Balder Olden
Anbruch der Finsternis
Balder Olden

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Siebzehntes Kapitel

Bis Mitternacht saß Yella bei ihrer Studierlampe, büffelte Nationalökonomie und Geschichte, machte Auszüge, Material für ihre Doktorarbeit. Wenn die Glocken Mitternacht schlugen, warf sie all die Wissenschaft beiseite, dachte an ihren Josef, war plötzlich wieder ein verliebtes Mädchen, eine Braut. Heute schrieb sie an ihn:

»Jetzt schwimmst du schon auf dem Meer, Josef, jetzt bist du schon Zwischendeckpassagier, Proletarier unter Proletariern, in vierzehn Tagen vielleicht wirst du die Schippe schwingen. Ich habe immer noch mein Seidenpyjama an, meine seidenen Strümpfe, ich werde immer noch verhätschelt. Aber all das gehört nur noch äußerlich zu mir; wie ich mich einst auf mein erstes Ballkleid gefreut habe, so freue ich mich heute auf das Shirtinghemd und die blauen Arbeiterhosen! Du darfst mir das glauben, es ist gar nichts Heroisches dabei – erst ein paar Tage bist du weg, und schon heute würdest du Berlin nicht wiedererkennen. Bei uns gibt es kein Lachen mehr, kein offenes Wort, jeder hat Angst vor jedem. Die Briefe kommen geöffnet an, wenn man telefoniert, hört man, daß ein Spion sich einschaltet, man spricht nur noch in Andeutungen miteinander, und keiner, der sich abends ins Bett legt, weiß, ob er in diesem Bett bis zum Morgen schlafen darf. Wir selbst sind sicher, aber all unsere Freunde laufen herum, als säße ihnen der Büttel im Nacken. Er sitzt ihnen auch allen im Nacken. Nachts wagen sie sich nicht in ihre Wohnung, sie schlafen bei unverdächtigen Freunden oder in einem kleinen Gasthof. 160 Viele irrten die ganze Nacht auf den Straßen herum. Den Leuten, die man einsperrt, wird gar kein Prozeß gemacht, sie werden nicht einmal vernommen, sie verschwinden nur einfach. Man erzählt sich furchtbare Dinge, von Folter und Mord, aber ich weiß nicht, ob das wahr ist. Hier in Luxus und Sicherheit zu leben ist tausendmal schlimmer, als steinigen Acker zu graben und trockenes Brot zu essen. Adieu, ihr seidenen Höschen, seidenen Strümpfe, ich werde euch nicht entbehren! Du wirst eine gute tapfere Frau an mir haben, weil ich viel zu feig bin, um dies Leben noch lange mit anzusehen. Gottlob, daß es dich gibt!«

Eine Etage tiefer, gerade unter ihrem Atelierzimmer, begaben sich zu dieser Stunde die Eltern Naumann zur Ruhe.

»Ich muß dir ein Geständnis machen, Helene«, sagte Alexander Naumann. »Ich weiß, daß es dich nicht um den Schlaf bringen wird.«

»Gestehe nur, in wen hast du dich diesmal verliebt? Ich tippe auf Gerda Reischach – wenn ich recht habe, bekomme ich einen Kuß.«

»Das vielleicht auch, aber davon wollte ich nicht sprechen. Es ist etwas anderes – wir leben derart über die Verhältnisse, daß es beinahe an Hochstapelei grenzt.«

Frau Naumann rieb sich die Augen, als wüßte sie nicht, ob sie träumte.

»Essen, trinken, wohnen – sonst haben wir seit deinem Geburtstag doch keinen Pfennig ausgegeben! Und du hast doch mindestens immer die Hälfte mehr verdient, als wir brauchen.«

Naumann saß jetzt im rohseidenen Schlafanzug am Bett seiner Frau, die mit ihren fünfzig Jahren wie ein Mädchen aussah, das von den Härten des Lebens noch nicht gekostet hat.

Er hielt ein winziges Notizbuch in der Hand und kritzelte mit einem Bleistift darin herum.

