Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

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Zwölftes Kapitel.

Drei Tage später war die Familie von Clairefont im großen Salon des Schlosses um Herrn Malézeau versammelt, der über die Geschäfte, mit denen er betraut gewesen, Rechnung ablegte. Die Schulden des Marquis waren vollständig geordnet und ein Gesellschaftsvertrag zwischen Herrn von Clairefont und Pascal sicherte den weiteren Betrieb des Steinbruches. Der Sohn Carvayans, als stiller Associé, sollte einen von ihm gewählten Direktor an die Spitze des Unternehmens stellen und die nötigen Kapitalien vorschießen. Der eventuelle Ertrag sollte ihm und dem Marquis zu gleichen Teilen zufallen, da der eine das Kapital, der andere Grund und Boden hergab. Dem jungen Grafen, welcher den Wunsch geäußert, sich bei dem Unternehmen gleichfalls zu betätigen, wurde von Pascal eine Beschäftigung angewiesen, bei welcher er im Freien seine gewaltige körperliche Thatkraft nützlich verwerten konnte.

Chassevent war in die Kanzlei des Notars berufen worden, und nachdem er ein langes und breites über das Unglück geschwätzt, welches ihn seines teuren, gutem Töchterchen beraubt hatte, willigte er schließlich ein, gegen Erhalt einer Summe von 2000 Franken die Gegend zu verlassen. Als der Vagabund über den mäßigen Preis zu jammern anhub, hatte der Notar ihm fest ins Auge geblickt und mit scharfer Stimme gesagt: »2000 Franken von dem Marquis und ein Schuß auf Herrn Pascal macht uns quitt. Wenn Ihr nicht zufrieden seid, so werde ich Euch durch den Staatsanwalt bezahlen lassen . . .«

Darauf war der Schurke nach Louviers gezogen, wo er Verwandte besaß. Nachdem Malézeau alle diese Erklärungen abgegeben, verlangte er einige Unterschriften.

»Entschuldigen Sie, Herr Marquis, wenn ich auf der raschen Erledigung aller dieser Angelegenheiten bestehe, allein Herr Pascal reist morgen ab, und dann . . .«

»Er reist ab!« rief die Tante von Saint-Maurice mit lauter Stimme, indem sie in die Höhe fuhr. »Und wohin?«

»Das ist mir nicht bekannt,« erwiderte der Notar, dessen Augen zu zwinkern anfingen. »Ich glaube indes nicht, daß Herr Pascal die Absicht hat, den Kontinent zu verlassen . . .«

»Wirklich? Das ist ja ein großes Glück!« schrie Tante Isabella voll Heftigkeit. »Das fehlte noch, daß er gar nach Amerika gehen sollte . . . nach einem Lande, wo man das gelbe Fieber kriegt, wie hier einen Schnupfen . . . Aber weshalb will er sich entfernen? Weshalb diese Reisewut?«

»Mein Gott!« versetzte Malézeau, »was wollen Sie, daß er hier anfangen soll? Er hat jede Verbindung mit seinem Vater abgebrochen, hat sich alle Leute, welche einen Anteil an der Besitzung zu erbeuten hofften, zu unversöhnlichen Feinden gemacht . . . Das Leben in Neuville würde ihm unerträglich werden . . . Und, wie ungern ich ihn auch scheiden sehe . . . denn meine Frau und ich, wir haben uns gewöhnt, ihn wie einen eigenen Sohn anzusehen, und er wird uns sehr fehlen . . . könnte ich ihm dennoch nicht von seinem Entschlusse abraten, den ich mutig und vernünftig finde . . .«

»Weshalb mutig? Weshalb vernünftig?« sagte das alte Fräulein mit drohender Miene.

Der Notar entgegnete zurückhaltend: »Herr Pascal mag vielleicht noch andere Gründe haben, die mir nicht bekannt sind . . .

