Geschenk nehmen, wenn's einem auch aufgedrängt wird, weil's Sünde wäre wie Büchellesen und Zeitunglesen, sich bei der Nachtwache in den Lehnstuhl für Besucher setzen, unfrommen Gedanken nachhängen oder mit den Kranken ungeduldig werden. Das war Märtyrerleben, heilige Selbstaufopferung. Von allen Organen und Funktionen des menschlichen Körpers sprach Schwester Hedwig wie die draußen von Blumen und Schmetterlingen; sie war als Operationsschwester und im Hebammendienst ausgebildet, kannte keine Umschreibung, nur deutliche, medizinische Worte. Cilli lernte Gynäkologie in vollen Zügen, denn Geburt, Frühgeburt, Sturzgeburt, alle Dinge im Umkreis der Fortpflanzung waren hier natürlich und alltäglich. Von dem, was einer Geburt vorausgeht, von Zeugen und Keimen, wußte eins der Mädchen nicht mehr als das andere. Es wäre sündhaft gewesen, daran zu denken.
»Ist es wahr, daß man euch die Haare abschneidet?« Rasch nestelte Schwester Hedwig an ihrer hart gestärkten, weißen Haube. Ihr Gesicht war in diesem weißen Rahmen ein Engelsgesicht, rein und steinern-bleich die Haut, die Augen blaue, schnelle Lichter, der Mund ein rotes Beet um weiße Blüten. 123
Sie nahm die Haube flüchtig ab, blondes Haargefussel, dünn und verkümmert, lag auf einer farblosen Schädelhaut! Dies schöne Haupt war fast ein Totenkopf. Da weinte Cilli, die Schwester knüpfte die Haube zurück und wollte trösten, sie lagen Arm in Arm und weinten beide; sie küßten sich auf die Augen, küßten Mund gegen Mund, dann kniete Hedwig an Cillis Bett wie in der Kirche, aber Cilli küßte der Knieenden beide Hände, hundertmal vielleicht, wusch sie mit ihren Tränen und trocknete sie mit ihrem Haar.
Schwester Hedwig war eine Heilige, die bald zur Ewigkeit eingehen würde, schuldlosen Herzens und ohne die Welt zu kennen. Alle Hospitalklosterfrauen starben früh, es wurde kaum eine mehr als Dreißig; an Tuberkulose die meisten, viele an Anämie, die wurden gar nicht krank, nur müd und welk. Aber eine kurze Zeit vorm Sterben durften sie dann noch heim ins Ordenshaus, durften nichts mehr tun und hatten fein Zeit. Das war schön, denn die er am liebsten hat, nimmt Gott früh zu sich, läßt sie nicht in Anfechtung fallen. Sie lagen jeden Tag auf Knien im Gebet, früh morgens, eh es licht wird, mittags nach der Suppe und abends, wenn die Sonne niederging. Nichts auf Erden konnte schöner sein als die großen Wachskerzen am Altar, Weihrauchduft und die Orgel. 124
»Darf ich auch hinein, wenn ich aufstehen kann, Hedwig?«
»Jesses Maria und Josef, bist du nie in der Kirchen gewesen? Gleich hol ich den Hochwürden!« – –
Es war bitter für Onkel Clemens, daß er einwilligen mußte, die evangelische Nichte zum Katholizismus übertreten zu lassen. Sie war sehr krank gewesen, sagte der Prälat; ihm schien, sie habe ein Gelübde getan, als sie sich dem Tode nahe glaubte.
»Die Kirche dringt nicht in Sie, Herr Vizekonsul außer Diensten, aber es wäre dem Kind eine große Erlösung.«
Der erste Besuch wurde erlaubt, aber er durfte nur fünfzehn Minuten dauern und durfte nicht aufregend sein.
Aufregend wirkte Onkel Clemens nie, auch wenn ihm selbst das Herz bis in die Halsadern schlug und seine Hände zitterten. Was hatten zwanzig Tage aus seiner lustigen Cilli gemacht!