»Dies ist mein Hauptbuch, und wenn du Lust hast, kannst du es morgen einmal durchblättern. Wir haben viele gute Jahre gehabt, aber gespart haben wir nichts, außer meiner Lebensversicherung. Wir haben viel verschenkt und verliehen und 161 fröhlich gelebt – im ganzen bereue ich das nicht. Aber jetzt ist es aus mit dem Verdienen, kein Theater führt mehr ein Stück von mir auf, kein Blatt bringt mehr meinen Namen, Rundfunk und Vortragsabende, das ist alles vorbei. Ich arbeite noch, aber ich weiß nicht wozu und für wen. Es ist ganz plötzlich gekommen, erst habe ich gedacht: Zufall, aber jetzt weiß ich, daß es Schicksal ist. Deshalb ist es Zeit, daß ich mit dir davon rede.«

Frau Naumann lächelte und gähnte, sie hatte vielleicht Schlimmeres erwartet.

»Willst du nicht ins Bett kommen, Alexander? Im Bett plaudert sich's angenehmer.«

Dann, als nur noch die Leselampe auf ihrem Nachttisch brannte, legte sie den Kopf an seine Schulter und streichelte seine buschigen Augenbrauen.

»Man braucht wirklich keine Acht-Zimmer-Wohnung mit zwei Dienstboten, und wenn du ein bißchen Ferien machst, brauchst du auch keine Sekretärin mehr. Ein bißchen was habe ich gehamstert, und ein bißchen Geld kommt doch weiter aus dem Ausland, nicht wahr? Wenn wir nach Frankreich oder nach Österreich in irgendeine billige kleine Stadt gingen, sind wir immer noch reiche Leute. Wenn ich nicht um die anderen Angst hätte – um uns hab ich wirklich keine Angst, Alexander!«

Sie küßten sich und wünschten einander eine gute Nacht.

»Morgen früh brauchst du mich nicht zu wecken«, sagte Naumann, »ich bin auf Urlaub.«

Um ein Uhr nachts schliefen sie ein, unter einer Decke, auf einem Kopfkissen, wie immer seit dreißig Jahren. Um ein Uhr nachts hatte Yella ihren Brief an Josef Kronfelder in Haifa (Palästina) beendet und mit verstellter Handschrift adressiert, dann noch einmal durchgelesen und endlich zerrissen. Es war doch gefährlich, so zu schreiben, jedes Wort war jetzt gefährlich. Endlich ging auch sie schlafen und träumen.

»Dort drüben wirst du mehr Zeit für mich haben und mehr Küsse!« sagte sie zu ihrem fernen Josef und schloß die Augen. 162

Um vier Uhr morgens lag über dem Hause noch tiefste Ruhe, es schliefen auch noch auf ihren Pritschen und Bänken die Mannschaften des SA-Sturms 66 in der Nazi-Kaserne am Bayerischen Platz. Um vier Uhr dreißig ließ der Gruppenführer Hinkeldey sie mit dem Rufe »Volk ans Gewehr!« aus dem Schlummer auffahren, in zwei Gliedern antreten, Kinn an der Binde, Hände an der Hosennaht.

»Es geht an den Feind, Leute! Kaffeekochen, waschen. Bewaffnung: Stahlrute, Revolver, Hundepeitsche! Abmarsch vier Uhr fünfundvierzig.«

Während die verschlafenen Burschen ihre Nase in kaltes Wasser steckten, aus blechernen Geschirren den dünnen Kaffee tranken, ihre Mägen mit Schwarzbrot und Blutwurst pflasterten, summte einer vor sich hin:

»Wir kämpfen für Hitler, für Arbeit und Brot.
Deutschland erwache und Juda den Tod!
Volk, ans Gewehr!«

»Was ist das für ein elendes Gepiepse?« herrschte Hinkeldey seine Mannen an. »Wenn SA singt, müssen die Wände beben!«

»Aber es ist Nacht, und die Bürger . . .«, sagte bescheiden der Mann, der das Lied gesummt hatte.

