Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Fünftes Kapitel

Dr. Schnierwind war in den letzten Jahren ein großer Mann im Rahmen seiner Partei geworden und »Deutsche Hiebe« ihre stärkste publizistische Waffe. Aber trotzdem war Rümelin erstaunt über das Aufgebot von Schutz, dessen dieser Mann oder dieses Blatt zu bedürfen schien. Posten standen am Haustor, Posten an der Treppe, lauter riesige Burschen in brauner Uniform, strotzend von Kraft und Gesundheit und mit wilden, entschlossenen Gesichtern.

Durch eine angelehnte Tür warf er einen Blick in das 42 Portierzimmer – es war eine Soldatenwachstube mit großen Tischen und eichenen Pritschen. Zwei Dutzend gewaltiger Kerle lungerten drin herum, schnarchten, spielten Karten oder Würfel. Sie tranken Bier, ohne Gläser zu benutzen, die Flaschen gingen von Mund zu Mund, sie kauten mit aufgestützten Armen riesige Scheiben Wurstbutterbrot und schienen sich ganz als diensttuende Soldaten zu fühlen.

Der Fremde mußte sich ausweisen, ein diensttuender SA-Mann, der sich selbst als »Gruf« vorstellte und erläuternd hinzusetzte, »Abkürzung von Gruppenführer, Hitlersche Prägung«, musterte ihn und fragte »Pg. Schnierwind persönlich, Herr? Wird sich kaum machen lassen.«

Als dann telefonisch die Ordre kam, Pg. Rümelin würde erwartet, flogen alle Hände zum Faschistengruß in die Höhe, und auf jedem Treppenabsatz rief es »Heil Hitler!«

Das Zimmer des Chefredakteurs war voll von Menschen – es ging da zu wie in einem Kaffeehaus. Zwei saßen in einer Ecke und spielten Schach, eine größere Gruppe von Herren stand beisammen, politisierte und erzählte einander Geschichten, auf einem Lederfauteuil lag ein dicker blonder Mensch und schlief. In einer anderen Ecke saßen drei Intellektuelle beim Skat, sie hatten Kaffeetassen vor sich stehen, und zwischen den Runden erzählten sie unter dröhnendem Lachen die neuesten Witze.

Schnierwind saß an einem riesigen Tisch zwischen zwei walkürenhaften, blonden Sekretärinnen, denen er abwechselnd diktierte. Man sah ihn kaum in dieser Stube voll von Menschen und voll Zigarrenrauch, er war so klein, daß nur sein Kopf und ein paar magere Schultern über die Tischplatte ragten. Aber über alles Lachen, Schwatzen, das Klappern der Schachfiguren, das Aufklatschen der Skatkarten dröhnte ununterbrochen seine Stimme. Er diktierte bald rechts, bald links, wurde auf den verschiedenen Telefonapparaten, die vor ihm standen, angerufen und dröhnte Befehle, Diktate, Auskünfte in die Hörmuscheln. Jedes Wort, das er sprach, war Kampf, Wut, Drohung, Schrecken. 43

Für Rümelin hatte er zuerst nur einen kurzen Blick und einen Heil-Hitler-Gruß, aber in der nächsten, sekundenlangen Pause, die seine vierfache Arbeit ihm erlaubte, ein fast strahlendes Lächeln. Rümelin staunte über die fanatisch glühenden dunklen Augen in dem ganz exotischen Gesicht dieses von Energie bebenden Menschen. Seine schwarzen Haare wellten sich zu Berge, seine Hände mit den langen dünnen Fingern des Verkrüppelten fuhren, Worte formend, in der Luft herum – eigentlich saß dieser Mann nicht hinter dem Schreibtisch, eigentlich stand er auf dem Podium vor einer vieltausendköpfigen Menge, die er mit seiner Stimme ganz beherrschte, hinriß, zum Sturm entfachte. Seltsamerweise hörte außer Rümelin und den Stenographinnen, deren Gretchenköpfe seine orientalische Winzigkeit seltsam umrahmten, kein Mensch auf das, was er sprach.

