Georges Ohnet
Der Steinbruch
Georges Ohnet

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Es war acht Uhr abends, und in dem Tanzsaale, welcher von Pourtois auf der Wiese neben seinem Gasthaus errichtet worden, drängte sich eine erregte, lärmende Menge. Für eine Dielung des Rasens in einem Gevierte von fünfzig Metern hatte Tondeur Sorge getragen; Holzpfähle, die an ihrer Spitze mit Fahnen und Schildern geschmückt waren, welche die Initialen R. F. trugen, hielten eine riesige Teerdecke fest. Fünf Kronleuchter aus Weißblech, mit Lampen besteckt, verbreiteten in dem Zelte ein grelles Licht.

Bänke, mit rotem Wollenstoff bezogen, umgaben den weiten Raum. Auf einer schmalen Estrade an dem einen Ende hielten sich die Musiker bereit, auf einen Wink Pourtois' zum Tanze aufzuspielen. Dem Eingange gegenüber befand sich eine Tribüne, von einem Geländer umkränzt, welche für die Spitzen der Behörden bestimmt war. Drei Samtfauteuils und mehrere Stühle standen im Kreise um eine Gipsbüste der Republik, die sich in einer aus grünen Reisern gebildeten Nische erhob. An der linken Seite verbanden offene Eingänge den Tanzsaal mit dem Gasthausgarten, der im Lichte venetianischer Laternen strahlte.

Das Haus, die Lauben, alles war voll Menschen, ein Kreis von Trinkern umgab jeden der Tische, Cigarren- und Pfeifendampf verdunkelte die Beleuchtung, und der am frühen Morgen begonnene Tumult wurde mit etwas stärkerer Heiserkeit der Schreihälse und etwas größerer Roheit der Trunkenbolde fortgesetzt.

Zuweilen brachen Streitigkeiten aus, mit einem Geschrei, als ob die Männer einander ermorden wollten; dann erschien die kleine Frau Pourtois in ihrem Festtagskleide, voll Ernst und Strenge. Mit wenig Worten brachte sie die Störrischen zur Vernunft: »Wenn Sie Lärm schlagen wollen, gehen Sie hinaus . . . Wir haben zu wenig Tische . . . Etwas mehr Anstand oder hinaus! Hier ist nur für ordentliche Leute Platz . . .«

Und dieser entschiedenen Sprache gehorchten die Widerspenstigsten, um so mehr, als hinter Frau Pourtois die Reckengestalt ihres Cousins erschien, des Dachdeckers Anastase aus Neuville, der bei festlichen Anlässen seine Verwandten besuchte und einen Betrunkenen ebenso leicht vom Stuhle pflückte, als einen Apfel vom Baume.

Pourtois, in einen schwarzen Rock gezwängt, hatte sein Hauptquartier im Tanzsaale aufgeschlagen, und glänzend vor Aufregung und Hitze schritt er von dem Eingange zu den Bänken, wo einzelne Gruppen schon Platz genommen hatten, den Damen Sitze anbietend, den jungen Mädchen zulächelnd und die Väter sanft nach den Schenktischen hinausdrängend. Seine schrille Stimme übertönte den Tumult, und voll Feuer und Flamme trocknete sich der dicke Mann die Stirn mit der Serviette ab, die er aus Gewohnheit in der Hand behalten hatte.

Zu Füßen der offiziellen Tribüne placierte er die angesehenen Persönlichkeiten des Bezirkes, die reichen Pächter aus dem Flachlande und die wohlhabendsten Müller des Thales. Ein gutmütiges, breites, befriedigtes Lachen begrüßte jeden Eintretenden, die Männer schüttelten sich die Hände, daß sie einander fast die Arme ausrenkten, die Frauen zierten sich voll vornehmthuender Gespreiztheit, die jungen Mädchen fielen einander um den Hals, vor Neid erblassend, wenn ihr Anzug von der größeren Eleganz der Freundin verdunkelt wurde. Sie vereinigten sich zu kleinen Gruppen und klatschten hier um die Wette auf Rechnung der neuen Ankömmlinge; haarsträubende Bosheiten wurden hier von der lieben Unschuld verbreitet.

»Ach, Teuerste, wie glücklich bin ich, Sie zu sehen . . . Betrachten Sie doch Fräulein Delarue . . . Hat die sich heute abend geschmacklos herausgeputzt! . . . Und ihre Mutter, die scheint gar eine alte Gardine aufgesteckt zu haben . . .«

»Sprechen Sie mir nicht von der . . . Man sagt, der junge Levasseur, der sie heiraten sollte, habe sein Wort zurückgenommen . . . Uebrigens sind die Delarues augenblicklich sehr herabgekommen, sie mußten die Hälfte ihrer Viehherden verkaufen.«

»Ah! Da kommt Veronika Anclair! . . . Sehen sie doch ihre Füße an . . . Man zieht doch keine weißen Schuhe an, wenn man solche Füße hat!«

»Was Sie da für ein schönes Gehänge um den Hals haben! Ist das antik?«

»Jawohl, mein Papa hat es in Rouen bei einem Raritätenhändler entdeckt.«

»Sie wissen doch, daß Pourpied, der Notar von Saint-Frambert, Bankerott machen wird . . . Welch ein großes Unglück für die arme Clementine!« . . .

»Ach was, sie hat nur zu sehr die Hochmütige gespielt, seit sie den Notar geheiratet . . . Sie wollte uns ja gar nicht mehr kennen, wenn sie Karosse fuhr!«

»Werden Graf und Gräfin d'Edennemare dies Jahr auf dem Balle erscheinen?«

»O nein, sie besuchen noch keine Gesellschaften . . . infolge des Krankseins der Großmutter . . . Aber der junge Vicomte Paul versprach mir gestern, zu kommen . . . mir zuliebe . . . Ach, welch ein ausgezeichneter Tänzer, meine Beste!« . . .

»Was er bis jetzt am flottesten hat tanzen lassen, das sind die Thaler seines Vaters!« . . .

»Die Leglorieux sind eben angelangt . . . Dort unten links sitzen sie . . . Die lange Félicie wird einen steifen Hals kriegen, so dreht sie ihren Pferdekopf . . .«

»Sie wissen doch, daß es heißt, sie werde den jungen Carvayan heiraten . . .«

»Wie können Sie so etwas glauben! . . . Dazu ist sie lange nicht reich genug . . . Der Maire von Neuville besitzt Hunderttausende . . . Er wird ein Fräulein aus Paris haben wollen . . . Ah, da kommt er just mit seinem Sohne!« . . .

Pourtois stürzte dem Maire entgegen, indem er alle Leute auf dem Wege durcheinanderstieß, empfing den Protektor mit höfischer Dienstbeflissenheit und wollte ihn durchaus auf die Tribüne der Behörden führen. Aber der Banquier, der heute noch finsterer als gewöhnlich aussah, schob ihn ungeduldig beiseite, und Pascal, der hinter ihm herschritt, am Arme nehmend, schickte er sich an, sich in der Menge der Anwesenden zu verlieren.

»Später, Pourtois . . . Es ist gut, lieber Freund, kümmern Sie sich nicht um mich . . . Ich will mit meinem Sohne ein wenig die Runde im Saale machen . . . Wir haben noch Zeit genug zur offiziellen Repräsentation . . .«

Damit ließ er den Schmerbauch völlig verblüfft stehen. Carvayan hatte sich vorgenommen, das hohe Ansehen, in welchem er jetzt stand, Pascal vor Augen zu führen und ihn all die Bücklinge und Reverenzen zählen zu lassen, zu welchen sich selbst die angesehensten Persönlichkeiten ihm gegenüber herbeiließen. Kurz, er wollte sich ihm in der ganzen Größe seiner Allgewalt zeigen.

