Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Naumann war ein berühmter Erzähler und Lustspieldichter, aber er lebte und arbeitete nach der Uhr, wie ein kaufmännischer Direktor oder wie ein Bürokrat. Um zehn Uhr morgens trat seine Sekretärin an, dann war er schon zwei Stunden lang durch den Tiergarten galoppiert, hatte die Kleider gewechselt, saß im Straßenanzug, mit steifem Kragen und dem Monokel im Auge, vor seinem Schreibtisch, und wenn sie eine Minute zu spät erschien, bekam sie einen scharfen Verweis. Drei Stunden lang wurde gedichtet, manches schrieb Naumann, manches diktierte er ins Stenogramm, an jedem Wort feilte er herum, bis es blitzblank dastand, bis der ganze Satz wirkte, als sei er mühelos aus einer heiteren Feder gelaufen.
»Auf Einfälle kann man nicht warten«, behauptete Naumann. »Die muß man kommandieren.«
Von zehn bis ein Uhr kommandierte er Einfälle, prüfte sie, verwarf sie, es war Schwerarbeit, kein heiterer, fröhlicher Singsang. Manchmal war ein Witz oder ein Aphorismus das Resultat von drei harten Arbeitsstunden, manchmal entstand ein Dialog, über den bald in aber hundert Theatern aber und aber Tausende von Menschen vor Lachen jubeln sollten. Manchmal blieb auf diesem Schlachtfeld der Gedanken nichts zurück als ein trübseliger Knäuel beschriebenen und zum Papierkorb verdammten Papiers. 63
Zu diesem Arbeitszimmer, in dem rings bis zur Decke hohe Regale standen – das Archiv eines Unermüdlichen, der fast vierzig Berufsjahre hinter sich hatte –, hatte außer der Sekretärin niemand Zutritt. Naumann liebte seine Frau, wie nur ein Wilder im Urwald sein Weibchen, wie nur ein alter Hirsch seine Hindin lieben mochte, von denen eins nicht mehr fraß, sondern eilig Hungers starb, wenn das Mit-Tier eingegangen war. Er vergötterte seine Tochter – sie war das einzige weibliche Wesen, auf das die Mutter je in ihrem Leben eifersüchtig gewesen, das einzige, mit dem sie je seine Zärtlichkeit geteilt hatte. Aber dennoch: wenn der Vater seinem schweren Handwerk als bester deutscher Humorist oblag, hätte keine der beiden Frauen es gewagt, an seine Tür zu klopfen oder eine fremde Hand an seine Tür klopfen zu lassen.
Am Nachmittag war Naumann Geschäftsmann, es kamen täglich fünfzig und mehr Briefe in sein Haus, von denen keiner am Abend unbeantwortet war. Er stand mit allen Theatern, allen guten Zeitschriften und Zeitungen Deutschlands in Verbindung – er unternahm Vortragsreisen, er besprach Schallplatten, war der beliebteste Rundfunk-Conferencier, er war führendes Mitglied im PEN-Klub und in allen Schriftstellerorganisationen, kämpfte zugleich für sich und all die zahllosen Kollegen mit unbekannten Namen um die Würde ihres Standes, um den gedeckten Tisch und das weißbezogene Bett.
Naumann stand seit dreißig Jahren auf dieser Höhe, sein Name war international, seine Bücher waren in zwanzig Sprachen verbreitet, und er selbst hatte als vollendeter Übersetzer und Kenner vieler Sprachen eine ganze Schar fremdländischer Autoren in Deutschland groß gemacht. Er besaß kein Auto und machte keine Reise, die nicht zugleich Dienstreise war. Er hatte kein Vermögen gespart, nie besaß er mehr als einen Notpfennig von einigen tausend Mark. Am späten Nachmittag ging er mit Frau und Tochter ins Café – dort lasen sie die Zeitungen durch, immer an demselben runden Tisch im selben Café, dort versammelten sich etliche andere Literaten, Ärzte, Rechtsanwälte, Maler, Schauspieler um sie, und Naumann war 64 stolz darauf, daß die Runde um diesen Tisch nie kleiner wurde.