Eine Verklärte begrüßte ihn und schlug das Kreuz über seine Stirn. Wachsweiße Hände falteten sich, dies Bauernmädel aus Tiroler Blut wollte nichts mehr von ihm, nichts als die Erfüllung einer einzigen Bitte:
»Erlaub's, Onkel, geh, sei gnädig. Ich muß vieles gut machen, ich muß heimkehren in den Schoß der Jungfrau Maria.«
Nein, es gab kein Halten, jeder Aufschub war 125 Sünde und konnte Verdammnis werden. Hochwürden selbst meinte, mit Beten und Warten sei vieles getan, wenn der Herr Onkel Bedenken hätte. Strenge Selbstprüfung sei dem Herrn wohlgefälliger als ein jäher Schwur, den sie vielleicht später nicht streng genug hielte. Da sie Rekonvaleszentin war, von Lebensgefahr keine Rede . . .
Aber Cilli packte das Entsetzen:
»Hochwürden, verstoßen Sie mich nicht!«
Sie war so überzeugend, füllte die letzten zwölf Minuten der zugestandenen Aussprache ganz mit ihrem Bekenntnis: wer so viel Zeit seines Lebens gottlos verloren hatte wie sie, durfte nicht eine Stunde mehr verlieren, da er einmal den Ruf vernommen. Es konnte für sie nur ein Ziel geben, als Laienschwester im Krankenhaus Dienste zu tun, demütig mit Eimer und Besen, in der Kirche weit hinten zu knien, im Chor ganz leise mitzusingen. Nur ein Leben wie Schwester Hedwigs Leben war lebenswert, und jedes andere war ewiger Tod, das hätte sie immer dunkel gefühlt. »Bin ich nicht eine Braunsburg?« War nicht ein Heiliger aus dem Blut der Braunsburg hervorgegangen, Hochwürden möchte nachschlagen, wie er geheißen, und wann er gelebt hat; immer war ihre Familie streng katholisch gewesen, vor wenig Jahrhunderten erst hatte der eine Zweig sich zum Protestantismus verirrt. »Du verstehst mich nicht, Onkel Clemens, du bist ein 126 Libertin!« Sie verargte es dem Onkel nicht, daß er ein Libertin war, ihm war die Gnade versagt geblieben; auch er lebte seiner Ueberzeugung und tat Gutes, wie er es verstand. Aber da er es war, durfte er auch ihrer Ueberzeugung und ihrer Berufung keinen Zwang auferlegen.
»Das heißt doch liberal, daß man jeden seinen Weg gehen läßt?«
»Darf ich dir auch die Hand küssen, Onkel Clemens?« fragte sie, als Hochwürden sich verabschiedet hatte. »Küß mich auf die Stirn, bitte, du bist immer gut zu mir gewesen; aber mich laß nur deine Hände küssen. Ich will mich demütigen vor Gott und auch vor dir, vor jedem Stein, vor jedem Tier, vor jedem Sandkorn, denn in allem ist Gott.«
Nach kurzem Unterricht in den Glaubensartikeln wurde Cilli katholisch getauft, dicke brennende Kerzen ums Bett, der erste süße Weihrauchduft eigens für sie bereitet, ein goldnes Kreuzchen an ihr Herz gelegt.
Während Gebet und Litanei dachte sie:
»Schwester Hedwig ist eine Heilige, laß mich ihrer Nachfolge in Demut würdig werden, Vater im Himmel!«
Dann kamen Tage, so schön, daß Cilli nie Schöneres geträumt hatte. Stunden lang das Bett verlassen dürfen und in der Kirche knien, während Schar um Schar der Klosterfrauen kam und ging! Sie blieb, 127 bis Hedwig sie holte, nahm sich vor, später einmal zu beten, bis ihre Knie blutig wären und auf der harten Bank klebten. Ihr blauer Krankenkittel – sie trug kein anderes Gewand – war lang, bis zu den Füßen. Aber sie schürzte ihn vorn, daß ihre Knie nackt auf dem riffigen Holz scheuerten.
Manchmal durfte Cilli in ein Krankenzimmer, wenn's läutete, und nach den Wünschen fragen. Sie durfte – durfte! – Magdalenendienste tun, schmutzige Füße waschen, Bettpfannen leeren, spülen, trocknen.
»Bist du ein klein wenig zufrieden mit mir, Schwester Hedwig?«
Zwischen den Mädchen wuchsen Liebe und Leidenschaft zur steilsten Flamme; nach einer Stunde Zusammensein waren sie ganz erschöpft.