»Ich denke, mein lieber Sohn, daß du mit allen, welche du seit zehn Jahren aus dem Gesichte verlorst, die Bekanntschaft erneuern mußt. Es ist unschicklich, daß du dich wie ein Wilder stets abseits hältst. Ich bitte dich, zeige doch den alten Freunden, welche sich deiner Mutter erinnern und dir von ihr sprechen werden, ein heiteres Gesicht.«

Pascals Herz zog sich bei diesen Worten schmerzlich zusammen, und das bleiche Antlitz seiner Mutter schwebte an seinem Geiste vorüber. Sie, die arme Frau, die ihr lebenlang auf die dunkle Hinterstube des düsteren Hauses verwiesen, wo sie in Trübsal und Trauer geschmachtet hatte und wie eine Blume ohne Licht und Luft dahingesiecht war, sie hätte Freunde haben sollen, die ihr Andenken bewahrt hätten? Bitterer Hohn oder vielmehr unglaubliche Vermessenheit!

Hatte Carvayan so völlig die Vergangenheit vergessen, daß er ohne Furcht, gefährliche Gedanken in seinem Sohne zu erwecken, ihm von dieser Märtyrerin sprechen zu dürfen sich erkühnte? Freunde? Unter diesen Männern und diesen Frauen, die im Sonntagsputze voll plumper, lächerlicher Anmaßung sich um ihn her bewegten, die alles Feingefühl seines gebildeten Geschmackes verletzten? Welches Band konnte zwischen ihm und diesen Leuten bestehen?

Im Vorbeigehen stellte sein Vater ihm diese Persönlichkeiten vor, indem er mit schmeichlerischer Wohlgefälligkeit die Eigenschaften und Titel jedes einzelnen betonte und deren Vermögen und Einfluß hervorhob. Alle Hände streckten sich dem Maire entgegen, und wenn Pascal in den Augen etlicher den geheimen Zwang erriet, so offenbarte gerade der sichtliche Eifer ihres Entgegenkommens nur deutlicher die Botmäßigkeit, in welcher alle diese Leute zu dem Tyrannen von Neuville standen.

Am stärksten kehrte Carvayan seine Kälte und Schroffheit gegen die Reichen und Vornehmen hervor. Es machte ihm eine eigene raffinierte Freude, im Angesichte seines Sohnes seine schwere Hand auf den Häuptern der bedeutendsten Grundbesitzerfamilien der Umgegend ruhen zu lassen. Und der junge Mann konnte sich nicht erwehren, den stolzen Emporkömmling zu bewundern, der, aus so niedrigem Stande hervorgegangen, nun alle jene beherrschte, welche ihn ehemals verachtet hatten. Man umringte ihn, schmeichelte ihm, hätschelte ihn.

»Teurer Herr Carvayan! . . . Was für ein liebenswürdiger junger Mann ist doch Ihr Sohn! . . . Werden wir nicht das Glück haben, Sie beide an einem der nächsten Tage bei uns zu sehen? . . . Sie wissen, daß Sie bei uns wie zu Hause sind . . .«

Bei keiner Gruppe hielt sich der Banquier lange auf, sondern setzte seinen Triumphmarsch fort, mit der Haltung eines Souveräns, der die Reihen der Würdenträger entlang schreitet und sich der allgemeinen Bewunderung darbietet. Nur als er bei den Familien Dumontier und Leglorieux vorbeikam, machte er einen kurzen Halt und ließ sich sogar zu einigen Liebenswürdigkeiten herbei. Sein Gefolge hatte ebenfalls stillgehalten, und in dieser Ecke des Saales stieß und drängte man sich, während man an allen Orten nach Belieben cirkulieren konnte. Carvayan übersah seine Höflinge mit hochfahrendem Blicke und wendete sich zu seinem Sohne: »Es scheint, daß wir in ein kleines Gedränge geraten sind.« Und zum erstenmal an diesem Abende legte sich seine Lippe in eine Falte, die für ein Lächeln gelten konnte.

»Ist es nicht überall so, wo Sie sich befinden, mein teurer Herr Carvayan?« rief voll niedriger Lobhudelei Vater Leglorieux.

»Bei Gott! Wenn alle Ihre künftigen Wähler sich hier befänden, so gäbe es noch eine viel größere Ansammlung,« setzte Schwager Dumontier hinzu.

»Dazu brauchten wir dann den Platz vor dem Rathause . . . Und der würde nicht reichen! . . .« warf Fleury dazwischen, der eben hinzutrat. »Meine Damen und Herren, Ihr unterthäniger Diener . . . Pourtois . . . einen Stuhl für den Herrn Maire . . . Sie stehen da wie ein Verzückter, starren ihn an und denken gar nicht daran, ihm einen Sitz anzubieten . . .«

Der Wirt eilte mit ungewohnter Geschwindigkeit fort und erschien alsbald mit einem Stuhle.

Fleury, frisch rasiert, die borstigen Haare von Pomade glänzend wie Drahtfäden, mit bereits zerknülltem Hemd und weißer, gleich einer Schnur zusammengerollter Halsbinde, bot in seinen Festtagskleidern einen noch abstoßenderen Anblick als gewöhnlich. Er verzog seinen Mund zu jenem widerlichen Lachen, das seine schwarzen Zähne sehen ließ, und gab sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit Pascals zu erregen, der stumm und in sich gekehrt dastand.

»Ja, ja, wir werden an die herannahenden Wahlen denken müssen,« fing Dumontier wieder an. »Heuer finden die Neuwahlen in den Provinzialrat statt, und ich denke, wir werden uns bald einigen müssen, damit man uns nicht wieder so unterkriegt, wie vor sieben Jahren . . .«

»Ohne Ihnen nahezutreten, Herr Dumontier,« sagte Pourtois, der es wagte, das Wort zu ergreifen . . . »aber wenn der Herr Maire geneigt ist, als Kandidat aufzutreten . . . so kann ich mich diesmal für die Sache verbürgen . . . Ich habe Clairefont, Couvrechamps, Soucelles und Pierreval in meiner Hand, ohne von den Vorstädten Neuvilles zu reden . . . Tondeur wird die Stimmen der Leute im Walde bringen . . . Und was das Thal betrifft, so ist das Ihre Sache und die des Herrn Leglorieux . . . Halten wir uns gut, so werden wir eine schöne Majorität haben . . . Ich bin es, der es euch sagt . . . und ihr wißt, daß ich mich darin wohl auskenne . . . die alte Eule droben kann sich ein anderes Nest suchen!«

Die krächzende Stimme des feisten Wirtes stieg um zwei Töne und ging bei diesem frechen Ausspruche in ein heiseres Gellen über.

»Und der Landtag wird nicht lange auf sich warten lassen,« fügte Fleury hinzu; »alles zu seiner Zeit . . .«

Das schwarzbraune Gesicht Carvayans überzog sich mit dunkler Röte. Seine Augen funkelten unter den ergrauenden Brauen, und während einiger Minuten empfand er eine starke Erregung, doch war er zu sehr Herr seiner selbst, um seine Freude durchblicken zu lassen. Er machte eine gleichgültige Gebärde und sagte mit trockener Stimme: »Wir werden sehen. Der Augenblick ist zum Besprechen derartiger Pläne schlecht gewählt . . . Uebrigens muß man auf eine starke Opposition gefaßt sein.«

Damit deutete er mit dem Blicke nach der entgegengesetzten Ecke des Saales hinüber, wo sich die Vertreter des Landadels abgesondert hielten. Frau von Saint-André war mit ihrem Sohne und ihren drei Töchtern erschienen, der alte Marquis von Couvrechamps, der während des Krieges die Landwehr befehligt hatte und in dem Kampfe bei Buchy so energisch vorgegangen war, war von mehreren seiner alten Soldaten umringt, die seither Familienväter geworden und in Ruhe und Sicherheit nun mit Vergnügen der Tage des Elends und der Gefahr gedachten. Der kleine Vicomte d'Edennemare bemühte sich eifrigst um die junge Frau Tourette, deren Gatte, ein reicher Wechselagent aus Paris, jüngst die herrliche Besitzung der Barrellerie, zwei Meilen von Neuville entfernt, erworben hatte. Die Baronin-Witwe von Sainte-Croix bildete den Mittelpunkt des kleinen Kreises, welchen sie durch ihre geistvolle Unterhaltung entzückte.