»Wir sind Kaffeehausliteraten«, sagte er und klopfte mit dem Knöchel auf die Marmorplatte. Es war sein Stolz und Ehrgeiz, ein Kaffeehausliterat zu sein, der pünktlich an seinem Tisch erschien und ihn pünktlich verließ.
Wenn ein Abend frei von Premieren, von Versammlungen oder Vorträgen war, bei denen Naumann ein ebenso guter Zuhörer wie Redner war, war die Familie »bei sich«. Da kam und ging, wer nur entfernt zu ihrem Kreis gehörte, kam, um lustige Geschichten zu hören und zu lachen oder um sein Herz auszuschütten von furchtbaren Sorgen. Es kamen Studenten und Gelehrte, Arbeiter und Ärztinnen, Anarchisten, Junker mit imaginären, klirrenden Sporen. Bei Naumanns sprach jeder und erhitzte sich keiner, in diesem großen Wohnzimmer mit den vielen Polstersitzen und riesigen Bücherschränken herrschte Burgfriede. Hier konnte jede Idee und jeder Wille – mindestens das waren sie wert – geprüft und gewogen werden.
Hier hatte der »Räuber Hoelz«Max Hoelz (1889–1933), anarchistischer Revolutionär, wurde wegen individuellen Terrors 1920 aus der KPD ausgeschlossen, 1921 zum Tode verurteilt, zu lebenslänglicher Haft begnadigt und 1928 amnestiert. seinen Tee getrunken und sein Bekenntnis ausgepackt, der später in Mitteldeutschland einen ungeheuren Aufruhr entfachte, endlich gefangen, zum Tode verurteilt und zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt wurde. Hier hatte 1920 der Landschaftsdirektor Kapp geplaudert, der bald darauf mit zwanzigtausend Baltikumsoldaten in Berlin einmarschiert war und versucht hatte, die 1920 noch sozialistische Regierung über den Haufen zu rennen, ein Monarchist, ein leidenschaftlicher Reaktionär.
Ein junger Mensch mit der Vergangenheit und dem Ruf Rümelins war hier nicht auffallend – in seinem Prozeß vor drei Jahren und jenem noch berühmteren zweiten Prozeß vor einem Jahr hatte er mit Argumenten und Ideen gefochten, kein leeres Stroh gedroschen. Das wußte man, und deshalb war hier sein Platz.
Yella Naumann war ihrer Freundin in den Vorsaal entgegengeeilt – ›eine zierliche, nachgedunkelte Germania‹, dachte Rümelin, das hat Schnierwind wieder einmal gut gesagt. 65
Sie hatte schwarzes Haar, aber sehr klare, tiefdunkle Augen, war groß und zart zugleich, und das Schönste an ihr war, wie sie den Kopf trug, wirklich so hoch und frei wie eine Statue.
»Mein einziger Freund, meine einzige Freundin«, stellte Gerda vor, stolz zugleich auf beide.
Diese enge Freundschaft zwischen einer heimlichen Nationalsozialistin und einer Zionistin hatte schon viel Spott herausgefordert. Den beiden Studentinnen selbst erschien sie gar nicht so sonderbar. Sie waren jede stolz auf ihre Nation und fanden, daß ihre Ziele im Grunde die gleichen seien. Aber schon seit langer Zeit wechselten sie kein Wort mehr über politische Dinge, sie standen jede fest und, wie sie glaubten, unbeirrbar auf ihrem Posten; einander zu überzeugen lag von vornherein außerhalb jeder Möglichkeit. So konnte Yella auch dem Freund ihrer Freundin warm und herzlich in die Augen schauen, sie hielt sich selbst für eine gute Menschenkennerin, und Hans-Heinz gefiel ihr auf den ersten Blick.
Das war sein Schicksal – immer gefiel er schon auf den ersten Blick, fand überall Freunde, überall ebene Wege. Gerade deshalb hatte er sich immer steilere Pfade gesucht, Gegnerschaften herausgefordert, wo Freunde ihm entgegengetreten waren – er war ein Kämpfer und brauchte den Widerstand.
