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Die Landstraße zog sich durch Föhrenwälder, über ihre Wipfel warf die Aprilsonne goldene Lichter, lief am Rande weiter Seen hin, deren Ufer unbebaut waren, auf deren Wasserfläche 206 nur Wildenten und -gänse ihr Spiel trieben, die so friedvoll und menschenverlassen dalagen wie Seen des Urwaldes.
So nahe von Berlin, dachte Rümelin, könnte man sich eine Hütte bauen. Kein Radio hören und keine Zeitung lesen – könnte ein Mann mit seiner Frau gut und glücklich sein.
Dann kam bebautes Land, Bauern rissen mit dem ochsenbespannten Pflug die Äcker auf, manchmal gingen statt des Ochsen zwei Weiber im Geschirr. Die Dörfer, an denen das Auto vorüberglitt, waren eng und arm, aber vollendet in Sauberkeit der frisch gekalkten Häuser, der Ställe und Gemüsegärten. Viel Sinn für Schönheit zeigte sich überall, Blumenbeete, in denen es jetzt schon blühte, zierliche Starenhäuschen, und jedes Dorf hatte einen kleinen Marktplatz, der so eng und gastlich war wie eine gute Stube. Rümelins Auto führte die Hakenkreuzfahne, aber nirgends hob sich eine Hand zum Hitlergruß, kein Auge wandte sich ihm zu. Im Gegenteil, die Bauern und Arbeiter kehrten diesem flatternden Symbol der nationalen Erhebung nur den Rücken. Alle Fenster waren leer, die Kinder und Greise, die von Fensterplätzen aus das Leben zu beobachten pflegten, hatten sich davongemacht, sobald sie die Hitlerfahne kommen sahen. Es war Rümelin, als führe er, in der Uniform eines siegreichen Heeres, durch feindliches Gebiet, das frisch unterworfen war.
Dann tauchte, mit Fabrikschornsteinen und riesigen roten Mauern, in der Ferne Oranienstein auf, Rümelin gab Gas, soviel er nur hatte, sauste an den stolzen Villen der Fabrikherren, an Laubengärten und Arbeiterkasernen vorbei – er hatte es eilig, er fühlte sich nebelhaft seinem Ziel nahe, Naumann zu befreien, wieder eines Blickes von Gerda Reischach würdig zu sein, in die Gemeinschaft der Menschen wieder aufgenommen zu werden, die ihm ihre Türen geöffnet hatten, als er arm und fremd sein Festungsgefängnis verließ.
Zwischen dem nördlichen Vorort von Oranienstein, wo ein mit Hakenkreuzen bewimpelter Wirtshausgarten neben dem anderen lag, und dem fünf Kilometer nördlich gelegenen Konzentrationslager herrschte lebhafter Pendelverkehr. SA brauste 207 die Landstraße hinauf und hinunter, auf Motorrädern, in Kleinwagen, in großen, vornehmen Limousinen, SA hockte singend unter den Kastanienbäumen, füllte die Wirtsstuben, SA-Leute waren in den dörflichen Fremdenzimmern einquartiert und brüllten »Heil Hitler!« zum Fenster hinaus. Sie standen am Brunnen und wuschen sich, sie warfen den Mädchen, die aufs Feld hinauszogen, saftige Witze nach, sie rissen die Knochen zusammen und legten die Hände an die Hosennaht, wenn ein Offizier die Straße passierte. Hier war es kein Zweifel mehr: die braune Armee hatte das Land unterworfen, war Herr, war zu Hause.
»Die Arbeitslosigkeit nimmt um soviel Mann ab, wie die SA zunimmt«, sagte Karl Schniedecke, der bisher, während der ganzen Fahrt, geschwiegen hatte.
