Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Band

Erstes Kapitel.

Durch einen jener schattigen Hohlwege, wie sie in der Normandie zwischen Erddämmen sich hinziehen, die mit ihren dichten Baumanpflanzungen die Gehöfte mit einem für Wind und Sonne undurchdringlichen Walle umschließen, ritt an einem schönen Sommermorgen eine junge Dame auf einem Pferde von ziemlich gewöhnlichem Schlage im Schritte dahin. Träumerisch, die milde, vom Dufte des blühenden Klees gesättigte Luft genießend, ließ sie die Zügel schlaff niederhängen. Sie war eine gar stolze Erscheinung unter dem schwarzen Filzhut, den ein weißer Gazeschleier umgab, und in dem langen Reitkleid von stahlgrauem Tuche. Man hätte sie für eine der mutigen großen Damen halten können, die zur Zeit der Vendeer-Anführer Stofflet und Cathelineau in den Wäldern des Bocage dem royalistischen Heere beherzt folgten und mit ihrem Lächeln die düstere vendeesche Epopöe erhellten. Voll Anmut überließ die schöne Amazone ihre schlanke Gestalt der Gangart der Stute, während sie zerstreut mit der Reitpeitsche nach den grünen Ginsterstengeln schlug. Ein schottischer Windhund mit rauhem, rötlichem Fell begleitete sie, indem er seinen behenden Schritt mit der lässigen Weise des Pferdes in Einklang zu bringen suchte und von Zeit zu Zeit den spitzen Kopf, aus dem zwei schwarze Augen unter buschigen Brauen hervorblitzten, zu seiner Herrin emporhob. Das kurze, saftige Gras, das unter dem dunkeln Laubdach der Buchen sich üppig ausbreitete, bot der Reiterin einen samtweichen Teppich. Auf den Weideplätzen witterten die trägen Kühe die frische Luft des Weges und streckten ihr von Mücken arg belästigtes Maul begehrlich nach der Kühlung aus. Nicht der leiseste Windhauchs bewegte die Blätter. Unter der Sonnenglut zitterte die erhitzte Luft, und eine drückende Schwüle lag auf der Erde.

Die junge Dame schien in Nachdenken versunken und, den Kopf auf die Brust geneigt, völlig gleichgültig gegen die Reize des schattigen, stillen Landweges. Plötzlich that ihr Pferd einen Seitensprung, spitzte die Ohren, und heftig schnaubend war es nahe daran, sich zu überschlagen, während der Windhund mit wütendem Gebell vorwärts stürzte und einem Manne, der eben in den Hohlweg hinabgesprungen war, knurrend eine doppelte Reihe spitzer Zähne wies. Die schöne Amazone, die so jäh aus ihrem Sinnen aufgeschreckt wurde, faßte die Zügel fester, warf ihr Pferd zurück, und sich im Sattel festsetzend, heftete sie auf den Urheber dieser Störung einen mehr erstaunten als unzufriedenen Blick.

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, gnädige Frau,« sagte der Fremde mit voller, wohlklingender Stimme . . . »Ich bin Ihnen in höchst ungeschickter Weise in den Weg gesprungen . . . Ich hörte Ihr Kommen nicht . . . Seit mehr als einer Stunde schon irre ich auf diesen Weideplätzen umher, ohne einen Ausgang finden zu können . . . Alle Gatterthüren sind verschlossen, und die Hecken sind zu hoch, als daß man über sie setzen könnte . . . Endlich erblickte ich diesen zwischen den Bäumen versteckten Nebenweg und mein Hinabsteigen mag wohl Ihr Pferd derart erschreckt haben, daß es Sie fast abgeworfen hätte.«

Die junge Dame lächelte ein wenig, was ihren edlen, feinen Gesichtszügen einen heitern, lieblichen Ausdruck verlieh: »Beruhigen Sie sich, mein Herr,« gab sie zur Antwort, »Sie sind nicht sehr strafbar, auch falle ich nicht so leicht vom Pferde, als Sie es anzunehmen scheinen.« Und als der Windhund noch immer drohend knurrte, rief sie: »Still, Fox, gib Frieden!«

Der Hund kehrte um, und sich auf den Hinterfüßen emporrichtend, streckte er die zierliche Schnauze seiner Herrin entgegen, die ihn liebkosend streichelte, während sie ihren Widerpart musterte. Dieser war ein Mann von etwa dreißig Jahren, von hohem Wuchse, mit energischem Gesichte, das ein dichter, brauner Bart umrahmte. Seine rasierte Oberlippe und der gebräunte Teint gaben ihm das Aussehen eines Matrosen. Er trug einen Anzug von meliertem Tuche, auf dem Kopfe einen weichen Filzhut, und in der Hand hielt er einen derben Stock, der mehr zur Waffe als zur Stütze geeignet schien.

»Sie sind nicht aus dieser Gegend?« fragte sodann die junge Dame.

»Ich bin erst seit gestern hier,« sagte der Fremde, der ihm gestellten Frage ausweichend. »Ich hatte heute morgen die Idee, einen Ausflug zu machen, und habe mich dabei verirrt, obwohl ich sonst gewohnt bin, mich zurechtzufinden . . . Aber diese kleinen Teufelswege, die nirgends hinführen, bilden ein unentwirrbares Labyrinth . . .«

»Wohin wünschen Sie zu gehen?«

»Nach Neuville . . .«

»Sehr gut! Sie drehen ihm den Rücken zu . . . Wenn Sie mir einige Augenblicke folgen wollen, so werde ich Sie auf eine Straße bringen, wo Sie nicht mehr Gefahr laufen, fehlzugehen . . .«

»Sehr gern, gnädige Frau . . . Aber ich will hoffen, daß Sie dies nicht von Ihrer Richtung ablenkt . . .«

Sie schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte: »Nein, auch nicht um einen Schritt.«

Der Fremde machte ein Zeichen der Zustimmung, und von der jungen Frau durch den Windhund getrennt, der seinen Unwillen noch nicht verwunden hatte und mit dumpfem Knurren dahintrabte, folgte er, ohne zu sprechen, dem grünen kühlen Pfad, während er im Stillen die strahlende Schönheit seiner Führerin bewunderte. Zuweilen, wenn tief niederhängende Baumzweige sie nötigten, den Kopf zu neigen, um ihnen auszuweichen, kam ihr schneeiger Nacken, auf dem sich Haarlöckchen in dichter Fülle kräuselten, zum Vorschein, und ihr reines Profil hob sich wirkungsvoll von dem Hintergrunde des dunkeln Laubes ab. Leicht und geschmeidig war diese Bewegung, und mit vornehmer, einfacher Anmut richtete sie sich wieder empor; sie schien nicht zu ahnen, daß sie bewundert werde. War es Stolz oder Sorglosigkeit, sie schenkte dem Gefährten, den ihr der Zufall gegeben, keine weitere Beachtung. In dieser Ruhe drückte ihr Antlitz einen wehmütigen Ernst aus, als ob sie unter dem Drucke einer steten Traurigkeit lebe. Welchen Kummer mochte wohl dies junge, schöne Wesen haben, das doch nur geschaffen schien, zu herrschen, geliebt und angebetet zu werden? Hat ein ungerechtes Geschick sie, die zur Freude bestimmt war, mit Unglück bedacht? Sie schien reich zu sein. Ihr Leid konnte demnach bloß moralischer Art sein.

Als der Fremde zu diesen Schlußfolgerungen gelangt war, fragte er sich weiter, ob seine Gefährtin Frau oder Mädchen sei. Ihre volle Figur, die runden Schultern, deren harmonische Fülle durch die Feinheit der Taille noch mehr hervorgehoben wurde, waren die einer Frau, doch der zarte Schmelz ihrer Wangen, die reine Frische der Augen verrieten das junge Mädchen. Ihr rosiges Ohrläppchen war nicht durchstochen, und auch sonst trug sie keinerlei Schmuck, weder am Halse, noch an den Armen.

