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Von dieser Trauung wurde selbst auf dem Standesamt einer so großen Stadt wie München lebhaft gesprochen. Eine Braut, stattlich, Mutterfreuden nah, und hoch über ihrem gewölbten Leib strahlte ein ganz, ganz junges Kindergesicht! Um Haupteslänge überragte sie den Bräutigam, der wie ihr Vater aussah, ganz weiß, mit dünner Haut an den Schläfen, hölzern und abgeklärt wie ein Krippenheiliger, aber beide seelenvergnügt.
Trauzeuge war nur Onkel Clemens, ein Gelehrtenkopf mit komischen, lustigen Winkeln, die über sein ganzes Gesicht systemlos verstreut lagen, der einzige bei dieser Feier, der befangen war.
Sie saßen dann im Halbdunkel der Hotelweinstube, Cilli aß, als hätte sie auf dem Standesamt Hungerstrapazen durchgemacht. Praxmarer spielte nur Mahlzeit, er sah Kaviarhügel, Fische und Grünzeugdelikatessen vor Cilli aufmarschieren und verschwinden, sah die junge Frau mit einem Ausdruck 137 von seliger Dankbarkeit an, benahm sich wie ein Gärtner, der in sanftem Mairegen seine Endivien und Spargel sprießen sieht. Immer wieder machte er Vorschläge und gab dem Kellner dann nicht Speiseordres, sondern peinlich wichtige Rezepte, als hinge Cillis Leben an einem Lot Butter. Sie war stolz, wie es der Lage entsprach.
»Gestern bin ich zwei Stunden bergauf marschiert, Onkel Clemens! Das soll mir eine andere Frau mal nachmachen, im siebten Monat!«
»Ich bewundere dich!«
»Das ist auch zum Bewundern!« begehrte Praxmarer auf, denn Clemens' Ton klang ihm ironisch.
»Sie hält sich fabelhaft tapfer.«
Clemens wurde ganz klein und ging in sich.
»Jetzt eine Stunde hinlegen!« mahnte der junge Gatte, als keine Phantasie mehr eine Erweiterung von Cillis Menü gefunden hätte.
»Wenn du dich auch legst . . . allein fürcht ich mich.«
Aber er war unerschütterlich, brachte sie zwar ins Zimmer, half ihr, sich zwischen Puppen, Heiligen, Teddybären und Gummitieren betten, gab ihr das Buch, das sie zum Einschlafen brauchte; er ließ sich an der Tür den Pfefferminztee zureichen und trug ihn an ihr Lager. Aber dann kehrte er doch zu seinem Gast zurück, obwohl sie darüber böse und sehr unglücklich war. Während sie mutterseelenallein, 138 mutterseelenallein, über ihr Schicksal nachdachte, ihre Rache hin und her überlegte, saß er Onkel Clemens in einer Klubsesselecke gegenüber.
»Vor einem Jahr, – Praxmarer . . . Vor einem Jahr ist sie aus der Schule gekommen. Einen Monat dramatische Künstlerin, drei Monate Heilige, acht Wochen Bauernmagd . . . gottlob, jetzt Ihre Gattin und aufgehoben.«
Er zählte die Monate an seinen Fingern ab und schüttelte immer wieder den Kopf, hilflos, wie man vor Phänomenen steht. Aber Praxmarer verdroß das. »Herrgott, das ist doch alles so natürlich und in den Verhältnissen, in ihrem Naturell begründet! Sie ist kein träger Mensch, kein feiger Mensch, keine Schablone. Ihr Ziel war Mutterschaft, nur hat sie's nicht früher wissen können. Geben wir's uns doch zu, Herr Kranewitter, genau so zickzack sind wir auch unsern Weg gegangen, innerlich wenigstens; nur daß wir den Mut nicht hatten, Konsequenzen zu ziehen. Den hat sie uns voraus! – Uebrigens ist Cilli gekränkt, weil wir uns nicht ›du‹ sagen, und eigentlich hat sie recht. Es ist eine Mißachtung unserer Ehe.«
Sie schüttelten sich die Hände und klopften sich die Schultern.