»Weißt du, wie der Lagerkommandant da draußen heißt?«
»Oh, das ist ein berühmter Mann, Herr Leutnant! Kein geringerer als der Herr Fememörder von Kröger. Die sanftesten Brüder sind es ja nirgends, die sich zu Lagerkommandanten gemacht haben, aber der macht ihnen allen noch was vor. Eine Disziplin – pfui Teufel, der Herr Leutnant werden sich wundern.«
»Wieviel Mann, ich meine wieviel Schutzgefangene, liegen da draußen?«
»So um die dreitausend, es können auch dreitausendfünfhundert sein. Alles politische Verbrecher, Arbeiter, die mal in einem Betriebsrat waren, die mal einen Streik organisiert haben oder so was. Reichstagsabgeordnete und Landtagsabgeordnete, viele Dutzend. Und dann Redakteure und Lehrer und Rechtsanwälte, Jungarbeiter von den roten Sportvereinen und Bildungsvereinen – also mit einem Wort, das ganze hochverräterische, marxistische Gesindel, Freidenker, Kriegsgegner. Ein paar Pfaffen sind auch schon dabei, die noch nicht verstanden haben, daß der liebe Gott Nazi geworden ist.«
»Es ist hart für die Leute«, murmelte Rümelin. »Aber das ist so wie Kriegsgefangenschaft. Es ist ja auch ein altes Kriegsgefangenenlager – im Krieg haben Millionen von Menschen 208 so gelebt, viele Jahre lang, und sind dann vergnügt wieder nach Hause gefahren. Man darf heutzutage nicht weichlich sein.«
»Ganz so schön ist es vielleicht doch nicht, Herr Leutnant.«
»Wieso?«
»Ja, im Krieg, die feindlichen Soldaten, die sind eingesperrt und bewacht worden, damit sie nicht wieder mitkämpfen können. Aber sonst hat sich kein Aas um sie gekümmert. Schließlich hat der Feind auch Gefangene gemacht, und wenn die einen geschnickt worden sind, dann haben die drüben die anderen geschnickt, und das hat jeder gewußt. Aber die Kerls, die jetzt im Stacheldraht stecken, die sind zur Erziehung da, die müssen um- und umgebildet werden, damit sie anständige Bürger werden, und da hat der Herr Fememörder von Kröger natürlich eine viel schwerere Aufgabe als so ein Lagerkommandant in Kriegszeiten. Die verstocktesten Sünder, das sind die Kommunisten und die meisten Juden. Die begehen auch aus lauter Bosheit immerzu Fluchtversuche und müssen auf der Flucht erschossen werden. Und immerzu Selbstmord, nur um den Herrn Kommandanten zu ärgern, daß er sich gar nicht zu helfen weiß. Die sind natürlich auch in einem besonderen Lager und dürfen kein Wort miteinander sprechen, sonst gibt's was mit dem Leder. Natürlich dürfen sie auch keine Zeitung lesen und keine Briefe bekommen und keine Briefe schreiben, bis sie vollständig gebessert sind. Aber exerzieren und arbeiten dürfen sie natürlich auch, damit ihnen die Zeit nicht lang wird. So, Herr Leutnant, da vorn, wo die Sonne so im Drahtverhau blitzt, das ist schon das Lager. Nur nicht zu nahe an den Draht herangehen, Herr Leutnant, der ist elektrisch geladen. Das muß nämlich sein, weil die Jungens immer noch nicht zufrieden sind. Die wühlen sich in die Erde hinein wie die Ratten, nur um herauszukommen.«
Der Fememörder von Kröger, vor ein paar Jahren dreifach zum Tode verurteilt, aber von der »marxistischen Schandregierung« amnestiert und seit seiner Begnadigung ein tapferer 209 Tribun der nationalsozialistischen Bewegung, Mitglied des Reichstags, Würdenträger der SA, trug die schlichte Uniform der Hitlerschen Garde, das braune Hemd, die Mütze, die breite Hakenkreuzbinde am linken Arm, den silbernen Adler der Offiziere und darunter das Eiserne Kreuz erster Klasse. Dieser Orden war nach Kriegsende, als die geschlagene Armee aufgelöst wurde und die Sozialdemokraten gegen die Kommunisten kämpften, über die kaiserlichen Offiziere niedergegangen wie Regentropfen im Frühling. Derselbe Novemberverbrecher und erste Präsident der deutschen Republik, Fritz Ebert, hatte Herrn von Kröger sein Kreuz verliehen, den man heute, wäre er nicht rechtzeitig gestorben, in einem dieser Konzentrationslager erziehen müßte. Aber der Fememörder trug es trotzdem, es sah den echten, ehrlichen Eisernen Kreuzen aus den ersten Kriegsjahren so ähnlich, man sah ihm nicht an, wer es verliehen hatte.
Obwohl er so im kriegerischen Glanze strahlte, Herr über Tod und Leben von dreitausend Menschen, war Herr Fememörder von Kröger tief verstimmt. Sein Gesicht hellte sich auf, als Rümelin in seine Amtsstube trat.
»Endlich ein Mensch, mit dem man ein Wort sprechen kann!« rief er, bestellte bei seiner Ordonnanz Bier und kalten Aufschnitt aus der SA-Kantine und drängte seinen Gast in den bequemsten Stuhl.