»Zu den Waffen, noch einmal zu den Waffen, Parteigenossen – und wehe dem von euch, der weich wird, der Pardon gibt! Unser großer Führer hat nicht deshalb seit dreizehn Jahren gegen Hölle und Teufel gekämpft, weil er die Verehrung von ein paar Millionen Gläubiger genießen wollte – haben Sie, Fräulein, genießen wollte – . . .«

»Kann mir einer von euch das sagen, warum er eigentlich gekämpft hat?« rief er in die Gruppe der stehenden Schwatzkumpane. »Aber was mit Salz und Pfeffer, mal was Neues! Weiß keiner was?«

»Vielleicht weil er Hindenburg in den Rockärmel kriechen wollte, aber da steckte schon der Papen drin und da war kein Platz«, witzelte einer zurück.

»Quatsch! Geistreich bin ich selber – also schreiben Sie, Elfriede! . . . Sondern er hat es getan, weil er wußte, daß die Stunde einmal kommen muß, in der sein Fußtritt, ein einziger, kosmischer Fußtritt, der heroischste Fußtritt aller Jahrtausende, die ganze Brut, Marxisten, Juden, Kommunisten, zu einem einzigen Brei zermalmen würde.«

Er schleuderte die Worte in einem dynamischen Tempo abwechselnd nach rechts und links, die Kurzschrift-Walküren 44 waren darauf geschult, das Diktat gemeinsam aufzunehmen. Eine einzige Stenographin hätte diesem Wirbelwind von Worten nicht folgen können.

»Die Schwester von Frau Papen hat sich ihr Geld wieder aus der Schweiz zurückkommen lassen«, erzählte einer der Skatspieler. »Habt ihr das eigentlich gehört, wie Papen Reichskanzler wurde, hat sie ihr ganzes Vermögen über die Grenze geschoben. ›In einem Land, in dem Fränzchen Reichskanzler ist‹, hat sie gesagt, ›kann man sein Vermögen unmöglich liegen lassen.‹«

Schnierwind, der während des Diktierens und Telefonierens bei jedem Wort mitging, das in seinem Zimmer gesprochen wurde, lachte bei diesem Witz wie ein Schuljunge, laut und befreit.

Dann brüllte er wieder Diktat:

»Die Galgen warten, Parteigenossen! Es werden legale Galgen sein, es werden ein paar hundert Richter bemüht werden müssen, unsere Todesurteile auszufertigen, aber hängen werden sie! Alle! Alle! Alle! . . . Mögen zu dieser Stunde die NovemberverbrecherDiese Bezeichnung für die Revolutionäre von 1918 stammt aus dem Vokabular des Naziideologen Alfred Rosenberg., die Dolchstoß-MeuchelmörderDie Dolchstoßlegende, wonach das deutsche Heer den Krieg nicht aus militärischen und ökonomischen Gründen, sondern nur wegen der defätistischen und revolutionären Propaganda in seinem Rücken verloren habe, diente den Militaristen zur ideellen Vorbereitung des Revanchekrieges. sich noch so warm und behaglich in ihrem gepolsterten Kackstühlchen fühlen, vor jeder ihrer Türen steht schon der Henker, und der Strick, der auf sie wartet, ist schon eingeseift, glatt wie eine Schlangenhaut.«

»Der Witz ist übrigens auch authentisch«, rief er den Skatspielern hinüber: »Da war ein alter Herr von Papen, der kommt zum Rennen von seiner Provinzklitsche her nach Berlin und trifft seinen Neffen Fränzchen. ›Nanu‹, sagt er, ›was treibst du denn hier?‹ – ›Ich repräsentiere‹, sagt Fränzchen. Der Alte lacht. ›Ja, was repräsentierst du denn?‹ – ›Ja, weißt du denn nicht, daß ich Reichskanzler bin?‹ – Der Onkel fängt an zu lachen, daß ihm die Tränen auf die weiße Weste tropfen, ›Reichskanzler bist du? Ja, wo denn?‹ – ›Ich bin Kanzler des Deutschen Reiches, Onkel.‹ – Da fiel der alte von Papen hin und war tot. Er hatte sich totgelacht.