»Ich taumle wie im Zauberwald, Ernst. Ich hab nicht schlafen können, wenn ich an Cilli dachte. Verstört und verdorben hab ich sie mir vorgestellt, mit 139 den verwilderten Augen, die sie damals hatte, mit diesem erwachsenen, fast schon alten Zug von Angst um den Mund. Und dich hat man mir geschildert als einen müden Melancholiker, der vom Leben nichts will. Jetzt – jetzt ist sie stolz wie keine Braut, die ich je gesehen hab; und du sprühst von Jugend, daß dein Gesicht das weiße Haar Lügen straft.«
»Das soll auch so sein, das ist auch so! Cilli ist meine Rettung gewesen. Ich war auch zu Ende. Aber daß man wieder da anfangen kann, wo man aufgehört hat! Ich bin einmal im Leben glücklich gewesen, vier Wochen lang, und hab gedacht . . .«
»Trinken wir was, Ernst? Hier ist Halbdunkel, bilden wir uns ein, es ist Abend. Wenn man einen Burschen wie dich kennen lernt, das muß ein bißchen gefeiert werden.«
Sie stießen an, schlugen wieder Hand in Hand.
». . . Dir verdank ich alles!« sagte Praxmarer, mitteilungsbedürftig und sein Herz auf der Zunge. »Du hast sie erzogen! Weißt du, daß es viel schöner so ist, als wenn das Aennchen . . .«
»Aennchen?«
»So muß sie heißen. Ein altertümlicher Seemann ist Cilli nachts erschienen, dreimal, zum festgeschlossenen Fenster herein, in einem blauen Rock mit goldenen Knöpfen, und hat ihr befohlen, daß das Kind Aennchen von Tharau heißt.« 140
»Wenn's ein Bub wird?«
»Siehst du, das wäre ein Fehler, das kommt nicht vor. Ich bin in der Glücksserie, es kommt und gedeiht alles, wir brauchen nur zu wünschen, es geschieht.«
»Und wie habt ihr die Zukunft befohlen?«
»Ein Landgut, das ist Cillis Herzenswunsch und meiner auch. Ich muß was arbeiten, aber Eisenbahnen hab ich genug gebaut. Ein Gut mit Massen von allem, was jung ist, Kälber und Ferkel, Küken und Fohlen, alles durcheinander, in der Sonne, mit Schnattern und Blöken, und mitten drin Aennchen von Tharau. Unser Gut soll nichts tragen, verstehst du, kein Geld, keine Gewinne! Es soll uns nur das gute Brot geben und die Milch, die Tannenluft, das feste Dach über'm Kopf. Cilli braucht Aufgaben, ihre Phantasie muß Stoff haben, sie hat starke Hände und den lebhaftesten Geist, dem ich je begegnet bin. Da kann sie hineingreifen, im Stall, im Garten, mit dem Schlüsselbund an der Schürze. Sie singt und spielt so gern und will ein Kind sein. Das ist man nur auf dem Land. Wir werden das Haus voll Gäste haben, jedes Wochenende wird ein Fest, aber wir werden auch mit den Knechten und Mägden eine Familie sein . . .«
»Hast du so deine Eisenbahnen gebaut?«
»Nicht ganz, aber das war unter fremden, farbigen Menschen, da hab ich fremdes Geld zu verwalten 141 gehabt und war selbst nur ein Mietling. Jetzt leben wir unter Brüdern, unser Kind ist ein Bauernkind, wir schreiben keine Berichte und wirtschaften keine Streckengelder heraus. Das Land nährt uns, wir geben ihm unsere Arbeit.«
Cilli war in Groll eingeschlafen, erbarmungslos hatte Ernst sie mutterseelenallein gelassen; aber als sie aufwachte, Sonnenkringel durch die Stores fielen, dies große, heitere Zimmer mit vielen Spiegeln um den stattlichen Bau eines ehelichen Doppelbettes sie umgab, war ihr Herz doch voll Glück.
Wenn sie jetzt klingelt, wird ein Mädchen kommen und »gnädige Frau« sagen, – sie tat es sofort.
»Gnädige Frau wünschen?« Bisher hatte diese Anrede sie bedrückt, sie war sich wie eine Betrügerin vorgekommen. Aber seit heut war sie es ja wirklich: Frau Cilli Praxmarer . . . Frau, gnädige Frau!