Nach einer Viertelstunde ungefähr kamen sie an ein weites Heideland, bedeckt mit blühendem Ginstergesträuch, welches lichtgelbe Schmetterlinge umgaukelten. Am Rande einer Wiese, deren spärliche Gräser von der Sonne versengt waren, weideten Schafe unter der Aufsicht eines schwarzen Hundes, der beim Anblick des Windspiels freudig zu bellen begann. Die beiden mußten gute Kameraden sein, denn augenblicklich jagten sie mitsammen in rasendem Galopp davon; das Windspiel flog leicht und rasch dahin wie ein Pfeil, den schwarzen Hund mit den Ringen seines kreisförmigen, närrischen Laufes umzingelnd. Da ließ die junge Frau einen schrillen Pfiff ertönen, und das Windspiel hielt sofort noch zitternd vom Laufe still, blickte seine Herrin an und kehrte dann, von dem schwarzen Hunde gefolgt, ruhig und demütig zurück.

»Wo mag denn der Rotkopf sein?« murmelte die Amazone. »Sind die Schafe und der Hund heute allein hier?«

Kaum hatte sie diese Worte beendigt, als ein helles Gelächter aus einem kleinen Birkengehölze sich vernehmen ließ. Am Ufer eines Weihers wurde ein schönes Mädchen mit entblößten Armen, an denen noch der Seifenschaum in der Sonne glitzerte, sichtbar, das, mit Waschen beschäftigt und umgeben von Wäschebündeln, auf einem mit Stroh bedeckten Holzgestelle kniete, während ein junger, drolliger, rothaariger Bursche in grauleinenem Bauernkittel und den breiten Strohhut im Nacken, sich damit unterhielt, die Wäscherin zu necken, Er hatte sie an der Schulter gefaßt, ihren Kopf zurückgebogen und kitzelte ihren runden frischen Hals mit einem Getreidehalm. Halb ärgerlich, halb belustigt, wehrte sich das Mädchen, und zwischen schallendem Gelächter hindurch rief sie: »Wirst du Ruh' geben, du böser Rotkopf . . . warte, gleich werde ich dich mit meinem Klöpfel karessieren . . .«

Doch der Schäfer gab seine Beute nicht frei, er hielt das Mädchen mit seinen stämmigen, seltsam behaarten Armen nur um so fester. Seine Augen funkelten tückisch, ein wildes Grinsen verzerrte die Lippen des breiten Mundes und entblößte kreuzgestellte Zähne wie die eines Wolfes. Er sprach nichts, nur ein tierisches Grunzen entstieg seiner Kehle. Schließlich war es ihm gelungen, die Wäscherin in das Röhricht zu werfen, und nun wollte er sie gegen das Wasser stoßen. Auch sie lachte nicht mehr und begann Furcht zu bekommen, aber ihr Geschrei störte den Burschen nicht, der in einem fort wie ein Unsinniger lachte. Er preßte seine Lippen auf die Schulter des jungen Mädchens mit einer Roheit, daß man nicht zu sagen vermocht hätte, ob er sie beißen oder küssen wolle.

Verwundert über diesen Anblick waren die Reiterin und der Fremde stehen geblieben. Beide empfanden das gleiche Gefühl einer unbestimmten Unruhe, als sie die halb zärtliche, halb leidenschaftliche Belustigung der beiden jungen Leute gewahr wurden.

»Das ist ein schlimmer Zeitvertreib,« sagte der Fremde . . . Und mit lauter Stimme rief er: »Du Taugenichts, willst du aufhören, oder muß ich dir erst die Ohren schütteln?«

Bei diesen Worten erhob die Wäscherin ein wenig den Kopf, doch der Schäfer schien nichts gehört zu haben. Der Fremde geriet in Zorn und schickte sich zu einer schärferen Zurechtweisung an, als die junge Dame sich umwandte und zu ihm sagte: »Der Bursche ist halb taubstumm . . . Es ist ein Blödsinniger, dem man aus Barmherzigkeit hier Beschäftigung gibt. Lassen Sie mich das ordnen . . .«

Sodann ließ sie ihr Pferd den Graben nehmen, der den Weg von dem Heideland trennte, war in einigen Sätzen am Weiher, und mit ihrer Reitpeitsche den Schäfer berührend, gab sie ihm ein gebieterisches Zeichen, sich zu entfernen. Der Rotkopf stieß einen unartikulierten Laut hervor, brach in blödes Lachen aus, und quer über die Heide davon rennend, erreichte er seine Herde, pfiff seinem Hunde, nahm die Peitsche zur Hand und begann aus allen Kräften zu knallen, um sich an dem Echo, welches der nahe Hügel weckte, zu belustigen.

Die Wäscherin hatte sich inzwischen gesammelt und rot von der Anstrengung des Kampfes, vielleicht auch vor Verlegenheit, daß man sie bei solchem Treiben überrascht hatte, aber reizend in ihrer Verwirrung und verführerisch wie eine schöne, wilde Frucht, erhob sie sich und sagte: »Ich danke, gnädiges Fräulein.«

»Es ist nicht recht, Rose, mit dem Rotkopf so vertraulich zu thun . . . Wer weiß, was in dem kranken Gehirn vorgehen mag! . . .«

»O, er ist durchaus nicht böse,« entgegnete die schöne Rose; »er neckt nur die Leute gern, und hält sie von der Arbeit ab . . . Aber ich fürchte mich nicht vor ihm und wäre schon allein mit ihm fertig geworden . . . Uebrigens danke ich Ihnen darum nicht weniger . . .«

Damit legte sie eine Bluse auf das Brett, das sie vor sich hatte, und indem sie es mit gewaltigen Bläuelschlägen bearbeitete, fing sie mit heller Stimme zu singen an:

Schlage, schlage, Wäscherin,
Kräftig, noch sitzt Schmutz darin!
Aus dem Tümpel, aus dem Weiher
Ist das Wasser niemals teuer,
Wenn es viel geregnet hat!
Frisch zur Arbeit, frisch zur That,
Schlage, Wäscherin, schlage!

Mit dem dumpfen Klatschen des Bläuels auf die feuchte Wäsche begleitete sie ihren Gesang.

Heiter und sorglos wie eine Feldlerche, dachte sie schon nicht mehr an ihr Abenteuer, während auf der Heide der Blödsinnige, dessen grauer Schattenriß sich klar gegen die Bläue des Himmels zeichnete, mit bösem Lachen die Peitsche weiterknallen ließ.

Die Reiterin und der Fremde hatten ihren Weg fortgesetzt und näherten sich einem Gehölz, dessen Eingang durch verschränkte breite Holzstäbe versperrt war. Sie bogen seitwärts und kamen bald an den Rand der Hochebene, von welcher sich ihnen die Aussicht auf ein weites Thal eröffnete. Rechts auf der Höhe erhob sich ein Schloß, im Stile Louis' XIII., von einem schönen Park umschlossen, der sich bis zu dem Flusse hinabsenkte, welcher im Hintergrunde, aus dem Weidengebüsch durchschimmernd, zwischen smaragdgrünen Wiesen dahinzog und sich hinter den Pfeilern einer hübschen Steinbrücke verlor. Durch den Hügel vor den Nordwinden geschützt, breitete sich blank und zierlich die Kreisstadt Neuville aus, mit ihrer gezackten Kirchturmspitze und den hohen Schornsteinen ihrer Fabriken, welche stolz die Häuserdächer überragten. Ein sanft gewundener Pfad stieg zum Städtchen hinab, zur Linken eines dichten Buchenhains, der mit seinen grauen Stämmen und seinem dunkeln Laub der Landschaft einen etwas düstern Charakter verlieh. Von der Mitte des Abhanges blinkte ein weißer Erdwall, gleich einem riesigen Maulwurfshügel, durch das Dickicht des Gehölzes. Rings um das Städtchen war der Thalgrund sorgfältig bebaut, und die gelben Kornfelder, die graugrünen Haferhalme, die blauen Kleesaaten wogten bis zu den Zäunen seiner letzten Häuser. Ein reiner, blauer Himmel wölbte sich über dies reizende Landschaftsbild, das die Sonne mit goldigem Lichte übergoß: ein Hauch süßer Ruhe entströmte dem lieblichen Orte, in welchem das Glück zu weilen schien.

Die beiden Bewunderer dieser reizvollen Gegend ließen einen Augenblick ihre entzückten Blicke in stummer Betrachtung umherschweifen. Eine leichte Brise wehte ihnen vom Strome her frischen Heuduft zu, und selbstvergessen überließen sie sich dem sie umgebenden köstlichen Frieden, in welchem alle geheimen Sorgen, alle inneren Kämpfe gelindert, besänftigt hinschmolzen.