Eine längere Pause folgte diesen Worten. Niemand beteiligte sich mehr an dem Gespräche. Robert und Croix-Mesnil dachten über die geheimen Motive nach, welche Pascal zur Abreise bewegen mochten, der erste mit dem konfusen Staunen eines Menschen, der nicht gewöhnt ist, zu beobachten, was um ihn herum vorgeht, der andere mit dem wehmütigen Mitleid eines hoffnungslos Liebenden, der seinen Nebenbuhler ebenso leiden sieht, wie sich selbst. Antoinette, die im matten Scheine eines Novembernachmittags am Fenster saß, hatte ihre Stickerei in den Schoß sinken lassen, und mit müßigen Händen und geschlossenen Augen schien sie zu schlummern. Sie schlief jedoch nicht; in ihrer Erinnerung tauchte jenes Bild von dem Kampfe Jakobs mit dem Engel empor, wie er auf einem Fenster der Kirche von Clairefont dargestellt war. Sie sah den biblischen Helden mit dem braunen Teint, der hohen Stirn, dem braunen Barte und den grauen Augen, die ihm eine so seltsame Aehnlichkeit mit Pascal verliehen. Er war es, der in seiner Liebe ausdauernd gewesen und vierzehn Jahre gedient hatte, damit ihm Laban seine Tochter Rachel zur Frau gebe; die schwere Aufgabe hatte ihn nicht zurückgeschreckt, er hatte schließlich alle Schwierigkeiten besiegt, und die Ersehnte war sein eigen geworden. Besaß der Sohn Carvayans nicht den gleichen Mut, war er nicht von gleicher Liebe beseelt? Antoinette sah ihn vor sich, wie er im Hohlwege sie zum erstenmal angesprochen.

Wie sorglos und ruhig war er damals gewesen! Er kehrte aus weiter Ferne nach dem Vaterhause heim, genoß entzückt die Freude, die Wiesen und die Wälder, welche seine Kindheit geschaut, wiederzusehen. Und plötzlich sah er sich in einen heftigen Kampf versetzt, und der erste fremde Name, der in der Heimat ihm entgegentlang, war der des Feindes seines Vaters. Das junge Mädchen glaubte noch den Ton ihrer eigenen Stimme zu hören, als sie sagte: »Ich bin Fräulein von Clairefont.« Mit welch finsterem Stolze hatte er geantwortet: »Ich bin Pascal Carvayan.« Schienen sie nicht zwei Feinde zu sein, die ihre Fahnen entfalteten und ihre Waffen gegenseitig maßen? Nein! Sie sollten einander nicht bekämpfen. Von dem ersten Blicke an war es entschieden, in ihrem Innersten hatte sie in ihm von der ersten Stunde an einen begeisterten Verteidiger gesehen. Und wie mochte er gelitten haben, daß er sich ihr nicht nähern durfte und gezwungen war, ihr nur aus der Ferne schüchtern mit den Augen zu folgen. Von jenem Tage an hatte sie geahnt, daß er im geheimen sie beobachte, ihre Freuden und Leiden teile, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, und ihr dennoch zugethan durch die geheimnisvollen Bande einer beständigen Seelengemeinschaft. Auch der Ballscene gedachte sie, mit den Herausforderungen ihres Bruders, dem bebenden Zorn Pascals, ihrem eigenen Eingreifen, indem sie um Entschuldigung bat, wo sie doch wußte, daß ein Wort von ihr den Mann, vor welchem sie sich demütigte, zu ihrem Sklaven machen konnte. Dann kam ihr Besuch in dem düsteren Hause Carvayans. In welchem Tone hatte er zu ihr gesagt: »Sie sollen weder in Ihren Neigungen noch in Ihrem Vermögen getroffen werden, dafür verbürge ich mich mit meiner Ehre.« Und in überwallendem Gefühle hatte sie geantwortet: »Ich werde Ihnen stets eine ewige Dankbarkeit bewahren.« Er hatte sein Versprechen gehalten, er hatte mit den schwersten Opfern Roberts angegriffene Ehre wieder hergestellt und die Besitzung gerettet . . . Und sie, was hatte sie gethan, um ihm ihre Dankbarkeit zu beweisen? Ein paar Thränen vergossen, einen Händedruck mit ihm gewechselt, das war die Belohnung, die sie ihm gewährte, und damit hatte sie ohne Zweifel ihrer Dankesschuld genügt. Das gnädige Fräulein durfte ihn nun ohne Bedauern und ohne Vorwürfe sich entfernen lassen. Nachdem er so viel um sie gelitten, sollte er auch ferner durch sie leiden.

Tante Isabellas Stimme entriß sie ihren Träumereien, Robert und Croix-Mesnil hatten Herrn Malézeau nach der Terrasse geführt, und das alte Mädchen plauderte mit ihrem Schwager.