Zwischen diesen beiden Gruppen, derjenigen, in der Carvayan triumphierte, und der, welche die Großgrundbesitzer des Bezirkes bildeten, herrschte der größtmögliche Gegensatz. Auf der einen Seite hatte man große Toilette gemacht, wie zu einer Hochzeit, auf der anderen war man beflissen, die größte Einfachheit zur Schau zu tragen. Die einen zeigten, daß das Kirchweihfest ihnen die einzige Gelegenheit bot, mit ihren Toiletten zu glänzen, die anderen bewiesen, daß sie nur gekommen waren, um einen Blick in das Getümmel zu werfen und, wie Frau von Saint-André sagte, das Fest mit ihrer Gegenwart zu beehren.

Indessen wurde der leere Raum, der sich zwischen den beiden Lagern ausbreitete, zuweilen von etlichen dicken Pächtern durchschritten, welche sich beeilten, dem Gutsherrn ihre Aufwartung zu machen. Der alte Marquis von Couvrechamps reichte den Seinen, die er alle duzte, da er sie von Kindesbeinen auf kannte, seine zarte Hand, welche sie höchst vorsichtig mit den Spitzen ihrer plumpen Finger berührten Und die breiten Rücken neigten sich vor dem überall geliebten und geachteten Edelmann.

Gleichgültig gegen alles, was um ihn her vorging, unempfindlich für die Schmeichelreden und Zuvorkommenheiten der Parteigenossen seines Vaters, stand Pascal, an eine der Zeltstangen gelehnt, den Blick auf das gegnerische Lager gerichtet, in welchem er bis jetzt vergebens diejenige gesucht hatte, welche sein ganzes Denken erfüllte.

Er erregte die Aufmerksamkeit der Baronin von Sainte-Croix, die sich alsbald an den jungen eleganten Herrn Tourette mit der Frage wendete: »Wer ist der schöne junge Mann, den ich dort unten mitten unter Herrn Carvayans Schmarotzern erblicke?«

»Aber Frau Baronin, das ist ja sein Sohn . . .«

»In der That? Man merkt es ihm nicht an . . . Er ist von sehr einnehmendem Aeußeren! . . .«

»Und noch mehr, er ist ein Mann von wirklichem Verdienste . . .« entgegnete der Wechselagent. »Er übernahm es letzthin, die Mißhelligkeiten, die zwischen Nicaragua und der Panamakanalgesellschaft entstanden waren, auszugleichen, und wie es scheint, hat er sich dieses Auftrages mit viel Geschick entledigt . . . Auch hat er vor Jahren schon mehrere finanzielle und industrielle Verhandlungen mit Chili und Peru geführt und dort sehr verwickelte Angelegenheiten geordnet . . . Man war von seinen Leistungen entzückt, und obgleich man dieselben sehr teuer honorierte, so weiß ich doch, daß man sich ihm überdies verpflichtet fühlt . . .«

»Er scheint sich in erstaunlichem Maße zu langweilen . . .«

»Er ist in allem erstaunlich . . .«

Eine Bewegung ging durch die ganze Versammlung und alle Köpfe richteten sich nach dem Eingange, wo der Unterpräfekt in Begleitung seines Sekretärs erschien. Pourtois, der ihm eiligst entgegenstürzte, führte ihn mit vielen Verbeugungen zu Carvayan, dessen Ansehen durch die Achtung, welche ihm der Würdenträger zu teil werden ließ, in den Augen seiner Anhänger noch stieg.

Der Maire schien in diesem Augenblicke der wahre König des Festes zu sein; er beherrschte alle und konnte jedem seinen Willen aufnötigen. Im Genusse seines Triumphes fühlte er sich einen Augenblick lang wie berauscht, und stolz erhobenen Hauptes setzte er die Runde um den Saal fort, um dem Unterpräfekten die Honneurs zu machen.

Die Musik hatte auf Pourtois' Anordnung zu spielen begonnen, und in allen Ausgängen nach dem Garten erschienen die Köpfe der Neugierigen, die, ohne ihr Glas zu verlassen, das heiter bewegte Bild betrachteten.

Carvayan befand sich gerade in der Mitte des Saales, als die leinene, blau und weiß gestreifte Portiere, welche Einlaß in das Zelt gewährte, zurückgeschlagen wurde und Robert von Clairefont mit seiner Schwester am Arme eintrat. Etwa zwanzig Schritte hinter ihnen kam Tante Isabella mit Herrn von Croix-Mesnil.

Als hätte der Zufall die Stellung der Widersacher klar bezeichnen wollen, so fanden sich plötzlich die Kinder des Marquis völlig alleinstehend Carvayan gegenüber, der von all den Personen umringt war, welche aus Leidenschaft oder eigenem Interesse sein Vorgehen stützten.

Mit wahrer Todesangst sah Pascal sie aufeinander losschreiten, wie feindliche Kämpfer, die handgemein zu werden sich anschicken. Das Herz hörte ihm in der Brust zu schlagen auf, und während einiger Sekunden drängte sich sein ganzes Leben in seinen Augen zusammen. Er wünschte, der ganze Saal möge einstürzen, sehnte einen plötzlichen Zusammenbruch herbei, welcher die fürchterliche Situation, der man entgegenging, hätte verhindern können. Er dachte daran, sich auf seinen Vater, den er hohnlächelnd, mit trotziger Miene vor sich sah, zu stürzen, ihn zu erfassen und weit fortzuziehen . . . Alles dünkte ihm erträglicher als das, was sich vor aller Augen vorzubereiten schien. Inzwischen setzten die Gegner ihren Weg fort. Robert, mit hocherhobener Stirn, wich nicht um eine Linie aus, er schritt geradeswegs auf Carvayan los und leicht konnte man auf seinem energischen Antlitz den festen Entschluß lesen, keinen Schritt zurückzuweichen.

Antoinette war plötzlich totenblaß geworden, drückte heftig den Arm des Bruders und versuchte, ihn von der eingeschlagenen Richtung abzulenken. Doch der athletische Robert brauchte keine große Anstrengung, um das junge Mädchen mit sich zu ziehen. Auch Carvayan, das haßerfüllte Haupt gesenkt, gleich einem Stier, der auf seinen Gegner loszustürzen im Begriff ist, schritt weiter fort.

»Robert, ich bitte dich,« flüsterte Antoinette.

»Laß mich,« murmelte der junge Graf durch die geschlossenen Zähne. »Er muß uns Platz machen, oder mein Weg geht über seinen Körper.«

Und die blitzenden Augen fest auf den Feind seines Hauses gerichtet, ging er geradeaus weiter.

