Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Zwanzigstes Kapitel

Gerda verstand es, eine Mauer um sich zu ziehen, die für Rümelin undurchdringlich war. Sie war nicht zu sprechen, wenn er sich bei ihr melden ließ oder telefonisch nach ihr fragte. Er schrieb ihr oft, manchmal zwei- oder dreimal an einem einzigen Tage. Seine Briefe, die anfangs nur verlegen klangen, wurden leidenschaftliche Selbstanklagen, ein Flehen um Verzeihung. Er sei rastlos tätig, versicherte er, Tag und Nacht habe er keinen anderen Gedanken mehr, als das Verbrechen wiedergutzumachen, das an Naumanns begangen worden. Ja, er fühle sich mitschuldig, wenn er sich auch keines Schattens einer bösen Absicht bewußt sei, wenn er auch nichts begangen habe als das: eine winzige Entgleisung der Zunge nicht sofort zu korrigieren. Aber sein eigenes Gewissen würde ihn nicht freisprechen, ehe das ganze Unrecht getilgt war. Ob Gerda nicht, statt zu grollen, ihm beistehen wolle, ihm mitteilen, ob von Alexander Naumann ein Lebenszeichen gekommen sei, wie das Befinden von Mutter und Tochter sei?

Gerda hatte nur anfangs einen Blick übrig für diese erregten, drängenden Bitten und Bekenntnisse. Später las sie sie nicht mehr – sie machten ihr den Denunzianten Hans-Heinz 185 nur verächtlicher. Wiedergutmachen? Das Unrecht tilgen? Daß Herr Naumann noch am Leben war, glaubte sie nicht. So viele Leichen hatte man in diesen Tagen, verstümmelt, daß sie nicht mehr identifizierbar waren, in den Wäldern rings um Berlin gefunden, auf der offenen Straße sogar, aus den Kanälen und Seen gefischt! Kam der Bericht eines solchen Fundes in die Öffentlichkeit, dann hieß es, kommunistische Provokateure hätten ein neues Verbrechen begangen, die Polizei habe ihre Spuren schon und sei in fieberhafter Tätigkeit. Dabei blieb es, es kam nie vor, daß eine dieser fieberhaft verfolgten Spuren auf den Täter führte. Die Körper der aufgefundenen Leichen aber, deren Gesichter die eigene Mutter nicht wiedererkannt hätte, trugen die Spuren gräßlicher Folterung und zeigten, welches Schicksal jeden erwartete, der sich für sie um Rache und Gerechtigkeit bemüht hätte.

Frau Naumann aber, deren Wunden noch immer gepflegt wurden, war in geistige Nacht versunken. Sie hatte jedes Ich-Gefühl verloren, wußte nicht, wer sie war, wie sie hieß . . . Und ihre Tochter – dieses erloschene Wesen, diese zertrampelte Schönheit, diese zerrüttete Frau, die aus dem Schlaf, aus tiefstem Morphiumschlaf heraus, Angstschreie ausstieß und sich verfolgt glaubte, war nicht Yella.

Gerda war täglich bei ihr, sprach von der Zukunft, sprach von Josef und Palästina, aber keines ihrer Worte fand ein Echo. Nein, Yella war lebendig hingerichtet und würde kein neues Leben beginnen, zu dem sie Mut und Kraft einer Heldin brauchte.

Für Gerda verschmolzen Hans-Heinz und die Partei, der er diente, diese Partei, die sich höhnisch rühmte, der »nationalen Erneuerung« zu dienen, zu einer gemeinsamen Fratze, so voll Scheußlichkeit, daß keine Erinnerung ihr früheres Bild wieder erwecken konnte. Dieser Rümelin – vor wenigen Monaten noch ein blasser Fanatiker –, der es wagte, frech und feist in seinem Sechszylinder-Wagen vor dem Hause ihres Vaters anzufahren und suchende Blicke zu ihrem Fenster hinaufzuwerfen – hatte sie je mit dem aus einem Glase getrunken, auf 186 einem Lager geruht, ein gemeinsames Leben für ihre fernen Tage gebaut? Wenn es so war, dann müßte sie ihn ermorden.