»Daß mir das Glück vergönnt war, deine Seele zu finden, Cilli! Jetzt ist mir nicht mehr Angst vorm Fegfeuer!«
»Daß du mir die Gnade gegeben hast, Schwester Hedwig! Jetzt ist mir nicht mehr Angst vor der irdischen Prüfung.«
Kam Dr. Mühlgrabner in Cillis Kammer, dann wurde froh gelacht, und er merkte kaum, daß er in den Augen dieser ekstatischen Mädchen, als Symbol höchsten irdischen Wandels, auf einem Sockel stand.
Diese gesteigerte Frömmigkeit schien ihm freilich 128 nicht gut, er wollte froh sein, wenn er einmal den Kittel auszog.
»Das ist schon recht, daß du fromm bist, Cilli. Aber man kann auch ein Braves sein ohne Heiligenschein. Weißt, Cilli, die Hände regen und eine brave Frau und Mutter werden, das ist auch eine schöne Sache.«
Er sprach mit Schweizer Dialekt, und jedes Wort war überlegt.
Der Gedanke, Dr. Mühlgrabners Frau und die Mutter seiner Kinder zu werden, durchzuckte ihren Kopf . . . Ihm, der – ohne Gelübde! – nur schlief, wenn es der Zufall erlaubte, nicht bei Tag oder bei Nacht, nicht vier Stunden oder sechs Stunden, sondern weil grad einmal Zeit war . . . Ihm, der als jüngster Arzt im Haus selbständig operierte, sogar eine Thorako-Plastik gemacht hatte, die erste, die hier gelungen war seit Sauerbruchs Erfindung, ihm, der jedes dürftigste Leben dem Tod abrang, der als weiser, sanfter Jüngling den Schmerzgefolterten Morphium, den Erstickenden Sauerstoff, den Schluchzenden im Vorzimmer Trost gab . . . der sein eigenes Blut zur Uebertragung oft bereitgestellt hatte und auf jedes »Danke« schroff zur Antwort gab: »Was wollen Sie denn, ich tue nur meinen Dienst« – –: Ihm den Schlaf zu verteidigen, kalte Hühnerbouillon und belegte Brötchen nachzutragen, die herrlichen Kinder dieses Herrlichen 129 auszutragen, in Schmerzen zu gebären . . . das wäre fast so schön wie kurzer Wandel und frühes Welken einer Heiligen.
Cilli wehrte sich mit vielen Tücken dagegen, gesund zu werden, entlassen zu werden. Sie dachte an Selbstverstümmelung: ob es Sünde war, wenn sie sich einen Finger abhackte, um länger in dieser Kapelle knien, an diesen Krankenbetten helfen zu dürfen? Aber Schwester Hedwig schrie entsetzt auf, Gott selbst würde das nicht verzeihen können!
Onkel Clemens wollte mit Cilli aufs Land gehen, wieder ein bißchen Weltluft und Tanzmusik an ihr entrücktes Herz wehen lassen, ehe er den letzten Schritt ins Kloster zugab. Dies eine Mal war er unerbittlich: drei Monate lang sollte Cilli den Schritt überlegen. Aber für die Reise war es noch zu früh im Jahr, der Frühling fing erst an. So holte er einstweilen sein Kind ins weißlackierte Zimmerchen der berühmten Pension heim.
Er war Zeuge von Cillis letztem, allerletztem Abschied aus der chirurgischen Klinik, Abteilung II B, die drei Monate lang ihre Heimat gewesen.
Dr. Mühlgrabner ließ sich nicht sehen, war im Operationssaal beschäftigt. Schwester Hedwig und Cilli saßen, auf dem Rand ihrer Holzschemel, im Anrichtezimmer, einander gegenüber, während rings herum Geschirr gespült, mit Löffeln und Tassen geklappert wurde. Die beiden Mädchen hatten keine 130 Träne mehr, ihre Pupillen waren hinter roten Lidern ertrunken, sie hatten auch kein Wort mehr. Man trug das Gepäck hinaus, sie folgten, Schulter an Schulter gelehnt, weil Cilli von einer Ohnmacht bedroht schien. Schwester Hedwig hielt sie im Rücken, sie aber trug Hedwigs linke Hand wie etwas Heiliges, Zerbrechliches, trug sie gleichsam in ihren beiden Händen vor sich her, das Haupt zurückgebeugt, den Mund halb offen und zuckend. Ihr Atem war ein leises Winseln. Sie trennten sich ohne Kuß, nur mit Jammerblicken, die einander nicht lassen wollten, bis der Motor anzog, bis der Wagen für Schwester Hedwig nur noch eine enteilende, kleine Staubwolke war.