Der Fremde machte sich zuerst von dieser berauschenden Empfindung los. Fest schlug er mit dem Fuße auf den Boden, wie ein Verbannter, der wieder die heimatliche Erde betritt und sich ihres Besitzes erfreut; dann rief er in fröhlichem Tone: »Nun kenne ich mich wieder aus . . . Dies hier ist Neuville . . . Rechts hinter den Bäumen erhebt sich das Schloß Clairefont, und hier unten der von Gebälk überragte Hügel ist der große Steinbruch.«

Die Amazone antwortete nicht. Sie blickte in die Ferne nach der Richtung jener Anhöhe, welche ihr Gefährte bezeichnet hatte, und ihre Züge verdüsterten sich. Unruhig und forschend schien sie den weißen, steinigen Erdbuckel zu betrachten, als ob dessen kreidige Flanken irgend eine geheimnisvolle Gefahr verhüllten. Was enthielt er, das sie in solche Aufregung versetzen konnte? Still, unbenutzt lag er da, von den Arbeitern verlassen, die hohen Stangengerüste über ihm ragten wie ein Schafott in die Luft. Die junge Dame stieß einen Seufzer aus, und als antwortete sie mehr ihrer inneren Erregung, als den Worten ihres Begleiters, wiederholte sie mit halb erstickter Stimme: »Dies ist der Steinbruch« . . . Dann fügte sie mit einer Bewegung des Hauptes, als wolle sie ihre Unruhe verscheuchen, hinzu: »Hier ist Ihr Weg, mein Herr; wenn Sie geradeaus hinabsteigen, gelangen Sie zum Städtchen.«

»Ich danke Ihnen, mein Fräulein,« erwiderte der Fremde, der nun nach Belieben seine reizende Gefährtin bewundern konnte, da sie ihm jetzt ihr Gesicht voll zugewendet hatte. Er machte einige Schritte vorwärts, schien mit sich selber unschlüssig zu sein, dann begann er mit einer Verbeugung: »Wollen Sie mir die Ehre erweisen, mir zu sagen, wem ich für so viel Freundlichkeit zu Dank verpflichtet bin?«

Das junge Mädchen sah ihren Begleiter mit ruhigem, hellem Blicke an, dann antwortete sie schlicht: »Ich bin Fräulein von Clairefont.« Beim Hören dieses Namens wich der junge Mann unwillkürlich zurück und eine dunkle Röte zog über seine Stirne hin, die er zur Seite wendete. Ueberrascht blickte ihn die schöne Reiterin aufmerksamer an, und wie von einem unwiderstehlichen Gefühle gedrängt, fragte sie rasch: »Und Sie, mein Herr, wer sind Sie?«

Die Züge des Fremden verdüsterten sich. Nur einen Augenblick zögerte er, dann erhob er das Haupt und erwiderte mit dumpfer Stimme: »Und ich, ich bin Pascal Carvayan.«

Kaum vernahm Fräulein von Clairefont diesen Namen, als ihr Gesicht einen Ausdruck unvergleichlichen Stolzes annahm: ihre Augen blickten kalt und hart, ein verächtliches Lächeln trat auf ihre Lippen, und indem sie mit der Reitgerte die Luft durchschnitt, als wolle sie eine unüberschreitbare Scheidewand zwischen sich und dem jungen Manne errichten, pfiff sie dem Hunde, setzte das Pferd in Trab und entfernte sich, ohne auch nur den Kopf zu wenden.

Wie festgebannt blickte er ihr nach, nicht an ihre wegwerfende Gebärde, nur an ihre Schönheit denkend. Stolz und kalt ritt sie davon, nachdem sie während einer halben Stunde in reizender Vertraulichkeit in seiner Nähe geweilt hatte; niemals vielleicht würde er sich ihr wieder nähern dürfen . . . Mit jedem Schritte sah er die Entfernung zwischen dem jungen Mädchen und sich größer werden, schon konnte er in der Staubwolke, die unter den Hufen des Pferdes aufwirbelte, ihre anmutige Gestalt nicht mehr unterscheiden. Nur die Schleppe des Reitkleides und der weiße Schleier des Hutes wehten in der Luft, und das Windspiel trieb sich auf dem Seitenpfade in lustigen Sprüngen umher. Plötzlich bei einer Biegung des Weges, dort wo die Holzstäbe den Eingang in das Gehölz verschlossen, verschwanden Reiterin und Windspiel, und der Waldweg lag einsam, wie vorher.

Noch blieb Pascal Carvayan einen Augenblick regungslos, dann schlug sein wuchtiger Stock schwer auf die Kieselsteine, die den Boden bedeckten, und er murmelte: »Welcher Stolz! Kaum hatte sie erfahren, wer ich bin, so gönnte sie mir nicht mehr das Almosen eines Blickes, das sie doch dem Bettler am Wege zuwirft . . . Wie gut hat sie mir zu verstehen gegeben, daß ich für sie nicht existiere! Sei es! Das Geschick hat uns zu Feinden bestimmt, und überall stellt es uns einander gegenüber. Clairefont oder Carvayan! Zwischen uns herrscht Krieg . . . Schade! Wie schön sie ist!«

Er zog seine Uhr hervor und sah, daß es kaum elf war. Auf einem schmalen Stege, den zu beiden Seiten Ginster umsäumte, stieg er langsam hinab. Er befand sich jetzt zur Mitte des Abhanges. Dieses von einer Thalwelle durchschnittene Stück war der brennenden Glut der Sonne voll ausgesetzt. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Pascal sah nach Schutz um. Am Saume eines dürftigen Birkenwäldchens bemerkte er ein rotes Dach und über der Thür den Stechpalmenzweig, Abzeichen einer ländlichen Schenke. Er ging in dieser Richtung und gelangte bald auf einen schlechten Bergwerksweg, an welchem sich ein Haus mit neugetünchten Mauern und frisch gestrichenen grünen Jalousien erhob. Auf dem Vordache waren eine gemalte, aus drei Kugeln aufgetürmte Pyramide und zwei sich kreuzende Billardstöcke sichtbar, und darüber stand in großen Buchstaben: »Wein, Kaffee, Liköre. Gesellschaftsessen.« Das Schild stellte zwei Männer dar, welche trinkend am Tische sitzen, neben einer Flasche, deren schäumendes Getränk hoch emporsprudelt. Darüber in gelben Lettern: »Zum Stelldichein der flotten Bursche. Pourtois, Schenkwirt.« Hinter der Schenke breitete sich ein Gärtchen mit mehreren Sommerlauben aus. In der Mittelallee befand sich eine Kegelbahn, und im Hintergrunde ragte eine Schaukel in die Höhe.

Während des Sommers versammelte sich hier an Sonntagen die Arbeiterbevölkerung von Neuville. Im ersten Stock spielten eine Violine und ein Piston der Jugend zum Tanze auf, und aus den offenstehenden Fenstern tönte zwischen fröhlichem Gelächter hindurch die heisere Stimme des Arrangeurs: »Anstellen zur Quadrille!« Und das Gepolter der schweren Schuhe rollte wie Donnergetöse über den Häuptern der Gäste, welche essend und trinkend im Erdgeschosse saßen.

In wenigen Jahren hatte Pourtois, ein sehr dicker Mann von apoplektischem Aeußern, durch vieles Trinken verdummt, jedoch von seiner Frau, einer resoluten, brünetten Person mit flinker Hand und lebhaftem Auge, scharf im Zügel gehalten, die Schenke in so guten Ruf gebracht, daß sich die Kaffeehausbesitzer der Stadt bitter über die Konkurrenz beklagten. Da das Geschäft außerhalb des Weichbildes der Stadt lag, brauchte er keine Steuern zu bezahlen und konnte demnach seine entsetzlichen Getränke billiger verkaufen, als die städtischen Wirte. Zudem bot auch sein Garten mit den grünen, von Weinreben und Schlinggewächsen umrankten Lauben den Trinkern ein angenehmes Versteck, und selbst junge Leute aus besseren Ständen kamen zuweilen, um hier oben in lustiger Gesellschaft zu frühstücken. Zur Zeit der Wahlen ließ Pourtois auf einer benachbarten Wiese ein Zelt aufschlagen, das zwei- bis dreihundert Personen faßte, und gab dort einen großen Ball. Der Eintritt war frei, Speisen und Getränke mußten dafür teurer bezahlt werden. Seit zwei Jahren bewogen politische Rücksichten sogar die Gemeinderäte von Neuville, diese vorstädtische Tanzunterhaltung mit ihrer Gegenwart zu beehren.

