Balder Olden
Das Herz mit einem Traum genährt
Balder Olden

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Fünfzehntes Kapitel

Willst du wieder bei mir schlafen?« fragte Cilli jeden Abend, manchmal bittend, oft im Ton eines Ultimatums. Er schüttelte den Kopf, der viel weißer schien, seit das Gesicht keine Farbe mehr hatte, ging in seine Zimmer und sperrte sie ab.

»Was kann er nur haben?« fragte sich Cilli. Weil sie Camillo einen Kuß gegeben . . . wie lächerlich! Felicitas hatte in die Luft geknallt, und damit war die Sache vergessen. Weil sie danach im Bett ein bißchen geredet hatte? Mein Gott, man wird doch reden dürfen. Hatte denn nicht alles schön und groß geklungen? Wenn er ihr nur ein Wort gab, es brauchte kein gutes zu sein, eine Ohrfeige tat schließlich denselben Dienst, nahm sie alles zurück. Aber wenn er sich weiter so verbiß, dann tat sie ihm wirklich etwas an. Grauenhaft schlichen die Tage hin, kalt wurden die Nächte, es kam ein Herbst ohne Gnade.

Für kurze Zeit warf Cilli sich auf ihr Kind. Es 235 lernte sein erstes Gedichtchen sprechen, und jede Stunde bei seiner kindlichen Mutter machte es reicher.

»Gelt, wir verstehen uns, Aennchen von Tharau? Wir zwei sind ja allein auf der Welt und müssen zusammenhalten!«

Das Windspiel Fräulein war Dritte im Bund, ein Liddy-Sproß. Fräulein war ein Kind von Geschwistern, hochgezüchtet bis zur letzten Feinheit. Sie bebte, wenn der Wind ein Blatt rascheln ließ, war viel schneller als Bäcker-Carl, so schnell, daß sie den rasenden Hengst noch vom Feldberg bis Johannes am Stein umtanzte, dabei müd von uraltem Adel, zärtlichkeitsbedürftig, aber zu müde, Zärtlichkeit zu geben.

Als Ernst weiter trotzte, entzog Cilli ihm das Aennchen von Tharau, für das er bei Tisch ein paar Worte hatte, das Grammophon spielen ließ, und das überhaupt sein bißchen Freude war.

»Sie ißt nichts, wenn sie bei uns sitzt. Sie beobachtet nur und nimmt nicht zu.«

Aennchen verschwand mit der Kinderfrau, Praxmarer und Cilli saßen allein bei Tisch. Das Mädchen hatte Befehl, ihre Platten auf den Tisch zu setzen und zu verschwinden.

Jetzt mußte er sprechen!

Aber Praxmarer hatte sich zugesperrt, nichts öffnete ihm den Mund. Er war nicht mehr böse wie in der 236 ersten Nacht der Erkenntnis, durch seinen Kopf und den geschlossenen Mund raste es nicht mehr von Flüchen. Dies Wort: »Du hast Niëves aus ihrem armen Grab in dein breites, warmes Bett geholt«, an Pathos und Infamie Cillis höchste Leistung, auf die sie stolz war, die sie vorbereitet und eingeübt, – hatte den Schleier seiner Träume zerfetzt, seit er es begriffen.

Vom Fenster des Fremdenzimmers, das jetzt sein Schlafzimmer war, rief er den Knechten morgens ein paar Befehle zu, kontrollierte nicht, ob sie ausgeführt wurden. Er war menschenscheu, jede Aussprache kostete ihn Ueberwindung. Aber nachts knipste er manchmal die Bogenlampe über dem Gutshof an, deren Kontakt in dieses Zimmer gelegt war. Weiß fiel ihr Licht auf seinen Hof, der nicht mehr gefegt wurde, auf halb entladene Erntewagen, die schutzlos im Freien standen, und deren Last verrottete. Eggen und Werkzeug lagen rings herum, rosteten, wenn Regen fiel, alles verdarb. Die Schweine schrien nicht mehr vor Lust, weil ihr Trank fällig war, sondern sie gellten vor Hunger, der unregelmäßig gestillt wurde. Auch die Kühe brüllten nachts, weil sie Hunger litten. Was taten da ein paar zornige Flüche, die er zum Fenster hinaus seiner Verbissenheit abtrotzte! Das ging den Leuten zum linken Ohr ein und zum rechten hinaus. Ein Gutsherr muß da sein, lahm, blind, taub, das 237 schadet nicht, aber da! Seine Zunge tut die halbe Arbeit im Hof. Der Gutsherr Praxmarer aber war stumm und unsichtbar.