»Ihr findet den Kreis noch sehr klein«, erzählte Yella. »Ein bißchen Familie, mein Freund Josef natürlich – aber vor allem einer, der sich auf Sie freut, Herr Rümelin, mein Onkel Theo. Das heißt – Onkel –, der einzige von meinen Onkels aus Kindertagen, den ich heute noch so nenne. Es ist Theo von Büding, Sie müssen den Namen kennen, der große Pazifistenführer. Nach Ihrem Prozeß hat er einen Artikel über Sie geschrieben – ›Der kluge Leutnant‹. Sie erinnern sich doch?«
»Ich hasse und verachte Pazifisten«, hätte Rümelin beinahe geantwortet, aber ein beschwörender Blick seiner Braut erinnerte ihn, daß in diesem Haus Burgfriede herrschte, den zu halten er ihr versprochen hatte. Dieser Artikel – »Der kluge Leutnant« – hatte ihn tiefer empört, damals vor Jahren, als das Plädoyer des Staatsanwalts und alle Kommentare der 66 sozialistischen Presse. Das war sein Feind und mußte sein Feind sein, dieser Herausgeber der Zeitschrift »Pazifisten« – von dem hatte er kein Wohlwollen und kein Verständnis gewünscht, den konnte er nur achten, wenn er ihm mit bewaffneten Fäusten entgegentrat. Mit dem sollte er jetzt, friedlich im Naumannschen Familienkreis, Tee trinken, höfliche Worte wechseln?
Ob er umkehren sollte, mit einem tiefen Diener vor Fräulein Naumann erklären, nur ein Irrtum habe ihn hierhergeführt, Herrn von Büding habe er hier nicht erwartet?
Oder ihr offen sagen: Ich dringe hier ein wie der Wolf in die Hürde, das Herz voll Feindschaft? Denn es gibt für mich nur eines, was ich achten kann an einem Volk und an einem Manne: Wehrhaftigkeit! Diese Pazifisten aber, die die Seele des Volkes vergiften und seine Arme lähmen, die sollen ausgerottet werden.
Er tat und sagte nichts von alledem, er mußte Rücksicht auf Gerda nehmen. Seinetwegen hatte der Gestiefelte Kater seine Tochter vor die Türe gesetzt, und in ganz Berlin, in ganz Deutschland hätte kein anderes Haus ihr gastlich offengestanden. In ihren eigenen Kreisen gewiß nicht eines, wenn man erfuhr, warum der Vater sie verstoßen hatte.
Dann trat Rümelin hinter den Mädchen ein, wurde rings im Kreise vorgestellt, war tief verlegen – ein schüchterner Mensch war er immer gewesen, und jetzt lagen drei Jahre Haft hinter ihm. Herr Naumann sah gar nicht so aus, wie er sich einen jüdischen Schriftsteller vorstellte, eher wie der General einer ein wenig exotischen Armee. Das war kein Zufall – Alexander Naumann war in seiner Jugend Offizier der österreichisch-ungarischen Armee gewesen, berühmt als Reiter und Säbelfechter. Er hatte diese Armee in Lustspielen und Romanen immer wieder geschildert, ironisch, manchmal spöttisch, aber immer mit liebevoller Ironie und beinahe zärtlichem Spott. Rümelin fühlte sich ihm gegenüber fast wie ein junger Offizier, der kriegsgefangen ins feindliche Lager gerät und dort wie ein Freund empfangen wird. 67
Frau Naumann erinnerte ihn stark an eine Frau, die ihn als Kind gepflegt hatte, die er tausendmal mehr geliebt hatte als die ein wenig kalte, an Zärtlichkeit karge Mutter und die er »Frau Sonne« genannt hatte. Sie hatte nur »herzlich willkommen« zu ihm gesagt, aber dabei floß soviel Herzlichkeit und warme Güte über ihn hin, daß der innere Widerstand, den er hier leisten wollte, beinahe zerschmolz.
»Sorgt gut für Herrn Rümelin«, empfahl sie den beiden Mädchen, und dann erklärte sie, strahlend vor Glück, dem ganzen Kreis:
»Es ist so wundervoll, auf einmal habe ich zwei Töchter.«
Der Zionist Josef Kronfelder, den Yella als »ihren Freund« vorgestellt hatte, war Rümelin zu seinem Erstaunen nicht unsympathisch. Seine schwarzen Fanatikeraugen erinnerten an die Schnierwinds, aber er war ganz und gar kein Krüppel, sondern ein schlanker, hochgewachsener Athlet, dessen Händedruck ihm zu denken gab.