»Scheißdreck! In Deutschland gibt es keine Bürger mehr, im Dritten Reich gibt es nur noch Soldaten! Los, gesungen!«

Dann wurde das ganze Lied vielstimmig heruntergeschmettert, am machtvollsten und kernigsten klang die Strophe:

»Viele Jahre zogen dahin.
Geknechtet das Volk und betrogen;
Verräter und Juden hatten Gewinn,
Sie fordern Opfer, Millionen.«

Hinkeldey war mit seinen siebenundzwanzig Jahren ein »alter« SA-Mann, sturmerprobt und geachtet. Er hatte schon als Schuljunge erkannt, daß diese Zeit der Arbeitslosigkeit einem jungen Bürger nichts bot, hatte auf Schule und Lehrer verzichtet, hatte von dem verhaßten »Wohltätigkeitsstaat« 163 Arbeitslosenrente bezogen, war erst Kommunist und dann, nach Auflösung des Roten Frontkämpferbundes, Berufs-Nazi geworden. Der Revolver saß ihm locker, er verstand es bald, einen Haufen zu führen, und bei den nächtlichen Überfällen, beim Sprengen »feindlicher« Versammlungen, bei vielen Attentaten und Plünderungen hatte er wacker seinen Mann gestanden. Man rechnete ihm fünf »Rote« zugute, die er erledigt hatte. Aber er selbst behauptete, seine Abschußliste müßte viel reichhaltiger sein.

»Zwei Großkampfhandlungen und siebzehn Gefechte«, prahlte er, »das müßte mit dem Teufel zugehen, wenn da nicht mehr bei herauskäme als fünf gänzlich Erledigte. Zwei hatte ich schon als ganz junger Dachs, wie ich noch selbst bei den Roten war.«

Seine Jungens gingen für ihn durchs Feuer, bewunderten ihn und zitterten vor seinem Zorn. Er konnte sie maulschellen, daß es knallte, und mit Fußtritten regalieren, sie schwuren auf ihn.

Um vier Uhr fünfundvierzig marschierten sie ab, Hinkeldey an der Spitze, dann acht Mann in Gliedern zu zweien, in Schritt und Tritt. Ihre schwergenagelten Stiefel dröhnten vom Pflaster wider, kalt pfiff der Nachtwind durch ihre dünnen Khakihemden, aber sie spürten Sturm und Kälte nicht, denn es ging an den Feind, und sie waren Deutschlands neue, glitzernde Wehr. Außer der Hakenkreuzbinde trugen sie das Abzeichen der Hilfspolizei am Arm – Hilfspolizei, das hieß »Soldat gegen den inneren Feind«.

Punkt fünf Uhr erreichten sie den Kampfplatz, als der Portier des Hauses, in dem Naumann wohnte, gerade das Tor geöffnet hatte, damit Milchfrauen und Bäckerjungen ihre Kundschaft bedienen konnten. Der Portier war ein bejahrtes Männchen, Flickschneider von Beruf, hatte Frau und Kind und kein gutes Gewissen, denn seit Jahrzehnten war er Abonnent des »Vorwärts«.

Als Hinkeldey auf das Abzeichen eines Hilfspolizisten wies, knickte der arme Mann devot zusammen, man brauchte ihm 164 den Revolver nicht erst vor die Nase zu halten. Als die Streife das Tor passiert hatte und polternd die Treppen hinaufzog, zog er sich in sein Kellergelaß zurück, legte sich in Hosen und Stiefeln noch einmal zu seiner alten Frau ins warme Bett, zog ihr und sich die Decke über die Ohren.

»Nur nichts wissen! Nur nichts hören und nichts sehen!« sagte er bebend.

An Naumanns Tür wurde geläutet, energisch geläutet. Wenn der Soldat am Feind ist, darf er keine Schwäche zeigen. Nach einer Minute Wartens ließ Hinkeldey seinen Revolverknauf gegen die Tür dröhnen.