»Nun, mein bester Freund, wenn ich um dreißig Jahre jünger wäre,« schrie sie voll Heftigkeit, »so garantiere ich Ihnen, daß ich ein Mittel gefunden hätte, um ihn zum Bleiben zu bewegen!«

»Aber Tante,« entgegnete der Marquis, »Sie sind doch gar zu hitzig!«

»Ein Ausgleich für diejenigen, welche gar zu phlegmatisch sind!«

»Ich weiß, daß Sie einst andere Ansichten über Ebenbürtigkeit hatten . . . Sie hätten es nicht zugegeben, daß ein Mann, der nicht der Aristokratie angehört, annehmbar sei . . .«

»Ei, ei, so sehen Sie doch, wie sich Ihre Aristokratie gegen uns benommen hat. Erst mußte sich dieser brave Pascal offen für uns erklären, ehe unsere Nachbarn Sainte-Croix und d'Edennemare uns ein gutes Gesicht wiesen . . . Bevor dieser Bürgerliche unsere Verteidigung ergriff, kehrten alle unsere adligen Freunde uns den Rücken . . . Er allein hat ritterlich gehandelt! . . . Er ist kein Geborner . . . das ist wahr . . . Allein er ist aus dem Holze, aus dem unsere alten Könige die großen Feldherren, die großen Staatsmänner und schließlich Herzöge und Pairs machten . . .«

»Meine liebe Schwägerin, ich werde Ihnen sicherlich nicht widersprechen . . . Ich glaubte stets, der einzig liberal Gesinnte in unserer Familie zu sein . . . Jetzt sind wir zwei, wie ich sehe . . . Nur bitte ich Sie sehr, nicht so laut zu sprechen . . . Sie ermüden mir den Kopf, der noch nicht ganz fest ist, und dann werden Sie Antoinette wecken . . .«

»Sie schläft! Ist das möglich? Sie sollte sich in einer Aufregung befinden, mindestens so heftig wie die meine! Und solch ein Mädchen habe ich erzogen! Am Tage des Prozesses war sie gerührter! Aber die Gefahr vorüber, zum Teufel mit dem Retter!«

»Schwägerin!«

»Ich spreche, was ich denke . . . folge der Eingebung meines Herzens . . . Und ich wich niemals vor einem Hindernisse zurück . . .«

»Tante, wahrhaftig, ich glaube, daß Sie den Jungen mehr lieben als uns!«

»Und wenn es so wäre! Wäre es nicht gerecht? Er war uns gegenüber zu nichts verpflichtet und gab uns alles! . . . Uebrigens bin ich recht dumm, so in Hitze zu geraten . . . Man verlangt ja keinen Rat von mir . . . In Zukunft werde ich meine Gedanken für mich behalten . . .«

Antoinette machte eine Bewegung, und die Tante schwieg.

»Sind die Herren auf der Terrasse?« fragte das junge Mädchen . . . »Ich fühle mich sehr abgespannt, ich will ein wenig gehen . . .«

Damit erhob sie sich und schritt langsam die Stufen der Freitreppe hinab. Sie hörte, wie hinter ihr Tante Isabella zu dem Marquis sagte: »Denken Sie davon, was Sie wollen, aber das übersteigt meinen Verstand! . . . Sehen Sie doch, wie sie dahingeht, kalt und gemessen! . . . Entweder ist sie blind, daß sie nicht sieht, wie der arme Junge aus Liebe zu ihr stirbt . . . oder sie ist von Marmor!«

Ein leises Lächeln glitt über Antoinettes Lippen, ihr Gesicht erhellte sich wie eine schöne Landschaft im goldigen Sonnenglanze. Sie trat zu der Gruppe der Herren hin, nahm Malézeaus Arm und begann mit ihm über Pascal zu sprechen. Als habe der Notar nur auf ein Signal gewartet, um von den Plänen seines jungen Freundes zu erzählen, so eifrig fing er an, sich in Einzelheiten zu verbreiten. Der junge Mann gedenke in Paris sich niederzulassen, wo er im voraus sicher war, binnen kurzem eine bedeutende Stellung einzunehmen. Von einflußreichen Gesellschaften begünstigt, hatte er eine Klientel schon im voraus gesichert. Augenblicklich weigere er sich zwar, bei den nächsten Wahlen in Neuville eine Kandidatur anzunehmen, doch sei seine Wahl gesichert, falls er seine Zustimmung geben würde. Der gute Malézeau fand sogar ein boshaftes Vergnügen daran, hinzuzufügen, daß Pascal ohne Zweifel in den Kreisen der hohen Finanzwelt in nicht ferner Zeit eine glänzende Heirat eingehen könne. Doch Antoinette gab hierauf weder Verdruß noch Befriedigung zu erkennen, sie blieb gleichgültig und ihr schönes Gesicht vollkommen ruhig. Sie sprach sogar mit einer gewissen Trockenheit, die Malézeau für Herzenskälte nahm, und er, der zu viel wissen wollte, erfuhr nichts.