Pourtois, mit dessen Stimme und Umtrieben bei den Wahlen zu rechnen war, hatte sich den Triumph einer solchen offiziellen Einweihung nicht versagen wollen und die Vertreter der städtischen Gewalt hatten es im Interesse ihrer eigenen Popularität für gut befunden, ihm eine solche nicht länger vorzuenthalten.

Uebrigens war er außerhalb seines Etablissements ohne jeden Ehrgeiz. Man wollte ihn zum Stadtrat wählen; er schlug es aus. Von diesem Anlasse her erzählte man sich die Antwort, die ihm offenbar von seiner Frau eingegeben worden: »Ich habe genug zu thun, meine Weine auszuschenken, habe darum keine Zeit, meine Reden feilzubieten. Ich werde mich nicht bewerben, aber meine Freunde werde ich durchbringen.« Und er hatte sie durchgebracht, so wie er es versprochen. Damit war seine Schenke das Lokal für Wahlversammlungen geworden, obligatorische, aber keineswegs kostenfreie, in welchen ebensoviele schädliche Reden als verfälschte Getränke Absatz fanden. Dabei war der dicke Wirt auf dem besten Wege, sich ein Vermögen zu machen. Aber er wurde deshalb durchaus nicht stolz und verschmähte es nicht, mit einem Fuhrmanne anzubinden, der vor der Thüre hielt, um ein Glas oder einen Schoppen Wein zu trinken, zumal wenn seine Frau nicht am Schenktische saß. Denn in ihrer Gegenwart gab er klein bei; böse Zungen behaupteten sogar, daß in den ersten Zeiten ihrer Ehe, wenn er sich empört und seine Rechte als Hausherr hatte geltend machen wollen, sie ihm durch Prügel seine Stellung klar gemacht habe.

Als Pascal vom Hügel aus die Schenke wahrnahm, beschleunigte er seine Schritte, wie ein Pferd, das den frischen Trunk und den Hafer der Haltstation wittert. In dem großen, stattlichen Gebäude mit den weißen Mauern, den grünen Läden und dem roten Dache, das fröhlich in der Sonne blinkte, erkannte er nicht sogleich die ehemalige enge, niedrige Kneipe Pourtois', mit den salpetrigen Wänden, dem moosbedeckten, verwitterten Strohdach. Nur das Schild und der Stechpalmenzweig, zwar etwas gemein für eine Schenke, die sich ohne Prahlerei Kaffeehaus nennen konnte, waren dieselben geblieben.

Selbst der Hügel hatte sein Aussehen verändert. Ehemals war der ganze Abhang unbebaut gewesen, und die Heide bedeckte die kalkigen Schichten bis zum Parke des Schlosses Clairefont. Gar oft, wenn er im Oktober den Drosseln Schlingen legte, hatte er sich zwischen den Ginstergesträuchen umhergetrieben, oberhalb des Steinbruchs, welcher dazumal noch nicht bloßgelegt war. Die ganze Gegend war so völlig umgestaltet, daß er nichts mehr von all dem wiederfinden konnte, was sie ihm in seiner Erinnerung so reizend machte. Er sah sie von Straßen durchschnitten, von Häusern besät, ihres wilden Charakters beraubt, dem Weltverkehre erschlossen. Neugierig, zu erfahren, ob der Wirt sich ebenso verändert habe, wie die Herberge, öffnete er die Thür und trat ein.

Ein kühles, erfrischendes Halbdunkel erfüllte die Gaststube, und das Auge des jungen Mannes, an das helle Sonnenlicht gewöhnt, konnte nur schwer die Gegenstände unterscheiden. Doch nach einigen Augenblicken sah er drei Männer um einen Tisch sitzen, und an dem sehr großen, erhöhten, mit wohlgeordneten Flaschenreihen geschmückten Schenktische eine brünette, hagere Frau mit blatternarbigem Gesichte, breitem Kinn und gewölbter Stirn unter glattgestrichenem Haar. Zwei von den Männern spielten Domino, und zwar mit solch großem Eifer, daß sie Pascals Eintreten nicht vernahmen. Der dritte hob den Kopf in die Höhe, um zu sehen, ob die Wirtin an ihrem Platze sei, dann nach einigen kräftigen Zügen aus seiner Pfeife wendete er sich wieder der Partie zu.

Er war ein rechter Dickwanst, aufgeblasen wie ein Luftballon, die Augen in überquellendem Fett versunken, kein Härchen auf der glänzenden Haut. Sein Anzug bestand aus grauen Beinkleidern, brauner Weste mit Aermeln und Pantoffeln mit buntfarbiger Stickerei, die ein in Fächerform ausgebreitetes Kartenspiel darstellte. An dem riesigen Umfange des Mannes erkannte Pascal den dicken Pourtois. »Die Reihe zum Ansetzen ist an Ihnen, Fleury,« sagte der Wirt mit dünner quäkender Stimme, die, aus einem so riesigen Brustkasten kommend, in Erstaunen setzte.

Fleury, der Kanzlist des Friedensrichters von Neuville, war ein etwa vierzigjähriger Mann von abstoßender Häßlichkeit. Seine stets aufgesprungenen Lippen bluteten gewöhnlich, und, um sie vor jedem Luftzutritt zu schützen, hatte er sie mit dünnen Pflastern bedeckt, was dem häßlichen, heuchlerischen Schnitt seines Mundes einen noch widerwärtigeren Zug verlieh. Die Augen ließen fast gar nichts vom Weißen erblicken, und die Pupillen rollten in steter furchteinflößender Beweglichkeit. Seine schlecht geschorenen Haare sträubten sich in Büscheln in die Höhe und trugen vollends dazu bei, dem Gesichte des Gerichtsbeamten einen erschreckenden Ausdruck zu geben. Man sah ihn stets in Schwarz gekleidet, wie es einem Manne ziemt, der ein offizielles Amt versieht. Für den Augenblick war er in Hemdärmeln und hatte die Halsbinde abgelegt.

Sein Mitspieler war ein angehender Fünfziger, von robustem Körperbau, mit rotem Gesicht und ergrauendem Haar. Kleine goldene Gehänge hingen an seinen Ohren. Er trug einen Fuhrmannskittel, der an den Schultern, am Hals und an den Äermeln mit weißem Faden bestickt war; rötlichgelbe Gamaschen reichten ihm bis zum Knie. Auf einem Stuhle nebenan lag eine blaue Tuchmütze mit Ohrenklappen, die er Sommer wie Winter trug. Die Hände, welche eben die Dominosteine durcheinander mengten, waren fast ebenso dick wie lang und schienen einen Ochsen niederschlagen zu können. Sein Lachen war stets so heftig, daß es ihm die Wangen dunkelblau färbte und in einem Anfall von Ersticken endigte. Man nannte ihn Vater Tondeur und Pascal erinnerte sich, ihn ehemals im Hause seines Vaters gesehen zu haben. Wenn er fortging, pflegte er stets zu sagen: »Einverstanden«, was bewies, daß zwischen ihm und Carvayan das beste Freundschaftsverhältnis herrschte. Tondeur war Holzhändler und beschäftigte jahraus jahrein zweihundert Hauer in den Holzschlägen, welche ihm in öffentlicher Versteigerung vom Staate oder von Privaten zum Fällen zuerkannt waren.

Pascal ließ sich an einem Seitentische nieder. Das tiefe Schweigen in der Stube wurde nur durch das Summen der Fliegen unterbrochen, die sich an der Decke in schwarzen Schwärmen vereinigt hatten, und durch das Geklapper der Dominosteine auf der Marmorplatte. Von Zeit zu Zeit ließen Tondeur und Fleury leise Ausrufe hören, untermischt mit Späßen, wie sie unter Spielern üblich sind: »Doppelt weiß . . . Zeichen der Unschuld . . .«

»Jetzt setze ich den Sechser an . . .«

»Und ich mache Domino! Sieben und drei sind zehn und sieben sind siebzehn . . . dazu die dreiundachtzig machen hundert . . . So, Vater Tondeur, so weit wären wir . . .«

»Hat der Fleury ein Glück! Es scheint nur für ihn zu sein . . .«

»Machen wir noch eins?«

»Nein! Ich muß ins Gehölz hinauf, um meine Arbeiter zu überwachen . . .«

»Bleiben Sie doch! Bei der Hitze können Sie sich einen Schlag holen.«

»Ein geschlagener Mann bin ich ohnehin!«

Die drei Männer brachen in schallendes Gelächter aus, als das Rasseln eines Wagens, der vor der Schenke anhielt, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Selbst der dicke Pourtois erhob sich von seinem Stuhle und gab eine Regung von Neugierde zu erkennen. Aber er brauchte sich nicht weiter zu bemühen; die Thür wurde von kräftiger Hand aufgestoßen, und ein junger Mann von hohem Wuchse, in braunsamtenem Jagdanzuge und bis zu den Knien reichenden Gamaschen trat mit lebhaft erregtem Gesichte ungestüm ein.