»Geben Sie mir das Telephon ans Bett, bitte.«
Sie verlangte die Halle. »Hier Frau Praxmarer, kann ich meinen Mann sprechen?«
»Ernsterl!« rief sie, »das Aennchen von Tharau strampelt! Ja, hier Frau Cilli Praxmarer, ich soll dich vom Aennchen grüßen!«
»Soll ich raufkommen, Cilli?«
»Nein, nein, bleib nur beim Onkel Clemens. Er ist doch ein ganz lieber Kerl? Merk dir alles genau, was er über mich sagt!« 142
Das Telephongespräch dauerte lang, eine halbe Stunde lang, denn Cilli hatte soviel zu sagen, was man nur telephonisch sagen kann, weil einem die Tränen jedes Wort wegschwemmen, wenn Ernst daneben sitzt.
»Ich muß was tun, damit du siehst, wie dankbar ich bin! Durch ein Feuer und ein tiefes Wasser für dich gehen, ich weiß nicht, etwas ganz Großes. Was wär geworden ohne dich, Ernst! Wie kann nur Gott so ungerecht sein, daß er grad mich, grad mich so glücklich macht! Ich lieg in einem so saubern Bett, weißt du, in jeder Beziehung, hab das Telephon am Ohr, und du bist am andern Ende, Ernst, und das Aennchen strampelt. Darf ich dir noch viele, viele Kinder schenken, nur für dich? Weißt du, ich bin zur Mutter geboren, Mutter sein ist mein Beruf, das weiß ich jetzt erst, und du hast mir's gesagt! Wie bist du nur drauf gekommen, daß du mich zu dir nimmst, in deinen Arm und in dein Bett und auf dein Schloß mit dir? Sag doch, Ernst, ich begreif es ja noch immer nicht – ist es denn wahr? Träum ich nicht? Muß ich nicht plötzlich aufwachen und im Stroh liegen und in ein strenges Haus, wo man Demut lernt und sein Kind nicht sieht? Weißt du, das hätt ich nicht verdient, aber so wie's jetzt ist, das hab ich auch nicht verdient! Wie bist du nur drauf gekommen?«
Sie lag weich im Bett, er stand in einer engen Zelle 143 ohne Luft, aber auch er wurde nicht müd; dies oft, im Dunkel und leise ins Ohr geführte Gespräch war jedesmal neu.
»Lieb hab ich dich gleich gehabt, wie du mir so dein Leben erzählt hast, Cilli. Und damit war doch alles andere nur Egoismus . . . Was wir tun, ob's gut oder schlecht scheint, ist Egoismus.«
»Sag das noch einmal, Ernst, das macht so glücklich! Egoismus, daß du mich geheiratet hast?«
»Ja, selbstverständlich, das doch vor allem. Ich war ja tausendmal elender dran als du. Jetzt hab ich Weib und Kind und bin wieder ein Mensch, beinah ein junger Mensch geworden.«
»Sag mir, Ernst, und wenn du an Niëves denkst? Bin ich dann nicht auf einmal ein schlechtes, leichtsinniges, fremdes Mädel für dich?«
»Nein!« Praxmarer stand in der Telephonzelle der Halle und wischte Tränen aus seinen Augen. Eine Treppe höher lag Cilli im Bett, lief über wie ein Brunnen. »Nein, Cilli, das ist anders. Seit ich dich hab, ist mir . . .« Es war furchtbar schwer, davon zu sprechen. »Es ist mir nicht mehr, als ob Niëves tot ist. Ich hab sie wieder gefunden, nach fünf Sehnsuchtsjahren, so ist mir.«
»Und das hast du gleich gefühlt, wie ich so bei dir eingedrungen bin?«
»Ich glaub, ja, gleich wie du gekommen bist.«
»Darf ich zu dir beten, Ernst? Darf ich mir dein 144 Gesicht vorstellen, wenn ich an den lieben Gott denk? Wirst du nie bedauern, daß du heut früh auf dem Standesamt ›Ja‹ gesagt hast? Also wenn du nicht mein lieber Gott sein willst, dann bist du doch mein Vater und nicht nur mein Herr Gemahl? Beides bist du, einem Mann hätte ich nie gehorchen können, aber dir will ich folgen wie ein Pudel, mein ganzes Leben lang. Ich bin ja so froh, daß du zwanzig Jahr älter bist als ich . . .