»Verwirrung der Affekte« dachte Clemens Kranewitter abends in seinem Zimmer, allein im Schein der kleinen Glühlampe auf den Diwan gestreckt. »Jetzt hab ich's mit eigenen Augen gesehen. Diese fanatische Gläubigkeit ist nichts als sublimierte Leidenschaft für die liebliche Nonne.«
Das war viel schlimmer. Beharrte Cilli darauf, ins Kloster zu gehen, – und dieser Fanatismus von Liebe kam ja so aus dem Elementarsten ihres Wesens, daß an ein Abflauen in kurzer Zeit nicht zu denken war, – dann war sein Kind nicht zu retten. Das Kloster würde sie aufnehmen, aber nicht trösten, nicht heilen, nicht wieder von sich lassen. – 131 Wo hatte er seine Pflichten versäumt, daß solches geschehen konnte? Zu weich, zu nachgiebig gewesen? Ach, Cilli war ja kein Kind, dem man befehlen konnte. Sie war ein Mensch von hochentwickeltem, logisch exaktem, fast männlichem Geist, belesen, dialektisch ihm weit überlegen, kundig der Welt. War er lieblos gewesen und hatte sie dadurch ins Wanken gebracht, als er ihr seine Wohnung verweigerte? Aber auf die Dauer wäre es doch nicht möglich gewesen, sein Junggesellenleben à deux zu führen, diese plötzlich erblühte junge Dame als Kind zu halten . . . Hätte er den frühen Eintritt ins Leben nicht dulden sollen? Aber wenn selbst das ultraindividuelle Landerziehungsheim Cilli nicht behielt – wo hätte er eine tolerantere Schule gefunden? Sie wäre von Institut zu Institut gestoßen, schlecht behandelt, verbittert worden, wäre in den gefährlichsten Kontrast zwischen ihrer Reife und ihrer Umgebung geraten.
Onkel Clemens sah mutlos in die Zukunft, sprach sich schuldig und mußte sich dennoch in Schutz nehmen. Schwach und seiner Aufgabe nicht gewachsen war er, ihm fehlte der kategorische Imperativ aller Erzieher: daß es etwas absolut Richtiges und viel absolut Falsches gäbe. Er war ein Mann des Abwägens und Kompromisseschließens, der selbst im Leben nichts erreicht hatte. Jetzt büßte es das arme, arme Mädchen. 132
Cilli hatte Tage voll Heimweh und Bangen verbracht. Schwester Hedwig durfte keine Besuche empfangen, – Dr. Mühlgrabner hatte zwei schwere Fälle, war Tag und Nacht im härtesten Dienst. Ihn zu stören, wäre Kirchenfrevel. In diesem Zimmer aber, in dieser weißen Gruft von Zimmer, wurde sie wahnsinnig! Onkel Clemens war ein verdrossener und jetzt ganz fremder Mann, dem sie nichts schuldete als schlechten Einfluß, verderbliche Bücher und weltliche Gedanken. Sie hatte keinen Freund und keine Freundin. An die gutmütigen kleinen Kolleginnen vom Theater zu denken, schien sündhaft; traf sie eine auf der Straße, dann lächelte sie mit weißgewordenen Lippen müde und verzeihend an ihrem Gruß vorbei.
Endlich raffte sie sich zu einem Entschluß auf, der ihr ganz plötzlich siedend ins Herz gefallen. Nicht drei Monate hier harren wie auf den Tag der Erlösung, den Eintritt ins Kloster nicht dumpf erwarten! Nicht mit Onkel Clemens in irgendein Sommerhotel voll banalster und unappetitlicher Lebensfreuden, die unter ihrer Würde lagen!
Sie zog ihr Bauernkleid an, Bergstiefel, schnürte aus einem Kopftuch das Reisebündel mit wenig derber Wäsche, ein bißchen Seife, Kamm und Bürste, und die Verkleidung frischte plötzlich ihr Blut wieder auf. Noch bläßlich, aber schon mit helleren Augen, meldete sie sich bei Onkel Clemens 133 zur Wallfahrt nach Maria im Haag und bat um ein wenig Zehrgeld.