»Ah, wir sind nicht allein,« sagte er mit starker Stimme, indem er einen Blick umherwarf, »desto besser! Hören Sie, Vater Pourtois, gehen Sie hinaus zu meinem Wagen, dort werden Sie ein Tier finden, welches Ihnen gehört und das Sie nicht in unseren Wäldern herumvagabundieren lassen sollten . . . Für diesmal bringe ich es Ihnen zurück . . . Aber das nächste Mal, so wahr ein Gott ist, breche ich ihm die Rippen entzwei! Uebrigens habe ich es ihm selbst gesagt . . .«

»Wie? Herr Graf . . . Wie! ein Tier, das mir gehört?« fragte der Wirt höchst erstaunt, indem er ehrerbietig die Mütze abnahm . . . »Ein Tier . . . dem Sie gesagt haben . . .«

»Gehen Sie zum Wagen,« unterbrach ihn der Graf mit Ungeduld. »Dann werden Sie verstehen . . .«

Fleury, mit seinen flinken Beinen, stand schon draußen. Sein spöttisches Gesicht verklärte sich, die Augen sprühten von boshafter Freude, der gemeine Mund öffnete sich weit zu einem gellen Auflachen, das die schwarzen, abgebrochenen Zähne sehen ließ, und die Hände ineinanderschlagend, rief er: »Chassevent ist's! Alle viere gebunden, wie ein Kalb, das man zum Markte führt. Und was für ein Gesicht er auf dem Stroh macht! Gelt Alter, Stroh ist gut, um Mispeln reif zu machen; aber gar schlecht zu einem Lager für Christen!«

Wie das Heulen eines Wolfes, der sich in der Falle gefangen, stieg es aus dem Leiterwagen empor, und auf Ellbogen und Knien sich emporrichtend, erhob ein Mann ein abgemagertes Gesicht mit boshaftem Munde, schielendem Blicke und ergrauenden Haaren. Um den Kopf hatte er ein braun und rot gemustertes Taschentuch gebunden, den schlottrigen Körper bedeckten eine geflickte Bluse und mit Lederflecken besetzte Hosen, die Füße staken in Arbeiterschuhen.

»Du wolltest gerne herunter, alter Bursche!« schrie der junge Graf, hob seinen Gefangenen wie ein Bündel in die Höhe, machte etliche Schritte vorwärts und legte den Heulenden auf einen Tisch in der Schenke.

»Welch eine Faust!« rief Vater Tondeur bewundernd aus.

»Doch welch bedauernswerte Anwendung der Kraft,« ließ sich in salbungsvollem Tone Fleury vernehmen, der sich inzwischen die Sache überlegt hatte und dessen Heiterkeit nun plötzlich gedämpft schien, »Pourtois, nehmen Sie doch eine Schere und schneiden Sie die Stricke durch . . . Oh, Herr Robert,« setzte er mit einschmeichelnder Stimme hinzu, »ist es eines Mannes von Ihrer Stellung würdig, einen armen Teufel derart zu behandeln?«

Inzwischen hatte Pourtois mit seinen feisten Händen Chassevent losgebunden, der, sich kaum frei fühlend, auf die Füße sprang, sich die Schultern rieb und ein Glas Wein, das er auf dem Tische erspäht hatte, in gierigen Zügen leerte.

»Das hat ihm Durst gemacht,« lachte Tondeur. »Aber was in aller Welt hat er denn verbrochen, Herr Graf?«

»Er legte dem Wilde Schlingen, droben im Holzschlage . . . zum zehntenmal seit einem Monat . . . aber man konnte ihn nie erwischen . . . Ich vermutete, daß er es sei, und machte heute morgen eine Runde, nachdem der Wächter heimgekehrt war . . . Und so traf ich richtig meinen Patron gerade an der Arbeit . . . Die Schlingen sind in meiner Tasche . . .« Damit zog er ein Päckchen Messingdrähte hervor und schleuderte es dem blassen, stummen Wilderer ins Gesicht.

»Da, du Schuft, ist dein Handwerkszeug . . . Aber merke dir, was ich dir gesagt habe. Von Prozessieren mit dir ist keine Rede mehr. Läßt man dich vom Gerichte fassen, so gibt's acht Tage Gefängnis mit besserem Essen, als du es zu Hause bekommst und deine Tochter muß den Tabak bezahlen . . . Das fehlte noch! . . . Heute morgen habe ich dich gepackt, an einen Baumstamm gebunden und dich drei Stunden dort nachdenken lassen . . . Das ist für diesmal genug . . . Aber laß dir's eine Warnung sein!«

Ueber Chassevents Gesicht zuckten kleine Fältchen, wie vom Winde bewegte, leicht gekräuselte Wasserwellen. Er schlug die falschen Augen nicht auf, ließ aber ein so spöttisches Zischen laut werden, daß dem jungen Grafen die Zornesröte ins Gesicht stieg.

»Canaille!« . . . und schon holte die kräftige Hand zum Schlage aus, als Fleury ihn zurückhielt und mit einem Augenwinken auf Pascal wies, der in einer dunklen Ecke der Stube saß.

»Herr Robert . . . Ich beschwöre Sie . . . vor einem Fremden . . . Lassen Sie doch! . . . Was kümmert Sie sein Zorn . . . Chassevent ist im Unrecht . . . Sein Betragen ist höchst tadelnswert . . . Aber Ihr Verfahren, Herr Graf, ist ganz und gar ungesetzlich . . . Niemand hat das Recht, aus eigener Machtbefugnis sich an der persönlichen Freiheit des anderen zu vergreifen . . . Für derartige Fälle sind die Beamten der öffentlichen Gewalt da . . . Es ist nicht der Gerichtsschreiber, der so spricht . . . es ist der Privatmann . . . der, wie Sie wissen, Ihnen völlig ergeben ist . . . und die Heftigkeiten beklagt, welche Ihren Charakter falsch beurteilen lassen.«

»Der Schaden, den ich mir verursache, geht nur mich allein an,« unterbrach ihn der junge Mann in hochfahrendem Tone. »Die Polizei sieht eher nach allem andern, als nach solchen Schuften . . . Was Sie betrifft, Fleury, Sie sind ein braver Junge, aber in meine Angelegenheiten haben Sie sich nicht zu mischen.«

»Man soll niemandes aufrichtigen Beistand verschmähen,« murmelte der Gerichtsschreiber, indem er mit einer Miene betrübter Demut den Kopf hängen ließ.

»Wie, Herr Robert, Sie wollen wieder fort, ohne irgend etwas zu nehmen?« rief Pourtois voll Unterwürfigkeit . . . »Was dürfte ich Ihnen anbieten?«

»Danke . . . Nichts . . .« erwiderte der junge Mann. Dann fuhr er suchend in die Westentasche und warf ein Geldstück auf den Tisch.

»Dies für Ihren Stallburschen, der mein Pferd gehalten hat.«

Ohne ein weiteres Wort, ohne Gruß schritt er zur Thür hinaus, bestieg den Wagen und entfernte sich in raschem Trabe.

Kaum hatte Chassevent das Gefährte in einem Staubwirbel verschwinden sehen, als er die Sprache wiederfand. Alle Schmähungen, die ihm seit heute morgen auf den Lippen brannten, stürzten wie ein gewaltiger Strom hervor. Wütend schlug er auf die Marmorplatte, daß die Dominosteine in die Höhe schnellten.