Schreiben Sie weiter, Aurelie: Das Blut von 45 475 hingemordeten SA-Kameraden, das Rotmord vergossen hat, schreit zum Himmel und schreit nach Rache. Nicht zehn – hundert marxistische Halunken und zehn Juden sollen mit ihrem Leben für jeden von ihnen büßen, Punkt, nein, Ausrufezeichen, nein, schreiben Sie gleich drei Ausrufezeichen, Fräulein. Aber nicht im Dunkeln und von Mörderhand soll ihnen die Strafe kommen, sondern in schöner feierlicher Prozession, bei Glockenläuten und durch Gassen voll jubelnden Volkes werden sie ihre Richtstätte betreten. Punkt. Finden Sie das gut, Elfriede? Ich bin heute nicht in Stimmung, wahrscheinlich habe ich zu gut gefrühstückt. Eigentlich sollte unsereins nicht heiraten, die Frau, die süße kleine Frau, stopft und stopft in einen hinein, bis das bißchen Temperament zum Teufel geht. Manchmal, seit ich verheiratet bin, ist mir so wohl, daß ich die ganze Welt umarmen möchte. Also, rasch ein Schlußwort: Auch vor Weibern und Kindern darf unser Zorn dann nicht haltmachen, Punkt. Sie sind keine Volksgenossinnen, diese Petroleusen und Marxistenhyänen, sie sind kein deutscher Nachwuchs, dieses Judengeschmeiß – auf sie wartet nicht der Galgen noch das Schafott, aber die neunschwänzige Katze, die ehrliche alte Hundepeitsche. Schluß, und das rasch in den Satz, dreispaltig. Überschrift vier Cicero, Einleitung Borgis fett.«

Elfriede und Aurelie bekamen jede einen Schmatz und, als sie sich erhoben, einen saftigen Klaps auf den Hinterteil.

»Danke, meine Damen!«

Boten, die unablässig kamen und gingen, hatten inzwischen einen ganzen Berg von Manuskripten und Korrekturfahnen vor Dr. Schnierwind aufgetürmt.

»Einen Augenblick, Rümelin, noch ein bißchen Salat, dann haben wir wieder so ein gemütliches Käseblättchen fertig, und dann gehöre ich Ihnen!«

Sein Kinn klebte an der Tischplatte, seine langfingrige nervöse Hand fuhrwerkte mit Rotstift und Füllfeder über das Material hin, die Schere blitzte im elektrischen Licht wie das Beil einer Guillotine. »Blöde Witzelei von diesen Feuilleton-Burschen!« sagte er. »Witzig bin ich, die anderen haben 46 sachlich zu sein.« Dann fuhr er mit dem Kleisterpinsel über weiße Bögen, pappte, schleuderte den Botenjungen ganze Pakete erledigter Arbeit hin, und nach zehn Minuten war der Manuskriptenhügel abgetragen. Der ganze Tisch war jetzt geleckt sauber, Schnierwinds Profil mit der Geiernase, dem verkniffenen Mund und der großartig gewölbten Stirne unter krausem Haar stand einen Augenblick unbewegt im Licht.

Nur eine Sekunde lang stand dieser Mund still, ruhten diese immer agierenden Hände, es war, als rüstete der ganze Mann ab. Er hatte Blut und Druckerschwärze, Blut und Tränen fließen lassen, nun wollte er heiter sein.

»Mein lieber Rümelin«, rief er, »also so sehen Sie aus! Hier, setzen Sie sich nahe, der Stuhl ist noch hübsch warm von dem monumentalen Hinterteil meiner teuren Elfriede, der Muse zur Linken. Sie dampft, wenn ich diktiere, und glaubt an mich – diese Dame hat ein beneidenswertes Temperament. Die drei Jahre sind Ihnen nicht schlecht bekommen. Für mich wäre das zu viel, aber ein paar Monate, sagen wir sechs Monate, möchte ich gern einmal auf Festung. Aber sie lassen mich nicht – wieviel habe ich eigentlich gut beim Onkel Staatsanwalt, Hermann?« rief er einem seiner Freunde zu. »Du führst doch Buch?«

»Rechtskräftig und sofort vollstreckbar vierunddreißig Monate, sieben Tage, Schnierwind. Außerdem dürfte dein Saldo an Geldstrafen und Gerichtskosten so um hunderttausend Mark herum balancieren, das macht, in Haft umgerechnet, nochmal eine ganz schöne Summe, ich glaube, so für je zwanzig Mark einen Tag. Das kannst du dir selber ausrechnen.«

»Sehen Sie, Pg. Rümelin, ich habe getan, was ich kann, um endlich mal Ferien zu bekommen! Aber mit mir sind die Leute nicht so nett wie mit Ihnen. Der Junge soll schuften, denken sie, und kein Büttel holt mich. Aber was kann ich für Sie tun? Soll ich Sie Wilhelm III. vorführen, wollen Sie bei der nächsten Reichstagswahl Abgeordneter werden? Soll ich Sie als Attaché an irgendeine Botschaft empfehlen?«