Sechsundzwanzig? Aber geh, das ist doch dasselbe. In vierzig Jahren sind wir ganz gleich alt, es ist überhaupt dasselbe, ein Mann von vierundvierzig und ein Mädel von siebzehn. Nur daß du mich noch erziehen mußt, ich kann das verlangen, streng mußt du mit mir sein und darfst mir nichts durchgehen lassen. Ja, ich komm gleich runter, küß die Hand, vergelt's Gott tausendmal.«
Sie kam majestätisch durch die Halle geschritten, ihr kostbarer Sommerpelz verbarg, daß sie Familienwege ging, ihr Defreggermädelgesicht war ein einziges Strahlen. Onkel Clemens hatte in all seinen Haremsjahren keinen Ausdruck von solcher Hingabe auf einem Frauenantlitz gelesen wie jetzt, als Cilli sich zu Praxmarer neigte.
»Hab ich lang warten lassen? Verzeiht: du Ernst, sie strampelt immer noch!«
»Mädel, du schießst auf wie ein Spargel,« sagte 145 Clemens. »Ich glaub, du bist in den drei Stunden gewachsen, seit wir hier sitzen.«
Die beiden Männer waren wirklich nur Männerchen neben ihr.
»Ernst ist noch damit einverstanden, Onkel Clemens. Wenn er befiehlt, hör ich sofort auf zu wachsen!«
Praxmarer fixierte streng einen Herrn, der sich, ein paar Tische entfernt, für Cilli zu interessieren schien. Er litt das nicht, es schmeichelte ihm, aber er erlaubte es nicht. Seine Frau war nicht da, um zweifelhafte Burschen zu interessieren.
»Ich möcht, daß wir nach Innsbruck fahren. Es ist vier Uhr, um zehn sind wir dort. Oder wir übernachten irgendwo, unterwegs . . . Wir bringen den Onkel Clemens in sein Kabinett, nein, wir essen zusammen im Innsbrucker Hof, gelt, das tun wir?« Praxmarer hielt keinen Chauffeur mehr, seit sein Wagen diese kostbare Last Cilli trug.
»Ganz verlassen kann man sich nur auf sich selbst.«
Was zum Uebernachten für ein paar Reisetage nötig war, hielten sie immer im Auto verpackt; sie führten ja – Cillis Unruhe war nur zu verständlich – ein Landstraßenleben, sahen sich Häuser und Güter an, die zum Verkauf standen, studierten Landwirtschaft auf Musterhöfen. Sie fuhren ziellos an Flußläufen hin, die im Abendlicht schimmerten, schliefen gern in Dorfgasthöfen, in denen früh morgens die Hähne weckten. Das sollte bald anders werden, wenn die 146 Wahl getroffen, das Haus gekauft und Aennchen geboren war. Einstweilen kam es darauf an, daß keine der stets gefährlich drohenden Depressionen sich auf Cillis braunen Scheitel senkte, daß ihr Auge immer Neues ergreifen konnte und ihr Herz sein tägliches Spielzeug bekam.
»Also auf nach Innsbruck!«
Onkel Clemens saß allein hinten im Wagen, Cilli war beim Chauffieren unentbehrlich. Sie hielt die Karte, »navigierte«; fremde Personen durfte Ernst nie um den Weg fragen, das war ihr Ehrgeiz. Sie hupte außerdem, bediente die Winker, und wenn auf einem begegnenden Wagen geschimpft wurde, war sie es, die zurückschimpfte.
»Der Idiot sind Sie doch, wenn's schon einer ist!« »Wer hat geblendet, Sie hab'n geblendet!« »Wo Sie den Führerschein her hab'n, das möcht ich auch wissen!« Sie beherrschte glanzvoll den Jargon der Heeresstraßen und war beim Fahren immer ganz beschäftigt.