Schon mußte inmitten einer peinlichen Stille der Zusammenstoß, dessen Folgen man nicht vorhersehen konnte, stattfinden, als der Präfekt ganz unbewußterweise dazwischen trat. Als er Fräulein von Clairefont, die sich bereits in seiner nächsten Nahe befand, bemerkte, entfernte er sich von dem Maire und verbeugte sich höflich, zugleich mit einem Ausdrucke der Bewunderung. Antoinette, halb erstickt von entsetzlicher Angst, atmete auf, als sie den Raum vor sich frei sah. Mit dankbarem Lächeln erwiderte sie den Gruß des Präfekten, und an dem vor unterdrücktem Zorn zitternden Carvayan vorbeischreitend, erreichte sie mit raschen Schritten die Ecke, wo die Freunde ihres Vaters sich vereinigt hielten. Carvayan hatte sich umgewendet, um den beiden jungen Leuten nachzublicken. Da vernahm er an seiner Seite einen tiefen Seufzer, und die Augen erhebend, sah er Pascal totenbleich von der eben empfundenen heftigen Aufregung.

»Wer ist denn dieses reizende Wesen?« fragte hierauf der Präfekt seinen Führer, indem er sein Lorgnon erhob, um besser zu sehen.

»Das ist Fräulein von Clairefont,« erwiderte Carvayan mit finsterer Ironie . . . »Und Sie, Herr Präfekt, haben ihr einen sehr schmeichelhaften Empfang zu teil werden lassen, worauf sie sicherlich nicht gefaßt war . . .«

»Oh!« entgegnete der Beamte, »sie ist eine hübsche Erscheinung . . . Ich werde den Vater auf politischem Gebiete bekämpfen . . . aber bis dahin wünsche ich, die Tochter bewundern zu dürfen . . .«

»Nur nicht zu nahe, wenn Sie es nicht mit dem jungen Eber zu thun haben wollen, der sie begleitet . . . da, sehen Sie, was er eben thut . . .«

Kaum in dem kleinen aristokratischen Kreise angelangt, war Robert bemüht, für seine Tante und seine Schwester Sitze zu schaffen. Auf den Bänken saß man indes schon sehr gedrängt. In einer an die offizielle Tribüne grenzenden Ecke hatte die Baronin-Witwe von Sainte-Croix Platz genommen und wünschte nun unter lebhaften Freundschaftsbeteuerungen, die beiden Damen an ihrer Seite zu behalten. Herr von Croix-Mesnil schickte sich an, in den Garten zu gehen und zwei Stühle zu holen, als Robert, die Sitze bemerkend, welche auf der Tribüne für die Behörden von Neuville bereit standen, mit lauter Stimme rief: »Aber, da haben wir ja, was wir wünschen . . . Frauen sollten auf Stroh sitzen, während der Gemeinderat von Neuville sich auf Samt breit macht? . . . Das ist undenkbar!«

Und über das Geländer greifend, langte er nach den beiden Stühlen, welche um den Ehrenfauteuil standen. Ein ersticktes Lachen lief bei dieser verwegenen That durch die Gruppe. Verblüfft sah Pourtois abwechselnd auf den Maire und den jungen Grafen, schwankend zwischen dem Wunsche, Carvayan zu gefallen, und der Furcht, Robert zu erzürnen. Schweigend warteten die Verbündeten, indem sie sich fragten, ob ihr Chef sich wohl derart öffentlich würde Trotz bieten lassen. Mit gebieterischem Blicke legte dieser seinen Anhängern Ruhe und Schweigen auf, und sich hierauf zu seinem Begleiter wendend, sagte er mit lauter Stimme: »Ich glaube, es kommt uns zu, ein Beispiel von Mäßigung und Geduld zu geben . . . Denn wenn wir die Herausforderungen des Herrn von Clairefont erwidern würden, könnte hieraus ein Konflikt entstehen, welcher in das ganze Fest eine Störung brächte . . . Uebersehen wir also einfach alle Handlungen des jungen Mannes . . .« Mit leiserer Stimme fügte er hinzu: »Ueberdies haben ihn seine schlechten Gewohnheiten und seine Unmäßigkeit halb zum Verrückten gemacht, er ist nicht immer bei Sinnen . . .«

»Diese Tribüne, leer wie sie ist, während man sich allerorten drängt, scheint mir eine schlechte Wirkung hervorzubringen . . .« fiel der Beamte ein. »Räumen Sie dieselbe doch den Damen ein . . .«

»Sie haben recht . . .«

Fleury und Pourtois eilten hinweg und führten die Damen Dumontier und Leglorieux im Triumphe auf die Tribüne.

»Das geht ja vortrefflich,« spottete die Baronin von Sainte-Croix, »nur jedem den gebührenden Platz . . .«

»Wollen wir nicht hingehen, um Frau Dumontier unsere Aufwartung zu machen?« schlug der schöne d'Edennemare vor.

»Der Großvater Dumontiers hat uns oft genug seine Aufwartung gemacht, als er bei meiner Mutter Bedienter war . . .« war die beißende Entgegnung der Frau von Saint-André.

»Wie die Marschallin von Lefebvre unter dem ersten Kaiserreiche sagte: ›Jetzt sind wir die Prinzessinnen!‹ . . .«

»Diese Philisterfrauen von Neuville sind wahrhaft entsetzlich!« sagte Robert zu den jungen Leuten, die ihn umgaben; »wenn Sie wollen, fordern wir zuerst, um ihnen einen Possen zu spielen, die Bauerndirnen zum Tanze auf und eröffnen mit ihnen den Ball . . .«

»Es sind wahrlich so schmucke Mädchen darunter, daß dies kein Opfer kostet,« meinte der junge Tourette, Rose Chassevent lorgnettierend, die eben eintrat, gefolgt von dem Rotkopf.

Mit lächelnder, natürlicher Anmut kam die schöne Arbeiterin in ihrem Sonntagsputz dahergeschritten. Sie trug ein Kleid aus Cretonne mit kleinem Blumenmuster: das vorne ausgeschnittene Leibchen schmückte ein weißes Musselintuch, mit blauen Bändern festgehalten; die kurzen Aermel ließen ihre runden, vollen Vorderarme, mit durchbrochenen Handschuhen bedeckt, sehen. Ihr schönes blondes Haar war einfach frisiert, ohne Schmuck und ohne Blume. In der Hand hielt sie eine Schärpe, mit der sie auf dem Wege ihren Kopf umhüllt hatte.

Der Schäferjunge, vom Lichterglanz geblendet wie eine Eule vom Tageslicht, schritt hinter ihr her, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er trug einen funkelnagelneuen Anzug, wie er es dem jungen Mädchen angekündigt hatte, und seine graue Alpakabluse zierte eine silberne Spange. Er hatte den Versuch gemacht, sich zu kämmen, und die über der Stirn gescheitelten roten, ungepflegten Haare verliehen seinem mit Sommerflecken übersäten Gesichte ein komisches und zugleich erschreckendes Aussehen.

»Wer ist dies Ungeheuer, das dem reizenden Kinde auf Schritt und Tritt folgt?« fragte der Vicomte d'Edennemare.

»Der Schafhirte von Clairefont, ein Blödsinniger, der auf dem Meierhofe aufgezogen wurde,« erwiderte Robert.

»Welch sonderbaren Pagen sie sich da ausgesucht hat!«

Rose hatte sich Fräulein von Clairefont genähert und nahm mit lachender Miene die Lobeserhebungen hin, welche ihr Antoinette über ihren Anzug zu teil werden ließ.