»Ich möchte – am liebsten da, wo wirklich gearbeitet wird –« 47

»Weil ich nämlich gar nichts für Sie tun kann! Vor zwei Monaten hätten Sie kommen sollen, Herrgott, waren das Zeiten, vor zwei Monaten! Heute kann ich Ihnen nur noch einen guten Rat geben – das heißt, Eizes hab ich selber, würde ich auf gut Jüdisch sagen – aber es ist meine Pflicht, immer wieder die Perlen meiner Lebensweisheit vor die Schweine zu werfen. Also dieser Rat heißt: Nehmen Sie Ihren Hut, machen Sie, daß Sie in reinere Gefilde kommen, und zeigen Sie sich nie wieder in einem Braunen Haus. Sie wissen doch, was wir sind, Pg. Rümelin? Wir sind, wie Walter Mehring einmal gedichtet und komponiert hat, ›pleite‹« – er sang jetzt in immer höheren Tönen –, »›pleite, pleite!‹ Vom Erdboden verschwinden wird die Partei natürlich nicht, und für ein bescheidenes Schreiberlein wie mich wird es schon noch zwanzig Jahre lang Butterbrot geben. Vom Judenfressen kann man bequem weiter leben, der Antisemitismus ist unsere Eiserne Ration, aber vom Dritten Reich wird bald nichts mehr übrig sein. Das hat Wilhelm III. schon vor seinem Regierungsantritt so gründlich zur Strecke gebracht wie sein Vorgänger das zweite Reich!«

»Das kann nicht sein, Doktor Schnierwind! Ich bin eben durch die Straßen gefahren und gegangen, zum erstenmal seit drei Jahren . . . Es ist Inferno, was man mit jedem Blick sieht. Diese Menschheit ist verzweifelt, sie glaubt an den Führer, und –«

»Wird sich bald ausgeglaubt haben. Sehen Sie, Rümelin, Sie sind ein gescheiter Mensch und haben drei Jahre lang nachgedacht. Wir hatten doch alles beisammen, was gut und teuer ist – es war wirklich ein bodenloses Ungeschick nötig, um mit diesen Kostbarkeiten fertig zu werden. Also geben Sie acht: erstens der Nationalismus. Der zieht bei jedem Volk, bei den Negern in Liberien und bei den Eskimos, das ist einfach unfehlbare Medizin. Wenn sie vom Glanz ihrer Ahnen hören und von all den herrlichen Eigenschaften, die gerade nur ihrem Stamm oder Stämmchen zu eigen sind, dann rasen die Leute vor Entzücken, und wenn man ihnen verspricht, die Nachbarstämme zu Fetzen zu schlagen, dann vergessen sie beinahe, 48 daß sie Hunger haben. Zweitens hatten wir den Sozialismus – der hat schließlich ganze Erdteile besoffen gemacht, und wer damit hausieren geht, findet immer seine Kundschaft. Unser großer Führer hat sich gesagt: Schokolade ist gut, Knoblauch ist gut, wie gut muß erst Schokolade mit Knoblauch sein! Der Sozialismus und der Nationalismus zusammengepackt, wer da widerstehen kann, hat kein Sägemehl im Schädel wie unsere Volksgenossen. Jetzt gibt es noch diesen ganz probaten Antisemitismus, mit dem der Kaiser von Rußland sich ein halbes dutzendmal gerettet hat, wenn ihm die Luft schon wegblieb, die Aussicht auf Pogrome, das Versprechen, plündern zu dürfen. Auf hundert Deutsche kommt ein Jude, das ist gerade die richtige Proportion, wenn man mit Judenhaß arbeiten will. In der Schweiz ginge das nicht, da gibt es zu wenige, und in Galizien geht es auf die Dauer auch nicht, da gibt es zu viele – also schön, das war auch in Ordnung. Dann haben wir die ganze Methodik gehabt, die beste Schule in Rußland sowohl wie in Italien, Stalin und Mussolini zugleich, zwei erstklassige Diktatur-Professoren. Eigentlich war es ganz unmöglich, etwas falsch zu machen, aber ich allein, mein Gott, ich habe auch nur vier Hände und –«

»Zwei Schnauzen«, rief ihm Hermann zu.