Aber ermorden, einen Schuß abgeben, der sein Leben und seine dreiste Zuversicht zerbrach, war das Rache, war das Strafe? Durfte sie einen dieser Menschen, die aus ganz Deutschland einen einzigen Garten der Qual gemacht hatten, durch die Gnade eines plötzlichen Todes seinem Gericht entziehen?

Gerda saß häufig bei Herrn von Büding, der sich Nacht für Nacht im Dunkel der Großstadt versteckte, in immer neuen Schlupfwinkeln, aber bei Tage in seiner Wohnung und an seinem Schreibtisch lebte wie je in Friedenstagen. Es war wie ein Gesetz, daß bei Tage die legale Polizei ihre Funktionen ausübte, und von der hatte Büding nichts zu fürchten. Er war ein Feind der Regierung, aber er hatte keine Bestimmung dieser Regierung verletzt, er war mundtot, seine Zeitschrift erschien nicht mehr, so konnte er gar keine neue Verfolgung auf sich ziehen. Nachts jedoch trat die SA an Stelle der Polizei, und die fragte nicht nach Vergehen, nach Gesetzen und Haftbefehlen. Sie war die linke Hand, die Mörderhand der Regierung. Wenn Büding in ihre Gewalt fiel, war er verloren. Bei Tage dachte er nicht an dies Schicksal, konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit, den Fall Bullerjahn, und in seinem versonnenen, offenen Gesicht war nichts von Angst zu lesen.

Gerda kam von dem Krankenbett ihrer Freundin zu ihm, die Seele in loderndem Aufruhr.

»Hat diese Bewegung ein Herz, in das man schießen kann?« fragte sie. »Gibt es einen vitalen Punkt, in dem sie zu treffen ist, Herr von Büding? Ist all dieser Spuk zu Ende, wenn jemand diesen Hitler kalt macht? Dann will ich es tun.«

Sie dachte an Charlotte Corday, ein tapferes Mädchen der Geschichte, das durch ein Attentat einen der Henker der Französischen RevolutionMarie-Antoinette-Charlotte Corday d'Armont (1768–1793), eine französische Adlige, ermordete 1793 den französischen jakobinischen Revolutionär Jean-Paul Marat. Im selben Jahr hatte Marat zur Fortführung der Revolution den Volksaufstand organisiert, durch den die bürgerlich-gemäßigte Fraktion der Nationalversammlung, die sogenannten Girondisten, entmachtet wurde. Die Jakobiner ließen neunundzwanzig Girondisten guillotinieren. getötet hatte.

»Glauben Sie nicht, daß ich feiger bin als Charlotte Corday!« drängte sie. »Ich will nur nicht kopflos handeln. Sie müssen mir raten!«

»Charlotte Corday hat Marat für tausend Tode, die er 187 verhängt hatte, mit einem Tod bezahlen lassen«, sagte Büding traurig. »Das war alles, eine reinliche Rechnung.

Aber vergleichen Sie, Gerda, was hatten diese Henker der Französischen Revolution, von denen man spricht wie von den furchtbarsten Teufeln in Menschengestalt, was hatten sie denn Großes verbrochen? Sie hatten Bluturteile sprechen lassen und ihre Gegner zum Tode verurteilt. Diese Opfer der Revolutionstribunale aber waren, ungequält, stolz auf die Guillotine gestiegen. Viele lächelnd. Die Sekunde, in der das Fallbeil niedersauste, war ihnen gewiß nicht gräßlicher als jedem anderen Menschen der Augenblick, in dem er sein Leben läßt. Da hatte die Tat der Charlotte Corday einen Sinn.«

»Aber heute, Herr von Büding? Es gibt keinen Zweck, für den man sein Leben opfern kann? Muß man an Ekel krepieren, statt zu handeln?«

»Ein Erdbeben kann man nicht mit Dynamitexplosionen bekämpfen, Fräulein Gerda. Was sich bei uns Regierung nennt, ist eine hochorganisierte Bande von Folterknechten, ihre Opfer können nur mit bitterem Neid an die Opfer der Guillotine denken. Es ist nicht die Frage, wie lange diese Tobsüchtigen herrschen – es ist die Frage, ob die Tobsucht für immer regieren soll, ob ein Terror den anderen ablösen soll.«

Büding war aufgestanden und ging in dem mit Büchern vollgestopften Raume auf und ab.