Von München bis Innsbruck, am Fuß der Zugspitze hin, in den Pässen auf der Höhe von Mittenwald und im Mondschein am Rande des Inn, variierte Clemens Kranewitter den einzigen, immer gleichen Gedanken: wie sinnlos es ist, an Zukunft zu denken. So viel Sorgen, Qual und Vorwürfe hatte er sich um dieses Mädel gemacht! Und jetzt . . . 147 Immer wieder betete er sich den Ablauf dieses einen Cilli-Jahres vor: einen Monat dramatische Künstlerin, drei Monate Weg zur Heiligen, acht Wochen Bauernmagd, dann ein verstörtes, gehetztes Kind, das seinen Kummer nicht verriet – ihn, den einzigen Freund, haßte und von der Tür ihres Herzens wies. Wie dann die Ereignisse sich noch mehr überstürzt hatten! Die sechzehnjährige Nichte trug ein Kind unterm Herzen, dessen unbekannter Vater Hüterbub oder Stallbursch war, ein Kind, das sie haßte . . . Aber zugleich kam der seltsame Exot in Sicht, der um ihre Hand bat, reich war, an den man nicht glauben konnte; und dem man trotzdem unbesehen »Ja« sagen und die Vollmachten geben mußte, weil alles, alles andere ja noch viel katastrophaler war.
Und jetzt . . . »Das Maultier sucht im Dunkeln seinen Weg«, sprach Onkel Clemens fromm vor sich hin. Jetzt war Cilli die glücklichste aller jungen Frauen, verkündete, daß man's Tische weit hörte: »Das Aennchen von Tharau strampelt!«, kannte Düsen und Ventile ihres Motors, alle Dörfer, alle Wasser ihrer Heimat; ein verdienter, ein bewährter Mann mit weißem Haar und jungem Herzen lag ihr zu Füßen, baute ein Schloß um sie, las die Wünsche von ihren Augen. Von der nahen Entbindung sprach sie wie von einem Fest, ihr Kind, ihr Kind war A und O des Lebens! . . . Hätte ein 148 weiser und lebenskundiger Erzieher dies Schifflein glücklicher gelenkt?
Ueber sechzig wollte Praxmarer nicht fahren. »Aber ich helf doch aufpassen!« rief Cilli. »Schneller, schneller! Was du nicht siehst, seh ich!«
»Glaubst du, ich fürcht mich, wenn er fährt?« fragte sie in den Wagen hinein. »Wenn er fährt, ist man sicher, das ist wie in Gottes Hand.«
So kamen sie in Innsbruck an. Clemens hatte die Wunder noch lang nicht gefaßt, zupfte sich immer noch an der Nase, wußte nur als wahr, daß er nie in einem besseren Wagen gefahren, einem besseren Führer sich anvertraut hatte. Sein Innsbruck war's, die Stadt in Alpenluft, mit dünnen Lichtern, die Schneeberge zum Greifen nah, sein Inn, seine Brücken, – es mußte wohl alles wahr sein.
Sie besuchten das »Kabinett des Dr. Caligari«, den armen Raum mit verstaubten Büchern und blinden Scheiben, der einmal für Cilli Inbegriff aller Mystik und Pracht gewesen. Sie fuhren am Theater hin, wo sie als Kind, vor langer, langer Zeit, die Innsbrucker unbewußt gelehrt hatte, was edle Nacktheit ist. Die chirurgische Klinik und Maria im Haag, das Landerziehungsheim, alle Stationen von Cillis Erdenwandel sollten noch besucht werden. Ihre Vergangenheit sollte Cilli bleiben, Praxmarer wünschte keinen Strich 149 darunter. Wie ihr Blut aus diesem Land gezüchtet, wie sie ihre Schönheit und ihren majestätischen Gang den Freien, Starken dieses Landes dankte, so sollte sie auch weiter dem gehören, was ihre Seele geformt hatte. Das Lämpchen im Weihwasserbecken über Clemens' Diwan sogar hatte Praxmarer gefunden und angeknipst, einen Fichtennadelzweig über dem Kamin langsam verprasseln lassen.
Er war redefreudig:
»Grad hier bleiben wir, Clemens, grad hier in Tirol, wo alle es wissen! Wenn gar kein Geheimnis um uns ist, dann kann auch nicht geflüstert werden. Im Traum fällt's uns nicht ein, etwas zu verdecken! All das ist notwendig gewesen, unentbehrlich, um uns zueinander zu führen.«
Menschen, die, so weißhaarig und dünnhäutig, still durch ihr Leben gehen wie Praxmarer, wirken gefährlich, wenn sie einmal drohen.