Eine Stunde vor dem Diner erschien Pascal, er war bleich und niedergeschlagen. Wohl bemühte er sich, unbefangen zu plaudern, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Die Traurigkeit seines Inneren verriet sich unwillkürlich in seinem Äußeren. Tante Isabellas Augen ruhten voll Mitleid auf dem jungen Manne und richteten sich dann mit Entrüstung auf ihre Nichte.

Antoinette schien unempfindlich und benahm sich mit reizender Unbefangenheit. Wiederholt sagte sie zu Pascal: »Neuville ist nicht weit von Paris. Sie werden doch gewiß auf Besuch zu uns kommen?«

Sie sprach mit seltsamer Heiterkeit, welche dem jungen Manne Thränen in die Augen trieb. Er fühlte, daß er seine Bewegung nicht länger zu bemeistern vermochte und ging auf die Freitreppe hinaus, wohin ihm alsbald der Baron nachfolgte. Fräulein von Clairefont folgte ihnen erstaunt mit den Augen und trat rasch an ein Fenster.

Der Baron und Pascal schritten langsam längs der Blumenbeete dahin. Herr von Croix-Mesnil wies mit einer Handbewegung auf eine an der Mauer lehnende Steinbank und beide ließen sich auf derselben nieder. Alsbald vertieften sie sich in ein lebhaftes Gespräch.

Antoinette empfand eine unerklärliche Unruhe, sie wurde bleich und dachte: »Was mögen sie einander zu sagen haben?«

Oberhalb der beiden jungen Leute stand ein Fenster von Roberts Zimmer offen. Die Jalousien waren heruntergelassen. Von dort aus konnte man alles vernehmen, was unten gesprochen wurde. Eine heiße Röte stieg dem jungen Mädchen ins Antlitz, ihre Augen blitzten vor Neugierde. Aber zu horchen – war dies nicht etwas recht Ungehöriges? Doch Antoinette, hingerissen von ihrem heftigen Wunsche, war schon aus dem Salon geeilt, und ohne ihrem Bruder zu antworten, der ihr ein Wohin? nachrief, wendete sie sich dem Turme zu. Leichtfüßig wie ein Reh hüpfte sie die Treppe empor und betrat hastig das Zimmer. Still, den Atem zurückhaltend, neigte sie sich über die schmalen Holzstäbe der Jalousie und lauschte, leidenschaftlich erregt, den Stimmen, die hell und deutlich von der Terrasse heraufklangen.

»Alles, was Sie für sie thaten,« sprach Croix-Mesnil, »träumte ich zu vollbringen . . . Ich habe Sie heiß beneidet, doch keinen Augenblick gehaßt . . . Ich fühlte, daß Sie zu notwendig waren . . .«

»Ach, nun ist es zu Ende!« versetzte Pascal in wehmütigem Tone. »Und von uns beiden sind Sie der Beneidenswerte, denn Sie bleiben . . .«

»Weshalb wollen Sie sich entfernen?« fragte Croix-Mesnil sanft.

»Ich entferne mich,« erwiderte Pascal mit plötzlicher Heftigkeit, »weil es meine Kräfte übersteigen würde, hier zu bleiben, weil jeder Tag meine Neigung vergrößert und meine Verzweiflung verdoppelt, weil ich nichts Schrecklicheres kenne, als sich ein Glück geträumt zu haben und es nicht zu erreichen, weil . . . doch wozu Ihnen dies alles sagen, Sie verstehen ja meine Empfindungen, denn Sie lieben sie, wie ich sie liebe, und gleich mir werden auch Sie nicht wieder geliebt!«

»Ich werde nicht geliebt, das ist richtig,« versetzte der Baron, »doch Sie . . .«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fügte mit erschütterter Stimme hinzu: »Doch Sie, Pascal, Sie werden geliebt . . .«

