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Josef Kronfelder hatte Yella nur von seiner Hoffnung auf die neue Welt, von seiner wütenden Sehnsucht nach Arbeit und dem Abschiedsschmerz seiner Eltern geschrieben. Was er in Dingsdorf, seiner kleinen schlesischen Heimatstadt, erlebt, was er sehen und hören mußte, durfte er dem Papier nicht anvertrauen. 177
Wenn der Terror ausbricht, wütet er in einer kleinen Stadt, in der jeder jeden kennt, noch viel grauenhafter als in einer Weltstadt, wo sich der einzelne verbergen kann. Die Nazizelle hatte sich plötzlich aufgebläht – sie bildeten auch jetzt noch eine geringe Minderheit in der hauptsächlich demokratischen Industriegegend. Aber ein paar tausend Rowdies, bis an die Zähne bewaffnet, untereinander verbunden wie Pech und Schwefel, von der Regierung nicht nur geduldet, sondern unterstützt und gehätschelt – die waren natürlich im Augenblick Herren über die Zehntausende friedlicher, unbewaffneter Bürger und Arbeiter.
Sie kannten jeden, der sich ihrer Bewegung einmal entgegengestellt hatte, jeden, der einmal als Demokrat oder Kommunist im Stadtrat gesessen hatte, jeden Menschen jüdischen Glaubens, jedes Mitglied der aufgelösten Arbeiterturnvereine oder des Arbeitermädchenbundes. An ihrer Spitze stand ein Wüterich, der schon im kaiserlichen Deutschland als Unteroffizier die Rekruten gequält und mißhandelt, viele in den Selbstmord getrieben hatte, ein vielfach abgestraftes Individuum, zeitlebens von den zivilisierten Bürgern gemieden. Diesen Kerl hatte die »nationale Bewegung« auf ihre Schultern genommen und so hoch erhoben, daß er wie ein Despot regieren, über Tod und Leben seiner Mitbürger entscheiden konnte. Es war in Dingsdorf nicht anders als in jeder anderen Kleinstadt und in jedem anderen Dorfe Deutschlands – Berufssadisten wie dieser hatten sich überall gefunden, waren überall als »geborene Führernaturen« erkannt und zu Herrschern erhoben worden. Ihre Taktik war überall dieselbe – die unterworfene Masse ihrer Köpfe berauben, jeden, der zum Widerstand noch tauglich schien, einsperren, foltern, mit kaltem Blut langsam ermorden, alle gegnerischen Formationen zerbrechen. Es gab in Dingsdorf unter den Kaufleuten, Industriellen, den Ärzten und Rechtsanwälten hochangesehene Juden, die Stadt war niemals antisemitisch gewesen, sie hatten nicht nur den Besitz, sondern auch der gesellschaftlichen Stellung nach zu den oberen Tausend gehört. Jetzt waren sie verachtet und gemieden 178 wie im Mittelalter die Leprakranken, wurden schonungslos gebrandschatzt, in hundert Formen erpreßt und zu Bettlern gemacht. Viele, die eine schwache Abwehr versucht hatten, waren für ein paar Tage und Nächte inhaftiert worden und hatten das Spritzenhaus, das als SA-Kaserne diente, das sie als gesunde Menschen betreten hatten, auf Krücken wieder verlassen, wundgeprügelt von den Schultern bis zu den Fußsohlen. Aber sie sprachen nicht von dem, was sie erlitten hatten, sie hatten sich den Fuß verstaucht oder eine Sehne gezerrt, wenn man sie nach ihren Verletzungen fragte, sie wagten es nicht, ins Krankenhaus zu gehen, den Arzt zu rufen – an Leib und Seele geschunden, zitterten sie noch für ihre Frauen und Kinder, um das Dach über ihrem Kopf.
Josefs Eltern waren in dieser Stadt geboren, in der ihre Vorfahren seit Jahrhunderten ansässig waren, hatten ihr ganzes, ehrbares, bescheidenes Leben hier verbracht. Jetzt, am Abend dieses Lebens, dachten auch sie nur an Flucht. Sobald der Sohn ihnen die Einreise in Palästina erwirkt hatte, wollten sie das letzte Hab und Gut verkaufen, verschleudern, um ihm ins Unbekannte zu folgen.
»Wir werden dir nicht lange eine Last sein«, sagten sie. Diese weite Reise nach Palästina, die erste weite Reise ihres Lebens, wollten sie nur tun, um dort drüben als Menschen sterben zu dürfen, unbeschimpft, unbespien und nicht von Peitschen bedroht.