»Ruhe!« brüllte Naumann von innen. »Wer ist denn da?«

»Polizei! Öffnen Sie sofort, oder wir brechen die Türe ein!«

»Das ist ein Irrtum!« sagte Naumann ruhig zu seiner Frau. »Hab keine Angst. Was soll uns die Polizei tun?«

Er schloß auf, entschlossen, die Leute mit Höflichkeit und Ironie abzufertigen, den Irrtum aufzuklären, jedem einen Schnaps und eine Zigarre zu geben.

»Zwei Mann Posten vor Gewehr!« kommandierte Hinkeldey. Die anderen sechs waren im Augenblick mit ihm in der Wohnung verschwunden, und hinter ihnen schloß sich die Türe.

Den entsicherten Revolver in der Faust, fragte Hinkeldey:

»Sie sind der Jude Alexander Naumann? Leugnen Sie nicht!«

»Ich bin der Schriftsteller Alexander Naumann, österreichischer Rittmeister außer Diensten.«

»Danach habe ich Sie nicht gefragt. Antworten Sie nur, wenn Sie gefragt werden!«

Naumann stand in Hausschuhen und Pyjama, mit nackten Händen, vor sieben schwerbewaffneten Leuten, aber er fühlte sich in seiner Wohnung, mit seinem ganz unpolitischen, weltbekannten Namen noch immer völlig ungefährdet, und seine Knie zitterten nicht. Im Gegenteil, er lächelte, so wie er ins Publikum zu lächeln pflegte, wenn eine Pointe seines Vortrags gesessen hatte.

»Bitte fragen Sie nur. Vielleicht, wenn es möglich wäre, 165 etwas leiser, weil doch andere Menschen im Hause schlafen möchten.«

»Ich verbitte mir diesen frechen Ton!«

Es war Hinkeldeys altpreußische Unteroffiziersmethode, sich selbst in Wut zu brüllen, wenn er Energie zeigen wollte. Auch diesmal bewährte sie sich, endlich fühlte er selbst, daß sein Gesicht dunkelrot gefärbt war und daß seine Muskeln sich zornig spannten.

»Haben Sie kommunistische Literatur im Hause? Heraus mit der Sprache!«

»Nicht daß ich wüßte. Aber danach hätten Sie sich auch zu einer gelegeneren Stunde erkundigen können, meine Herren!«

»Du Judenlümmel wirst frech!« donnerte Hinkeldey, der jetzt den Zustand von Koller erreicht hatte, der ihm zu seiner Amtshandlung nötig schien. »Du glaubst nicht, daß es ernst ist?«

Er gab aus seinem Revolver ein paar Schüsse gegen die Decke ab.

Bis jetzt hatte der zweimal ältere Gentleman, dessen Namen jedes Kind in Deutschland kannte, ihm noch wider Willen imponiert. Aber seit er das Wort »Du Judenlümmel!« herausgeschmettert hatte, ohne daß irgend etwas geschah, fiel auch die letzte Hemmung von ihm ab. Er drückte Naumann seinen Revolver vor die Stirn und tobte:

»Heraus mit der Sprache! Du gestehst, daß du unverschämte Reden über den Reichstagsbrand geführt hast! Du Judenschwein hast behauptet, wir hätten ihn selbst in Brand gesteckt und nicht die Kommunisten. Sag ja, oder du bist eine Leiche!«

Frau Naumann hatte sich unhörbar von der Seite ihres Gatten fortgestohlen. Kein Wort, kein Schrei war ihr entfahren, die sieben Kriegsleute hatten nur auf Naumann gestarrt und seine Frau kaum beachtet.

Auf bloßen Füßen glitt sie geräuschlos durch den dämmrigen Vorsaal, gewann das Arbeitszimmer. Noch drei Schritte über den weichen Teppich . . . Jetzt hatte sie das Telefon, jetzt 166 nahm sie den Hörer ab, die Nummer des Überfallkommandos war mit fetten Buchstaben auf die Außenseite des Telefonadreßbuchs gedruckt, im ersten dünnen Morgendämmern konnte sie sie lesen.