»Gleich beim Eintritt ein Ringkampf?« lachte Yella, die beobachtet hatte, daß die beiden jungen Männer wie in geheimnisvoller Zeremonie ihre Kräfte maßen. »Verschieben Sie das – Josef ist Deutschlandmeister im Fünfkampf.«
Gleich darauf saß Hans-Heinz, unsicher mit einer Teetasse jonglierend, die man ihm in die Hand gedrückt hatte, neben Theo von Büding. Er hatte noch kein Wort gesprochen, fühlte noch das Rot des Verlegenseins auf seiner Stirn und war glücklich, nicht mehr der Mittelpunkt dieser Gesellschaft zu sein.
Man sprach von einem neuen Film, »Acht Mädels im Boot«Ein Film von Erich Waschneck. In enger Anlehnung an »Mädchen in Uniform« gedreht. Brachte 1932 das »Rebellenmotiv« in nationalsozialistischer Auslegung ungehindert auf die Leinwand. Seine Handlung sprengte alle überkommenen bürgerlichen Familien- und Autoritätsvorstellungen. Der »Führer« (das Mädchen Christa) ist unerbittlich gegen sich und die anderen. Der Film gab früh eine Vorstellung vom pervertierten Leistungszwang der nationalsozialistischen Jugendbewegung. – ein junger Maler, Graf Strehlau, referierte sehr aufgeregt.
»Da sieht man tief hinein in eine Zeit, die vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen wäre«, behauptete er. »Zwanzig oder dreißig junge Mädchen haben sich an einem See niedergelassen, aber nicht um klares Wasser, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu genießen, sondern um für eine Ruderregatta zu trainieren. Sie haben sich dem Kommando einer besonders guten Sportlerin unterworfen, ganz freiwillig natürlich, frühmorgens treten sie in Reih und Glied zum Appell an, wenn 68 es neun Uhr schlägt, spritzen sie auf Kommando wie ein Mann in die Betten, den ganzen Tag über haben sie Zucht und Drill, Kommando und Strammstehen. Wenn ein Mädel aus dem Glied tritt, wird sie hergenommen und geschliffen wie ein Rekrut, bis ihr die Haut dampft, bis sie ohnmächtig zusammenbricht.«
»Und das ist das Merkwürdige an der Geschichte«, erzählte Frau Naumann, »alle diese Mädchen sind bildhübsch, gewachsen wie Kerzen, das ist schließlich kein Wunder, denn der Regisseur hat sich natürlich aus Tausenden die Hübschesten ausgesucht. Man sieht sie ununterbrochen in nassen, weißen Badetrikots, das heißt beinahe nackt, man sieht sie in der leuchtenden Sonne, im strahlenden Wasser, und trotzdem . . .«
»Ja, trotzdem, gnädige Frau! Jetzt werden wir kompetent, Naumann und ich, wir alten Semester, bei denen immer noch der junge Wein blühen will.«
Das war Herr von Büding, ein zierlicher Mann um die Fünfzig, mit sehr gelichtetem Scheitel und einem Zwicker auf der gebogenen Nase, mit klugen, freundlichen Augen und einer dünnen, allzu hellen Stimme. Das ist der Feind! empfand Rümelin und kehrte alle Borsten seines Herzens gegen Büdings Worte. Doppelt und zehnfach Feind, weil er aus unseren Reihen stammt. Junkerblut, Preußenblut – und machte gemeinsame Sache mit den Marxisten, Pazifisten, Gehirn-Fatzken. Ein Renegat, man sollte ihn mit dem Absatz tottreten. Nein, man sollte rufen: »Kellner, treten Sie den Hund tot!«
Indessen fuhr Büding fort:
»Sie sind nicht entzückend, diese entzückenden jungen Mädchen, sie sind nicht nackt in ihren weißen, nassen Trikots, das Herz geht einem nicht auf, man hat sie nicht lieb. Sie haben ihr Geheimnis verschenkt, und das Geheimnis ist das Köstlichste an Frau und Jugend. Wenn da ein junger Troubadour ankommt, verstohlen, um einer von ihnen von Liebe zu sprechen, dann sind alle anderen tief empört und fallen wie zänkische Raubvögel über die Eier her. Nicht, weil sie einen Liebhaber hat – o nein, das ist Privatsache, darum kümmern sie sich 69 nicht, mit Prüderie hat das nichts zu tun. Nein, weil sie sich gegen das Exerzierreglement dieses Amazonenlagers vergeht, weil sie ein Lächeln nach eigener Fasson zeigt und ein paar Handbewegungen macht, die das Herz ihr befiehlt, nicht die Korporalin. Deshalb schäumen sie alle. ›Was hat Eros bei uns verloren!‹ ist der Tenor ihrer Gespräche.
