Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Vorzimmer des Generaldirektors muß jeder warten, auch wer eingeladen und auf die Minute pünktlich ist. Um so herzlicher wurden »Herren vom technischen Außendienst« danach empfangen; sie sollten nur nicht glauben, ihr Bauen in den fünf Weltteilen sei das Wichtigste. Das Herz des Betriebes schlug eben doch hier im Hauptquartier.
»Fünfzehn Jahre nicht gesehn, Herr Oberingenieur! Eine schöne Zeit.«
Ergraut waren sie beide, der Generaldirektor hatte etwas Fett angesetzt, Praxmarer seinen ganzen Typus verändert.
»Ich habe das oft beobachtet, wie die Herren äußerlich von der fremden Substanz annehmen. Ihr Kollege Wandhaus war kürzlich hier – ein ausgesprochen asiatischer Typ, nach zwanzig Jahren China. Geht als junger Germane weg und kommt als alter Chinese wieder! Sehr seltsam. Aber wir 39 plaudern ein andermal, denke ich, einen ruhigen Abend lang, bei Borchardt, erzählen uns unser Privates. Jetzt kommen wir auf den bewußten Hammel zurück, der Sie herführt. Sie haben also die Wahl: Rif oder Ceylon. Da Sie Spanisch und Englisch gleich gut sprechen, kommt es eigentlich nur aufs Klima oder Ihre besonderen Wünsche an. Im Rif schließlich haben Sie den Vorzug, nur einen Katzensprung von der Heimat zu sein.«
»Das ist ein geringer Vorteil für mich.«
»Sie haben gar keine Interessen hier?«
»Nach zwanzig Jahren, Herr Generaldirektor . . .«
»Ja, das versteh ich. Es wächst alles zu, Menschen und Dinge verändern sich, jedes nach seiner Beschäftigung. Wir sind ja alle nur Arbeitstiere. Aber wer auf zwanzig Jahre so voll Erfolg und Leistung zurückblickt wie Sie . . .«
»Nach Ihnen, Herr Gen . . .«
»Wir arbeiten Hand in Hand, ich und der Außendienst. Auf Gedeih und Verderb sind wir eins.«
Ein Klingelzeichen, der Chef des Sekretariats lud den Oberingenieur in ein anderes Zimmer, um die Baupläne fürs Rif und für Ceylon einzusehen, Gutachten über beides zu geben, seine eigene Wahl vorzubereiten.
»Sie lassen sich Zeit mit Ihrer Entscheidung, Herr Oberingenieur! Ein bißchen Berlin wird gut tun, auffrischen. Theater, Revuen, Sie kommen ja in 40 eine ganz veränderte Welt. Fünfzehn Jahre Außendienst ohne Unterbrechung! So lang hat von unsern Herren kaum einer ausgehalten. Sie müssen angenehme Verhältnisse da drüben gefunden haben?«
»Wie man's nimmt, nicht schlecht, ein bißchen einsam. Aber ich bin nicht sehr gesellschaftsbedürftig.« Alle drei Herren lachten. Fünfzehn Jahre Bahnbau in den Cordilleren – das war sicher nichts für »sehr« Gesellschaftsbedürftige.
»Wenn er eine Kutte trüge, sähe er aus wie ein spanischer Abt«, dachte der Generaldirektor, als Praxmarer gegangen war. »Nein, im Harnisch müßte man ihn malen lassen, als alten Konquistador. Aber auch so, im Cut, ist er merkwürdig genug. Nur sehr verbraucht, leider. Ich jedenfalls hab mich besser gehalten. Zehn Jahre älter und seh aus wie sein Sohn.«
Vor einem spiegelnden Ladenfenster prüfte eine Stunde später Praxmarer, warum ihn die Menschen so neugierig ansahen.
»Der Bart macht's« entschied er. Er hatte einen Cutaway an, fünfzehn Jahre alt, aber wie neu und noch nicht zehnmal getragen, einen Strohhut, weil's Sommer war, einen Schirm, weil Regen drohte. Das war alles vernünftig und unauffällig, auffällig konnte nur der Bart sein.
Hunger hatte er, kannte aber kein Restaurant mehr in dieser Stadt, und in seiner Menschenscheu 41 fürchtete er sich vor deutschsprechenden Kellnern, fremden Lokalen, dem Einsam-Dasitzen und Angeschaut-Werden. Das Unverbindlichste war eine Steh-Bar, ein Aschinger, das Vertrauteste zugleich. Als Student hatte man dort von Bockwürsten und Semmeln gelebt, es fiel ihm alles wieder ein, die Brötchen à discrétion, die Erbsensuppe mit Schweinsohren für fünfzig Pfennig; meist im Stehen, weil man als Student keine Zeit hat, zu warten, bis ein Tisch frei wird. Hier traute er sich wieder hinein und wußte, was er bekam; hier hatte sich nichts geändert.