»Lieber Gott!« betete sie. In fünf Minuten konnte die reguläre Polizei zur Stelle sein, dann war alles gerettet.

Jetzt drehte sie die Scheibe, ganz geräuschlos, jetzt meldete sich mit verschlafener Stimme das Überfallkommando.

Sie sprach so leise und so scharf akzentuiert, wie es nur möglich war, ihr Herz, ihr Fuß, ihre Hand und ihre Zunge hatten keinen Fehler gemacht.

»Hier Alexander Naumann, Winterfeldstraße 14, vierter Stock . . .« flüsterte sie in die Muschel.

»Deutlicher sprechen! Lauter!« tönte es an ihr Ohr.

Um eine Spur mußte sie die Stimme heben, noch langsamer, noch klarer betonen.

»Hier – A – lex – ander –«

In diesem Augenblick hatte einer von Hinkeldeys Wachen ihr Verschwinden bemerkt, einen Ton ihrer Meldung erhorcht. Mit einem Satz war er hinter ihr her, prallte in das teppichbelegte, vornehme, stille Zimmer, sah den Telefonhörer in der Hand der tapferen Frau und schlug – es krachte wie Holz auf Holz – mit voller Wucht den Gummiknüttel über ihr Handgelenk.

Der furchtbare Hieb war so plötzlich gefallen, der Schmerz war so infernalisch, daß Frau Naumann einen wilden Schrei ausstieß und zu Boden fiel.

Diesen Schrei hörte Naumann, er vergaß den Revolver an seiner Stirn und den wutbebenden Hinkeldey, er rannte einfach dorthin, wo seine Frau in Not oder in Lebensgefahr war, so plötzlich, er, der Sechzigjährige, daß die jungen Nazis ihn nicht hindern konnten.

»Du Hund!« stöhnte er, als er Helene, die sich vor Schmerzen wand, zu Füßen des braunen Burschen sah. Er griff nach dem Gummiknüppel, der noch drohend über dem Körper seiner Frau schwebte, entwand ihn dem Burschen, hob ihn selbst, 167 um Rache zu nehmen. Aber in diesem Augenblick schon donnerten Knüppel und Stahlruten, Peitschenhiebe und Fußtritte auf ihn ein, sein Blut spritzte, er lag, während die SA-Kämpfer weiterdroschen wie Bauern auf der Tenne, neben seiner Frau auf dem Boden, so eng an sie gedrückt, wie er diese Nacht neben ihr geschlafen hatte. Das Bewußtsein schwand ihm, aber mit dem letzten Instinkt war er bemüht, mit seinem gewaltigen Schädel, mit seinem breiten Rücken ihren Körper zu decken.

»Hilfe! Mörder! Mörder!« schrillte Yella, die von dem Krachen der blinden Revolverschüsse geweckt worden war. Sie schrie, was ihre Lungen nur hergeben wollten, sie schrie rasend, daß es durch das ganze Haus gellen mußte, immer dieselben Worte: »Hilfe! Mörder! Mörder!« Dann griff sie nach einem bronzenen Briefbeschwerer, um ihn auf einen dieser Mörderschädel zu schlagen, Aber da hatte ein SA-Mann sie schon mit einem Jiu-Jitsu-Griff gepackt, ihren Arm auf den Rücken gedreht, und jetzt konnte sie nur noch unartikuliert heulen, um Gnade flehen. Jetzt war die Schlacht gewonnen, die Familie Naumann lag zu Füßen ihrer Besieger.

»Zwei Mann auf Wasserpatrouille!« befahl Hinkeldey. »Kübel requirieren, kaltes Wasser her!«

Als Naumann unter dem Sturzbad die Augen wieder aufschlug, wurde er auf die Beine gestellt. Er wankte, zwei Mann mußten ihn halten, seine Kopfwunden strömten Blut wie Brunnen.