Ist das unsere Zeit? fragt man sich. Wenn Odysseus so wie ich in diesen Film kam, das Herz noch voll von Sturm und Kampf gegen die See, an das Gestade der Phäaken träte und fände dort die Gespielinnen der Nausikaa, mit ihren süßen, bloßen Körpern, aber nicht Reigen tanzend, nicht den Ball schlagend, sondern stramm ausgerichtet, Knie durchgedrückt, Bauch herein, Brust heraus, Kinn an der Binde, Hände an der Hosennaht, und die Königstochter kommandierte ihnen: ›Rechtsum, ohne Tritt marsch, Bataillon halt!‹ – was würde Odysseus dann tun? Das, was ich getan habe, als ich mir meinen Hut aus der Garderobe holte und an den Arbeitstisch zurückeilte! Er würde seinen Kahn wieder flottmachen, hinaus, zurück ins wilde Meer . . .«
»Und ein Held bleiben, statt bei den Phäaken der Heimkehr und des Vaterlandes zu vergessen!« entfuhr es Rümelin.
»Wenn Odysseus heute am Strande von Palästina landete«, pflichtete ihm Josef Kronfelder bei, der bisher wortkarg erschien, »da fände er Mädchen, die Felsen sprengen und Ziegel brennen, im blauen Overall, nicht in weißen Trikots. Armer Odysseus!«
Alexander Naumann begann eine Geschichte aus seiner Jugend zu erzählen. In Dalmatien hatte er einen Zug Kavalleristen kommandiert. Unter ihnen war ein junger Soldat, der schon ein Jahr lang leidlich geschickt seinen Dienst getan hatte, als sich bei einer ärztlichen Untersuchung herausstellte, daß er ein Mädchen war. Es war sonderbar, daß diese Entdeckung sich so lange verzögert hatte, aber das Sonderbarste an der Sache war, daß die Kameraden dieser Rekrutin längst hinter das Geheimnis gekommen waren, ohne es besonders interessant zu finden. Dieses Mädchen, das ihre Kleider trug, 70 ihren Dienst tat, im Mannschaftsbett, mitten unter der Mannschaft, schlief und in den Arrest flog wie irgendeiner der Burschen, wenn sie mit blinden Knöpfen zum Dienst kam, war für die Soldaten einfach kein Mädchen gewesen.
»Sie lachen über diese Geschichte, die mein Freund Alexander natürlich so gut erzählt hat, daß man darüber lachen muß«, sagte Theo von Büding. »Aber es gäbe vielleicht Gründe, darüber zu weinen. Noch ein paar Jahre so weiter, dann hat unsere ganze Jugend sich selbst mit Arbeitsdienst und Wehrsport und kameradschaftlichem Geist in eine solche Kaserne eingesperrt, in der niemand mehr weiß, was der einzelne Soldat ist: ein Bursche oder ein Mädchen. Arme Jugend von morgen – und könntest so glücklich sein!«
Du wirst sie nicht erleben, dachte Hans-Heinz. Du wirst dann kein Gift mehr streuen dürfen.
Gerda und Yella hatten sich rechts und links auf die Armlehnen von Büdings Lehnstuhl gesetzt.