Er verschrieb sich telegraphisch einen jungen Verwalter, der wenig Gehalt verlangte.

Ein sauberer Bursche traf ein, meldete sich ganz militärisch, Bravheit und Gehorsam auf der Stirn. Er war stolz auf seinen ersten Posten, fand das Dienstzimmer im Wirtschaftsgebäude schön und vornehm, machte rechtwinklige Verbeugungen vor der gnädigen Frau und zeigte das Bestreben, zugleich Untergebener und Vertrauter der Herrschaft zu sein.

Das wurde er bald, ohne daß ihm Vertrauen geschenkt war. Er fand sich in einem Betrieb ohne Führung, der Herr war selten zu sprechen, ein Verlassener im eigenen Haus; seine Frau, die sich um ihn nicht kümmerte, schlief in den Nachmittag, las bis zum Morgen, überließ ihr Kind den Dienstboten, wußte nicht, was in der Vorratskammer und im Keller war, ließ sich bestehlen und betrügen. Rechnungen und Klagen brachte jede Post, die niemand prüfte, die mit einem Vermerk »zur Erledigung« an ihn, den Verwalter, gingen. Carl Bauert widersprach, raufte sich mit den Gläubigern herum, aber es stimmte meist. Diese Unmassen von Kolonialwaren hatte der Kaufmann wirklich geliefert, genug, ein Hotel zu versorgen. Diese 238 Bagatellrechnungen waren wirklich durch Wochen verschleppt worden, bis es zur Klage kam, diese phantastischen Reparaturen waren nötig gewesen, weil man eine Maschine einregnen ließ, statt sie abends zu putzen und in den Schuppen zu ziehen.

Auf Gnade und Ungnade waren diese beiden Menschen ihrer Umgebung preisgegeben, weil sie sich mit einander nicht verständigen konnten, jeder an seinem Kummer würgend.

Bauert machte sich daran, Ordnung zu schaffen. Er bat die gnädige Frau um die Schlüssel im Haus, wie er die Schlüssel zur Wirtschaft, die Bücher führte, Eingänge kassierte, Zahlungen leistete. Aber es stellte sich heraus, daß zur Selchkammer, den Kellern, zur Speisekammer, den Wäscheschränken kein Schlüssel vorhanden war. Jeder, der da wollte, kam und nahm.

Vor einem Monat hatte Praxmarer ein junges Rind und zwei Mastschweine als Wintervorrat schlachten und pökeln lassen; aber die Kammer war leer, die Mostfässer im Keller waren leer, auf den Obstregalen lag nichts aus der Ernte von vierhundert Bäumen. Zwölf Kirschbäume, aber kein Glas mit eingeweckten Früchten, eine vier Hektar große Gärtnerei, aber kein eingewintertes Gemüse. Praxmarers waren Menschen, die sich bestehlen ließen, – dafür hat der Dieb nur Verachtung, und ehrliche Leute werden beim Zusehen Diebe. 239

Bauert riß die Zügel straff, daß es knirschte. Er war jung, seine Augen blitzten von Energie. In diesen Augiasstall Ordnung zu bringen, war eine Aufgabe, wie sie einem Anfänger selten zufällt.

»Solang ich hier der Herr bin«, hörte Praxmarer ihn kommandieren. Er blies sich auf wie ein Ochsenfrosch, beide Hände in den Hosentaschen kam er abends zum Rapport. Die alten Gesichter auf dem Hof verschwanden wie fortgespült, andere Gestalten tauchten auf.

