Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Yella und Gerda, obwohl die innigsten Freundinnen und Studienkolleginnen, die beide nahe vor dem Abschlußexamen standen, hatten einander während der ersten Woche nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler nur wenig gesprochen. Sie bewohnten zusammen das große, helle Atelierzimmer über der Naumannschen Wohnung, das bisher Yellas eigenstes Reich, ihr Studientempel und Mädchenparadies gewesen war, sie saßen täglich einander gegenüber bei den Mahlzeiten, legten sich gleichzeitig zur Ruhe und standen zugleich wieder auf. Aber trotzdem wußte keine von der anderen so recht, was in ihr vorging, was sie in diesen Zeiten durchlebte.

Schicksal hing über ihnen, das fühlten sie beide, ein dunkles Schicksal hing unentrinnbar über jedem Dach dieser großen Stadt, hing über allen Dächern des Reiches zugleich. Aber noch war nichts geschehen und geschah nichts, es war nur, als lebte man unter verdoppelt schwerem Luftdruck, man hatte wilde Träume, Angst vor jener kommenden Stunde, aber verschlossene Lippen. Kein Herz fand die Sprache zum Herzen des Nächsten.

Die beiden Mädchen taten, was fast jeder tat, sie strebten nach dem allernächsten Ziel und schlossen die Augen, wenn ein Gedanke an die fernere Zukunft ihnen nahekam. Dies nächste war das Doktorat, beide hatten das Gefühl, sie 95 müßten nur recht rasch die Prüfung hinter sich bringen, damit der Tag kommender Entscheidungen sie besser gerüstet fand. So büffelten sie in den Seminaren, quälten sich in der Bibliothek mit zerstreuten Köpfen durch die Literatur, die unzähligen Bände, die sie noch durchzuackern hatten, ehe ihr Ziel greifbar wurde.

Alexander Naumann selbst war heiter und unverändert, noch immer schien ihm seine Arbeit, schienen ihm seine Schnurren und Erzählungen wichtiger, bleibender, als das Stück Weltgeschichte, das über seinem und der Seinen Häupter hinrollte. Er erschien fröhlich bei der Tafel und ging heiter den gewohnten Weg ins Literaten-Café. Er lehnte es ab, sich die redlich erarbeiteten, guten Mahlzeiten mit seiner warmen, sonnigen Frau, den beiden schönen jungen Mädchen durch die ewige Frage: Was wird Hitler tun? verkümmern zu lassen. Drängte diese Angstfrage allzu brutal in den lichten Raum seines Daseins, dann sagte er:

»Er wird tun müssen, was alle radikalen Oppositionsführer vor ihm getan haben, wenn sie an die Regierung kamen: auf das Unmögliche verzichten und das Bestmögliche zu erreichen suchen. In der Opposition ist es leicht, Ideale zu haben, ungeheure Versprechungen zu machen und furchtbare Drohungen auszustoßen. Wer die Macht hat, hat auch die Verantwortung – und dann sieht alles plötzlich ganz anders aus. Allzu strenge Herren regieren nicht lange, und wenn ich sonst nichts von ihm weiß, das weiß ich bestimmt: daß er lange regieren möchte.«

Noch wurde im Dunkel der Nächte auf den Vorstadtstraßen von Berlin gerauft und geschossen, daß die Chronik der Morgenblätter für Ereignisse friedlicher Art wenig Raum hatte. Die Zeitungen aller Richtungen, mit Ausnahme der nationalsozialistischen, wurden mit drakonischer Strenge verfolgt, auf Tage, oft auf Wochen hinaus verboten, wenn sie nur ein Wort des Zweifels an der Weisheit des neuen Regenten gewagt hatten oder einen Scherz, wie er bisher noch als denkbar zahmster Ausdruck ihrer Opposition geklungen hätte. Es waren Neuwahlen ausgeschrieben, aber zugleich Verfügungen erlassen, die außer den Braunen und der schwarzweißroten 96 Junkerpartei, der Gerdas Vater angehörte, alle Parteien absolut mundtot machten. Reich beflaggt waren alle Straßen, aber nur mit Hakenkreuz- und schwarzweißroten Fahnen – selbst Schwarzrotgold, die offiziellen Farben der Republik, wagte kein Privatmann mehr zu zeigen. Keine Plakatsäule trug andere Wahlaufrufe als die der Hakenkreuzler und ihrer aristokratischen Schirmherren, keine Versammlung der sozialistischen Parteien, des Zentrums, der Demokraten war erlaubt. Früh und spät hallten durch die Lautsprecher des Rundfunks Wahlreden in alle Wohnzimmer, alle Restaurants, in die Straßen hinein, nie durften die Vertreter von zwei Dritteln des Volkes, zwei Dritteln aller Wähler, auch nur ein dürftiges Wort in diesen Chorus der Stimmen werfen.