»Sollen wir Roheit mit Gewalt beantworten, Mord mit Totschlag? Nein, wenn wir uns nicht anders wehren können als mit den Waffen der Feinde – mit Raserei gegen die Rasenden –, das hieße, Blutvergießen zum höchsten Gesetz zu machen!«

Er blieb vor Gerda stehen und strich ihr, beinahe verlegen, über das Haar, als schämte er sich der frommen Gedanken seines Herzens.

»Ich glaube immer noch, Gerda, und von diesem Glauben lebe ich, daß ein winziger Funken Liebe stärker sein wird als alle Flammen des Hasses und alle Lügen. Es ist nicht wahr, daß man Wunden mit dem Eisen ausbrennen soll, man muß sie mit reinem Linnen verbinden, damit sie heilen.« 188

Gerda hatte die Berührung seiner Hände wie eine Wohltat empfunden. Sie schwieg, sie hoffte, daß er weiter spräche. Es entstand eine lange Pause, dann sagte er, aber nicht zu ihr gewandt, sondern seltsam ins Leere, wie zu einer Gemeinde:

»Wir haben heute keine Zivilisation mehr, aber wir haben noch ein paar Millionen Deutsche, die wenigstens an Zivilisation glauben, an menschliche Ideale, und für die sind wir da! Wenn ich es anders glaubte, würde ich Ihnen sagen: der einzige Schuß, den es sich lohnt abzugeben, ist der ins eigene Herz.«

»Zählt man die noch, die diesen Ausweg suchen?« fragte Gerda. »Ist das noch eine Demonstration?«

»Ganz gewiß nicht. Wenn es im Dritten Reich eine Statistik gäbe, könnte man vielleicht feststellen, daß heute mehr Menschen an Selbstmord sterben als an Krebs oder Tuberkulose. Es kommt nur in die Zeitung, wenn ein Prominenter sich umbringt, ein Wirtschaftsführer, ein berühmter Rechtsanwalt oder Gelehrter, und dann wird ihm noch ins Grab hinein gelogen, er hätte Grund gehabt, vor dem Arm der Justiz zu entfliehen. Aber von den Tausenden Menschen, die an Ekel oder aus Angst vor der Folter freiwillig sterben, von den Unzähligen, die sich das Leben nehmen, weil sie plötzlich, unverschuldet, aus Amt und Ehre gestoßen werden, die ihre Frau und ihre Kinder mit in den Tod nehmen, weil sie nicht langsam verhungern wollen, von denen darf nicht gesprochen werden. Gerade das, all das zwingt uns, auf dem Posten zu bleiben.

Wir müssen mit aller Liebe um den Menschen ringen, um jeden einzelnen Menschen, denn die Atome sind es, die das Leben schaffen, aus diesen einzelnen besteht die Menschheit. Es muß eine Zelle der Gerechtigkeit in unserem Volke lebendig sein, wenn die Folterknechte sich ausgetobt haben.«

»Und dafür wagen Sie Ihr Leben?«

»Dafür – und für das Prinzip der Wahrheit. Es muß einer übrigbleiben, der immer zu seiner Wahrheit gestanden hat, wenn sich dieser Ozean von Lüge einmal verlaufen hat. Sie nennen sich ultranational und äffen nur das Ausland nach, 189 unablässig, einmal Mussolini und einmal Stalin. Sie nennen sich Sozialisten und sind bezahlte Diener der Schwerindustrie. Sie stecken den Reichstag in Brand und behaupten, die Kommunisten hätten es getan. Sie nennen sich Patrioten und treten ihr Vaterland in den Dreck. Sie nennen sich Helden und kämpfen nur, hundert Bewaffnete gegen einen Wehrlosen, gegen die Juden. Sie schwören auf die Verfassung und lassen von ihr nicht einen Stein auf dem anderen. Sie brüllen ›Disziplin!‹ und lassen Mörderbanden toben.