»Die Saumagd habe ich wegen Betrunkenheit im Dienst entlassen. Den Loisl hab ich wegen Frechheit entlassen. Dem Kurhotel hab ich gekündigt, ich verkauf meine Milch an die Genossenschafts-Meierei.«

»Da wird sie nicht nach Qualität, nur nach Menge bezahlt.«

»So? Aber da hab ich auch im Winter meinen festen Kunden!«

Sein drittes Wort: »Wenn's Ihnen nicht paßt, pack ich meinen Koffer und geh meiner Wege.«

Davor hatte Praxmarer Angst, er wollte nur noch die Augen geschlossen halten.

Der Verwalter steckte seine Ersparnisse in die Wirtschaft, wenn es an Geld fehlte, und kreditierte seinen Monatslohn. In kurzem war der Hof auch ihm verschuldet. Aber gearbeitet wurde wieder, wie 240 auf dem Kasernenhof knallte es von Befehlen, die Praxmarer in die Ohren dröhnten.

Er füllte durch eine briefliche Bestellung seine Hausapotheke auf. Das meiste übergab er Bauert, nur das Morphium behielt er in eigener Verwahrung, nicht in Ampullen, sondern eine ganze Flasche. Das Feldwebelgesicht seines Verwalters war ihm bald so verhaßt, daß er nur noch wöchentlich die Bücher verlangte. Als der junge Bursche die Erlaubnis, zu heiraten, verlangte: »Was nutzt meine Arbeit, wenn keine Frau im Haus ist? Was ich hereinschaff, läuft in der Wirtschaft wieder ab«, gab Praxmarer auch das zu. Jetzt kam eine Person ins Haus, vor der Cilli sich duckte, hübsch, blank und mit Kraft geladen. »Die Frau Verwalter« hieß sie schon als Braut im Hof, die Hausmädchen merkten nun auch, was Regiment ist. Sie selbst sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett, eh die Hähne krähten. Ihr Bräutigam klopfte wie mit dem Holzhammer auch an ihre Tür: »Fünf Uhr, aufstehen!«

Sie fuhr mit dem Lieferwagen ins Dorf, handelte und ließ keinen Heller nach.

»Das kann früher so gewesen sein, bei mir gibt's das nicht.«

Aennchen von Tharau, das Windspiel Fräulein, der Flügel, auf dem Cilli nie gespielt hatte, und der jetzt ganz verstimmt war, das Radio, das auch nur 241 der Verwalter in Stand halten konnte, – es nutzt sich alles ab, wenn man, nicht zwanzig Jahre alt, so verlassen ist. Cilli erinnerte sich ihres Bäcker-Carl, der mit weiten, anklagenden Schritten im Erntewagen oder im Pflug ging und schlecht genährt war. »Für unnütze Fresser gibt's bei mir keinen Hafer«, erklärte der Verwalter. Sie beschwerte sich bei Praxmarer, der Bauert beim nächsten Wochenrapport zur Rede stellte.

»Meinetwegen sechs Liter Hafer den Tag, wenn Sie's zahlen«, gab der ihm heraus. Er war nur noch gegen die Untergebenen militärisch, nach oben nannte er sich ›Demokrat‹. »Aus der Gutskasse geb ich's ihm jedenfalls nicht.«

In diesem einzigen Punkt aber war Cilli die Stärkere; was auf den Tisch geliefert wurde, danach sah sie nicht. Auch hier ging's jetzt spartanisch zu: »Ich und meine Braut essen aus der Wirtschaftsküche, damit gespart wird. Das Haus darf den Hof nicht auffressen.« Der Gärtner konnte »schließlich nicht alles ins Schloß liefern«, die Butter war zum Verkaufen da, außerdem gab's um diese Zeit wenig Milch. Wenn geschlachtet wurde, mußte das Personal »schließlich auch mal ein Stück Fleisch bekommen«, und auf den Herrschaftstisch kam nichts. Gut, aber der Bäcker-Carl hatte wieder seinen Hafer und tat keinen Arbeitsdienst mehr. Cilli aß, was ihr vorgesetzt wurde, und war stolz, wenn sie 242 hungerte. »Wir hungern uns wieder hoch«, dachte sie und umhalste den geretteten Hengst.