»O, du Hund!« heulte er zitternd vor Zorn, »o, du elender Feigling! Das sollst du mir bezahlen! Wegen ein paar elender Hasen . . . Mich anzubinden . . . Ja, wie er es selbst gesagt hat . . . An einen Baumstamm! Und nur seiner List ist es gelungen, denn das wißt Ihr, fürchten thue ich ihn nicht!«

»Jetzt schneide nicht auf,« warf Tondeur ein; »mit einer einzigen Maulschelle streckt er dich zu Boden . . .«

»Ho!, ho! Wer's glaubt! Nächstes Mal nehme ich meine Flinte mit und so gewiß als wir hier stehen, ich mach' ihm den Garaus!«

»Ruhig, ruhig, Chassevent! Ihr seid kein solcher Isegrim, als Ihr es glauben machen wollt,« unterbrach ihn Fleury. »Was Ihr da sagt, sind Dummheiten . . .«

»Nie werde ich ihm verzeihen, was er mir angethan hat,« fing der Wilderer mit finsterer Miene wieder an. »Wenn man es erfährt, wird sich die ganze Umgegend über mich lustig machen . . . O! diese Leute auf Clairefont! Wann werden wir endlich einmal mit ihnen abgerechnet haben?«

Er stieß einen fürchterlichen Fluch aus, und mit einem drohenden Blicke auf Fleury: »Ja, Herr Carvayan soll den Vater übernehmen . . . Den Sohn nehme ich auf mich . . .«

Als Pascal von der widerwärtigen Gemeinschaft hörte, von der empörenden Zusammenstellung seines Vaters und des Vagabunden, fuhr er heftig empor und rief mit zornentflammtem Antlitz: »Ich verbiete Euch, elender Wicht, den Namen des Herrn Carvayan in dieser Weise zu nennen . . .«

»Und weshalb?« fragte Chassevent in spöttischem und zugleich drohendem Tone.

»Weil er mein Vater ist.«

Diese Worte brachten eine rasche Veränderung in der Haltung der drei Männer hervor. Pourtois rückte unterthänig einen Stuhl herbei, Fleury säuberte mit der Hand seinen schmierigen Ueberrock und brachte seine Krawatte in Ordnung. Chassevent legte die Hand an das rote Taschentuch, welches ihm als Kopfbedeckung diente, und selbst Frau Pourtois geruhte von der Höhe des Schenktisches aus zwischen den beiden Trinkgelderbüchsen aus weißem Metall freundlich zu lächeln.

»Ah, Sie sind der Sohn des Herrn Carvayan?« begann der Wilderer mit großer Zungengeläufigkeit, ». . . das ist eine andere Sache . . . Herr Carvayan, das ist unser Mann, und es fällt uns nicht ein, ihm einen Streich zu spielen. Ich zum wenigsten . . . Nicht ein einziges Mal habe ich noch in seinen Waldungen einen Hasen gefangen . . . Und doch, potztausend, wie viele gibt's dort! . . . Ja, Herr Carvayan! . . . Man kann wirklich sagen, daß ich ihm ergeben bin . . . Wenn er meine Tochter als Magd haben wollte, gleich würde ich sie ihm geben, obwohl sie ein stolzes Ding ist! Sie hat aber auch ein Recht dazu; sie ist sauber genug! . . . Ich bin es, der bei den städtischen Wahlen die Wahlzettel für Herrn Carvayan austeilte . . . und diese Herren hier wissen es, daß ich an dem Tage, wo er zum Maire erwählt wurde, mir einen Zopf angetrunken habe . . . ja, einen ganz gehörigen . . . so wie es sich am Ehrentage eines Freundes gebührt . . . Ah! Ich habe Herrn Carvayan ebenso gern, als ich die Leute da drüben verabscheue . . . Aber auch er mag sie nicht . . . und er ist's, der sie uns vom Halse schaffen wird . . .« Dabei streckte er die geballte Faust nach dem Hügel aus, wo zwischen Baumgruppen Schloß Clairefont emporragte, und bei der Erinnerung an sein jüngstes Abenteuer sich selber zu neuem Zorn aufreizend, schrie er: »Wart, du Räuber! Mich anzubinden . . . wie einen krepierten Raben, den man auf einer Stange als Vogelscheuche aussetzt! Aber du wirst mir's bezahlen oder das, was ich jetzt trinke, soll mir zu Gift werden!«

Damit stürzte er auf einen Zug ein Glas Bier hinab, welches Pourtois für Pascal eingeschenkt hatte.

»Hört, Chassevent,« rief da der Wirt verdrießlich, »werdet Ihr uns einmal mit Euren Geschichten in Ruh' lassen . . . Wir wollen lieber dem Herrn zuhören, über dessen Heimkehr wir uns aufrichtig freuen . . . Ich habe Sie als ganz kleines Bürschchen gekannt, Herr Pascal, und wenn Sie mit Ihrer lieben, guten Frau Mutter spazieren gingen, habe ich Sie oft genug in meinem Hause bewirtet . . . Oh! Es hat sich seit jener Zeit gar sehr verändert . . . Aber auch Sie sind ein anderer . . . Heute sind Sie ein schöner Mann, jawohl . . . dazumal aber waren Sie etwas mager, es sei gesagt, ohne Sie zu beleidigen.«

»Sie beleidigen mich nicht,« erwiderte Pascal mit niedergeschlagenen Augen und wie in tiefes Nachdenken versunken. »Alles hat sich verändert, in der That . . . Menschen und Dinge.«

»Und wird sich binnen kurzem noch viel mehr umgestalten,« fiel Fleury mit schneidender Stimme ein . . . »Wir haben Krieg hier, Herr Carvayan, zwischen Ihrem Vater und dem Marquis von Clairefont . . . Dreißig Jahre sind es her, seitdem die Feindseligkeiten begonnen haben . . . und nun stehen wir vor der Entscheidung. Die Leute da droben sind verloren, ganz und gar . . . Sie haben keine Aussicht, sich zu retten, dafür ist's Ihr Vater, der sie in seiner Hand hält . . . Sie sind gerade rechtzeitig eingetroffen, um dem Siege beizuwohnen . . . Seien Sie willkommen, Herr Pascal . . .«

Der Gerichtsschreiber hielt dem jungen Manne seine klauenförmige Hand hin, was dieser jedoch nicht zu bemerken schien, denn er berührte sie nicht.

Sinnend stand er da. An seinem inneren Auge zog das heute morgen Erlebte nochmals vorüber. Er sah ein schönes, junges Mädchen zu Pferde im kühlen Schatten der Bäume, von einem großen Windhunde begleitet. Ein Fremder tauchte plötzlich vor ihr auf und fragte sie um den Weg. Ernst, mit stolzer Liebenswürdigkeit, bot sie sich ihm als Führerin an. Beim Abschiede fragte er sie mit von Achtung durchdrungener Stimme um ihren Namen und vernahm, daß es Fräulein von Clairefont war, die Tochter des Mannes, den man den Feind seines Vaters nannte. Dann schien es Pascal, als erblicke er das junge Mädchen in schwarzer Kleidung, die Stirn von schweren Sorgen gebeugt, das schöne Antlitz von Kummer gefurcht. Schweigend wandelte sie dahin, mit den geröteten Augen zu Boden starrend, allein, verlassen. Die grüne, blühende Flur hatte ihre Sommerpracht verloren. Die entlaubten, kahlen Bäume zitterten im kalten Nordwinde, und Unheil schien über die ganze Landschaft gebreitet. Warum stand sie allein? Wo war ihr Vater? Was war aus dem Bruder geworden, dem heftigen jungen Manne, den er eben gesehen hatte? Warum war es plötzlich so einsam und düster um das herrliche Wesen, und weshalb weinte sie? War der alte Carvayan der Urheber dieser Trauer und dieser Thränen, so wie es die Elenden, die ihn umgaben, behaupteten?

Pascals Herz zog sich in schmerzlichem Erbeben zusammen. Mit Schrecken erkannte er, welch tiefe Teilnahme ihm das junge Mädchen einflößte, das er gestern noch nicht gekannt. Er empfand ein heftiges Weh bei dem Gedanken, daß sie leiden solle, und leiden durch einen Carvayan. Sollte auch er, er, der den verhaßten Namen trug, von ihrem Fluche getroffen werden? Wo er, von unwiderstehlicher Sympathie getrieben, zu ihren Füßen niederknien, ihr seine Hingebung beteuern und übermenschliche Thaten hätte vollbringen mögen, um sich hervorzuthun und ihr zu gefallen, fand er sich ihrem Widerwillen, ihrer Verachtung unausweichlich preisgegeben.