»Guter, lieber Onkel Theo«, sagte Yella. Sie streichelte seine Hand und seine Wangen, sein altmodisches, spitzes Bärtchen. »Schau, wir gehen auch mit den Jungens in den Hörsaal und, so Gott will, in die Examina. Sind wir wirklich keine Mädchen mehr?«
Er griff nach ihren Händen und sagte lustig:
»Wir drei, wir sind die alte Schule. Wenn wir uns noch ein bißchen so halten, wird man uns bald als Museumsstücke betrachten. Ein greises Männchen, das die Mädchen liebt, zwei kleine Frauen, die Eros im Herzen haben.«
Yella widersprach mit Leidenschaft:
»Ehe du alt wirst, Onkel Theo, muß eine neue Eiszeit kommen. Du bist der letzte, jüngste Troubadour.«
Jetzt wandte Büding sich an Hans-Heinz:
»Und Sie, Herr Rümelin? Sind Sie nicht auch alte Schule? Hat Ihr Herz nicht drei Jahre lang nach diesen weichen Händen hier geweint?«
Dabei küßte er beiden Mädchen die Hände.
In diesem Augenblick fand Hans-Heinz diesen 71 Fünfzigjährigen, der ihm verhaßt war, weniger abstoßend. Er fühlte – mit Eifersucht und Dankbarkeit zugleich –, daß der Alte etwas an Gerda gutmachte, ihr an Bewunderung, an Zärtlichkeit gab, was er selbst ihr nicht ohne Schmerzen schuldig blieb.
»Zu Befehl!« – alles lachte, ganz unwillkürlich, ohne Bosheit. Man mußte lachen, weil er auf die weichste, die zarteste Frage, die ein älterer Mann einem jungen stellen konnte, mit »Zu Befehl!« geantwortet hatte. Er verbesserte sich rasch:
»Ich wollte sagen, jawohl, Herr von Büding. Es geht viel verloren aus unserer Welt, das Ihre Generation genossen hat. Das muß sein, muß! Ist es unsere Schuld? Ich glaube nicht, daß es unsere Schuld ist.«
»Ein Engel flog durchs Gemach«, sagte Frau Naumann, als auf dieses Wort hin, das ganz wie ein Schrei geklungen hatte, eine lange Pause entstanden war. »So hat man zu unserer Zeit gesagt. Aber es klingt heute komisch, wenn man von Engeln spricht.«
»Gar nicht, ganz und gar nicht, Helene«, widersprach der Hausherr. »Da kommt ja ein ganz lebendiger, ein richtiges pausbäckiges Engelchen mit einer Posaune am Mund, nur leider im Abendanzug mit gestärkter Frackbrust. Grüß dich, mein lieber, alter Blumenthal! Was bringst du Gutes?«
Dr. Blumenthal, halb kahl, halb weißblond, kurz, kugelrund, einem sympathischen Ferkelchen vielleicht noch ähnlicher als einem Posaunenengel, kam sehr erregt herein, mit ein wenig torkelndem Gang, spielte ungeschickt mit einer riesigen dunklen Zigarre und küßte den Damen die Hand. Wenn er sich verbeugte, sah es aus, als stünde da zwischen all den Lehnsesseln ein behaglicher, schwarzbezogener Puff, so klein und rund war er.
»Meine einzige, mga, mga, liebe Hausfrau, es wäre, mga . . .«
»Ein tüchtiger Kognak, lieber Blumenthal?«
Er kostete umständlich an dem edlen Gewächs, schnaufte erregt, sortierte seine Gedanken. Es ging nicht rasch bei ihm, er war ein Bringer großer Sensationen, hatte Nachtdienst in 72 der Redaktion getan, eine formvollendete Theaterkritik zu Papier gebracht und – im Weggehen, zwischen Tür und Angel, war ihm ein Stück Weltgeschichte zugeraunt worden.
Es war eine ungeheure Sensation, deren Träger er war, aber er konnte sie nicht anders bringen als mit vielen »mga – mga«, zerquetschten Vokalen und langsam zerkauten Konsonanten.