»Einmal muß man doch wieder anfangen, Mensch zu sein!« hatte eines Tages Yella dekretiert. »Weißt du was, Gerda, einen ganzen schönen Sonnabendnachmittag über wollen wir tun, als ob die ganze Welt uns nichts anginge, als ob es keine Politik und kein Examen gäbe. Wir stellen Blumen auf den Tisch und decken zum Tee, wir ziehen uns die schönsten, bunten Pyjamas an, die wir haben, laden unsere Schätze ein, du deinen Hans-Heinz, ich meinen Josef, und spielen uns neue Grammophonplatten vor. Wie lange hast du nicht mehr getanzt? Bei mir sind es Wochen, fast schon Monate. Unsere Jungens wissen nicht mehr, glaube ich, daß ein Mund zum Küssen da ist, dann zum Essen und zu allerletzt zum Sprechen. Heute wollen wir ihnen Rum in den Tee gießen und jedes Wort verbieten, das nicht auch vor fünfzig oder hundert Jahren möglich gewesen wäre, wenn junge Menschen zum Tanzen zusammenkamen.«

»Ich möchte gern – aber Josef ist Zionist – und Hans-Heinz –«

»Gerade deshalb, Gerda! Wir wollen uns so schön machen und so liebenswürdig sein, so lustig, so duftig, daß jeder von ihnen fürchtet, er könnte nach Hause geschickt werden und dem anderen das Feld allein überlassen müssen.«

»Und wenn sie trotzdem – wenn sie sich so benehmen, daß 97 wir sie beide die fünf Treppen deines väterlichen Palastes hinunterbefördern müssen?«

»Dann haben wir eben die Partie verloren. Dann haben wir den klaren Beweis, daß Blumen, Musik und junge Mädchen in dieser Zeit nichts zu suchen haben. Dann ziehen wir die Konsequenzen.«

»Und wenn es mißlingt, Yella? Was verstehst du darunter: Wir ziehen die Konsequenzen?«

»In meinem Fall heißt das: Ich pfeife auf alles, auf Doktorat, auf jede Karriere, und gehe mit Josef nach Palästina. Er will schon lange dorthin, mit mir oder ohne mich. Es kostet soviel Mühe, ihn zu halten. Mir fällt es schwer, die Eltern zu verlassen, gerade jetzt sind sie froh, weil du da bist, weil sie auf einmal zwei Töchter im Hause haben. Es scheint ja auch so lächerlich – sie haben mich als junge Dame aufwachsen sehen, Crêpe-de-Chine-Wäsche und seidene Strümpfe, Universität, Theaterpremieren – dort müssen wir erst ›Chaluzim‹ werden, Pioniere, Feldarbeit machen, Schafe züchten, im Zelt schlafen, und ein frisches Hemd soll dort drüben Festtag bedeuten. Aber wenn alles andere hier doch nicht gilt – wozu steht man dann vor dem Spiegel und malt sich die Lippen und steckt das Geld, das der Papa sauer verdient, in seidene Fetzen oder schottische Jumpers? Wir wollen sehen, ob diese Zeit uns noch braucht oder ob wir lächerliche Anachronismen sind. Wenn ja – dann lieber Hornhaut an die Pfoten und schwarze Palästinaerde unter die Nägel. Ach, es ist ja alles so schrecklich, Gerda . . .«

Yella, die schöne, stolze, frohe Yella, die eben noch ein Fest der Jugend rüsten wollte, war beinahe aufgelöst in Verzweiflung. Gerda umarmte sie:

»Mir geht es ja ganz wie dir! Drei Jahre lang habe ich von Hans-Heinz nichts gehabt als jede Woche einen Brief von zwanzig Zeilen, und dann haben wir uns ein- oder zweimal gesehen, lieb gehabt, aber auch das nur so scheu und unvollkommen. Und jetzt rennt er zwischen den Konferenzen hin und her, wohnt ganz draußen im Osten unter Proletariern und 98 betrügt mich mit seiner Politik um das vierte Jahr, in dem ich noch ein bißchen jung und ein bißchen hübsch bin.«

»Und was willst du machen, Gerda, wenn alles so weitergeht und womöglich noch schlimmer wird – wenn du auch einsehen mußt, daß du deine Partie verloren hast?«

»Für mich ist ja alles noch viel schlimmer! Für mich gibt es kein Palästina und nicht einmal ein Kloster – früher wäre so ein Mädchen wie ich ins Kloster gegangen. Mein Vater hat mich aus dem Haus geworfen, weil ich an Hans-Heinz hänge, und Hans-Heinz wirft mich aus seinem Herzen, weil sein Parteidienst ihm wichtiger ist. Aber man kann auch hier in Deutschland Chaluzim werden!«