»Daß ich dich sogar vergessen hab . . . dich, den einzigen Treuen.«

Jetzt ging's wieder auf die Landstraße, im Sattel oder im Wagen. Die Stute Mirzel war tragend, mußte bewundert werden. Dies Fohlen, das noch nicht da war, bildete den Hauptgesprächsstoff bei Ayalas, wo eine gute, lange Saison das Schiff über Wasser gehalten hatte. Geblieben freilich war nichts, Felicitas' Rechnungen waren zu bescheiden, die Gäste bei Tisch zu anspruchsvoll. Aber rund und gesund waren Menschen und Tiere, ein klein bißchen Kredit war wieder bei den Lieferanten zu spüren.

Hin und her auf der Landstraße tobte Cillis Break durch Dreck und Regen. In Breeches und Windjacke, bis zum Hals kotbespritzt, erschien sie eine halbe Stunde zu spät bei Tisch, wenn sie nicht telephonisch abgesagt hatte. Sie warf ein paar Löffel Suppe, ein paar Bissen Gemüse in den Mund, achtete nicht darauf, wie es schmeckte, und daß Ernst die Speisen kaum berührte.

»Hast du Wünsche, sonst fahr ich morgen auf die Güter.«

»Auf die Güter« war der neue Begriff. Die lustigen Leute im ganzen Bezirk hatten sich vereint, und Cilli war Mittelpunkt auf jedem Fest. Es gab ja 243 nicht nur verarmte Aristokraten im Kreis, sondern auch Industrielle, die Gäste bewirten konnten; oder man konnte Picknicks arrangieren und aus lauter armen Speisekammern genug zum Lustigsein zusammentragen. Manche hatten Autos, andere fuhren Rad oder dritter Klasse, oft ging es Tage lang von Gut zu Gut. Man schlief im Notquartier wie früher die Gäste auf dem Feldberg.

Es kam vor, daß Cilli spät nachts bei Praxmarer klopfte.

»Ich hab ein paar Leute mitgebracht, komm doch herunter.«

Aber sie war froh, wenn er »nein« sagte. Unten wurde musiziert und gebechert, »der Herr Gemahl schläft schon«, damit waren alle zufrieden.

Oft dachte Praxmarer, daß Cilli einsam und traurig war, es fiel ihm ein, daß sie sich einmal lieb gehabt.

»Ich will zu ihr«, dachte er. »Ich will sie wieder einmal streicheln«.

Daß die Geschichte mit Camillo vorbei war, als wäre sie nie gewesen, spürte er bis in seine Zelle. Und das andere: diese tragische Szene mit den hohen, pathetischen Worten . . . Vielleicht war all das nur Kindergeschwätz, das ihn getroffen hatte, wohin sie gar nicht zielte? Bedeutungslos wie das ungeheure Bekenntnis zu Camillo, das nun schon 244 ganz vergessen lag. Aber er hatte noch immer den Mund voll Bitterkeit, versank lieber in sich, als nach ihr zu greifen.

Erschien er einmal im Biedermeiersalon, dann flegelte sich dort ein Jüngling mit phantastisch langen Beinen, der endlos zu sprechen liebte, aber nie einen Satz zu Ende brachte, weil er sich selbst unterbrach, bis nur buntes Gefasel zurückblieb. Er duzte Praxmarer, alle Herren duzten ihn, wie es in Oesterreich unter Standesgenossen Sitte ist. Aber fremder als all diese ersten Duzfreunde seines Lebens war ihm nie ein Mensch auf Erden gewesen. Der Heuschrecken-Jüngling und Cilli hatten eine eigene Sprache, die nach Kindergarten klang. Cilli ironisierte und quälte den Armen aus ihrer turmhohen geistigen Ueberlegenheit; sie versöhnte ihn wieder mit Dalbern auf seinem Niveau. Bei all dem hatte Praxmarer keinen Anteil, – er fühlte nur, daß einstweilen von ihm zu Cilli kein Weg ging. Wie er in fünfzehn Jahren unter Spaniern und Indios den Typus gewechselt hatte, war er während dieser Monate in eine andere Generation eingetreten.