Es hatte sich überhaupt nicht so vieles geändert in Berlin. Viel Autoverkehr, natürlich, aber das fiel nicht auf. So war's in Buenos Aires gewesen, in Rio, Lissabon, Hamburg – die Städte waren sich alle gleich wie die Einsamkeiten. Nur daß man in den Städten so viel, viel einsamer war als in den Wäldern am Rande der Welt.
Praxmarer aß sein altes Studenten-Menü, stellte fest, daß die Brötchen nicht mehr à discrétion auf dem Tisch standen, trank dann eine Art Kaffee, an die er nicht gewöhnt war.
»Ich zähl an den Knöpfen ab, Rif oder Ceylon,« dachte er, denn ihm wurde das Verzweifelte dieser Heimkehr bewußt. »Abzählen und aufs nächste Schiff! Ceylon wäre besser, weil's eine längere Reise ist. Oder ich nehm einfach den Bau, der 42 voraussichtlich am längsten dauert. Ich will nicht alle Finger lang in dies gottverlassene Dorf zurück.«
Er nahm ein Auto, das er sorgfältig gewählt hatte, ein breites, stattliches. Da wollte er sich in die Polster legen, diese Stadt erleben wie eine Stunde im Kino, dann ins Hotel zurück. Pflastertreten machte ihn müd, der Lärm jeder Stadt war unerträglich, er konnte nicht schnell genug wieder aus Deutschland hinaus und zu sich selbst zurück. Der Kaffee schmeckte so ekelhaft nach, daß die Zigarre nicht zu rauchen war. Der Chauffeur saß da, glotzte vor sich hin und fuhr nicht. Sein Warten schien bewußte Bosheit.
»Fahren Sie doch, herrgottnochamal!«
»Wohin will der Herr?«
»Irgendwohin –. Also Charlottenburg, Technische Hochschule.«
Es ging durch den Tiergarten, am Reichstag vorbei, an der Puppenallee, all das war, wie's damals gewesen. Bald wollte Praxmarer von Berlin gar nichts mehr wissen, schob den Strohhut tief in die Stirn, beugte sich nach vorn. Im Fahren sah er nichts als die Spitze seines weißen Bartes und seine gerunzelten Hände.
Dann saß er eine Stunde lang vor dem grauen Hochschulpalast, auf einer grünen Bank, unter Bäumen, starrte diesen Palast an, sah diese riesigen Fenster, hinter denen die Jungens an ihren 43 Reißbrettern hockten, zirkelten, rechneten, Vorträge hörten, trotz Liebessachen und Mensurdummheiten im Kopf auf ihr Diplom hinschufteten, das alle Fenster zur Welt aufstoßen sollte.
»Hier hab ich mich zum Mönch erziehen lassen.« Wenn er heute starb, konnte man seine ganze Biographie auf den Grabstein schreiben: »Eintausend Kilometer Schienenstrang, als Mönch«. Aber er konnte noch zwanzig, noch dreißig Jahre leben, dann wurden es zweitausend Kilometer.
»Eins weiß ich: nie wieder komm ich als Mensch auf die Welt!«
Ob er sich drüben vor's Portal stellte, den Hut abnahm, sein weißes Haupt vorwies und den Jungens in Couleurmützen, mit ihren runden, frisch verkratzten Gesichtern, den Ernsten, die schon kurzsichtig waren, dunkle Röcke und Brillen trugen, den Reifen, die alle neue und neueste Weisheit ihres Fachs im Kopf gestapelt trugen, um es nächstes oder übernächstes Semester bebend vor Angst den Professoren im Examen hinzubreiten, – ob er denen, mit ganz leiser, eindringlicher Stimme, eine Rede unter freiem Himmel schwang? »Erwartet nichts vom Examen und nichts von der Zukunft, Kommilitonen! Strebt nicht, vergeudet eure Jugend nicht, schaut mich an! Es ist nichts, es ist nichts, nichts, was auf euch wartet!«
Nein, auch das wäre nicht richtig – sein 44 Schicksal war Einzelschicksal, seins allein, und galt nicht für die andern.
»Gesetzt der Fall, Niëves wäre heut Zweiundzwanzig. Wir hätten Kinder, wir hätten Sorgen, aber Niëves wäre noch ganz jung und folglich auch ich . . . Der Generaldirektor ist zehn Jahre älter, er hat keine Falte im Gesicht . . .«
Ob sie am Leben wäre, wenn, wenn . . .?