Der alte Marquis von Clairefont, der athletische heftige Robert verschwanden aus seinem Gedächtnisse, und nur sie blieb darin haften; sie allein war bedroht, und jubelnd verkündete man hier ihr Verderben; sie war das Opfer, das den Verbündeten überliefert werden sollte, welche schon jetzt den nahe bevorstehenden Sieg feierten und ihn, Pascal, der sie am liebsten vernichtet hätte, beglückwünschten, daß er gerade recht zur Beuteverteilung heimgekehrt sei. Er erhob den Kopf mit der Empfindung, daß er beobachtet werde. In der That sah er die Augen der ihn Umgebenden erstaunt auf sich gerichtet.

Seit einigen Minuten, nachdem Fleury jene siegesgewissen Worte gesprochen, war er sinnend dagestanden, stumm, das Haupt auf die Brust gesunken. Er fuhr mit der Hand über die Stirn, und begierig, mehr von dem zu erfahren, was gegen die Familie Clairefont angezettelt war, sagte er mit erzwungenem Lächeln: »Ich danke euch für euren Willkommengruß. Aber lasset euch sagen, daß ich aus einem Lande komme, wo die Dinge, die euch hier in Bewegung setzen, recht erbärmlich scheinen würden. Ich durchwanderte die wildesten Provinzen Amerikas; ich sah Prairien von hunderttausend Hektaren, wo unzählige Herden weideten, von Geschwadern berittener Schäfer gehütet. Als ich nach einem Jahre in Länder zurückkehrte, die ich wüst verlassen hatte, fand ich große, reiche Dörfer wie durch Zaubergewalt aus dem Boden gewachsen; ich durchritt Berge, in denen Gold der Kieselstein des Weges ist, zog an Petroleumseen entlang, ergiebig genug, um Europa zehn Jahre lang zu beleuchten, ohne zu versiegen. Mein Fuß betrat Ackergefilde, auf denen die fruchttragende Erde fünf Meter Tiefe hat und wo das Korn so hoch ist, daß sich ein Mann darin stehend verbergen kann. Ich lebte den erstaunlichen, ununterbrochenen Fortschritt mit, der eine Welt umgestaltet. Und wie ich nun nach zehnjähriger Abwesenheit heimkehre, finde ich euch mit derselben kleinlichen Intrigue beschäftigt, von demselben alten Hasse entbrannt, von denselben alten Wünschen gequält. Nun, man sieht, daß unser altes Frankreich auf demselben Flecke stehen bleibt und daß ihr viel Zeit zu verlieren habt. Ich werde mir eure Kurzweil mit ansehen, weil ihr mich dazu einladet; aber ich sage euch im voraus, ich bin ein wenig blasiert und kann euch nicht versprechen, daß mir die Sache große Teilnahme abgewinnen wird.«

Er brach in lustiges Lachen aus, welches aber in Fleurys Ohren gezwungen klang. Der Schreiber empfand ein wenig Unruhe. Mit durchdringenden Blicken suchte er die Gedanken dieses Sohnes zu erforschen, der eine Angelegenheit, welche seinem Vater am meisten am Herzen lag, in so wegwerfender Art behandelte. Er hielt es für nötig, ihn den Grund ihrer Operationen sehen zu lassen, damit er weniger leichtfertig über dieselben denke.

»Es ist hier nicht die Rede von Petroleumseen, noch von Goldminen oder von Ackergründen ohne Dünger,« sagte er mit herber Ironie. »Wir leben nicht im Lande der Wunder, sondern in Frankreich, wo bedeutender Gewinn bei leichter Mühe höchst selten ist und wo eine schöne Spekulation es gar wohl verdient, daß man sich mit ihr beschäftigt und sie lange in Erwägung zieht. Es handelt sich ganz einfach um den Steinbruch, um diesen hundert Hektare großen, dürren, von Gestrüpp und Heidekraut bedeckten Hügel, welcher in seinem Inneren Millionen enthält . . . Unter der Ausnutzung des Marquis von Clairefont, dieses Träumers, wurde er die Ursache seines Ruins, doch in den Händen Ihres Vaters und seiner Genossen wird er eine Quelle des allgemeinen Wohlstandes werden. Sehen Sie, die ganze Umgegend ist daran beteiligt und wünscht, daß die Besitzung der Clairefonts einen anderen Herrn erhalte, und auch Sie wären nicht so gar unglücklich, Herr Pascal, das Schloß dort droben zu bewohnen. So verfallen es auch ist, hat es doch besseres Ansehen, als das kleine Haus in der Rue du Marché.«

Mechanisch wendete der junge Mann sich der Thür zu, öffnete sie, und vor seinen Augen lag der Park von Clairefont an einer Seite des Hügels hinab sich erstreckend bis zu der langen Terrasse an der Façade des Schlosses. Im Dickicht war es ruhig und still, nur aus der Ferne ließ sich der eintönige Ruf des Kuckucks vernehmen. Jenseits des schattigen Hochwaldes, hinter jenen weißen Mauern weilte das junge Mädchen, von dessen Verteidigung er schon zu träumen begann. Ein sehr großer Raum lag zwischen ihm und ihr: die ganze Breite dieses Thales mit dem unfruchtbaren Abhange, der aber in seinem Schoße die von Fleury verkündeten Schätze bergen sollte. Doch weit größer, ja unüberschreitbar schien die Entfernung, welche jener feine Peitschenhieb gezeichnet hatte, der sausend die Luft durchfuhr, als er seinen Namen genannt, jenen gefürchteten Namen Carvayan, der ihr wie die Vorhersagung ihres Verderbens an das Ohr geklungen haben mochte.

»Ein schöner Park,« ließ sich hinter seinem Rücken die heisere Stimme Chassevents hören . . . »Schön da zu wohnen . . . Meine Tochter arbeitet oben im Tagelohn . . . Sie hat mir davon erzählt . . .«

»Ich rechne zweitausend Fuß Holz, wenn man nur die hochstämmigen Bäume fällen und noch einige schattige Plätzchen lassen will,« fügte Tondeur mit lauter Lustigkeit hinzu.

»Wir werden es schon zwischen die Finger bekommen, nicht wahr, Vater Schlaumeier?« meinte der wohlbeleibte Pourtois. »Man braucht jetzt Schwellen für die neue Eisenbahn . . . Das ist just die passende Gelegenheit . . .«

»Und hinter dem Hause liegen zwanzig Morgen Wiesengrund, welche wir auch zu bewässern verstehen werden; die dürften gleichfalls eine hübsche Weide abgeben,« entgegnete der Holzhändler. »Pah! Hoffen wir das Beste! . . . Jetzt ist's aber genug mit dem Herumbummeln. Auf Wiedersehen, Bursche! . . . Herr Carvayan, es war mir ein Vergnügen . . .«

Darauf schlug er mit festem Griff in die dargereichten Hände seiner Freunde, zog die Mütze vor Herrn Carvayan und wendete sich mit schwerfälligen Schritten dem Walde zu.

Der junge Mann blickte ihm nach indem er dachte, daß der alte Tondeur bei seinem Umherstreifen im Walde vielleicht der schönen Amazone begegnen könnte. Dann nahmen seine Gedanken eine andere Richtung. Sorgenvoll sagte er sich, daß die Schloßbewohner von Clairefont von geheimen, unversöhnlichen Feinden umringt lebten. Hatte er nicht wenige Augenblicke zuvor Fleury mit dem Grafen in vertrauter Weise sprechen hören? Hatte Pourtois nicht mit unterwürfigem Lächeln vor dem jungen Schloßherrn dagestanden? Verkehrte nicht auch Tondeur, der mit dem alten Marquis in beständiger Geschäftsverbindung stand, das ganze Jahr hindurch scheinbar freundschaftlich auf dem Gute, während er im stillen die alten Buchen und die großen Eichen zählte und im voraus seinen Anteil an der allgemeinen Beute berechnete? Alle waren sie feige Verräter, bis auf den abscheulichen Chassevent herab, dessen Tochter im Tagelohn auf dem Schlosse arbeitete und der schwarzen Bande, deren Haupt der alte Carvayan war, als Spionin diente.

Aus den Gesprächen der Helfershelfer seines Vaters hatte er allmählich die Schliche kennen gelernt, mit welchen dem Schloßherrn die Falle gestellt wurde. Er wünschte alles zu erfahren und Fleury sollte ihm dazu dienen. Als er somit gewahr wurde, wie dieser sich von der ernsten, stillen Frau Pourtois verabschiedete, nahm er einen silbernen Cigarrenbehälter aus der Tasche, öffnete ihn und bot dem Gerichtsschreiber Cigarren an.