»Arme Gerda, liebe, arme! Aber wie wirst du das machen?«

»Einfach so, ich reiße mein Stück Glück und mein Stück Arbeit an mich, einen Mann, zu dem ich zärtlich sein darf und der mir ein Kind gibt! Ich war verliebt in Hans-Heinz wie eine Närrin, wie eine Verrückte, ich hab gar nichts empfunden, als ich auf einmal vor der Tür stand, keine Eltern, kein Haus, keinen Bruder mehr hatte! Gar nichts war mir das alles, ich hab ihn ja gehabt, ich habe gedacht, jetzt gehen wir zusammen in den Kampf, oder ins Elend, das ist ganz einerlei. Aber jetzt bin ich so bitterböse mit ihm, so nah an Hassen, daß ich kaum mehr weiß, ob ich ihn noch liebhabe!«

»Aber verliebt in ihn – das bist du immer noch, Gerda?«

»Das, ja . . .«

 

»Das Gesetz der Geselligkeit ist leicht zu begreifen, und die Fröhlichkeit kann man dosieren«, belehrte Naumann seine Tochter, die voll Angst war, ihr Festnachmittag könne mißglücken. »Zu Beginn der Tagung bekommt jede Frau einen Cocktail und jeder Mann deren zwei. Geht es trotzdem schief, mein Kind, dann wiederholt ihr den Start. Im schlimmsten Fall rufst du mich zu Hilfe, aber das wäre wirklich ein sehr schlimmer Fall.«

»Bist du denn zu Hause, Papa?«

»So von sechs Uhr an spiele ich mit Büding Schach.« 99

Das Atelier war voll Blumenduft, es stand kein Bett darin, nur zwei Couches, auf denen lustige bunte Kissen lagen, der Teetisch blitzte von Silber und Porzellan, die jungen Wirtinnen selbst mußten einander und jede sich selbst bewundern, so schön waren sie.

»Wir müssen schon lustig sein, nicht erst werden, wenn die Jungens kommen«, erklärte Yella und schüttelte wild den Cocktailmixer. »Den ersten trinken wir heimlich ganz allein.«

Gerdas Gesicht war blaß, es sah nicht festlich genug aus zu der seidenen Pracht ihres blaugelben Hauspyjamas, dem Lodern ihrer gelben, kurzen Mähne.

»Ich habe Angst, Yella«, gestand sie fröstelnd. »Die Jungens wissen nicht, was auf dem Spiel steht. Solche Jungens sind furchtbar dumm.«

»Dreh was Lustiges, einen Niggersong.«

Sie hörten den amerikanischen Negern zu, die pfeifend, grunzend, näselnd und dennoch wundervoll melodisch von der tollen Liebe sangen, sie rauchten Zigaretten, leerten ihre Gläser und sahen immer auf die Uhr.

»Jetzt müßten sie schon lange dasein, Gerda.«

»Eine Viertelstunde Verspätung gilt als höflich.«

»Es ist fast eine halbe Stunde.«

»Hans-Heinz hat gleich gesagt, daß er für die Minute nicht garantieren kann. Er rast auf dem Motorrad zwischen Papa und dem Propagandaministerium hin und her. Seit Papa wieder Minister ist, hat Hans-Heinz furchtbar viel Dienst, Tag und Nacht. Und was für Dienst! Immer bremsen, stoppen, Vetos überbringen. Es liegt ihm gar nicht, er ist fürs Draufgehen.«

»Das war dein Vater doch auch zeit seines Lebens.«

»Er war richtiger Militär und behauptet, die neue Regierung spielt nur Soldat. Aber so laut und herausfordernd, daß es eine ungeheure Gefahr ist.«

»Liebling, Liebling, ho-o-ch«, sangen die Neger.

»Sie brüllen ›Volk ans Gewehr‹, bis die Franzosen wieder ins Ruhrgebiet einmarschieren, nicht wahr, das meint er?« 100

»Natürlich meint er das. Wenn Hitler selbst französischer Kanzler, nicht deutscher wäre, hätten Franzosen und Polen längst alles Grenzland besetzt, mehr, als sie je besetzt hatten. Aber Schnierwind lacht und sagt: ›Die wissen genau, daß das alles nur Wahlpropaganda ist. Die haben andere Sorgen, als Präventivkrieg gegen ein entwaffnetes Volk.‹«

»Und wenn sie doch kommen? Dann behauptet Schnierwind einfach, die Juden sind schuld?«

»Schnierwind bezieht jetzt aus vier Kassen vier riesige Monatsgehälter, zwei als Doppelminister, eins als Chefredakteur von ›Deutsche Hiebe‹, eins als Gauführer der Partei. Dann seine Diäten als Reichstagsmitglied. Dann Rundfunkhonorare. Er denkt nicht an morgen.«

»Ach, Gerda, so ist es, wenn man einen ganzen Tag nicht von Politik sprechen will. Magst du einen Song aus der ›Dreigroschenoper‹ hören? Den hab ich so gern. ›Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht, doch man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.‹«

 


 << zurück weiter >>