»Was sagen Sie?«

»Ich sage, was wahr ist und gerecht. O, Sie Glücklicher, der Sie ihr sich widmen, ihr sich opfern durften! Ihr Herz ist ein Schatz, und es gehört Ihnen . . . Glauben Sie dies einem Manne, dem die Liebe Scharfblick genug verlieh, um sich nicht zu täuschen, der eifrigst forschte, um über sein Unglück Gewißheit zu erlangen, und der unter diesem Bemühen furchtbar gelitten hat . . . sie liebt Sie, und sie muß es, sie ist zu edel, zu großsinnig, zu hochherzig, um Sie nicht zu lieben. Würde sie Sie nicht lieben, wäre sie die Frau nicht, die sie ist . . . Ja, freuen Sie sich, entfernen Sie sich nicht, sie liebt Sie!«

Pascal ergriff die Hand Croix-Mesnils und drückte sie.

»Ihr Leid schmerzt mich tief . . .« sagte er in herzlichem Tone.

»Nein! Bedauern Sie nichts! Das, was ist, mußte so kommen. Es wäre höchst betrübend gewesen, wäre es anders. Eine Seele wie die ihre braucht ein Herz wie das Ihrige. Sie allein können sie glücklich machen, und dies ist meine einzige Hoffnung, der einzige Trost, den ich mit mir nehmen will . . . Ich liebte sie mehr als mich selbst und glaube Ihnen davon den Beweis zu geben, indem ich mit Ihnen so spreche, wie ich es thue.«

Pascal schüttelte traurig den Kopf. »Zwischen ihr und mir ist eine weite Kluft. Ich bin ein Carvayan! . . .«

»Sie sind der Mann, den sie liebt,« versetzte Croix-Mesnil.

Noch eine Weile blieben sie stumm nebeneinander, jeder seinen eigenen Gedanken hingegeben, alsdann erhoben sie sich.

»Ich habe zwar meine Abreise noch nicht angezeigt, aber ich gehe morgen fort, um nicht wieder zurückzukehren. Nehmen wir voneinander Abschied. Ich wünsche Ihnen nichts . . . Sie haben alles . . . Doch Sie . . . wünschen Sie mir, zu vergessen.«

Pascal erwiderte nichts, er breitete die Arme aus, Cloix-Mesnil warf sich ihm an die Brust, und die beiden Nebenbuhler umarmten sich wie Brüder.

Hinter der Jalousie stand im Halbdunkel des Zimmers Antoinette regungslos. Längst hatten die beiden jungen Leute sich entfernt, und sie lauschte noch immer, als ob der Ton ihrer Stimmen noch an ihr Ohr klinge. Dann wendete sie sich um, sah das Zimmer leer, und tief erschüttert gedachte sie jenes traurigen Tages, als sie hierhergeeilt war, um den ersten Brief ihrer Tante zu lesen. Sie fand alle Eindrücke, die sie damals bewegt hatten, wieder, alle ihre Befürchtungen, alle ihre Hoffnungen. An diesen Tisch hatte sie sich gelehnt, körperlich und geistig abgespannt; die Schreibmappe dort bewahrte noch die Spuren ihrer Thränen. Wie düster war der Horizont an jenem Tage gewesen, wie heiter und lachend war er heute! In wenigen Wochen hatte alles ein anderes Aussehen angenommen, war durch den allgewaltigen Willen eines liebenden Mannes alles gerettet worden. Wie ein Echo jener bangen Seufzer klang ihr ein leises Summen aus dem Halbdunkel entgegen, und in einem Ausbruche heiß emporwallenden Dankgefühles faltete Fräulein von Clairefont die Hände und tief mit halb erstickter Stimme: »Mein Gott, wie danke ich dir! . . .« Sie drückte ihr Taschentuch an das Gesicht und schritt hinaus. Als sie in den Salon zurückkehrte, bemerkte Tante Isabella mit ihrem durchdringenden Blicke, daß das junge Mädchen rote Augen habe, als ob sie geweint hätte. Sie fühlte sich fast glücklich darüber, denn die scheinbare Unempfindlichkeit ihrer Nichte war ihr unbegreiflich gewesen. Das Essen ging in düsterer Stimmung vorüber, trotz aller Anstrengungen von Roberts Seite, die Unterhaltung zu beleben. Alle Tischgenossen schienen befangen und liehen dem Gespräche nur ein zerstreutes Ohr.