Als Josef sich in seinem Dritter-Klasse-Wagen der Grenze näherte, fühlte er sich von Fiebern überschauert. Er wußte selbst nicht, ob Grauen über diese entseelte Heimat ihn schüttelte oder das Entzücken, sie verlassen zu dürfen. Wie zum Hohn auf das eigene Schicksal trug er das hart erworbene Eiserne Kreuz im Knopfloch und das Ordensdiplom in der Tasche, das seine Tapferkeit vor dem Feind bestätigte. Jenseits der Grenze, die er als Jüngling mit seinem Leben verteidigt hatte – tief überzeugt, daß er deutsches Kulturgut gegen die Barbarei deckte –, würde er es in den ersten Rinnstein werfen, und die erste Handvoll fremder Erde, die er fassen konnte, würde er küssen. 179
Ehe der Zug in die Grenzstation einlief, war dieser Traum plötzlich zu Ende. Auf freier Strecke, zwischen einem deutschen Wald und deutschen Äckern, war Halt. Die Reisenden, von denen sich viele wie Josef Kronfelder nach dem heiligen Boden eines zivilisierten Landes sehnten, sprangen bestürzt an die Fenster – da standen in langem Spalier SA-Männer aufgebaut, bewaffnet, mit leeren, dumpfen Soldatengesichtern. In jeden Wagen des Zuges sprang einer von ihnen, mit dem Revolver umgürtet, ein dickes Notizbuch zwischen die Knöpfe seiner Uniform geschoben.
Der Nazimann, der in Kronfelders Wagen als lebendig gewordenes Schicksal drang, war kein in Schanden ergrauter Folterknecht, sondern ein blonder Bub mit blauen Augen und keimendem Bart, ein Abiturient vielleicht oder ein Student im ersten Semester. Er sah freundlich aus, um seinen Mund lag ein Lächeln, aber zugleich fühlte er sich als Träger eines wichtigen Amtes. Es war seine Aufgabe, von irgendeinem kleinen Vorstadttyrannen selbständig erfunden und ins Werk gesetzt, aus der Schar der Reisenden, noch vor der Paßvisitation, verdächtige Gestalten, insbesondere Juden, auszumustern.
Der Knabe ging von Abteil zu Abteil, ein bißchen gespreizt, ein bißchen verlegen, und musterte die Gesichter.
»Sie steigen aus! . . . Sitzen bleiben, sitzen bleiben, sitzen bleiben . . . Sie steigen auch aus!«
Fragte ihn einer, was das bedeutete – sein Paß, sein Visum, alles sei in Ordnung –, dann gab er laut Instruktion zur Antwort:
»Sie werden sehen!«
Aber die Angst steckte den Menschen schon viel zu tief in den Knochen, Christen wie Juden, um sich gegen den Befehl eines SA-Soldaten aufzulehnen. Wer ausgemustert war, sprang gehorsam auf, holte sein Gepäck aus dem Netz und trat auf den Korridor, marschierte den Korridor hinunter bis zur Türe, kletterte über die Stufen und gab sich, seine Freiheit, sein Leben, bedingungslos in die Hände jener gesetzlosen Gewalt, die in ganz Deutschland mit Revolver und Peitsche herrschte. 180
Kronfelder sah in etlichen Knopflöchern, die eben noch unpolitisch und leer gewesen waren, plötzlich das Hakenkreuz schimmern. Ihre Träger blieben verschont. Verschont blieb auch ein Mitreisender, der jüdisch aussah wie eine Karikatur aus der Nazipresse, der aber auf einmal eine Nummer der Zeitung »Deutsche Hiebe« in den Händen hielt und schmunzelnd den Leitartikel studierte, als machte er sich über den unerwarteten Aufenthalt gar keine Gedanken. Aber er blieb verschont, der kindliche Kommissar hielt es nicht für möglich, daß ein des Bolschewismus oder Judentums Verdächtiger das Hakenkreuz trug oder die »Deutschen Hiebe« las.
Das Eiserne Kreuz aber hatte gar keine Bedeutung für ihn. Er war drei oder vier Jahre alt gewesen, als Josef es sich erkämpft hatte, und es sagte ihm schon deshalb nicht viel, weil er aus der Geschichtsstunde wußte, daß Deutschlands letzter Krieg mit einer Niederlage geendet hatte. Er aber träumte wie Millionen seiner Mitknaben, Mitschüler, Mitsoldaten – sie waren ja alle in Wehrverbänden organisiert, militärisch gedrillt, Arbeitslose und Studenten, Lehrlinge und Schulbuben – von dem kommenden, herrlichen, siegreichen Kriege unter Hitlers Fahnen.