Glauben Sie nicht, daß der Tag kommen muß, an dem meine Wahrheit notwendiger ist als Brot und Wasser?«

›Ist das ein Heiliger?‹ dachte Gerda, als sie Büding verlassen hatte.

 

Sie war auf ihrer ganz ergebnislosen Suche nach Alexander Naumann auch bei Frau Schniedecke gewesen. Karl Schniedecke ist ja SA-Mann geworden, hatte sie gedacht, vielleicht hilft er mir auf die Spur? Dort hatte sie bei ängstlich verschlossenen Türen und Fenstern alles gehört: daß man die Toten längst nicht mehr registrierte, die Leichen nicht mehr zählte, daß in jedem Stadtteil dieser wohlorganisierten, sauberen, gut preußischen Stadt Berlin Folterkeller etabliert waren, in denen mit Tag- und Nachtschicht gearbeitet wurde. Nach dem Schicksal eines einzelnen zu forschen – und wer in eines dieser Infernos geriet, war, auch mit dem berühmtesten Namen, nur noch ein einzelnes, zur Marter bestimmtes Stück Fleisch – war unmöglich. Vor dieser Aufgabe versagte die Kraft jedes Herzens, die Macht der Polizei, auch der ganze Ministerialapparat des Gestiefelten Katers. Wo er offiziell nachfragte, wurde alles geleugnet, war alles Erfindung und Greuelmärchen. Aus diesen Katakomben der Qual drang kein Strahl in die Höhe des offiziellen Deutschland, ja es lebten in Deutschland selbst Millionen und abermals Millionen von Menschen, die ihre Ohren verschlossen, all das nicht glaubten, deren Tage und Nächte fröhlich hingingen. Keine Zeitung wagte, anzudeuten, was an dunklen Gerüchten umlief. Es war völlig ungefährlich 190 für die Helden dieser Revolution, in Greueln zu schwelgen, aber es war furchtbar gefährlich, absolut das Verderben bringend, ein Wort über die Greuel verlauten zu lassen.

Und Europa? Und die ganze zivilisierte Welt?

Erfuhren sie nichts? Wollten sie nichts erfahren?

Vor dreißig Jahren hatte ein tapferer Ire, Roger Casement, aufgedeckt, daß im Kongobecken eine Bevölkerung von etlichen zehntausend armen Negern von weißen Kolonisatoren ähnlicher Qual unterworfen waren. Damals hatte die zivilisierte Welt einen einzigen Schrei des Abscheus ausgestoßen, von allen Kanzeln, von allen Tribünen, in allen Zeitungen zugleich. Ein König hatte auf der Anklagebank gesessen und war von der Gemeinschaft zivilisierter Nationen verurteilt worden, mit Fluch und Acht bestraft.

Aber jetzt, wo diese Barbarei, dieses Über-Hunnentum im Herzen Europas ausbrach, schwieg die Welt wie ein einziger Friedhof.

»Daß du es noch immer ertragen kannst, einem dieser Menschen ins Gesicht zu sehen!« schrie Gerda ihren Vater an. »Das Haus ist mir verpestet, in dem dieser Rümelin ein- und ausgeht!«

Im Gestiefelten Kater lebte nur noch ein armer Rest jener polternden, altpreußischen Kraft, dank derer er durch Jahrzehnte ein wichtiger Staatsmann gewesen. Sie hatten ihn zur Puppe gemacht, noch trug er Mütze und Uniform eines Steuermannes auf dem Staatsschiff, aber sein Wort galt nicht mehr, und das Schiff lief zickzack, von den unkundigen Händen tobender Korsaren gelenkt.