Im Verlaufe des Abends setzte sich Antoinette ans Klavier, und zum erstenmal sang sie in Pascals Gegenwart. Sie besaß eine schöne, rein und voll klingende Altstimme; gleichsam zufällig wählte sie die herrliche Arie aus der »Königin von Saba«, und mit leidenschaftlichem, triumphierendem Ausdrucke, der den jungen Mann bis ins Herz hinein erbeben ließ, sang sie:

»Ja, ungekannt schien größer er zu sein
Als mancher, den geschmückt die Königskrone,
Es war, als ob in seinem Innern throne
Die Majestät, der Edelsinn allein!«

Sie richtete diese Worte offenbar an ihn, schien ihn mit dem Purpur zu bekleiden, mit der Krone zu schmücken. Während eines Augenblickes waren ihre Seelen in inniger Gemeinschaft vereint; es war ihm, als ob ein Teil ihres Selbst ihm zuflöge. Eine Wolke glitt an Pascals Auge vorüber, und als er wieder zu sehen und zu erkennen vermochte, sang das junge Mädchen bereits voll kalter Munterkeit die berühmte Arie aus dem »Barbier«: »Una voce poco fa . . .«, mit einer Sicherheit vokalisierend, die mit einer Gefühlsbewegung nichts gemein hatte. Pascal überkam ein Anfall von Verzweiflung. Er sagte zu sich selbst: »Ich bin ein Feigling, noch länger hier zu verweilen, um mir zu ihrer Unterhaltung das Herz zerreißen zu lassen. Croix-Mesnil irrt sich, und ich selbst verliere den Verstand. Auf! Eine Minute festen Entschlusses, und ich will fort, damit dem für immer ein Ende gemacht werde!« Er erhob sich lebhaft und trat zur Tante von Saint-Maurice: »Ich bitte um Entschuldigung, gnädiges Fräulein: ich habe noch manche Vorbereitungen zu treffen . . . und muß mich daher verabschieden . . .«

»Wie? Schon?« fragte das alte Fräulein . . . »Aber wir werden Sie doch hoffentlich morgen noch sehen?«

»Ich glaube nicht,« erwiderte er mit unsicherer Stimme . . . »Zu meinem großen Bedauern . . .«

»Um welche Stunde reisen Sie?«

»Um zwei Uhr.«

»So will ich Morgen vormittag zu Ihnen kommen,« rief Robert. »Ich werde mit Ihnen bei unserem teuren Freunde Malézeau frühstücken . . .«

»Leben Sie wohl, Herr Marquis, leben Sie wohl, gnädiges Fräulein,« stammelte Pascal.

»Denken Sie daran,« sagte der Marquis, »daß Sie in Clairefont stets ein Heim haben . . .«

Der junge Mann verbeugte sich, ohne zu antworten, eine überwältigende Bitterkeit stieg ihm vom Herzen zu den Lippen empor.

»Leben Sie wohl!« wiederholte er.

Antoinettes Hand streckte sich ihm entgegen, er ergriff sie und fand sie warm und weich, während die seine kalt und erstarrt war. Er warf dem angebeteten Mädchen einen verzweifelten Blick zu und entdeckte in ihrem Auge einen Strahl von Liebe und Mitgefühl, der ihm zu sagen schien: »So wage es doch, armer Narr, falle mir doch zu Füßen, schreie, weine, aber thue doch etwas! Kannst du denn gar nichts erraten?«

Pascal ballte zornig die Fäuste: »Wenn sie nicht den ersten Schritt thut, so besitzt sie mehr Stolz als Liebe, und dann muß ich sie fliehen . . .«

Noch ein Abschiedsgruß, der mehr einem Schluchzen glich, entfiel seinen Lippen, dann nahm er den Arm Malézeaus, um ihn mit sich fortzuziehen. Erst im Kabriolett des Notars, als sie bereits die Mitte des Bergabhanges von Clairefont erreicht hatten, wurde er wieder Herr seiner selbst. Er sah die Lichter des Schlosses, die sich zwischen den Bäumen verloren, und mit furchtbarer Herzbeklemmung leuchtete es ihm ein, daß nun wirklich alles zu Ende sei.