»Keinem will ich's raten, daß er sich an Cilli das Maul zerreißt, heut nicht und nie! Ich glaub, bei Gott, dem geht's nicht gut . . .^
Aennchens Termin war gekommen, aber Aennchen von Tharau kam nicht. Im Storchenhaus – dem Krankenhauspavillon für Mutterschaft – war jedes Zimmer mit Frauen besetzt, die ihrer schweren Stunde sehnsüchtig warteten. 150
»Man weiß da nichts,« schloß der Professor jede Konsultation, »es kann an den Sternen liegen, kann eine Nachwirkung der Hungerjahre sein. Alle Mütter warten dies Jahr und haben übertragene Kinder. Wir müssen uns in Geduld fassen.«
Cilli schlief im Storchenhäuschen, auf einem Lehnstuhl an ihrem Bett schlief Ernst.
»Geh heim, ich fleh dich an!« bat sie jede Nacht, wenn der Schnee vor ihrem Fenster sich rosig färbte. »Du bist doch so müd, Ernst.«
Aber wenn er gehen wollte, nach langem Abschied, horchte Cilli in sich hinein: »Jetzt, wart, jetzt geht's los!«
Sie machte ein Inferno durch, Nervenqualen, die ihre Lippen weiß färbten und Tränen der Wut springen ließen. Zwischen ihr und Aennchen von Tharau war eine Feindschaft ausgebrochen, nie zu kitten.
»So was soll leben! So was darf mich vernichten und soll leben . . .«
Wenn Praxmarer empört war, denn sein Kind, sein Aennchen von Tharau, durfte niemand schelten, dann kamen die Blasphemien noch gräßlicher aus Cillis Mund.
»Ich steck's dir in Zeitungspapier gewickelt in den Briefkasten, du kannst es behalten! Kauf ihm eine Ziege als Amme! Aber ich geh meiner Wege, ich 151 will's nicht sehen und nicht säugen. Bin ich eine Kuh? Ich will nicht kalben und will keine Kuh sein!«
So lästerte sie noch in die Qual der Entbindung hinein, während vier Menschen viele Stunden lang ihr Lager umstanden, alle ihr halfen. Immer wieder gab es Aether, sie bekam mehr davon, als man sonst für drei schwere Geburten verbraucht. Der härteste Gynäkologe widerstand diesen flehenden Augen nicht. Praxmarer stand an ihrem Bett, hielt ihr die Stirn und eine Hand, durfte sich vom Abend bis zum Morgen nicht von der Stelle rühren. Wenn er sich nur bewegte, kam aus Cillis halber Betäubung: »Da war eine liebe Hand, die mir geholfen hat. Jetzt ist sie weg, jetzt ist alles Gute weg.«
Zehn Stunden lang sprach sie hemmungslos und ohne von sich zu wissen – schalt und bettelte, wenn Aether gespart wurde, haderte mit ihrem Kind und liebte hingegeben ihren Mann, ohne zu wissen, daß er neben ihr stand. Ihr stärkstes Gefühl, das zu ihm, offenbarte sie ganz.
»Einer war gut zu mir. In meinem ganzen Leben war einer gut zu mir.«
»Bald haben Sie noch ein Kindchen dazu, junge Frau!«
»Um so was quält man mich! Für was denn, für was denn? Ich zerdrück's ja doch zwischen den 152 Beinen, sobald sich's heraustraut. Das darf nicht leben!«
Wie es heißen soll, fragte einmal der Professor, der eine so dramatische Entbindung noch nie geleitet hatte.
»Küchenmesser soll's heißen, Herr Professor, Küchenmesser . . .«
Alle waren entsetzt, die fromme Hebamme, die zage Hilfsschwester, die Aerzte, und blutrot vor Scham war der Ehegatte.
»Soll's ein Bub oder ein Mädel sein?« fragte man später einmal.
In diesem Augenblick hob mit Schmerzen ohne Maß die letzte, grausamste Phase der Geburt an. Wehen durchrasten Cilli, denen kein Betäubungsmittel gewachsen war.