»Stimmmt, Gott sei Dank«, sagte Schnierwind. »Und außerdem ist der dicke Adolf ein Trotzkopf, wenn er böse auf mich war – er ist ja alle Augenblicke beleidigt, wenn man seinem Affen nicht genug Zucker zu fressen gibt –, hat er einfach nicht auf mich gehört. So ist die Karre in den Dreck gefahren, und da sitzt sie fest.«

Rümelin schrie:

»Sie kann nicht sitzen, sie kann nur auf Minuten ihre Fahrt unterbrechen! Es handelt sich doch um die simple Tatsache, daß einzig Hitler, er ganz allein, den Weg aus dem Elend weist, in dem Deutschland untergeht.«

»Ah, das ist interessant! Dann ist ja alles gut, schade, das wußte ich nicht. Wer hat Ihnen das eigentlich gesagt?«

»Der Führer hat es selbst erklärt. In der Stunde, in der er 49 die Regierung übernimmt, gibt es in Deutschland keine Arbeitslosigkeit und keinen Hunger mehr.«

»Stimmt. Jetzt fällt mir alles wieder ein«, machte Schnierwind und schlug sich mit den Fingern an die Stirn. »Erst ist mir vorgekommen, als hätte ich das nur irgendwo gelesen, aber jetzt erinnere ich mich an die Rede. Wissen Sie, es wird soviel geredet und geschrieben, das läuft ineinander, und eins verschüttet das andere. Wann war das doch gleich: Ja, das war zu BrüningsHeinrich Brüning (1885–1970), Zentrumspolitiker, war 1930 bis 1932 Reichskanzler und regierte unter Ausschaltung des Parlaments durch Notverordnungen, die sich vor allem gegen die Interessen der Arbeiterbewegung richteten. Zeiten. Das ist jetzt her, na so ungefähr sechs Monate, in unserem Tempo bedeutet das beinahe Eiszeit. Brüning hat dann gleich interessiert gefragt, wie der dicke Adolf das eigentlich machen will, er soll's ihm verraten, damit er es selber machen kann. Damals habe ich sogar die Antwort diktiert, die war gar nicht schlecht, S. M. Wilhelm III. dächte gar nicht daran, einem Regime, das für ihn nur Hohn und Fußtritte hat, die Rettung des Vaterlandes zu überlassen. Netter Einfall, was? Hitler hat danach geglaubt, er hätte die Antwort selbst gedichtet, und ist heute noch furchtbar stolz darauf. Aber so geht es mir mit allem. Ich schwitze die guten Pointen, die anderen laufen herum und tun sich dicke damit.«

»Hör endlich auf zu schwadronieren«, fiel einer der Herren Schnierwind ins Wort, »deine sechsläufige Revolverschnauze hat den Pg. glücklicherweise zur Strecke gebracht!«

Wirklich lag Rümelin in seinem Stuhl zurückgelehnt, weiß im Gesicht und dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Jetzt wurden auch die anderen aufmerksam und umstanden ihn mit neugierigen Gesichtern.

»Es ist nur«, er zog ein Tuch und tupfte sein Gesicht ab, »Dr. Schnierwind spricht da von der Sache, für die ich zweimal eine Stellung im Leben geopfert habe.«

Der Mann, der zuerst in das Gespräch eingegriffen hatte, schlug die Hacken zusammen und stellte sich vor.

»Fememörder Kröger.«

Dann präsentierten sich auch die beiden anderen.

»Fememörder von Klein, Rathenau-Mörder Heimann.« 50

Alle drei Namen waren Rümelin geläufig, er kannte sie aus endlosen Zeitungsberichten, langen, langen Prozessen. Heimann hatte das Automobil geführt, aus dem heraus der jüdische Philosoph und Reichsminister Rathenau vor zehn Jahren mit Kugeln durchbohrt worden war. Er hatte seine Tat mit ein paar Jahren Gefängnis ritterlich gebüßt und – ein begabter junger Mensch, der mit seinem Schicksal nicht leicht fertig geworden – später sein ganzes Leben in einem Buch geschildert, das fast eine Verherrlichung Rathenaus war. Kröger und von Klein hatten als Offiziere der sogenannten »Schwarzen Reichswehr«So wurden die militärischen Geheimformationen genannt, die in den ersten Jahren der Weimarer Republik die Heeresstärke des Deutschen Reichs über das vom Versailler Vertrag zugestandene 100 000-Mann-Heer hinaus bedeutend erhöhten., die eine Art Vorgänger von Hitlers SA-Armee gewesen, Soldaten ihrer eigenen Formation zum Tode verurteilt, foltern und erschießen lassen, weil sie im Verdacht standen, mit den Kommunisten in heimlichem Verkehr zu stehen. Die Zeitungen, die Rümelin gelesen hatte, waren voll vom Preise dieser drei Männer gewesen, und nun empfand er – da standen vor ihm drei echte Soldaten, drei Männer von seinem Korn und seinem Guß.