»Aber, gnädiges Fräulein, das Kleid, welches ich trage, kommt ja von Ihnen . . . erkennen Sie es denn nicht? Sie haben es mir im Frühjahr geschenkt . . . Ich habe bloß die Façon geändert, wie es sich gebührt, denn ein Mädchen wie ich braucht nicht Kleider zu tragen, wie vornehme Damen . . . es macht mir Ehre und nimmt sich gut aus, nicht wahr?«

»Du bist es, die das Kleid verschönt, meine Kleine,« sagte Fräulein von Clairefont mit freundlichem Lächeln. »Geh jetzt und unterhalte dich recht gut, aber tanze nicht zu lange, denn du weißt, daß ich morgen früh deiner bedarf . . .«

»O, seien Sie unbesorgt, gnädiges Fräulein, ich werde nicht mehr auf mich warten lassen, als gewöhnlich . . .«

»Und sieh zu, daß dir dein Schäferhund nicht den ganzen Tag am Rocke hängen bleibt!« rief Tante Isabella . . . »Der Bursche ist eine wahre Vogelscheuche von Tänzer . . .«

»Ach, gnädiges Fräulein, ich werde ihn Vater Chassevent anvertrauen . . .«

»Der ihm zu trinken geben wird, daß er nach einer Stunde seine rechte Hand nicht von seiner linken zu unterscheiden weiß . . .«

»Ei was,« meinte das junge Mädchen mit einem Lächeln . . . »Wenn er mich nur in Ruhe läßt . . . Ich habe ihm jedoch versprochen, einmal mit ihm zu tanzen . . . Und was man versprochen hat, muß man halten . . .«

Und ihr kurzes Röckchen anmutig schwenkend, entfernte sie sich, gefolgt von den Blicken aller Männer, die der Zauber ihrer blühenden Jugend unwiderstehlich gefangennahm.

Es war acht Uhr abends, und die offizielle Tribüne war nun durch die Ankunft des Steuereinnehmers, des Friedensrichters und seiner Frau, Präsidentin mehrerer wohlthätiger Vereine, vollständig besetzt. Der Hauptmann der Gendarmerie kam gerade in Galauniform aus dem Gasthause, wohin ihn das mörderische Geschrei eines plötzlich ausgebrochenen Gezänkes gerufen hatte.

Die Luft verdichtete sich mit jedem Augenblicke, der Abendwind trug die starken Weindünste aus dem Garten herüber, und das Getöse der immer lärmender werdenden Unterhaltung übertönte gar oft die Straßenmelodien des Orchesters.

Inmitten dieser allgemeinen Erregung, dieser Hitze, dieses Getümmels blieb Antoinette allein schweigsam und niedergeschlagen. Zweimal schon hatte Herr von Croix-Mesnil das Wort an sie gerichtet, ohne mehr als eine höchst zerstreute einsilbige Antwort erhalten zu haben. Das junge Mädchen, gesenkten Blickes und in tiefem Nachdenken, schien völlig gleichgültig gegen alle sie umgebenden Vorgänge.

Gleich beim Eintreten war das erste Gesicht, das ihr in die Augen fiel, dasjenige Pascals gewesen. In dem Augenblicke, als zwischen Carvayan und Robert, die einander nicht um einen Schritt aus dem Wege zu gehen entschlossen schienen, ein solch ernster Zusammenstoß zu befürchten war, hatte sie den jungen Mann erbleichen sehen. Sie begriff, daß er ihre Todesangst teilte, und diese Gemeinsamkeit des Schmerzes hatte in ihr eine nachhaltige Rührung erregt. Hatte sie an ihm einen Unglücksgefährten? Sollte sie als Strafe dafür, daß sie ungerecht gewesen, sich des Widerwillens entschlagen, den sie vor allem empfand, das den Namen Carvayan trug?

Schüchtern erhob sie die Augen nach der Richtung, wo sie ihn vermutete; sie sah ihn mit düsterer Miene und gekreuzten Armen teilnahmslos inmitten der festlichen Erregung; sah ihn, den Sohn des Siegers, ebenso traurig, als sie, die Tochter des Besiegten. Was mochte wohl in seiner Seele vorgehen?

Als hätte er den Blick des Fräuleins von Clairefont auf sich ruhen gefühlt, erhob Pascal den Kopf, und ihre Augen begegneten sich. Er war es, der die seinigen sofort wegwendete, nachdem er ihr eine tiefe Verbeugung gemacht, welche mehr einem Fußfalle glich. Hierauf verließ er mit langsamen Schritten den Saal, als wolle er dem jungen Mädchen sagen: »Sie hassen mich, ich aber bete Sie an; meine Gegenwart legt Ihnen vielleicht einen Zwang auf oder erregt Ihr Mißfallen . . . nun, so will ich lieber beiseite treten . . .« Wodurch konnte er, der das Recht nicht besaß, sich ihr zu nähern, ihr besser seine glühende Verehrung bezeigen? In diesem freiwilligen Sichentfernen lag mehr Zärtlichkeit, als in den leidenschaftlichsten Liebesbeteuerungen.

Ein leichter Ellenbogenstoß der Tante von Saint-Maurice brachte Antoinette wieder zur Wirklichkeit zurück. Im Saale ging es sehr lebhaft zu, geschäftig eilten die Paare herbei, kreuzten sich und begannen lebhafte Unterhandlungen und Auseinandersetzungen. Auf der Tribüne stand Carvayan neben der sehr erregten Frau Leglorieux, mit den Augen die hin und her wogenden Reihen der Menge durchforschend, und Félicie, rot bis über den Hals hinab, trippelte vor Ungeduld hin und her.

»Wo mag denn nur der Teufelsjunge hingegangen sein?« murmelte der Maire höchst ärgerlich. »Vor kaum fünf Minuten sah ich ihn noch hier . . .«

»Aber er sah keineswegs so aus, wie jemand, der gut unterhält,« fügte mit gekränkter Miene die Erbin der Leglorieux hinzu.

»Er fand es ohne Zweifel unangenehm, daß man mit dem Tanzen so lange zögere,« warf Fleury dazwischen . . . »Gedulden Sie sich nur eine Sekunde, ich werde ihn sogleich Ihnen zuführen . . .«

Und mitten durch das Gewühl der Tanzenden eilte der Schreiber hinaus.

»Man stellt sich zur ersten Quadrille an,« sagte Fräulein von Saint-Maurice zu ihrer Nichte. »Ich denke, es ist schicklich, daß du an dem Tanze teilnimmst . . .«

»Mein Fräulein, wollen Sie mir die Ehre erweisen, mich zu Ihrem Tänzer anzunehmen?« fragte der elegante Herr Tourette.

»Ich danke, mein Herr,« erwiderte Antoinette, »aber ich werde mich bloß an diesem einen Tanze beteiligen, und den habe ich bereits Herrn von Croix-Mesnil zugesagt . . .«

»Das ist in der That ein Recht, das ihm gebührt!« erklärte der Geldmann . . . »Ich werde Fräulein von Saint-André auffordern, denn ich kann doch nicht gut mit meiner Frau tanzen . . .«

»Besten Dank, teuerste Antoinette, für die Gunst, die Sie mir erweisen,« sagte Herr von Croix-Mesnil gerührt . . . »aber sind Sie nicht deshalb so liebenswürdig und so gut, damit ich meinen Verlust desto bitterer beklagen muß?«

Fräulein von Clairefont legte lächelnd einen Finger auf ihre Lippen, nahm den Arm des jungen Mannes, und das Paar blieb vor Tante Isabella stehen, zwischen Fräulein von Saint-André und Herrn Tourette an der einen und dem Vicomte d'Edennemare und Frau Tourette an der anderen Seite. Längs des Saales bildeten die Tänzerpaare, einander gegenüberstehend, zwei Reihen, welche nach einem alten Herkommen für einige Augenblicke Kasten und Stellungen vermischten. Die Anordnung war nämlich derart, daß der Gutsbesitzer seinen Pächter und die Schloßfräulein die Pächterstöchter zum Gegenüber hatten.