»Ich muß trotzdem auf Posten bleiben«, behauptete der Alte. »Letzten Einfluß aufgeben? Hieße Fahnenflucht.«

»Und was willst du erreichen, was kannst du heute noch erreichen, Papa?«

»Vielleicht – die letzte Katastrophe vermeiden.«

»Aber sie decken doch alles, alle ihre Verbrechen, mit deinem guten Namen. Wenn die letzte Katastrophe über Deutschland hereinbricht, wirst du mitschuldig sein!« 191

 

Hitlers heimliches Programm war es gewesen, die deutsche Wirtschaft durch große Rüstungsaufträge wieder anzukurbeln, und wenigstens diesen Punkt seines Programms – gerade den einzigen, den er ängstlich verschwiegen hatte – führte er aus. Ein paar tausend Kampfflugzeuge wurden in Bau gegeben, eine kleine Armee von Kampffliegern ausgebildet, und die chemischen Fabriken, in denen Giftgase und Brandbomben hergestellt wurden, konnten bald ihre Belegschaft verdoppeln, verdreifachen.

All das war gegen die Bestimmungen des Versailler Vertrages, gegen ein Dutzend heiliger, beschworener, internationaler Verträge, gegen alle Versprechungen, die Hitler mit ungeheurem Pathos der Welt gegeben hatte. Aber dennoch ging es gar nicht heimlich zu bei dieser Aufrüstung zum neuen Weltkrieg, in dem man Tanks und Kanonen nicht brauchen würde, der nur in der Luft geführt werden konnte.

Mit gesträubtem Haar, mit fassungslosem Entsetzen, hörte der Gestiefelte Kater mitten in sein strenges, stilles Arbeitszimmer hinein durchs Radio einen seiner Ministerkollegen, den nationalsozialistischen Staatssekretär für Zivilluftfahrt, mit donnernder Stimme erklären, daß nichts ihn abhalten würde, Deutschland die Luftwaffe zu schmieden, die er für nötig halte!

»In dieser Richtung werden die Gegner an mir zerschellen«, schrie er größenwahnsinnig in die ganze Welt hinaus, schrie er zugleich nach Paris, London, Warschau. »Ich verspreche Ihnen, diesen Widerständen wie ein Rocher de Bronze entgegenzustehen! Wenn ich selbst nach Genf gehe und selbst dort spreche, dann ist das letzte Wort gesprochen!«

»Das heißt Krieg!« stöhnte der alte Politiker, der es nicht anders wußte, als daß man den Feind nur herausfordern kann, wenn man schon eine Waffe besitzt, nicht mit der Drohung, sie erst zu schmieden.

Sein ganzes Leben lang hatte er dem »Krieg« mit fast religiöser Hingabe angehangen. »Besser ein verlorener Krieg als fauler Friede«, war sein letztes Wort gewesen, wenn nur ein 192 Wölkchen den internationalen Himmel verdunkelte. Krieg schien ihm eine biologische Notwendigkeit wie Essen und Schlafen. Auch nach seiner Überzeugung durfte ein Volk nichts anderes sein als Pflanzstätte einer Armee, in der jede Frau bestimmt ist, Soldaten zu gebären, und jeder Mann von Kind auf zum Soldaten gedrillt wird. Er glaubte, wie an das Evangelium, daran, daß Deutschland den Weltkrieg gewonnen hatte. Seine glorreiche Armee war nur in letzter Stunde durch die feigen Sozialisten von hinten erdolcht worden. Nun konnte es nach seiner Überzeugung gar keine andere Politik geben als die, einen Revanchekrieg vorzubereiten und die Pazifisten derart abzudrosseln, im militärischen Apparat des Staates zu absorbieren, daß sie zum zweitenmal den Arm des Siegers nicht lähmen würden.