Aber vierzehn Tage vor ihrem Tod hatte ja die ganze Fakultät von Tucuman sie untersucht, alle Reaktionen waren passiv gewesen, kein Tumor zu finden, keine Streptokokke. An diesem Roulette-Hamlet von Doktor und seinem System hatte es nicht gelegen. Er war ihr beigesprungen, als sein Vermögen auf dem Spiel stand. Schicksal war es, und es hatte keinen Sinn, anderen damit Angst zu machen.
Im übrigen gab's eine gute, sichere Heimat, die hieß Hotel. Da floß heißes Wasser ins eigene Bad, gab's ein Beefsteak in stillen vier Wänden, den tiefsten Trost der Trostlosen: ein Bett.
So vermaledeit unglücklich wie in dieser Stunde war er an Niëves' Totenbett nicht gewesen; damals hatte er ja noch nicht begriffen, daß sie fort war; dann kam die Arbeit wütend angestürmt. Aber die wartete Gottseidank auch jetzt wieder, gleichgültig in welchem gleichgültigen Weltteil, und diese Jammerstimmung mußte hinunterzuwürgen sein. 45
Gab's nicht Lichtpunkte, auch in seinem Leben? Alle Menschen, die durch diese Straßen hetzten, im Auto einander zu überholen suchten, mit heraushängender Zunge auf dem Bahnhof angekeucht kamen, um den Zug doch noch zu fangen, – alle stöhnten und tobten um Geld. Das gab's für ihn nicht, er hatte immer genug, konnte Schneiderli-Kinder studieren lassen, konnte seinen Arbeitern Prämien stiften, brauchte nie an die Zukunft zu denken. Seine Arbeit gab doch ein bißchen Macht. Und was noch? Er konnte sich jetzt zum Beispiel Zeitungen kaufen, alle Blätter, die heut abend erschienen, mit auf sein Zimmer nehmen und eins ums andere daraufhin betrachten: so also sehen eure Sorgen aus? Nichts beschäftigte diese Menschenmassen als Angst ums Brot und dieser Marasmus, den sie Politik nennen, der sie Kriege führen, Menschen meucheln läßt, der sie verdarb und verdummte.
Ganz anders stand er wie in einer höchsten, reinlichsten Zelle, er, der zu dieser Menschenwirrnis nicht gehörte! Ihm konnte gleichgültig sein, wer wen wo geschlagen hatte, wie es ihm als Sekundaner gleichgültig gewesen. Seine Wildnisse waren zeitlos, da gab es technische Probleme und Weltbetrachtung von einer anderen Warte her. Wenn's hoch ging, war Plato zu Gast und an bescheidenen Tagen Dickens. In Büchern und Wäldern atmete 46 er. Es gab Musik, denn Radiowellen trugen sie rings um den Globus, dem Einsamsten zu. Es gab des Guten nicht viel, aber all das Ekle und Elende gab es nicht. Er konnte manchmal hungern nach Menschenweide; aber er konnte sich immer weiden an Menschendummheit und Gier, die er zu teilen nicht gezwungen war.
Das Telephonadreßbuch im Hotelzimmer brachte Praxmarer auf den Gedanken: Knudsen. Auch von dem hatte er Zeiten lang nichts gehört, seinen Vornamen und sein Gesicht vergessen, den Klang seiner Stimme nicht mehr im Ohr. Aber er wußte, daß Knudsen der letzte Mensch gewesen außer Niëves, außer jenen vier Wochen mit Niëves, mit dem er wirklich gelebt hatte, Gedanken getauscht, Pläne entworfen, von menschlichen Dingen vertraulich gesprochen.
Vielleicht lebte der noch, zufällig in Berlin, vielleicht stand sein Name in diesem Wälzer mit den Namen habgieriger Hungerleider? Man konnte nach ihm suchen. Aber verflucht und wehe, wenn sich herausstellt, daß auch der schon ins Gras gebissen hat! . . .
Als sich unter den Knudsens ein Harald fand, wußte er plötzlich, daß sein Knudsen »H« geheißen hatte.
»Knudsen Harald und Cie. Kommandit-Gesellschaft«. Das konnte er sein! 47
Praxmarer rief nicht an, fühlte sich zu unbeholfen, um eine fremde Büromädchenstimme zu fragen: »Wissen Sie, ob Ihr Chef vor zwanzig Jahren einmal in Siam war?«
Lieber den Weg unter die Füße genommen – an der Haustür konnte man immer noch umkehren, wenn bis dahin die Stimmung schlug.