»Sie kommen mit! . . .« sagte er zu Josef, dessen Haar schwarz und noch dazu gelockt war und ihm deshalb verdächtig schien. –
Die erste Nacht verbrachte Josef mit neun anderen Gefangenen in dem kahlen Nebenzimmer eines Dorfwirtshauses. An den Fenstern und an der Türe standen Posten mit Karabinern, das Hauptlokal war Wachstube der SA. Dort wurde gebechert und gesungen, die ganze Nacht hindurch.
Die Gefangenen bekamen für bares Geld Kaffee, Butterbrote, Zigaretten, denn der Wirt selbst war Mitglied des Stabes. Er erschien manchmal, einen wabbligen Bauch im braunen Hemd, das fette Gesicht voll Freude ob des guten Geschäftes, in der Gefangenenzelle und nahm selbst die Bestellungen entgegen.
»Freßt nur und sauft!« sagte er. »Schlafen könnt ihr auch, auf dem Stuhl oder auf dem Boden, macht's euch nur bequem, Judenbagage. Heute nacht wird noch keiner erschossen.« 181
Am anderen Tag begannen die Vernehmungen. Ein paar Leute wurden freigelassen, vielleicht weil sie sich auf Beziehungen zu einem Parteigewaltigen berufen konnten, vielleicht weil sie verstohlen ein paar Hundertmarkscheine springen ließen. Es ging gemütlich her in diesem Polizeidezernat, der Wirt hatte sich prinzipiell gegen »unnötige« Grausamkeiten erklärt, und wenn ein Gefangener ohnmächtig zu werden schien, verkaufte er ihm sogar einen doppelten Schnaps.
Als Josef zur Vernehmung kam, hatte er die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Kaum einen Kilometer, vielleicht nur ein paar hundert Meter von diesem grotesken Gefängnis wußte er die Grenze, noch vertraute er auf seinen Kriegsorden und das von einer englischen Behörde abgestempelte Einreisevisum für Palästina.
»Bitte lassen Sie mich rasch in Freiheit, meine Herren«, sagte er höflich zu den leicht angetrunkenen Dorf-Parteiführern, die mit dicken Zigarren im Maul hinter einem von Bierlachen überschwemmten Tisch saßen.
»Ich muß den Dampfer in Triest erreichen.«
Sie musterten seinen Paß, er ging von einer schmierigen Hand zur anderen.
»Nach Palästina willst du?« sagte endlich der Wirt. »Desertieren willst du, feiger Jude?«
Josef wies stumm auf seinen Kriegsorden.
»Das wissen wir schon. Das haben sich die Juden im Krieg so hintenherum erschlichen«, behauptete ein Beisitzer. »Reißt dem Kerl das Ding ab, da pfeifen wir drauf!«
Dann inquirierte der Wirt wieder:
»Jetzt willst du dich nach Palästina drücken, weil du vor dem nächsten Krieg Schiß hast! Seit Hitler regiert, wollt ihr Juden ja alle über die Grenze.«
»Ihr wollt das doch«, schrie Kronfelder. »›Raus mit den Juden aus Deutschland!‹, das ist doch eure Losung, nicht unsere.«
»An die Wand mit dem Kerl!« kommandierte ein Nazi, der bisher gegähnt hatte. »Der Kerl wird frech.« 182
Josef mußte an die Wand treten und ›Hände hoch‹ machen. Vor ihm postierte sich ein SA-Mann mit angelegtem Karabiner. Man beschäftigte sich nicht mehr mit ihm, die Vernehmungen gingen weiter.
Noch ein Jude und zwei »verkappte Kommunisten« wurden nach dem Urteil dieses Gerichtshofes »frech« und an die Wand gestellt. Dann wurde eine alte Arbeiterfrau aus dem Dorf zur Vernehmung herbeigeschleppt und sollte Auskunft geben, wo ihr flüchtiger Sohn sich aufhielt.
»Ich weiß es nicht«, heulte sie. »Seit drei Tagen ist er verschwunden, aber wenn ich es wüßte, ich könnte doch mein eigenes Fleisch und Blut nicht verraten!«
»Kriegen tun wir ihn ja doch, Alte, und erschossen wird er auf jeden Fall. Oder gehängt. Also sag's schon, dann kannst du zu deinen anderen Bankerts nach Hause gehen!«
»Wenn ich's doch nicht weiß . . .«
»Also an die Wand! Dann wirst du eben mit den anderen Verbrechern zusammen erschossen!«
Aber das war nur ein Scherz gewesen. Als die alte Frau die Arme nicht mehr hochhalten konnte und umzufallen schien, galt das Spiel als beendet, und die Gefangenen durften wieder in ihre Zelle zurück.