»Papen, mga, mga, hat den Versuch gemacht – ja, hm ga, den Versuch gemacht – General Schleicher zu stürzen. Ja, mga, mga, General Schleicher zu stürzen . . .«
Langsam kam die ungeheure Nachricht zutage:
Militärputsch! Schleicher hat die Reichswehr aus Potsdam und Spandau nach Berlin dirigiert, sie sind unterwegs, die ganze Stadt Berlin ist bereits zerniert, Schleicher will der Kamarilla agrarischer Barone, die sich um Hindenburg geschart hat, den Schädel spalten! Er droht mit ungeheuren Enthüllungen – der »Osthilfe-Skandal«Hindenburgs Abkehr von Schleicher, die die Kanzlerschaft Hitlers ermöglichte, wurde beschleunigt, weil der Haushaltsausschuß des Reichstags (10.–25. Januar 1933) riesige Korruptionen bei der sogenannten Osthilfe (Subventionen des Deutschen Reiches für die östlichen Landwirtschaftsgebiete) aufdeckte. Viele dem Staatsoberhaupt Hindenburg nahestehende Junker waren daran beteiligt. Hindenburg selbst war in den Skandal verwickelt, weil er das Gut Neudeck als Geschenk angenommen hatte. – Millionen, vielleicht Milliarden Staatsvermögen sind durch die Papen, die von Gayl und wie sie alle heißen, heimlich in die versumpften, verschuldeten ostpreußischen Großgrundbetriebe gepumpt worden, ein Aderlaß am deutschen Volk ohnegleichen!
Sie haben ihm an die Kehle gewollt, als er nicht ganz nach ihren Ordres regierte. Der »soziale General« hat er sich selbst genannt! Das hat sie tief verbittert, die um Hindenburg, die Barone, denen das Wort »sozial« stinkt. Wenn er sich mit der Kanaille verbündet, ist er geliefert. Aber er hat sich nicht liefern lassen, zum erstenmal in der Geschichte des neuen Deutschland hat sich einer, der legitim die Macht besitzt, zum Volke gestellt und gegen die illegitim regierende Oberschicht.
Er zerschmettert die Kamarilla, er zerreißt die Nebel, in die sie Hindenburg eingehüllt haben, eine Abrechnung kommt, ungeheuer, ohnegleichen! . . .
Es hatte lange gedauert, bis Blumenthal in Fluß geraten war, aber zuletzt hatte er ganz ohne Verlegenheitslaute und in tiefer Erregung gesprochen.
»Es tut mir leid, meine Herrschaften, daß ich in diesen schönen Abend mit Politik hineinplatzen mußte«, sagte er dann 73 und begann wieder zu gacksen. »Aber, mga, wes das Herz voll ist, Sie wissen ja, des läuft der Mund über.«
Sollte das Wirklichkeit sein? Welche Möglichkeiten, welche Konsequenzen!
»Auf wen stützt sich Schleicher, außer auf die Reichswehr?« erkundigte sich Büding, der in politischen Dingen ein kühler Stratege war, so furchtlos und leidenschaftlich er den Krieg in jeder Form bekämpfte, haßte, schmähte.
Blumenthal wußte es nicht, ein großes Raten begann. Auf die Sozialdemokraten, das Zentrum, wenn Hitler gegen ihn war. Es war längst bekannt, daß Leipart, der Führer der freien Gewerkschaften, Führer eines friedlichen Heeres von mehr als zehn Millionen wohlorganisierter Arbeiter, in Schleichers Ministerium aus und ein ging.
Dann also – dann mußte Hitler gegen den Staatsstreich sein!
Hieß das Bürgerkrieg?
Wenn die Barone gestürzt, wenn ihre Führer hinter Schloß und Riegel gesetzt wurden, dann hieß es, daß ihre Leibgarde, der Stahlhelm, zu Hitlers braunen Truppen stieß.
»Dreihunderttausend Mann SA, ich weiß das aus zuverlässiger Quelle, es sind mindestens dreihunderttausend, von Reichswehroffizieren militärisch ausgebildet«, behauptete keuchend vor Erregung der junge Graf Strehlau. »Dazu hunderttausend Mann Stahlhelm. Waffen haben sie, große Depots, keine schweren Waffen natürlich, aber genug für einen Bürgerkrieg. Dagegen nur hunderttausend Mann Reichswehr.«
Büding, dem der Gedanke an den Krieg unvorstellbar, der Gedanke an Bürgerkrieg aber unausdenkbare Hölle war, sprach zornig dagegen.