Es lohnte auch kaum mehr, einen Notweg zu Cilli zu bauen, eine Art Kameradschaft an Stelle der vergangenen Zärtlichkeit zu versuchen, denn mit Gepränge kam die erbetete Krankheit, wuchs feierlich und machte alle Stimmen schweigen. Sie begann 245 mit Ekel und Brechreiz, mit dem Gefühl des Ueberladenseins nach zwei Bissen Brot. Schnell trat Fieber hinzu, gutes, den Körper durchzitterndes Fieber mit Visionen und schwindendem Begriff der Zeit. Tag oder Nacht, Stunden oder Tage, Praxmarer wußte es nicht mehr. Das lief so hin und lief an ihm vorbei wie im Haschischrausch, Farben und Töne schwelten um ihn. Manchmal lag er in Schweiß gebadet, Schlafanzug und Leinen wie aus dem Wasser gezogen; dann wechselte er selbst, frostklappernd, kehrte selig auf das trockene Lager zurück und schlief wieder ein. Ein neues, fremdes Dienstmädchen setzte manchmal Tee oder Suppe auf den Tisch, ein bißchen Gemüse, das stehen blieb, denn nach jeder Karotte hatte Praxmarer das Gefühl, neu vergiftet zu sein.

Kam Cilli einmal ans Bett, dann bedauerte sie, daß er nichts zu essen bekam. Der Verwalter gäbe nichts her, Gärtner und Schweizer dürften nichts schicken, sie hungerten sich in den Winter hinein.

»Soll Camillo kommen?«

Der Kranke zuckte, statt »Nein« zu sagen.

»Willst du keinen Arzt haben, Ernst?«

Ein Arzt hätte ihn nur gestört. Aber sie rief den Badearzt doch herauf, er fühlte und drückte, fand kein krankes Organ, befahl, eine Fieberkurve zu führen, und versprach, wiederzukommen. Nasse 246 Packungen würden die Temperatur dämpfen, im übrigen hieß es Warten und Füttern. Aber Ekel vor diesem kranken, ungepflegten Greis hielt Cilli jetzt noch ferner. Nicht an ihn zu denken, war die einzige Rettung vor Depressionen.

Mit ihrem strengen Gesicht, der starken Nase, dem schmalen Mund, trat Felicitas als Krankenschwester an, schlief auf Matratzen, die im Arbeitszimmer auf den Boden gelegt wurden, kämpfte dem Verwalter, der vor ihr eine Spur von Respekt empfand, Nahrungsmittel ab, jagte seine Frau – seit der Hochzeit absolute Herrin im Haus, wie er Herr auf dem Hof war, – mit einem Dompteusenblick aus den Zimmern. Die beiden hatten sich im Wirtschaftsgebäude, im Dienstzimmer eines bescheidenen Verwalters, nicht wohl gefühlt. Sie waren ins Schlößchen gezogen, hatten sich Platz geschaffen, wo keiner zu sein schien.

»Es geht alles, wenn nur der gute Wille nicht fehlt«, hatten sie der verängsteten Cilli erklärt.

Ein neuer Fieberanfall kam, von Schmerzen begleitet, deutlichen, erfreulichen, grimmigen Schmerzen, die jeden Gedanken nach draußen mordeten. Sie steigerten sich, daß Praxmarer aus dem Schlaf stöhnte und wie ein Hund bellte. Man hörte es unten im Hof, der Verwalter rieb sich, unwillkürlich erfreut, die Hände. »Lang macht's der nicht mehr.« Er freute sich auf die Sensation eines 247 Todesfalles, ärgerte sich über den unnützen Esser und seine anspruchsvolle Pflegerin.

Felicitas war mit Morphium nicht geizig, aber auch nicht mit all der harten Arbeit, wickeln und Wäsche wechseln, dem ewigen Versuch, zu füttern. Kam ihre Hand mit kühlen Tüchern, kam ihre Hand mit lindem, liebem Mohngift, dann war Praxmarer oft dem Weinen nah. Seine Schwäche war so groß wie die Wohltat, die sie ihm erwies; er drückte ihr manchmal die Hand, im höchsten Fieber wurde er zärtlich wie ein dankbares Tier. »Du Liebe« sagte er, »du Liebe, Gute.«

»Ich hab damals gewußt, daß der Tod im Haus ist«, erzählte ihr Cilli. »Frag Camillo, ich hab's gefühlt.«