Aber was dieser Hitler und seine Paladine taten, war ja politisch das Gegenteil, ihre Rachegesänge riefen den Feind ins Land, ehe man ihm begegnen konnte. Sie brüllten, statt zu handeln. Die Franzosen und Polen würden handeln, ohne zu brüllen.

Dabei tat der Gestiefelte Kater nicht mit! Ultimatum um Ultimatum hatte er gestellt, ohne beachtet zu werden. Jetzt gab er seine Demission. Er war alt, aber noch lange nicht zu alt, um an die Spitze einer nationalen Opposition zu treten, an der diese Regierung von Dilettanten und Eisenfressern sich die Zähne ausbeißen sollte! Das kündigte er ihnen an – er hatte immer mit offenem Visier gekämpft!

Ein paar Tage nach seiner Demission – sie war in der ganzen Welt laut besprochen und sofort wieder vergessen worden, denn in Deutschland jagten sich die Ereignisse, daß keines haftenblieb – erschien Schnierwinds riesiger Mercedes-Benz mit seiner Bemannung von Riesen und dem winzigen, munter blickenden, kleinen Minister vor Reischachs Villa. Neben ihm saß düster und traurig Hans-Heinz Rümelin, Schnierwinds Adjutant, seit er nicht mehr im Dienste des Gestiefelten Katers stand.

Schnierwind schleppte seinen Klumpfuß, flink und 193 geschmeidig wie ein lahmes Wiesel, durch den Vorgarten und die Treppe empor, stand schon eine Minute später vor dem fauchenden alten Herrn.

»Verzeihen Sie, daß ich so plötzlich in Ihren Frieden eindringe!« sagte er lustig und höflich. »Es soll nicht wieder vorkommen. Wenn irgendeiner, haben Sie das Recht auf einen ungestörten Lebensabend, verehrter Herr, ohne Ministerbesuche, ohne Überfälle. Aber gerade deshalb muß ich dies eine Mal mit Ihnen sprechen.«

Der Gestiefelte Kater wies schweigend auf einen Stuhl, aber Schnierwind kletterte wie ein fideler Affe auf seinen Schreibtisch, kauerte da, ließ den Klumpfuß baumeln und bemerkte Herrn von Reischachs empörten Blick nicht.

»Ich habe Rümelin mitgebracht, er ist an Ihre Befehle gewöhnt und kann mich hinauswerfen, wenn Sie ihm nur einen Wink geben«, plauderte er. »Aber dazu wird es nicht kommen, denn ich bin ein Bote des Friedens. Und stehe Ihnen mit soviel Respekt gegenüber, wie ich überhaupt nur aufbringen kann, Herr Minister a. D. Setzen Sie sich, Rümelin, seine Exzellenz erlaubt es, und es ist viel gemütlicher, wenn wir alle drei sitzen.

»Was ist Ihr Begehr?« fragte der Gestiefelte Kater mit blutrotem Kopf.

»Sie dürfen sich nicht erregen, Herr von Reischach! Ich bin hier als ein kleiner Bittsteller, hören Sie sich meine Bitte in Gnaden an.«

Dann bettelte er wie ein listiger Schuljunge:

»Wenden Sie Ihren großen Einfluß an, um Ihre Partei aufzulösen! Machen Sie Schluß mit dem ganzen Laden! Sie täten uns allen einen so großen Gefallen damit – und sich selbst den größten! Sie haben diese nette kleine Parteiarmee, den Stahlhelm, hunderttausend Mann in schönen, grauen Uniformen. Um diese Prachtjungens brauchen Sie sich keine Sorge zu machen, die nehmen wir in unsere neunhunderttausend SA auf, und da werden sie glänzend verdaut. Ihre Herren Reichstagsabgeordneten fahren gemütlich nach Hause, zu ihren 194 Mastschweinen und Kohlköpfen, und widmen ihre ganze Energie wieder der notleidenden Landwirtschaft.«

»Sie sind wahnsinnig geworden!« wollte der Gestiefelte Kater brüllen, wie er sein Leben lang gebrüllt hatte, wenn er ein Amt ausübte, auf dem Exerzierplatz, im Parlament, in seinem Ministerium. Aber die Stimme versagte ihm, zum ersten Mal in seinem Leben.