»Im Namen des Gesetzes: Sie sind mein Arrestant!« erklärte Hinkeldey. Dann wandte er sich an seine Mannschaft:

»Vier Mann vortreten! Ihr bringt den Arrestanten per Taxi in die Kaserne! Botschaften senden oder telefonieren findet nicht statt, keinerlei Meldung, bis ich selbst komme! Die Türe bleibt besetzt! Ich nehme jetzt die amtliche Haussuchung vor!«

Als die vier mit ihrer Last, einem stöhnenden, blutigen, stinkenden Bündel Mensch, den lebenden Resten Alexander Naumanns, das Haus verließen, zeigte die Uhr fünf Uhr dreißig.

Dann wurde hausgesucht. Man brauchte dazu 168 Grammophonmusik, einen kräftigen Trunk, einen guten Imbiß. Wie es in Feindesland üblich ist, requirierte die Truppe, wessen sie bedurfte, während Schreibtisch, Tische und Schränke aufgesprengt wurden, Bücher aus den Regalen flogen, ein Ozean von Papier sich über Teppiche und Möbel ergoß – und von Zeit zu Zeit Scharfschützen sich an den Porträts der Familie Naumann, ihrer Eltern und Vorfahren übten. Was Naumann in Jahrzehnten unermüdlicher Arbeit geschaffen, gesammelt, mit peinlicher Ordnungsliebe in Archiven registriert und gesichtet hatte – eine Enzyklopädie des Humors aller Völker –, seine Manuskripte, die pedantisch aufgeklebten Zeitungsausschnitte mit allem, was von ihm und über ihn im Laufe der Jahrzehnte gedruckt worden war, das war bald so gründlich verwüstet, zerstampft, besudelt, als hätte ein Erdbeben gewütet.

Je schneller sich die Likörflaschen leerten, um so freudiger taten die Mannschaften ihren Dienst. Was sich an Geld fand, war dem Führer zugefallen, aber ein kleines Andenken an diese Stunde, ein goldenes Petschaft, einen silbernen Bilderrahmen, hatte jeder der Soldaten sich ausgebeten.

Eine halbe Stunde lang hatte Hinkeldey die Briefschaften in Naumanns Schreibtisch durchwühlt, dann trat er, eine Zigarre rauchend, betrunken und siegesbewußt, wieder zu den beiden Frauen, die von einem strammen SA-Mann mit dem Revolver in der Hand bewacht wurden.

»Wo ist die Chiffre?« herrschte er Yella an, die bei ihrer ohnmächtigen Mutter auf dem Boden kauerte, im weißen Nachthemd, das neben ihrem Gesicht noch rosig schien. Der Unterkiefer hing ihr herab, sie weinte nicht mehr, sie war erloschen, sie war in diesen Minuten eine alte Frau geworden.

»Was, du weißt nichts von einer Chiffre? Du weißt sehr gut, nach welchem Schlüssel dein Vater mit Moskau korrespondiert hat! Heraus mit der Sprache, oder –«

Yella wußte nichts, verstand nicht.

»Oh, ich kenne eure Tricks!« triumphierte Hinkeldey, breitschultrig, stämmig und gebläht wie ein Frosch. 169

»Du Sau hast die Chiffre auf den Leib gemalt! Herunter das Hemd!«

Man fetzte Yella das Hemd vom Leib, ihr Körper wurde abgesucht wie im Kriege ein feindliches Haus, in dem man Franctireurs vermutete. Er war weiß und herrlich, aber es fand sich keine Spur einer Schrift.

»Du wirst dein Zuckermaul aufmachen!« behauptete Hinkeldey und ließ sich eine Stahlrute reichen.

»Umdrehen, festhalten!« kommandierte er.

Aber auch diese Art des Verhörs ergab nichts als grauenhafte Schreie und strömendes Blut.

Um sechs Uhr zehn erklärte Hinkeldey die Haussuchung für beendet und trat mit seiner Mannschaft den Rückmarsch in die Kaserne an.

 


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