Darf man ein Sechzehnjähriges, leuchtend schön und verlockend, allein auf die Landstraße ziehen lassen? Nein! Aber darf man einer Verzagten, die mit den Nägeln ihrer Hände Kalk von den Wänden ihres Zimmers kratzt, die Sonne nicht erleben will und keines Menschen Freund mehr ist, kann man einer von Sehnsucht Zerquälten den einzigen Weg versperren, der ihrer Einfalt und Herzenswirrnis der Weg der Befreiung scheint? . . . Für die Dauer einer Woche mußte er das Abenteuer gestatten. Schließlich wanderten und wallfahrteten ja Tausende, junge Frauenzimmer und alte, Burschen und Greise, Jahr um Jahr durch diese Bergtäler, nächtigten in den ehrenfesten Hütten, nährten sich von Brot und Milch und Kirschen, kamen frisch und rein zurück.
Diese Wallfahrt endete aber nicht in Maria im Haag, wo Cilli viele Rosenkränze betete und neue Erleuchtung fand. Ihr hatte es das Wandern und Rasten mit unverbildeten Menschen, die klaren Sinnes waren, bald angetan. Ihre Lieder taten wohl, ihr Tanzen am Sonntag, ihr schwarzes Brot und der beizende Geruch von Schweiß, der bei der Feldarbeit aus ihren Hemden stieg. Mit bitterer Verachtung dachte Cilli an Kölnisches Wasser, englische Seife, mit Ekel an Schminke und Puder, 134 mit Wehmut, aber schon beinahe fern, an lysolgescheuerte Boden, süßen Arzneiduft, Wachskerzen und Weihrauch.
Cilli war stark, im Sport geübt; das Kreuz tat ihr nicht weh, wenn sie viele Stunden lang, rechtwinklig gebeugt, die Hacke schwang. Wo kein Ochse war, gingen Bauernweiber im Pflug, breitbeinig stemmten sie sich nach vorn, über die Brust die Gurte gezogen; so auf harten Sohlen ein Zugtier zu sein, mit einem andern gleich braven, gleich stämmigen Mädchen Furche auf Furche abzugehen, während der Bauer am Pflug leise Befehle gab, schien Cilli plötzlich gutes und echtes Weiberlos. Mist schaufeln, auf Holzschuhen in der Jauche stehend die blitzende Gabel schwingen, bis die Fuhre hoch geladen war; hinter dem Wagen her aufs freie Feld hinaus und den Mist, Gottes Gabe, über die Furchen häufeln, daß neue Frucht und neues Futter würde . . . Rote Kühe zum Brunnen treiben, den Stier holen und aneifern, der seine Frauen beschnuppert, die heut erst reif Gewordene zum Sprung ersieht . . . Mit frisch gewaschenen, nur zu diesem Zweck gewaschenen Händen die prallen Euter kneten, daß warm ihre Milch in den sauberen Melkeimer zischt . . . All das schien ihr Wunder von Wirklichkeit, für die allein der Mensch geschaffen ist, denen er sich in den Städten, in den Schulen selbstquälerisch entfremdet. 135
»Ich brauch kein Geld, vergelt's Gott tausendmal«, schrieb sie »heim« in das verbrauchte, ungute Kabinett des Dr. Caligari. »Ich verdien' mir mein ehrliches Brot, und mehr brauch ich nicht, am Feierabend bin ich müd und tu brav schlafen. So soll's bleiben, bis daß meine Zeit herum ist.«
Den Bauern macht jedes Kind reicher. Aufziehen kostet wenig Geld und Mühe, mit acht Jahren schon hütet es Schafe oder Gänse, mit vierzehn ist es eine Arbeitskraft. Ein Mädel, das sich als tüchtige Mutter erwiesen hat, heiratet man lieber als eine Keusche, von der man nicht weiß, was sie taugt. Tanzen und Singen tut man am Sonntag, danach geht's ins Heu. Alle lebten so, Cilli fand das schön und wollte nichts als eine richtige Landdirn sein. Sie tanzte, schwerfüßig und taktfest wie die andern, kunstvolle Bauerntänze. Beim Singen klang ihr metallischer Alt kraftvoll im Chor, sie war überall dabei, auch im Heu natürlich. So war alles gegangen, bis der Onkel sie holte und sie in neuer Angst sich holen ließ. 136