»Wenn Sie mich nur nicht so böse ansehen wollten, Herr von Reischach!« begütigte Schnierwind. »Ich bin hier, um Ihnen und uns Unannehmlichkeiten zu ersparen. Sie wollen Opposition machen, das kann in einem Totalitätsstaat doch nicht geduldet werden, das ist doch unmöglich, das würde ja unseren großen Führer betrüben. Wollen Sie Adolf, dem Edlen, Kummer machen? Wollen Sie uns zwingen, daß wir Sie in dieser behaglichen Villa gefangensetzen? Ein paar Beamte in den Vorsaal, die Sie von jedem Verkehr abschneiden? Es ist ja schon so traurig, uns fehlen die hübschen Liparischen Inseln, auf denen Mussolini seine widerspenstigen Mitbürger beherbergt und beköstigt. Statt dessen haben wir Konzentrationslager bauen müssen, nicht das freie Meer ringsherum, sondern häßlichen, elektrisch geladenen Stacheldraht. Da geht es ein bißchen spartanisch her, der Ton soll rauh sein, wenn auch ganz militärisch, und man hört häufig Klagen über die Verpflegung. Es sind schon die Führer aller möglichen Parteien dort versammelt, die Parlamente werden so bald nicht wieder zusammentreten, und deshalb braucht man sie nicht mehr. Wollen Sie nicht lieber vermeiden, daß Ihre Parteifreunde, so viele stolze, verdiente Herren, dort mit Demokraten und Kommunisten zusammen –«

Rümelin sprang auf und stand stramm, er zitterte am ganzen Leib:

»Ich bitte, wegtreten zu dürfen!«

»Aber Rümelin, seien Sie doch gemütlich!« bat Schnierwind. »Der alte Herr hat ja längst begriffen, wie herzlich gut wir es mit ihm meinen.«

Rümelin hörte nicht mehr, er war schon an der Tür, hatte 195 sie aufgerissen und wollte noch eine letzte Verbeugung vor dem Gestiefelten Kater machen, dem er in dieser schändlichen Erniedrigung nicht anders beistehen konnte als durch seine Flucht. Da gab der alte Herr einen pfeifenden Ton von sich, einen dünnen, komisch-kläglichen Laut . . . Hans-Heinz sprang herbei, mit zwei Sätzen durch das ganze Zimmer, griff zu, im letzten Augenblick, sonst wäre der zerbrochene, alte Mann aus dem Stuhl gerutscht und hätte zu Schnierwinds Füßen auf dem Boden gelegen.

»Kleiner Schlaganfall«, sagte Schnierwind bedauernd. »Die alten Herren sollten sich schonen, nicht, Rümelin? Haben schon tausend Jahre lang heimlich regiert, das strengt an. Oder finden Sie etwa, ich wäre taktlos gewesen? Nehmen Sie ihn schon auf den Arm und tragen Sie ihn hinauf in sein Schlafzimmer. Ein bißchen Pflege, dann ist alles wieder in Ordnung, und zu arbeiten braucht er ja nicht mehr. Die Partei wird so oder so aufgelöst.«

Gerdas Vater wog fast nichts, Hans-Heinz hielt den steifen, beinahe leblosen Greis an seiner Brust wie ein krankes Kind.

»Sie Satan! Verfluchter Satan!« sagte er Schnierwind in die Zähne, in sein fröhliches freches Bubengesicht.

Schnierwind lachte wie über einen herrlichen Witz.

»Das ist wirklich nett von Ihnen, Rümelin, daß Sie jetzt mit mir grob werden! Kommen Sie um fünf auf meine Bude und erzählen Sie mir hübsch, wie es dem alten Herrn geht. Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie so ein Grobian sind!«

 


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