»Man sieht, daß Sie aus Amerika kommen,« sagte dieser, indem er die Havanna mit Bewunderung ansah. Sodann wählte er eine, biß die Spitze mit den Zähnen ab und begann dichte Rauchwolken in die Luft zu blasen. »Wenn Sie nach Neuville zurückkehren, so können wir zusammen gehen,« schlug er dann vor.

»Mit Vergnügen,« erwiderte Pascal.

Sie traten aus der Schenke, von dem dicken Pourtois bis zur Schwelle begleitet. Auf der Straße warf er noch einen Blick zu der großen Terrasse hinauf, auf welcher er in der Ferne eine elegante Damengestalt zu unterscheiden glaubte, dann schob er seinen Arm unter den Fleurys und sagte mit der Ungezwungenheit eines Mannes, der beabsichtigt, Vertrauen einzuflößen: »Nun, da wir allein sind, erzählen Sie mir etwas mehr von diesen Clairefonts.«

»O, mein lieber Herr, die Leute sinken von Tag zu Tage mehr in den Abgrund . . . jetzt guckt nur noch der Kopf darüber . . . bald wird alles darin sein . . . Der Marquis ist ein alter Narr, der sich seit fünfundzwanzig Jahren mehr Mühe gibt, sich zu Grunde zu richten, als andere, um sich Reichtümer zu erwerben . . . Solange er noch dabei stehen blieb, neue Pflüge mit zwei Schneiden zu erfinden, mit denen man nicht ackern konnte, oder Dreschmaschinen, welche das Korn zu Brei machten, ging es noch an . . . Aber eines schönen Tages setzte er es sich in den Kopf, hydraulischen Kalk zu produzieren. Und nun wurden denn auf allen Ecken und Enden des Gutes Bohrversuche vorgenommen, dann legte er eine Hütte an, und schließlich mußte er seine Güter hypothekarisch belasten, um die Kosten der Unternehmung zu bestreiten . . . Kurz, es wäre für ihn besser gewesen, sich gleich in den Schacht des Steinbruches zu stürzen, welcher hundertundzwanzig Meter Tiefe hat . . . Der gute Mann war so wenig imstande, ein derartiges Unternehmen zu leiten, wie ich ein Schiff zu steuern vermöchte . . . Um die Sache in Gang zu bringen, hätte ein Schlaukopf sie in die Hand nehmen müssen, der war da, doch gerade dieser Schlaukopf hatte ein Interesse daran, daß sie schief gehen solle . . .«

Hier zwinkerte Fleury mit seinen schielenden Aeuglein und stieß ein leises Hohngelächter aus; dann fuhr er in seinen Erörterungen fort: »Herr Pascal, Ihr Vater ist ein Mann, dem man nicht widerstehen kann, und es wäre besser, mit dem Teufel auf schlechtem Fuße zu stehen, als mit ihm . . . Heute weiß der Marquis, was er von ihm zu halten hat, und hat allen Grund, das Unrecht bitter zu bereuen, das er einst an Jean Carvayan begangen . . .«

Pascal richtete einen fragenden Blick auf seinen Begleiter.

»O, Sie waren dazumal noch gar nicht auf der Welt . . . Das gehört zur alten Geschichte . . . Aber Ihr Vater versteht sich auf die Berechnung von Zinseszinsen . . . Und er macht sich für alles bezahlt . . .«

»Aber wenn das Geschäft schlecht ist, weshalb alle die Anstalten, um sich seiner zu bemächtigen?«

»Weil es vorzüglich werden könnte, wenn eine verständige Leitung es in die Hand bekäme. Der Kalk aus dem Steinbruche kann mit den besten Erzeugnissen Belgiens rivalisieren und übertrifft den von Senonches . . . Der ganze Hügel von Clairefont bis Lisors enthält mächtige Lager von staunenswertem Reichtum . . . Millionen liegen da droben eingebettet, und wir werden es verstehen, sie für uns herauszuholen . . . Wir werden gegen eine mäßige Vergütung die Bewilligung erhalten, die der Gemeinde gehörigen Grundstücke gleichfalls ausnutzen zu dürfen, und noch in hundert Jahren wird es hier Mergel in Ueberfluß geben . . . Ein großes Vermögen wird allen denen zufallen, die sich an dem Konsortium beteiligen, welches Ihr Vater gebildet hat . . . Ja, ein großes, rasch und sicher erworbenes Vermögen!«

Fleurys Antlitz strahlte vor Vergnügen. Er streckte beide Hände aus, wie um nach den Reichtümern zu greifen, die er in der Zukunft sah.

»Es ist der Ruin des Marquis,« sagte Pascal.

»O, vollständig,« entgegnete kalt der Schreiber. »Schon hat er den Betrieb einstellen müssen. Alle seine Güter sind verpfändet. Die gerichtliche Versteigerung zu Gunsten Ihres Vaters steht bevor, welcher durch die Vermittlung verschiedener Personen ihm sehr bedeutende Summen vorgestreckt hat. Ausgebeutelt ist der Marquis, ausgerungen wie ein nasses Linnen! . . . Ja, fest sitzt er in der Klemme, der alte, hochnäsige Aristokrat!«

»Hat Herr von Clairefont niemand um sich, der ihm raten und mit seiner Thätigkeit stützend zur Seite stehen könnte?«

»Sein Sohn vielleicht, der schöne heftige Junker, den Sie soeben die Menschen wie Hunde behandeln sahen, wenn sie irgend ein Vergehen sich zu schulden kommen ließen? Woher sollte der die Ueberlegung nehmen, um seines Vaters Fehler zu verbessern, wenn er nicht Verstand genug hat, sich selbst zu leiten? Würde es sich um einen Schuß auf einen Eber handeln, oder um die Bändigung eines wilden Pferdes, hieße es, die Nacht bei einem Gelage in Saus und Braus zu verbringen, oder ein junges Mädchen zu necken, o, dazu würden Sie ihn zu jeder Zeit bereit finden. Aber verlangen Sie nicht, daß er sich mit irgend einer Kopfarbeit beschäftige; davon versteht er rein nichts. Ein Hirnschlag würde ihn treffen, wenn er nicht mehr im Freien leben könnte. Sehen Sie, so ist der einzige Mann, den es im Hause gibt, denn den Baron Croix-Mesnil kann ich nicht dazu rechnen, er kommt bloß zuweilen auf Besuch, da er sich um Fräulein Antoinette bewirbt.«

Bei diesen Worten erbebte Pascal, als hätte er plötzlich einen Abgrund vor seinen Füßen erblickt. Sein Antlitz wurde bleich und mit veränderter Stimme stammelte er: »Der Baron ihr Verlobter?«

»Jawohl, ein guter, junger Mann, Dragoner-Rittmeister aus der Garnison von Evreux, welcher seine Bewerbung schon seit zwei Jahren eifrig betreibt, aber ganz gewiß das Hasenpanier ergreifen wird, wenn er den Schwiegervater in der Patsche sieht . . .«

Pascal atmete erleichtert auf. Eine schmähliche Hoffnung schlich sich in sein Herz mit dem Gedanken, daß Antoinette einst verlassen sein könnte. Plötzlich sah er seine Sache mit der seines Vaters gemeinsam werden. Nur von dem Ruine des Marquis konnte er etwas für sich erhoffen. Antoinette ohne Vermögen trat ihm näher . . . Pascal erschrak, als er den Wunsch, das Verhängnis möge sich erfüllen, in sich rege werden fühlte.

»Habe ich eine solch schmutzige Seele?« fragte er sich. »Bin ich ebenso nichtswürdig wie Fleury, der mir ungerührt von dem Unglücke dieser Familie erzählt und es im voraus für seine Pläne berechnet? Wie? Sollte auch ich diesem entsetzlichen Komplott beitreten? Sollte ich mir das herrliche junge Mädchen durch Niedertracht zu erringen suchen?« Unwillig schüttelte er das Haupt, trat fester mit dem Fuße auf, und das Herz von kühner Hoffnung geschwellt, antwortete er auf die Frage, welche sein Gewissen eben an ihn gestellt: »Nein . . . Durch Ehrlichkeit und Aufopferung will ich es versuchen . . .«



 << zurück weiter >>