»Schnierwind ist ein Zyniker«, sagte begütigend der Fememörder Kröger. »Ein Dreikäsehoch, der sich immer aufspielen will. Wenn er sein Geschäft nicht so gut verstünde, hätte er kein Glück bei uns. Aber so muß man's hinnehmen, er kann nichts dafür, das hat er von seinem illegitimen jüdischen Großpapa.«

»Das verbitte ich mir! Hier ist mein Rasseausweis!«

Schnierwind griff in die Tasche und zog ein abgegriffenes Papier heraus.

»Gutachten von dem besten deutschen Rassetheoretiker Professor Dr. Günther. Ich bin ein ›nachgedunkelter Schrumpfgermane‹, das ist eine Art Aristokratie des Germanentums, das Reinste vom Reinen. Ihr seid alle nur bessere Promenadenmischungen, mit Wenden- und Kaschubenblut in den Adern, ich allein bin so urarisch wie Gandhi. Merkt's euch genau: ein nachgedunkelter Schrumpfgermane!«

Kröger setzte dröhnend an:

»Jedenfalls haben Sie die Worte des Führers richtig gelesen 51 und verstanden und brauchen auf dieses Gewäsch nichts zu geben, Pg. Rümelin!«

Dann dämpfte er den Ton bis zum Flüstern:

»Hitlers Programm ist absolut und in der Geschichte tausendmal bewährt. Er kann es nicht preisgeben, weil nur er es ausführen kann – dazu gehört ein eiserner Mann und kein Scheißkerl. Käme es aber an den Tag, ehe er die Macht ergreift, dann fällt die Entente ihm in den Arm. In diesem Sinn war die Antwort, die Schnierwind diktiert hat, gar nicht so dumm.«

»Und dieses Programm – ist das auch für mich ein Geheimnis?«

»Für Sie nicht, Pg., für keinen richtigen Soldaten. Denken Sie nach – Sie würden genau dasselbe tun, wenn Sie morgen die Macht bekämen.«

»Ich würde rüsten! Erst heimlich, dann offen, rüsten und losschlagen.«

»Selbstverständlich, etwas anderes kann auch Hitler gar nicht gemeint haben. Im Augenblick, in dem wir dreißigtausend Kampfflugzeuge in Auftrag geben, eine Flotte von kleinen schnellen Kreuzern, zu denen wir das Modell schon haben – ein Wunderwerk von einem Kriegsschiff, wie keine andere Flotte es besitzt –, Motorgeschütze, eintausend dicke Berthas, die über den ganzen Polnischen Korridor hinüberschießen, feldgraue Uniformen für zehn Millionen Deutsche und all das andere, was dazu gehört – in diesem Augenblick gibt es keine Arbeitslosigkeit mehr. Wie das später einmal bezahlt wird, daran brauchen wir nicht zu denken, das ist Sache der Geschichte. Hauptsache, daß wieder Räder laufen, daß das große Schwungrad in Gang gebracht wird. Die Arbeiter haben wieder Geld und können kaufen, die Industrie hat Geld und kann Rohmaterial bestellen, so ist es 1914 gewesen, so ist es immer gewesen, wenn ein Land wirtschaftlich am Zusammenbruch war.«

»Und das zweite Kapitel ist so selbstverständlich wie das erste«, rief der Fememörder von Klein. »Wir haben wieder eine Armee, und diese Armee wird sich nicht nur selbst 52 erhalten können, sondern sie wird die Rechnungen zahlen, sie wird dem deutschen Michel erobern, was er braucht. Polen wird evakuiert, nachdem seine Armee geschlagen ist, vielleicht auch Belgien. Was gehen uns diese Pollacken und Welschen an, ein Schuft, wer nicht zuerst an die eigenen Volksgenossen denkt! Sie werden nach Osten und Westen aus dem Lande gejagt, und dort siedeln wir die überzähligen Volksgenossen an. Dann ist Deutschland kein Volk ohne Raum mehr, dann hat jeder Deutsche den Raum, den er braucht, um zur Welt zu kommen, um sein Leben zu erhalten und um sich begraben zu lassen, in freiem Leben!«