»Reichswehr und Schutzpolizei, das hat Schleicher einmal sicher, das ist militärisch absolut entscheidend! Selbst ein Wahnsinniger – und ich habe allen Grund zu bezweifeln, daß Hitler wirklich halb so wahnsinnig ist, wie er sich stellt – würde diese halbzerlumpten braunen Jungens mit ihren Exerzierflinten nicht gegen die fabelhaft tüchtige Reichswehr einsetzen. Auch Seldte wird sich hüten, seine Handvoll 74 Stahlhelmer in ihre Maschinengewehre zu jagen. Die Gegenwart ist schrecklich genug, meine Damen und Herren, aber untermalen Sie sie nicht auch noch mit Mittelalter! Vor hundert Jahren noch war so etwas möglich, mit Jagdstutzen gegen Soldaten zu marschieren. Heute nicht mehr!«
»Wenn – wenn – auf die Reichswehr wirklich Verlaß ist?« fragte gedankenschwer Alexander Naumann. »Ihre Offiziere haben die braunen Jungens gedrillt – ich kann mir keinen Offizier vorstellen, der auf die eigenen Rekruten Feuer kommandiert.«
»Das Radio!«
Wenn dies alles nicht fiebriges Gerücht war, dann mußte es der Rundfunk schon wissen und sein Wissen verbreiten.
Yella schaltete den Lautsprecher ein, man hörte das laute Ticken einer Uhr, die anzeigte, daß im Rundfunkprogramm eine Pause eingetreten war. Man lauerte zitternd – jetzt gleich sprach das Schicksal!
Dann kam hell und scharf die Stimme des Ansagers:
»Meine Damen und Herren, nach einer Pause von drei Minuten folgt jetzt ein Militär-Potpourri, ausgeführt von der Kapelle des Ersten Reichswehr-Regiments, dirigiert von Herrn Obermilitärkapellmeister Gronau. Danach folgen die Wetter-, Tages- und Sportnachrichten.«
»Das sieht eher nach Frieden aus«, glaubte einer.
»Das sieht ganz und gar nicht nach Frieden aus!« rief Josef ihm entgegen. »Das ist die Tonkulisse, hinter der sich die wahren Vorgänge verbergen.«
Gleich darauf wurde Fräulein von Reischach am Telefon verlangt. Sie erschrak, sie wurde bleich – außer ihrer Mutter wußte niemand außerhalb dieses Kreises, daß sie Gast im Hause Naumann war.
Ihr Schreck war so deutlich gewesen, daß jedermann sich von diesem Telefonat – ganz ohne Nachdenken, nur weil es der Situation entsprach, daß irgendein neues Ergebnis vom Himmel fallen mußte – Entscheidung erwartete.
Für Minuten verstummten die Gespräche, blickte alles auf 75 Gerda. Man sah, wie ihr eben noch bleiches Gesicht sich dunkelrot färbte, man hörte einen Schrei, kaum unterdrückt, einen Schrei zwischen Jubel und Entsetzen.
»Jawohl, Papa, er kommt sofort.«
Sie legte den Hörer auf die Gabel, sie stand auf, alle Augen sahen nach ihr. Sie krallte die Finger in die Falten ihres Kleides, einen Augenblick versagte sich ihr der Ton und zitterten ihre Lippen. Dann gab sie bekannt, mit heller, scheuer Stimme:
»Mein Vater kommt in diesem Augenblick aus dem Regierungspalais. Hitler ist Reichskanzler, Hindenburg hat ihn beauftragt, noch heute nacht das Kabinett zu bilden. Hans-Heinz, du möchtest sofort zu meinem Vater kommen.«
Rümelin sprang auf:
»Zu Befehl! Ich bitte die Herrschaften, mir den raschen Abschied zu verzeihen!«
Er verbeugte sich in der Tür, aber niemand dankte für seinen Gruß. Ringsherum saßen erstarrte Menschen, ihre Gesichter flossen zusammen in eine einzige leichenhaft weiße Masse.
»Ich darf deinen Wagen benützen, Gerda?«
»Hier ist der Schlüssel. Fahr zu!«