Durch ein Fenster seines Büros sah man auf die Landstraße hinaus, wo Motore der SA-Wagen knatterten, Doppelposten unter Gewehr standen, kleine Abteilungen von Schutzhäftlingen unter schwerer Bedeckung dann und wann das breite, schmiedeeiserne Tor passierten.
Das andere Fenster ging auf das Lager hinaus, eine viele Hektar große Sandfläche, lückenlos eingeschlossen von jenem elektrisch geladenen Stacheldrahtwall, den kaum eine Maus lebendig passiert hätte. In drei breiten Straßen zogen sich die Barackenreihen von einem Stacheldraht zum anderen, sehr arme Holzbaracken, mit Wellblech gedeckt, mit kleinen geschlossenen Fenstern. Eine Wolke von scheußlichem Mief lag 210 über dieser Gefangenenstadt, Küchendünste und Latrinengeruch ineinander vermengt, jammervolle Wäsche hing an langen Leinen zum Trocknen, und selbst die strahlende Sonne konnte an diesem traurigen Bilde nicht viel bessern. Kreuz und quer zogen sich durch das Lager breite Gräben, um das Regenwasser abzuleiten, da und dort stand eine beim Roden ausgesparte, magere Föhre, die junges Grün trieb. Sonst war von Hygiene und Schmuck gar nichts zu sehen.
»Die Kerls sind jetzt auf Arbeit«, erzählte der Kommandant. »So ein bißchen Wald säubern und Erdarbeiten. Es kommt nichts dabei heraus. Werkzeug haben wir nicht, mit den bloßen Händen ist nicht viel anzufangen. Aber es macht ihnen doch Spaß, nachher, um halb eins, da sollen Sie mal sehen, wie die sich über die Freßkübel stürzen!«
Er steckte sich eine Zigarre an, nachdem Rümelin sich bedient hatte, hockte sich nach Schnierwinds Muster auf einen Tisch und ließ die dicke Hundepeitsche, die er keinen Augenblick aus der Hand legte, als sei sie ein unentbehrliches Symbol seiner Macht, durch die Luft fahren.
»Können Sie mir sagen, Rümelin, warum ich auf diesem verfluchten toten Posten sitze? Was steckt da für eine verdammte Intrige dahinter? Oder hat Schnierwind Sie geschickt, um mit mir über Beförderung zu reden?«
»Nein, ich komme nicht im Auftrag, ich bin da, um –«
»Fememörder Heines ist Polizeipräsident in Breslau. Fememörder von Klein ist Oberpräsident irgendwo in Ostpreußen. Judenmörder Graf Helldorf ist Polizeipräsident von Potsdam. Alle haben sie Karriere gemacht, die Verdienste ums Dritte Reich haben wie ich, genau dieselben Verdienste. Und mich fahren sie auf ein totes Gleis – warum nur, zum Teufel? Gefällt dem Hitler meine Nase nicht mehr, oder habe ich dem boshaften Zwerg, dem Schnierwind, mal aus Versehen auf den Kopf gespuckt? Ich bin kurzsichtig, ich hab vielleicht nicht gesehen, daß er um mich herumkrabbelt. Also, prosit, Rümelin – legen Sie mal ein gutes Wort für mich ein! Wenn ich jetzt noch lange übergangen werde, dann bin ich ganz vergessen 211 und kann in fünfzig Jahren immer noch hier hocken. Auf die Dauer ist es in so einem Zuchthaus nämlich ganz egal, ob man Sträfling oder Kommandant ist, es ist ein und derselbe Stumpfsinn!«
»Prost, Kröger!« sagte Rümelin. »Nehmen Sie's nicht so schwer. Auf welchem Posten man steht, ist schließlich egal, wenn man nur seinen Dienst tut.«
»Das ist Instruktionsstunden-Geschwätz, da pfeif ich Ihnen drauf! Glauben Sie, dafür habe ich mich dreimal zum Tod verurteilen lassen? Aber die Regierung soll nur so weitermachen und ihre besten Vorkämpfer vor den Kopf stoßen – ich glaube, da kann sie eines Tages was erleben!«
Dann ging Rümelin geradewegs auf sein Ziel los: er wollte wissen, ob ein Herr Alexander Naumann, Schriftsteller, in diesem Lager interniert sei.