In Malézeaus Hause angelangt, drückte er seinem Freunde schweigend die Hand und begab sich auf sein Zimmer. Dort überließ er sich der vollständigsten Trostlosigkeit. Er sah nur mehr ein unnützes, leeres Leben vor sich. Für wen sollte er von nun an wirken, für wen Rang und Vermögen erstreben? Eine unermeßliche, hoffnungslose Liebe hatte alles sich zu eigen gemacht, seine Seele wie seinen Körper. Antoinette würde immer sein einziger, alles andere verzehrender Gedanke bleiben. Er stieß einen Wutschrei aus und erging sich in Verwünschungen, verfluchte den Tag, an dem er in dieses Land zurückgekehrt, wo das Unglück ihn erwartet hatte. Mit herzzerreißenden Tönen rief er nach dem jungen Mädchen, richtete die grausamsten Vorwürfe an sie. Sie war falsch und undankbar, hatte ihn mit ihren Reizen umstrickt, um ihn desto sicherer ins Verderben zu stürzen. Und nun, da sie seiner Dienste nicht mehr bedurfte, wies sie ihn mit Verachtung von sich. Alsdann hielt er wieder Einkehr in sich selbst und schämte sich seiner Heftigkeit. Er bat die Geliebte um Verzeihung, warf sich vor, sie ungerecht beurteilt zu haben. Nein, sie hatte ihm niemals Liebesversprechungen gemacht, hatte seine Hoffnungen, seine Illusionen nicht ermutigt. War es nicht ein hohes Glück gewesen, sich ihr überhaupt widmen zu dürfen? Croix-Mesnil beneidete sogar dieses Glück! Laut rief er aus: »Nein! Du schuldest mir nichts, ich war bloß dein Knecht, dein Geschöpf, mein ganzes Selbst gehörte dir . . . Du hast über dein Eigentum verfügt! Und die Freude, die ich empfand, daß ich es dir geben konnte, war reicher Lohn . . . Ich liebe dich und segne dich, selbst in dem Schmerze, den du mir verursachst!«

In solcher Pein und solcher Wirrnis verging Pascal die Nacht. Beim Anbrechen der Morgendämmerung fand er etwas Ruhe, doch der Tag brachte ihm neue Qualen. Nur noch wenige Stunden sollte er mit Antoinette dieselbe Luft atmen. Mit bedrücktem Gemüte stieg er nach Malézeaus Zimmer hinab. Der Notar war abwesend. Pascal schrieb etliche Briefe, und gegen zehn Uhr schickte er sich an, nach der Rue du Marché zu gehen, um, wie er es versprochen, von seinem Vater Abschied zu nehmen. In dem Gemache auf und nieder wandelnd, blickte er zufällig in den Spiegel, und das Bild, welches er in demselben sah, flößte ihm Mitleid ein. Er richtete ein ermutigendes Lächeln an den Unglücklichen, der ihn aus hohlen Augen kummervoll ansah. Von unbesieglicher Mattigkeit überwältigt, blieb er hierauf an einem der Fenster stehen, das nach dem Garten ging, um über die Dächer hinweg nach dem Hügel von Clairefont zu blicken, der terrassenförmig sich aufbaute, von dunklem Laube gekrönt. Dort auf jener Besitzung konnte Antoinette nun in ungetrübter Sicherheit leben, denn er hatte all die feindseligen, habsüchtigen Bestrebungen, welche ihre Ruhe gefährdeten, zunichte gemacht. Nun war sie glücklich und frei, und ihm hatte sie dies zu verdanken. Ein Gefühl milder, süßer Wehmut erfrischte bei diesem Gedanken sein Herz, »Wer weiß,« begann er zu denken, »ob es mir nicht doch einst gelingen wird, meine Liebe in bloße Freundschaft zu verwandeln und Antoinette dann ohne Gefahr wiedersehen zu können. O! Sie wiedersehen! . . . Sie wiedersehen! Feigling, der ich bin, dies ist mein einziger Gedanke, und vergebens suche ich mich selber zu täuschen! . . .« Er stützte den Kopf auf seine Hände und bemühte sich, die quälenden Gedanken zu verscheuchen. Einige Minuten stand er so regungslos da, auf das von außen hereindringende Geräusch horchend, um das reizende Phantom nicht mehr zu sehen, das unausgesetzt seinen Geist beschäftigte: Da schien es ihm, als ob die Hausthür sich öffne, er glaubte nahende Schritte zu vernehmen, dann hörte er im Vorsaale die Stimme Malézeaus: »Er ist in meinem Zimmer.«