War diese Eröffnungsquadrille einmal zu Ende, dann war den folgenden Tänzen freier Lauf gelassen, jedermann unterhielt sich nach eigenem Belieben, und das Ballvergnügen wurde bald ein so lebhaftes, daß es, dank dem fortgesetzten Zechen, zumeist in wahre Bacchanalien ausartete. Sowohl die schönen Städterinnen als die Landmädchen, vom Weine benebelt, von Musik und Tanz erregt, hingen halb ohnmächtig am Arme ihrer Tänzer, und in den Lauben von Pourtois' Garten wurden beim bleichen Schimmer des gefälligen Sternenlichtes gar manche Küsse getauscht, denen später bittere Reue folgen sollte.

Dieser diabolische Ausgang des Festes war allbekannt, und gegen zehn Uhr entfernten sich darum die besseren Familien der Umgegend und der Stadt mit ihren Töchtern und überließen die Dorfjugend ihrem Ungestüm und dem nicht zu dämpfenden Festestaumel.

Für den Augenblick benahmen sich indes sämtliche Tänzer ernsthaft, wohlanständig und sogar etwas feierlich, die Männer plauderten mit leiser Stimme, das Zeichen zum Beginn des Tanzes erwartend, während die Frauen ordnend und musternd mit der Handfläche über ihre Kleider hinstrichen, in der koketten Art junger Tauben sich brüstend und blähend und in ungeduldiger Erwartung mit den Füßchen hin und her trippelnd. Antoinette gegenüber, welche durch Zufall gerade in der Mitte der Reihe sich befand, war noch immer ein Platz leer. Robert, der neben Tante Isabella stehen geblieben war, blickte zerstreut umher, nach dem Paare suchend, welches das Gegenüber seiner Schwester bilden sollte, als das triumphierende Fräulein Leglorieux am Arme Pascals erschien, der sich seiner Aufgabe wie eines wahren Frondienstes unterzog. Fleury führte ihn mitten durch die Menge, und als der Schreiber an dem leeren Platze angekommen war, wendete er sich nach der Tribüne zurück und schien Carvayan mit einem Blicke um Rat zu fragen; der Maire, welcher von seinem erhöhten Sitze aus die Situation überblickte, machte eine befehlende Gebärde, die zu sagen schien: »Ist mir ganz recht, so soll es sein.« Hierauf zog sich Fleury zurück, Pascal trat vor, und mit verwirrten Augen und zitternden Knieen bemerkte Pascal Fräulein von Clairefont als sein Vis-à-vis.

Im selben Augenblicke legte sich eine Hand auf den Arm des Herrn von Croix-Mesnil, und gleichzeitig sprach Robert mit lauter Stimme: »Treten Sie zurück, lieber Freund, meine Schwester wird nicht tanzen!«

Herr von Croix-Mesnil blickte erstaunt auf den jungen Grafen, und da er nicht sofort begriff, fragte er inmitten eines tödlichen Stillschweigens: »Was geht denn vor?«

»Nichts anderes,« entgegnete Robert, »als daß der Tänzer, der sich soeben Ihnen gegenüber aufgestellt hat, der Sohn des Herrn Carvayan ist!«

»Ah, das ist in der That ärgerlich,« sagte hierauf Herr von Croix-Mesnil in vollster Ruhe, warf Pascal, der leichenblaß geworden, einen kalten Blick zu, und indem er sich vor Antoinette tief verbeugte, als wolle er sie um Verzeihung bitten, daß er sie unfreiwillig einer schimpflichen Berührung ausgesetzt, fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie mich, mein Fräulein!«

Und damit führte er sie an ihren Platz zurück. Kein Laut wurde hörbar. Niemand wagte für oder gegen Partei zu ergreifen. Vor der physischen Stärke Roberts und der moralischen Macht Carvayans zitterte jeder in gleichem Maße. Die Gesichter wendeten sich weg, ein niederdrückender Schrecken schien auf allen Anwesenden zu lasten. Der Maire stand noch immer hoch aufgerichtet, sprachlos, betroffen von dem unerhörten Ereignis, an dessen Wirklichkeit er zweifelte. War es möglich, daß man ihm öffentlich einen solchen Schimpf anthun, ihm eine so niederschmetternde Antwort auf seine verwegene Herausforderung geben konnte? Diese Clairefonts hatten die Vermessenheit, sich unbeugsam stolz zu zeigen, da er sie von seiner Gnade abhängig glaubte? Er zitterte vor Wut, und seine Augen mit den gelben Pupillen funkelten wie die eines Tigers im Dunkel der Nacht. Er wendete sich an seine Umgebung, wie um die Leute zu einer Mißbilligung zu veranlassen, doch er begegnete nur niedergeschlagenen, düsteren Mienen. Dann sah er nach seinem Sohne, der in höchster Verwirrung dastand, von dem grimmigen Verlangen nach Rache gepeinigt und doch wieder starr bei dem Gedanken, daß derjenige, über den er herfallen wollte, der Bruder oder der Verlobte Antoinettes wäre.

Fräulein Leglorieux brachte eine Lösung in die peinliche Situation. Sie riß die Augen weit auf, wurde abwechselnd blaß und rot und rot und blaß, stieß einen Schrei aus, und ihrer Mutter, die besorgt herbeieilte, in die Arme stürzend, überließ sie sich einem Nervenanfalle, der sie jeder weiteren Meinungsäußerung enthob.

Im selben Augenblicke fiel die Tanzmusik schallend ein, die ersten Takte der Quadrille erklangen, und die beiden Reihen der Tanzenden schritten inmitten einer Staubwolke zur ersten Tour vor. Antoinette, zu ihrer Tante zurückgeführt, hatte gar keine Zeit, über das Vorgefallene klar zu werden: ihre Freundinnen umringten sie, und im Chore schwirrte es von Ausrufen und Erklärungen, wie Summen eines aufgescheuchten Bienenschwarmes.

Ernst und schweigend umgaben die Männer Herrn von Croix-Mesnil und Robert. Auf der Tribüne war die Aufregung keine geringere. Der Maire war hinabgestiegen, und ohne das Jammergeschrei der Frau Leglorieux zu beachten, trat er auf Pascal zu.

Der junge Mann stand noch immer regungslos fast auf derselben Stelle, nur einige Schritte von den Tänzern entfernt, und starrte, ohne sie zu sehen, auf die lange Linie, die in taktmäßiger Wiederkehr hin und her wogte. Die Musikklänge schienen seinem Ohre lärmendes Getöse, das ihn betäubte, in seinem wirren Kopfe brach sich nur der eine Gedanke durch: Man hat dich ihretwegen und vor ihr beschimpft. Dann ballten sich seine Fäuste im Zorne, und der Entschluß stand in ihm fest, die Beschimpfung nicht auf sich ruhen zu lassen. Er mußte Genugthuung fordern. Doch von wem? Von Robert? Er war der Beleidiger, er war es, der den öffentlichen Skandal hervorgerufen hatte. Und dennoch war es der andere, gegen den sich sein Groll kehrte, derjenige, der kalt zu der Beleidigung seine Zustimmung gegeben. An diesen korrekten, ruhigen jungen Mann wollte er herantreten, sich mit ihm schlagen, das eigene Leben gegen das seine auf das Spiel setzen.

War er es nicht gewesen, der Fräulein von Clairefont am Arme hatte, und war sein Lächeln nicht noch verletzender gewesen, als die Worte des jungen Grafen? Und dann, war er nicht der Verlobte des jungen Mädchens? Ach, dies war die wahre Ursache, welche Pascals Gemüt so furchtbar aufregte und seine Stirn mit tiefer Blässe bedeckte. Viel mehr als der Zorn, war es die Eifersucht, welche ihn marterte. Unter Antoinettes Augen fühlte er sich stark genug, die größten Gefahren zu bestehen. Er wollte sich unversöhnlich, unbezwinglich zeigen, denn der Gedanke, sie könnte ihn verachten, flößte ihm Mut genug ein, tausend Toden zu trotzen.