Sie lief die Treppen herauf und hinunter in einer absichtlich geräuschvollen Lustigkeit; er konnte ihr Trällern nicht hören, sein Zimmer war auf der einen Seite durch die Wäschekammer, auf der anderen durchs Arbeitszimmer geschützt, sie tat es nicht, um ihn zu kränken. Aber auch wenn er es hörte, weil eine der Türen zufällig offen stand, selbst wenn er ihren hüpfenden Schritt und ihre Schnadahüpfeln jedesmal gehört hätte, – das mußte sein. Cilli war jung, ließ sich von dieser Gespensterbude, in die sie gesperrt war, nicht ganz zugrunde richten. Immer hungrig, immer fröstelnd, weil Bauert auch mit Holz kargte, den Blick in ein Meer von 248 Nebel gerichtet, der um das Haupt des Feldberg wogte, blieb ihr, so Tür an Tür mit dem Tod, nichts als das eigne Reservat an Jugend: »Wann i zruck denk an mei junges Leben, wo i scho bin – mit die Buama glegen . . .« sang sie über die Treppen.

Felicitas und Camillo waren es, die Praxmarer am ersten guten Tag ins nächste Krankenhaus fuhren. Der Badearzt hatte es nur schüchtern geraten, der Verwalter die Mittel verweigert, der Patient sich gewehrt. Aber Camillo bestand darauf. Von der Autofahrt einer Stunde, liegend, ohne Schmerzen, fast ohne Fieber, war Praxmarer so erschöpft, daß er schnatternd und heulend ins Bett fiel. Kühles Leinen, haaach, wie gut das tat!

»Keine Schmerzen«, erklärte er. »Nur die Freude.« Drei Tage später wurde geöffnet, operiert, Röntgenbild und Cystoscopie hatten schnell eine Diagnose erlaubt.

»Prostata, man hätte sich's längst denken können. Aber auf dies verfluchte Biest von Prostata rät man immer zuletzt. Diesmal war's aber höchste Zeit.«

Diese Operation, die immer glückt, wird selten überlebt. Aber Praxmarer war trotz allem kein alter Mann. Sein Fall war ernst, aber nicht hoffnungslos.

Cilli, die sich teilnehmend einfand, während der 249 vielstündigen Operation sogar zweimal telephoniert hatte, bekam eine diskrete Belehrung.

»Der Herr Gemahl kann in vier Wochen wieder gesund sein, gnädige Frau. Es bleibt auch keinerlei Funktionsstörung zurück, hoffen wir. Nur, freilich – Familie haben Sie nicht mehr zu erwarten. Es wird Sie hart treffen, gnädige Frau, der Patient hat in der Narkose Zärtlichkeit über Zärtlichkeit gelallt.«

»Hat er mich Niëves oder Cilli genannt, Herr Professor? Ich habe zwei Namen.«

»Darauf hat man natürlich nicht geachtet.«

Sie durfte ihn nicht sehen, er lag noch halb bewußtlos und war als schwerer Morphinist kein ganz einfacher Fall. Aber sie hatte auch kein Verlangen danach.

»Ich verstehe, Herr Primarius. Es könnte ihn erregen . . .«

»Wie seltsam, daß er gerade da getroffen wird«, dachte Cilli im Heimfahren. Das Stückchen Eisenbahnfahrt, dritter Klasse natürlich, tat Cilli gut. Soviel Wintersonne lag über dem Land, so rotgefroren und gesund waren alle Gesichter. Die Häuser blitzten mit winzigen Fensteraugen unter riesigen Schneehaufen hervor. Bäche sahen wie Eisgebirge aus, der Toblacher See war ein kalt blitzender Spiegel, über den Menschen und Fuhrwerke eilten. 250

»Ich will jetzt auch manchmal Schlittschuh laufen und danach heißen Glühwein trinken!«

Sie hatte sich nie ein Kind von Ernst gewünscht, es tat ihr wohl, zu wissen, daß er nie ein Kind haben würde. Um auszugleichen, was sie ihm angetan, übte sie sich in Haß gegen ihn, häufte auf seine Wage Schuld um Schuld. 251

 


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