Fememörder Kröger riß ein paar Kladden aus dem Schreibtisch, blätterte und suchte, während er ganz belustigt sagte:
»Ein ›Herr‹ Alexander Naumann? ›Herr‹ ist gut! Wenn der Mann hören würde, daß er ein Herr ist, der würde sich den Bauch halten vor Lachen.«
Dann hatte er den Namen gefunden.
»Ein Jude, na ja, natürlich. Das sind ja die meisten Schriftsteller. Scheint ein widerwärtiger Kerl zu sein, obstinat, schon dreimal zur Bestrafung gemeldet. Zweimal strafexerziert, momentan steckt er im Arrest. Beschwert sich über Mißhandlungen – zum Teufel, das kann ich doch so einem SA-Jungen nicht übelnehmen, wenn ihm mal die Hand ausrutscht, weil so ein Lümmel ewig zu meckern hat.«
»Was liegt gegen den Mann eigentlich vor? Warum ist er interniert?«
»Weiß ich nicht, geht mich auch gar nichts an. Protokolle werden hier nicht gemacht. Die Kerls werden aus den SA-Kasernen eingeliefert, und dann bleiben sie eben hier, bis sie schwarz werden. Zu Hitlers Geburtstag habe ich ein paar rausgelassen, die keine Disziplinarstrafen hatten, und am 1. Mai laß ich wieder ein paar heraus.« 212
»Dann können wir es vielleicht so machen, Kröger? Ich verwende mich für Sie um ein besseres Kommando – Sie wissen doch, Kröger, ich bin beharrlich – ich bin gut angeschrieben – vieles kann ich auch selbständig machen. Und Sie schenken mir den Naumann! Nicht erst am 1. Mai, heute noch, jetzt gleich!«
»Einen Juden? Juden und Kommunisten darf ich eigentlich nicht so ohne weiteres . . .«
»Reden Sie kein Blech! Sie nehmen ein Lineal und eine Feder und machen da in der Liste einen dicken Strich, und damit ist der Fall erledigt. Dann ist nie ein Naumann hiergewesen. Und ich will ein Hund sein, wenn Sie nicht in spätestens vier Wochen was – na, irgendwas sind, was Ihnen Spaß macht. Eine Stellung im Geheimen Staatspolizeiamt oder irgendwo Polizeipräsident, wo sich's lohnt, wo man Ihre Fähigkeiten nicht übersehen kann. Einverstanden, Kröger?«
»Wird gemacht. Ich mache den Strich, und Sie kriegen Ihren Juden und verschwinden damit. Aber das bitte ich mir aus, auf Nimmerwiedersehen! Wenn der Kerl sich nochmal hier hereindrängelt, dann werde ich ungemütlich.«
Sie tranken noch ein Glas zusammen, dann, zur Feier des Paktes, einen wunderbaren Schnaps, Danziger Goldwasser, der für einen der Gefangenen gesandt worden war.
»Ich kann dem Kerl so was nicht ausfolgen, strengste Order«, bedauerte der Herr Fememörder. »Das meiste, was geschickt wird, werfe ich meinen SA-Burschen vor, aber so einen besonderen Tropfen spare ich mir für Gäste.«
Dann stand er auf, peitschte ein paarmal durch die Luft, ließ seine eingeschlafenen Gelenke spielen.
»Warten Sie eine halbe Stunde, dann haben Sie Ihren Juden!«
Es war April, die Sonne plötzlich verschwunden, ein zäher, dünner Regen triefte über das Lager, plätscherte auf das Wellblech, rieselte über die Bretterplanken der Häuser, und auf einmal stank es feucht und noch viel erbärmlicher als zuvor nach aufgespeichertem Schmutz und Elend. 213 Rümelin studierte die Dienstordnung, die in Rundschrift, schön gemalt, an einer Wand hing.
Sie fing an:
½6 Uhr: Wecken
½6–6 Uhr: Betten machen
6 Uhr: Antreten
6½–7Uhr: Entgasung, Entlüftung.
So ging es weiter mit »Waschen, Anziehen, Arbeitsdienst, Exerzieren, Sport«, ununterbrochen bis neun Uhr abends, bis zum Zapfenstreich. Eine halbe Stunde Mittagspause, acht und eine halbe Stunde Nachtruhe, sonst war jede Minute des Tages peinlich ausgefüllt.