Eins von den Geschäftshäusern mit ganz hohen Mieten, livriertem Portier, zwei Lifts, hier hausten nur reiche Firmen. Sein Knudsen war nur »Vertreter« gewesen, Vertreter eines kleinen Hauses, der es sicher nicht so weit, zum Chef einer so noblen Firma, gebracht hatte; ein beschaulicher Mann, der friedlich seine »Tour« unterbrach, wenn er genug besaß, ein paar Wochen lang die Pfeife und den Magen billig zu stopfen.
Schließlich trat Praxmarer doch ins Anmeldezimmer. Trotz Cut und Bart oder gerade deshalb sah er vornehm aus; die großen Diplomaten vor dem Krieg hatten sich so getragen und ebenso teilnahmslos ausgesehen. Daß er immer befohlen hatte, tagaus, tagein, seit zwanzig Jahren, klang aus seinem Ton und strahlte aus seinem bescheidenen Wesen.
»Ich möchte Herrn Knudsen nur sprechen, wenn er meinen Namen kennt, verstehen Sie? Nur dann! Kein Anliegen an die Firma.«
Gleich darauf kam ein Herr im Laufschritt an, 48 blieb vor Praxmarer stehen, blinzelte, lächelte verlegen, machte ein peinlich schlaues Gesicht, als wären sie beide zusammen Spitzbuben gewesen und hätten sich verstohlen was zu sagen.
»Aber kommen Sie doch erst mal herein, kommen Sie doch!«
Der Mann war an die Sechzig, rundlich, aber beweglicher als Praxmarer, nur sehr befangen. Er ritt auf dem Tischrand, als er seinen Gast in den tiefen Ledersessel gedrückt hatte, blinzelte immer noch, als hielte er Ernst für ein Gespenst, und lächelte dies verlegene Komplicenlächeln.
»Gerade jetzt müssen Sie kommen! Vor einem halben Jahr stand alles so gut. Aber jetzt – die Kurse fallen, man weiß nie, was man hat, jeder Tag verändert das Bild. Sorgen, sag ich Ihnen, ähh! Gottseidank, daß Sie selbst da sind. Endlich!« brüllte er fast.
»Gott weiß, mit wem Sie mich verwechseln, Herr Knudsen. Wir haben uns einmal in Siam getroffen. Ich bitte um Verzeihung, ich störe Sie nur . . .«
Herr Knudsen rief ins Telephon, er sei für keinen Menschen zu sprechen, weder persönlich noch telephonisch.
»Es ist unfaßbar, Sie wissen wirklich gar nichts, Sie schneien nur so herein, um mir guten Tag zu sagen?« 49
Er rutschte vom Tischrand, streckte Praxmarer beide Hände entgegen, lachte endlich und lächelte nicht mehr.
»Wie fang ich nur an, das ist ja gespenstisch alles.« Er stotterte eine Art Bericht.
Fünftausend Peso waren in einem frankierten, aber nicht rekommandierten Brief angekommen, zu einer Zeit, als man in Deutschland eine Billion fürs Mittagessen brauchte und für hundert Dollar ein vierstöckiges Haus kaufte.
»In diesem Kuvert gekommen, Herr Praxmarer!« Auf dem breiten Arbeitstisch stand eine Vitrine, darin lag nichts als ein Briefkuvert.
»Hätte ich damals nichts als unbebaute Terrains gekauft!« faselte Knudsen, »dann besäßen wir heute Millionen, der Wert hat sich verhundertfacht, vertausendfacht. Aber so . . . Gescheit hab ich's nicht gemacht, ganz dumm sogar, aber so gut ich konnte. Wohlhabend sind Sie trotz aller Verluste auch heute noch.«
Praxmarer wollte nur den Brief sehen, las ihn – es war für Knudsen etwas Grauenhaftes. Praxmarers Gesicht war wie eine Totenmaske, er weinte nicht, aber aus dieser Totenmaske kamen Tränen, die langsam über verbitterte Wangen liefen und in den weißen Bart sickerten.
»Diesen Brief behalte ich mir.«
Knudsen zog sich einen Stuhl dicht neben den Gast. 50
»Sie haben sie verloren, Praxmarer?«
»Zwei Tage nach diesem Brief.«
Der weiße Kopf nickte, zwei weiße Köpfe nickten wie im Takt.
»Deshalb hab ich ins Kasino gehen müssen,« nickte der eine, »deshalb hab ich nie ein Wort gehört,« der andere, »deshalb war sie so lustig vor ihrem Tod,« »deshalb sollte es eine Ueberraschung sein und hab ich nichts berichten dürfen . . .«
»Sie hat damals gewußt, daß sie stirbt,« dachten beide. 51