Pascal empfand eine heftige Erschütterung, sein Herz pochte mit gewaltigen Schlägen. Wer war es, der ihn aufsuchte? Die Thür ging auf, der Notar erschien in derselben, und wie an jenem denkwürdigen Tage, wo er unvermutet in Carvayans Zimmer getreten war, sagte er: »Eine Dame ist hier, die Sie zu sprechen wünscht.«

Pascal stieß einen Schrei aus und stürzte vor . . . Antoinette stand vor ihm, in demselben Kleide, mit demselben Hute, den sie damals getragen, als sie zu ihm kam, um seine Teilnahme für ihren Bruder zu erbitten. Auch ebenso bleich war sie heute, aber nicht vor Kummer und Angst. Eine Weile blickten sie stumm einander an, sie lächelnd, er zitternd. Endlich begann sie mit anbetungswürdiger Anmut: »Noch einmal sehe ich mich gezwungen, zu Ihnen zu kommen . . . Nur will ich heute nicht bloß meines Bruders wegen mit Ihnen sprechen . . . Es ist um all der Meinen willen . . . Sie haben es übernommen, unser Glück zu sichern, nun mögen Sie aber wissen, daß Ihr Werk unvollständig ist . . . Robert ist traurig, meine Tante in Verzweiflung bei dem Gedanken, daß sie Sie nicht wiedersehen sollen . . .«

Sie machte eine Gebärde reizender Koketterie. »Was braucht es denn, um Sie zum Bleiben zu bewegen? . . . wenn Sie nicht gar zu anspruchsvoll sind, so werden wir vielleicht Ihren Wünschen gerecht werden können.«

Und als er betroffen dastand, nicht wagend, zu verstehen, und auch zu sprechen sich nicht getraute, trat Fräulein von Clairefont noch einen Schritt näher an ihn heran und sprach voll innigster Hingebung: »Sie haben mir eines Tages Ihre Gegenwart und Ihre Zukunft geopfert, Ihr ganzes Leben mir dargebracht. Wollen Sie als Ersatz dafür das meine annehmen?«

Pascal stieß einen Schrei aus, seine Augen verdunkelten sich, schwankend breitete er die Arme aus, fühlte seine Lippen auf dem weichen, duftenden Haare Antoinettes, und siegesfroh und glückselig glaubte er sich in den Himmel versetzt.


Pascal und seine Frau wohnen in Paris, den Sommer verbringen sie jedes Jahr auf Schloß Clairefont. Malézeaus Vorhersagungen haben sich verwirklicht. Der junge Advokat hat die glänzendsten Erfolge zu verzeichnen, und den Bitten seiner Freunde nachgebend, nahm er bei den Abgeordnetenwahlen in Neuville die ihm angebotene Kandidatur an. Von seinem Vater insgeheim unterstützt, wurde er mit überwiegender Stimmenmehrheit gewählt. Robert, der vollständig solid geworden, beschäftigt sich in nützlicher Thätigkeit, und es ist die Rede von einer Heirat zwischen ihm und dem ältesten Fräulein von Saint-André. Der Steinbruch, unter geschickter Leitung, ist nun wirklich eine Goldgrube geworden, und der Ofen des Marquis wird mit vorzüglichen Ergebnissen bei dem Betriebe verwendet. Die glückliche Antoinette ist großmütig genug, all das Leid zu vergessen, welches ihr Schwiegervater den Ihren angethan. Aber sie verkehrt nicht mit ihm und spricht auch niemals von ihm. Wenn der Tyrann einst stirbt, so wird mit seiner Hinterlassenschaft ein Versorgungshaus für arme Greise in Neuville errichtet werden. Vorläufig aber erfreut sich der Ehrenmann des besten Wohlseins und betreibt seine Geschäfte rüstig weiter. Wenn man ihm von dem wunderbaren Aufschwunge spricht, den die Ausnutzung des Steinbruches unter Pascals Leitung genommen, schüttelt der Banquier den Kopf und sagt: »Ja, das ist sehr schön, um aber dies alles wieder zum Gedeihen zu bringen, bedurfte es eben . . . eines Carvayan.«

 

Ende

 


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