Draußen klang ein Trompetensignal als Zeichen zum Essenholen. Rümelin sah durchs Fenster, wie die Trupps der fahlhäutigen Schutzhäftlinge einrückten, in zerlumpten Zivilkleidern, die sie bei der Verhaftung getragen hatten, viele Arbeiter, stattlich gewachsen, mit intelligenten Gesichtern, aber hoffnungslosen Augen. Jeder Dritte oder Vierte war ein Intellektueller, das erkannte man an den Brillen und den ausgebuchteten Stirnen, an ihrer Haltung und ihren Kleidern erkannte man es nicht. Sie standen, ein Zug Gespenster, die meisten barhaupt, alle ohne Mäntel, in rissigem Schuhwerk, sektionsweise vor ihren Baracken stramm. Ganz junge Arbeiter und Weißköpfe, arbeitslose Kellner wie Karl Schniedecke und Männer, denen man vom Gesicht ablesen konnte, daß sie seit Jahrzehnten Gewerkschaftsführer gewesen, die im Weltkrieg alles darangesetzt hatten, um zu beweisen, daß »Deutschlands ärmster Sohn auch sein treuester war«, die eine Partei von sieben Millionen Wählern wie Generäle kommandiert hatten, zur Wahlurne kommandiert hatten, damit Hindenburg und nicht sein Todfeind, der Anstreichergeselle Hitler, Präsident des Deutschen Reiches wurde. Sie hatten es erreicht, nach siebenjähriger Amtszeit war der Eiserne Feldmarschall zum zweitenmal Präsident des Reiches geworden. – Da standen sie, jetzt hatten sie ihren Lohn.
Sie machten »Stillgestanden!«, sie machten »Heil Hitler!«, 214
»Augen rechts« und »Augen links«, wie dressierte Pudel gehorchten sie den jungen SA-Korporalen, es ging zu wie in der Rekrutenschule einer Armee des deutschen Kaiserreiches.
Die Anrede für den einzelnen war »du schwarzes Schwein!«, »du roter Hund!«. Wer so durch eine individuelle Ansprache aus der Masse hervorgehoben wurde, stand stramm und sagte: »Zu Befehl, Herr Gruppenführer!«
Dann kam endlich das Kommando: »Essenholer raus! Die übrigen auf Stube!«
Sie drängten sich im Knäuel durch die engen Barackentüren. Es war unfaßbar, daß so viele Menschen in jeder dieser triefenden Hütten Platz fanden.
Die Essenholer spritzten durch das Lager, durch tiefe Pfützen, über die Wassergräben, zu einer Baracke, die als Küche diente. Sie tauchten schwer beladen wieder auf, in jeder Hand einen Eimer voll Suppe, unter jedem Arm ein Paket Schwarzbrote, schleppten ihre Last durch den Hof, und der Regen triefte von ihren Kleidern nieder in die dünnen Dunstwolken, die von der Suppe aufstiegen.
»Es ist furchtbar«, dachte Rümelin. »Es ist furchtbarer als alles, was ich mir vorgestellt hatte.«
Er ließ sich schwer in einen Stuhl fallen, seine Kehle war ausgetrocknet, es war ihm zumute, als hätte er stinkendes Stroh im Leib und ranzigen Speck in der Kehle.
Noch ein Goldwasser . . .
In diesem Augenblick kam Herr Fememörder Kröger zurück mit einem trüben, langen Gesicht, so niedergeschlagen, daß er nicht einmal seine Peitsche spielen ließ.
»Es ist beschissen«, sagte er. »Ein verfluchtes, beschissenes Pech! Naumann hieß der – ich hatte nur den Namen vergessen. Gestern abend hat der Kerl einen Fluchtversuch gemacht und ist auf der Flucht erschossen worden. Ich habe ihn mir selber angesehen, drei Schüsse im Kopf, einer durchs Auge. Der ist und bleibt mausetot.«
»Das ist Mord . . .«, sagte Rümelin tonlos. »Ein Sechzigjähriger macht keinen Fluchtversuch.« 215
Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er, daß einem Menschen das Herz weh tun kann, als drehte es sich im Leibe herum. Zum erstenmal fühlte er, daß es Unwiederbringliches gibt.
»Machen Sie mir nur keine Schreiberei!« bat Kröger. »Tut mir leid, daß Sie so grün aussehen. Ist aber nur Ihre Schuld – wenn Ihnen an dem Mann etwas lag, hätten Sie sich früher um ihn kümmern sollen!«
Er hatte eine echte Wut auf Rümelin.
»Sie sind ein Schwein!« sagte er. »Ein Germane, aber ein Schwein! Ich habe keinen Juden zum Freund. Aber habe ich, dann kümmere ich mich auch um ihn.«