Plötzlich fühlte er sich beim Arme ergriffen, man versuchte, ihn fortzuführen. Er erhob die Augen und erkannte seinen Vater.

»Bleibe nicht da,« sagte Carvayan . . . »Komm mit mir . . .«

Er weigerte sich, indem er mit bebender Stimme sagte: »Laß mich. Es ist noch nicht alles zu Ende . . . Ich darf mich von dieser Stelle nicht entfernen . . .«

»Was hast du vor?«

»Hältst du mich für einen Mann, der eine derartige Beleidigung hinnimmt, ohne Genugthuung zu fordern?«

»Du bist verrückt!«

»Würdest du mir raten, mich von hier fortzuschleichen, um in den Augen aller Anwesenden als Feigling zu gelten?«

Carvayans Gesicht verzog sich und nahm einen schrecklichen Ausdruck an; er preßte den Arm seines Sohnes heftig an sich.

»Du willst dich mit diesen Leuten schlagen? Du bist verrückt, sage ich dir . . . Ueberlasse mir, dich zu rächen; es wird sicherer und rascher geschehen . . .«

»Sicherer und rascher?« rief der junge Mann mit entsetzlicher Gebärde. »Das wollen wir sehen!«

Der Tanz war zu Ende, und in geräuschvollem Durcheinander führten die Tänzer die Damen zu ihren Plätzen. Pascal wendete sich mit raschen Schritten der Gruppe zu, in welcher Herr von Croix-Mesnil und Robert standen, und so nahe an den Verlobten des Fräuleins von Clairefont herantretend, daß er fast dessen Schulter berührte, sagte er mit herausforderndem Blicke und bebender Hand: »Mein Herr, ich habe mit Ihnen ein paar Worte zu sprechen. Würden Sie mir die Gunst erweisen, einige Schritte weit mit mir zu kommen.«

Der Baron verneigte sich und war bereit, dem Sohne Carvayans zu folgen, als Robert, sich vor die beiden stellend, ihnen den Weg vertrat.

»Nur nicht so eilig,« sagte er in spöttischem Tone; »es scheint hier eine Verwechselung stattzufinden . . . Nicht mit Ihnen, mein lieber Freund, hat es der Herr hier zu thun . . . sondern mit mir . . . Sie sind bloß meinem Wunsche nachgekommen; ich bin es, der forderte . . .«

»Ich habe Ihre Worte nicht gehört,« unterbrach ihn heftig Pascal, »und ich mag denselben keine Rechnung tragen . . . Dieser Herr allein hat mich beleidigt . . . ihn allein mache ich dafür verantwortlich . . .«

»Es wird denn doch ein Mittel geben, diese Sache zu ordnen,« rief der junge Graf und einen Schritt zurücktretend, schien er zu einer Gewaltthat bereit, als seine Schwester, bleich und zitternd, zwischen ihn und seinen Gegner trat.

»Robert, tritt zurück,« sprach sie sanft, »ich bitte dich darum . . .«

»Aber . . .,« stieß er hervor, indem er zu widerstehen suchte . . .

Zwei heiße Thränen entquollen den Augen des jungen Mädchens, und totenblaß, die Hand mit befehlender Gebärde erhebend, wiederholte sie: »Tritt zurück . . . Ich will es!«

Und als der junge Mann, besiegt, ihr gehorchte, wendete sie sich an Pascal: »Sie haben recht, mein Herr, und wir sind Ihnen Genugthuung schuldig. Meinetwegen wurden Sie beleidigt . . . An mir ist es, mich zu entschuldigen . . . wollen Sie mir verzeihen? . . .«

Der Sohn Carvayans sah sie hierauf sich vor ihm verneigen. Er versuchte zu sprechen, seine Lippen bewegten sich, ohne jedoch einen Laut hervorbringen zu können, und schwankend, mit gesenkter Stirn, von Antoinettes stolzer Demütigung noch mehr vernichtet, als durch die Frechheit Roberts, entfernte er sich langsamen Schrittes.

»Wo willst du hin?« fragte ihn sein Vater an der Thür des Ballsaales. »Erinnere dich doch, was du vor einem Augenblicke sagtest. Willst du dir den Anschein geben, als würdest du feige zurückweichen?«

»Ach, was liegt mir daran!« rief der junge Mann, indem er weiterschritt in die Dunkelheit hinein, als wollte er in derselben seine Verzweiflung verbergen.

»Willst du dich nicht rächen?« fing Carvayan wieder an, als sie auf der Straße weitergingen. »Sage ein Wort, und ich werde alle, die dir getrotzt haben, in deine Hand geben . . .«

»Niemals! . . .«

»Was willst du denn thun?«

»Mich entfernen . . . Diesmal für immer meine Heimat verlassen, in der ich nur Kummer und Bitternisse finde . . . Weit fortgehen von all den niedrigen Kämpfen, den Zwistigkeiten, der Falschheit und Hinterlist . . . Vergessen, alles bis auf den Namen, den zu tragen du mir so schwer gemacht . . .«

»Pascal!«

»Vater, du hast den Haß gesät . . . Es darf mich daher nicht wundern, daß man uns beschimpft und bedroht . . . Allein ich könnte so nicht leben. Ich ziehe es vor, fortzugehen.«

»Man wird sagen, du habest Furcht . . .«

»Sei es!«

»Du willst mich also wieder verlassen?«

»Du bedarfst meiner nicht, Vater, du hast es lange genug bewiesen . . .«

»Nun, so werde ich dich nicht verlassen,« entgegnete Carvayan, indem er seinen Arm in den seines Sohnes legte . . . »Du willst dich jetzt nach Hause begeben . . . gut, wir wollen nach Hause gehen . . . und morgen, wenn du ruhiger geworden bist, wollen wir weiter über die Sache sprechen . . .«

Und dem Feste den Rücken kehrend, schlugen die beiden Männer die Richtung nach Neuville ein.

In dem Tanzsaale hatte sich die Aufregung, welche die Intervention des Fräuleins von Clairefont neuerdings hervorgerufen, noch nicht beruhigt. Tante Isabella, die zuerst starr vor Erstaunen dagesessen, fand endlich ihre Lebensgeister wieder, und mit blitzenden Augen schalt sie: »Ah, ah, was soll denn das alles bedeuten? Bist du toll geworden, Kleine? Du bist höflich und artig mit dem jungen Leuteschinder, indes er für seine Frechheit einen tüchtigen Verweis verdient hätte . . .«

»Nein, Tante, nein, wir hatten unrecht . . . Wir hätten nicht hierherkommen sollen, da wir doch nur Böses hier zu erwarten hatten . . . Und vor allem durften wir den jungen Mann nicht herausfordern . . .«

»Hast du denn aber den alten Schurken von Vater nicht gesehen, der im voraus über den gelungenen Spaß lachte, daß er dich der Verlegenheit ausgesetzt, seinem Sohne gegenüberzustehen?«

Antoinette schüttelte voll Betrübnis das Haupt.

»Wir dürfen dennoch diesen Mann nicht angreifen . . . wir werden nicht die Stärkeren sein . . . Lassen wir ihm das Feld, das ist das Beste, was wir thun können . . . Kommen Sie, Herr von Croix-Mesnil . . .«

Damit stützte sie sich auf den Arm des jungen Mannes. Ihre Kraft schien erschöpft. Tante Isabella folgte mit Robert, und als sie an den Wagen kamen, der sie unter der Obhut des alten Germain erwartete, wollte Fräulein von Clairefont, daß ihr Bruder gleichfalls einsteige. Doch er weigerte sich, indem er erklärte, er habe durchaus keine Lust, nach Hause zu fahren.

»Was gedenkst du zu thun?« fragte Antoinette voll Unruhe.