»Ihr Burschen habt Nerven!« lobte der Wirt. »Schlapp gemacht hat nur die Alte, und der kann man's nicht übelnehmen. Wie wäre es jetzt mit einem Glas Bier und einer Portion Schweinefleisch? Wer kein Geld hat, den müssen die anderen freihalten. Alt wird von euch ja doch keiner mehr.«
Sie kamen in einen Viehwagen und rollten in der Richtung auf Berlin. Sie wurden nachts wieder herausgeholt und kamen in eine Stadt, deren Namen sie nicht hörten, in eine Schulstube, die so voll von Gefangenen war, daß keiner sich auf dem Fußboden ausstrecken konnte. Im Nebenzimmer wurden ortsansässige Arbeiter gepeitscht und gefoltert, daß man ihr Gebrüll Straßen weit hören mußte. Aber es schien in dieser friedlichen Stadt keine Seele zu stören. 183
Eines Tages – Kronfelder wußte nicht, wie lange, ob Tage oder Wochen, die Reise von einem Schreckensort zum anderen schon ging, er war ausgehungert und hatte so lange nicht geschlafen, daß sein Gehirn betäubt war – kam er wieder in Berlin an, wurde auf den Boden eines Lastautos geworfen, zwischen Bewaffneten durch die Stadt gerollt. Diesmal war es die Kegelhalle eines Nazilokals, in der er einquartiert wurde, endlich einmal bekam er wieder einen Teller Suppe und ein Stück Brot, und dann durfte er schlafen. Sein Schicksal stand schon lange ganz außerhalb von ihm selbst, es war ihm gleichgültig geworden, was mit ihm geschah. Wie oft war er getreten, angespuckt, geohrfeigt worden? – Er wußte es nicht. Sein Reiseplan war tief versunken, er hatte nie von Palästina geträumt, er hatte auch keine Eltern und keine Braut auf Erden, vielleicht wußte er den eigenen Namen nicht mehr. Aber nun schlief er, und damit war alles gut.
»Du Jude möchtest wahrscheinlich weg von uns, obwohl wir wirklich nett zu dir sind?« fragte ihn am andern Tage ein pfiffig aussehender Bursche mit Sommersprossen und weißblondem Haar.
»Unsereiner macht nur so mit, weißt du, man tut, was kommandiert wird, und hat was zu fressen. Aber es ist verdammt wenig, was der Hitler zahlt! Einen Nebenverdienst nimmt jeder gern mal mit.«
Geld hatte Josef nicht mehr, er wußte auch nicht, wo sein Paß, seine kleine Reisebarschaft geblieben waren. Aber als der Sommersprossige seine Brieftasche kontrollierte, fand er das kombinierte Fahrscheinheft, Eisenbahn dritter Klasse bis Triest und Zwischendeck von Triest bis Haifa.
»Das wird verkümmelt, Jude, das ist bares Geld! Das teilen wir ehrlich, drei Viertel für mich, ein Viertel für dich. Und außerdem kannst du heute nachmittag schon Unter den Linden spazierengehen. Wir brauchen nur noch eine kleine Formalität – gleich bekommst du Papier und Tinte. Du mußt nur bestätigen, daß du mich freiwillig beauftragst, den Fetzen Papier zu verkaufen.« 184
Es war das letzte, der Schlüssel zum Leben, es war sein Inbegriff von Glück, was Josef da von sich gab. So viel Entbehrung, so viel Fleiß und Schlauheit war nötig gewesen, diesen Fetzen Papier zu erwerben! Aber er gab ihn her, ohne Zögern – der Bursche verschwand – Josef durfte weiterschlafen. –
Am späten Nachmittag klingelte er an Naumanns Türe an, ein dreckiger Vagabund, Blutkrusten an der Nase, bärtig, einen Hundertmarkschein in der Tasche. Die alte Köchin brachte ihn in Yellas Zimmer unter, das der Zerstörung entgangen war, legte ihn in Yellas Bett. Sie erzählte ihm nichts, und er stellte keine Fragen – ein Blick auf die Trümmerstätte der Naumannschen Wohnung hatte ihm alles gesagt.