Aber aus der Bewußtlosigkeit von Schmerzen und Aether schrie Cilli, daß alle Augen feucht wurden so voll Pathos und Liebe:
»Nein, kein Mädel! Damit es nicht leiden muß, wie ich heut leide!«
Dies schönste Wort, das er je am Kreißbett gehört, trug der Professor gleich nach der Geburt in sein Tagebuch ein, selbst vor Müdigkeit dem Zusammenbruch nah.
Von dieser Ekstase an rauschte ein Strom von Mutterzärtlichkeit aus Cillis Worten: 153
»Ist es jetzt da, das Kindichen, das Kindichen? Bist du schon da, mein Kindichen?«
Es war doch ein Aennchen von Tharau, ganz blau und fast erstickt von all dem Gift, mit dem man Cillis Schmerzen gelindert hatte, groß, mit einem Haarschopf, dick und blau. Der Professor hielt es an den Füßchen, schwang es in weitem Bogen durch die Luft, zehn Minuten lang, bis Arme und Kreuz ihm weh taten, patschte hart auf den violetten Hinterteil, ließ die Hähne laufen und gab Wechselbäder, während Cilli im tiefsten Schlaf der Erschöpfung lag. Als sie aufwachte, sah sie Arzt und Kind nicht mehr, die im Nebenraum weiter Gymnastik trieben. Sie glaubte sofort, das Kind sei tot, sie schrie und schwur:
»Ich will sofort alles noch einmal durchmachen, wenn das mein Kindichen lebendig macht! Es war ja nichts, wenn nur das Kindi lebt.«
»Aber es lebt doch, Frau Praxmarer, es lebt doch!«
»O ihr Lügner! Ich weiß, daß es tot ist! Hättet ihr mich nur allein gelassen, dann wär alles viel besser gegangen. Ihr habt die Schuld, ihr alle!«
Der Arzt kam mit dem geretteten, atmenden, sauberen Säugling herein; vier Menschen, die eine Nacht voll schwerer Arbeit hinter sich hatten, blickten einander an und brachen in befreiendes Lachen aus. Cilli sah sich erkennend um:
»Hab ich viel dummes Zeug geschwätzt?« 154
Jetzt lag druselnd ein weißes Bündel neben ihr, sie bekam den besten und süßesten Kaffee ihres Lebens, man zog die blutbeschmutzten Schürzen aus. Sonne kam, mit Amselruf und aller Pracht, zum Fenster herein.
»Bin ich nicht tapfer gewesen?« fragte Cilli. »Ich begreife mich nicht, ich bin doch sonst eine beherrschte Person. Gott, wie muß ich mich schämen!«
»Nein,« schwur Praxmarer, »du bist sehr, sehr tapfer gewesen!«
Später saß er im Restaurant des Hauptbahnhofs, alle Glieder taten ihm weh, er aß, draußen rollten aus und ein die Morgenzüge.
»Einsteigen nach . . .«, trompetete ab und zu der Beamte. An vielen Tischen saßen trübe Menschen mit heimatlosen Gesichtern, aßen hastig, zahlten bös und stoben davon.
»Ihr sollt nicht so auf Bahnhöfen sitzen und ruhelos sein, Cilli und Aennchen von Tharau! Jetzt sind wir beisammen, wir drei, bauen das Nest, in dem ihr immer zu Haus seid!«
Alle Wirrnis, für die er heut dem Himmel danken mußte, war nur in Cillis Leben gekommen, weil sie keine Heimat gehabt. All ihr Tasten hatte dieser Heimat gegolten, die jetzt errichtet wurde, auch sein Gram und alles, was er gelitten. Weise Niëves, immer lebendige, liebe, weise Niëves . . . Sie hatte ihm ein Kindlein geschenkt, sie lag drüben im 155 Storchenhäuschen und schlief, sie war heute geboren worden. Diese drei waren eins: Niëves, Cilli Aennchen von Tharau.
Der verdrossene Kellner bekam von einem barschen Herrn mit weißem Haar, mit braunen Augen im roten Feld, ausländischer Typus, für den Thé complet einen Hundertmarkschein und fand die Sache verdächtig.
»Behalten Sie den Rest!« sagte der barsche Herr. »Ich sag Ihnen, ich will nichts heraus haben!« 156