»Ohne Hypotheken das Land! Ohne Bodenwucher! Genommen mit dem Rechte des Siegers und bezahlt mit unserem Blut«, ergänzte Heimann, »der Feindbund ist schwächer, als er jemals war! Gegen einen Stresemann, gegen einen Brüning haben die Kerle Mut in Paris und Warschau, aber wenn ein Hitler einmal dasteht mit seinem Stahlgesicht und seinem ehernen Blick – warten Sie ab, wie sich dann die feige Bande in ihre Mauselöcher verkriecht. Aber selbstverständlich, mit einem parlamentarischen Regime, mit Pazifistengesindel im Reichstag und jüdischen Zeitungen im Rücken kann dieser Aufbau nicht gelingen.

Wir sind alle nicht blutrünstig, höchstens Schnierwind, wenn er zwischen seinen dicken Ammen sitzt und sie am Busen kitzelt, vielleicht auch das sanfte Fränzchen Papen, das nur vom Hörensagen weiß, wie eine Kugel pfeift, das aber am Lautsprecher den Heldentod gepachtet hat. Wir Soldaten, nein, wir sind nicht blutdürstig, weder nach dem Blut der eigenen Volksgenossen, auch wenn sie Marxisten sind, noch nach dem Blute der Feinde. Unsere Aufgabe ist es nur, die deutsche Nation zu einer einheitlichen, schlagkräftigen Masse zu machen, im Felddienst, auf dem Exerzierplatz. Wir sind die Erzieher, Erzieher des Volkes, gerade die, die sich heute ›Rot‹ nennen, werden uns einmal die Hände dafür küssen. Es muß nur vermieden werden, daß zum zweitenmal eine Opposition sich formiert, die das siegreiche Heer von hinten erdolcht. Nur 53 deshalb braucht Hitler die Nacht der langen Messer. Er ist ein Mann des Friedens, der Krieg ist ihm nur ein Mittel zum Zweck, und je grausamer er geführt wird, um so kürzer wird er sein. Drei Tage lang die Straßen frei für unsere SA, dann gibt es keinen inneren Feind mehr. Acht Tage Vernichtungskampf gegen den äußeren Feind, dann ist der Krieg zu Ende, dann kommt das Goldene Zeitalter, das Dritte Reich.«

»Außerdem habe ich Hunger«, rief Schnierwind. »Hurra, hurra, hurra!«

Rümelin war längst aufgesprungen, sein Soldatenherz schlug Sturm, er bebte vor Glück.

»Das waren nicht nur Worte –« dabei schlug er rechts und links in die offenen starken Hände seiner Kameraden. »Das sind Gedanken, die Taten werden.«

»Es ist das Ei des Kolumbus«, lächelte Heimann. »So einfach und so selbstverständlich hätten Sie sich die Sache nicht gedacht?«

»Jetzt los und schlagt euch die Heldenbäuche voll!« befahl Schnierwind. »Ich habe noch ein Wort unter vier Augen mit dem Pg. zu sprechen. Eigentlich könntet ihr ruhig dabeisein, Geheimnisse haben wir nicht. Aber ihr spuckt mir zu hohe Bogen; wenn ihr begeistert seid, bleibt einem jeder vernünftige Gedanke in der Kehle stecken. Also gefälligst raus mit euch, marsch, marsch, weggetreten! Hier, in diesem Zimmer, habe ich das Kommando!«

Er sprang auf, stand zwischen den vier gewaltigen Gesellen wie ein bissiger, kleiner Terrier zwischen deutschen Doggen. Er war ein orientalisch aussehender Zwerg mit einem Klumpfuß – Rümelin hatte das längst gewußt, aber so grotesk hatte er sich die Erscheinung des großen Agitators dennoch nicht vorgestellt. Schnierwinds Augen aber, diese irrsinnigen, glühenden Augen in tiefen, schwarzen Höhlen, an die mußte man glauben! 54

 


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