»Was ich jedes Jahr an diesem Tage thue, mich amüsieren trotz dieses Freudenstörers von Carvayan . . .«

»Versprich mir, daß du nicht wieder Händel anfängst. Ach, ich bitte dich, komm mit uns . . . Du machst mich besorgt . . . Ich fühle, daß dir etwas zustoßen wird . . .«

Robert ließ eine Gebärde der Ungeduld sehen.

»Weißt du, kleines Mädchen, daß ich finde, du mengst dich viel zu viel in Sachen, die dich gar nichts angehen . . . Fahre nach Hause und lege dich zu Bette, ich wünsche dir einen angenehmen Schlaf ohne Träume . . . Das ist für ein Kind deines Alters das Gesündeste . . . Das Benehmen eines erwachsenen jungen Mannes richtet sich nach anderen Vorschriften, und deine Ermahnungen werden daran nichts ändern . . . Guten Abend . . .«

Damit faßte er das junge Mädchen um die Hüften, hob sie wie eine Feder in die Luft, küßte sie und setzte sie auf die Kissen des Wagens.

»Robert, sei vernünftig!« rief noch die alte Saint-Maurice ihrem Benjamin zu.

»Fürchten Sie nichts, Tante . . .« lachte Robert, »wenn mich jemand aufessen will, wird er mich nicht mit einem Bissen verschlucken.« Er schloß die Wagenthür und rief dem Kutscher zu: »Vorwärts!«

Und ein Liedchen summend, begab er sich wieder durch den Gasthausgarten nach dem Tanzsaale zurück. Hier überließen sich die Landleute ihrem Vergnügen, ohne Rückhalt und ohne jeden Zwang. In der milden, stillen Sommernacht, umschwirrt von dem raschen Fluge der Fledermäuse, welche mit ihren Flügeln die im Grün der Lauben in buntem Lichte strahlenden venetianischen Laternen berührten, beim gedämpften Klange der Musik saßen die Zecher, aus voller Kehle johlend und mit den Fäusten auf den Tisch schlagend.

Der alte Chassevent stand auf einem Fasse und sang mit heiserer Stimme obscöne Lieder. Es war dies schon das vierte an diesem Abende, und in den Pausen ging er von Tisch zu Tisch, um ein Gläschen Branntwein oder einen Schoppen Bier zu trinken. Er schien keinen Rausch zu haben, doch seine Lustigkeit wurde immer ausgelassener, seine Gesten und Lieder immer unflätiger.

In einem Winkel saß auf einem Taburett vereinzelt der Gendarm, welcher die Ordnung aufrecht zu erhalten hatte, da die Bauern, wenn sie betrunken waren, so lange rauften, bis einer von ihnen tot auf dem Platze blieb; er hörte dem Wilddiebe zu, wobei er sich gleichfalls halb totlachen wollte.

Robert hielt einen Augenblick still und lauschte den unflätigen Schnurren, die der Vagabund aus irgend einem Gefängnisse geholt haben mochte. Seine Zuhörer brüllten den Refrain in tollem Jubel und schlugen mit den Fäusten auf den Tisch, so daß es während einiger Minuten ein wildes Getöse gab, das einem wie Katzenmusik in den Ohren gellte. Dann wurde es wieder still, während die Säuferstimme des ungeschliffenen Komikers vor diesem Publikum von lauter Betrunkenen eine neue Zote trällerte, die unter dem klaren, gestirnten Himmel doppelt widerwärtig klang.

Nachdem Pourtois den Notabilitäten im Saale die Honneurs gemacht und den Ball im besten Zuge wußte, eilte er mit begreiflichem Eifer in den Kreis der Zecher, welche ihm eine gute Einnahme sicherten, und der allgemeinen Lustigkeit Lauf gebend wie dem Bier in seinen Fässern, rief er mit gellender Stimme: »Stärkt euch, Kinder, stärkt euch! Ist einmal die Kirchweih vorüber, so müssen wir bis zum nächsten Jahre warten. Heut ist der Tag, wo man den Mund gehörig aufmachen soll und ich ein Auge zudrücke!«

Robert setzte seinen Weg fort und stand bald vor dem Eingange des Tanzsaales, als er aus einer Laube, in welcher die Laternen verlöscht waren, seinen Namen rufen hörte. Bloß von der Flamme eines riesigen Punschkessels beleuchtet, saßen die Herren d'Edennemare, Saint-André und noch einige von den Jagdgefährten des jungen Grafen in der Runde um einen kleinen Tisch.

»Alle unsere Damen sind fort, gehen Sie nicht in den Saal, es ist dort zum Ersticken heiß . . .«

»Ich habe dort noch etwas zu thun . . .«

»Wenn Sie etwa den Maire und seinen Sohn suchen, so ist es zu spät . . . Beide sind gerade weggegangen . . .«

»Daran liegt mir nichts! Ich will mich nur zeigen, damit die ganze Canaille, welche es mit Carvayan hält, wissen möge, daß ich nicht geneigt bin, auch nur einen Schritt zurückzuweichen . . .«

»Ach, mein Bester, das brauchen Sie nicht erst zu beweisen. Setzen Sie sich lieber zu uns.«

Robert war indes schon eingetreten. Das Aussehen des Ballsaales hatte sich seit einigen Augenblicken vollständig verwandelt. Das Fortgehen der Gesellschaft, wie man die Schloßherren der Umgegend nannte, hatte jeden Zwang beseitigt, nun war man erst unter sich und konnte sich ungebunden seinem Vergnügen hingeben. Die Tänzer hatten ihre steife Haltung aufgegeben, die Arme umfaßten kräftiger die Tänzerinnen, und selbst das Orchester, von dem allgemeinen Taumel ergriffen, spielte feuriger, in rascherem Takte, als gälte es einen Wettstreit zwischen den Lungen der Musiker und den Füßen der Tanzenden.

Der junge Graf suchte vergeblich nach Carvayan und Pascal. So wie es seine Freunde gesagt, hatten Vater und Sohn wirklich das Feld geräumt. Auch der Unterpräfekt, der für seine Popularität genug gethan zu haben glaubte, war mit dem Hauptmann der Gendarmerie und dem Polizeikommissär nach Neuville zurückgekehrt. Robert machte einen Gang durch den Saal, indem er durch die Gruppen schritt und ein Vergnügen darin fand, allen Blicken zu trotzen. Das Ansehen, welches die Familie der Clairefonts trotz ihres bekannten Unglückes genoß, ließ alle Köpfe auf dem Wege des jungen Grafen sich tief verneigen. Und überhaupt, da Carvayan nicht anwesend war, beeilte sich jedermann, seinem Gegner schön zu thun.

Konnte man übrigens wissen, was noch geschehen mochte? Schon seit vielen Jahren hieß es, der Marquis stehe vor dem völligen Vermögenszusammenbruche. Und schließlich war er doch noch immer aufrecht geblieben. Man mußte sich demnach eine Hinterthür offen lassen für den Fall, daß dieser Teufelsmensch, der ein so zähes Leben hatte, nochmals die Mittel finden würde, um sich aus den Klauen des Banquiers zu befreien.

Fleury und Tondeur, die getreuen Helfershelfer Carvayans, gaben das Zeichen zur allgemeinen Unterwürfigkeit, indem sie sich Robert gegenüber in Höflichkeiten und Zuvorkommenheiten überboten. In diesem Rausche eines lügnerischen Triumphes fanden die Freunde den jungen Grafen, als sie wieder in den Saal zurückkehrten, um ihren Vorsatz auszuführen und mit den schmucken Bauerndirnen zu tanzen.

Ein nationaler Rundtanz, eine Art, Schnellpolka, näherte sich eben seinem Ende. Unter den eifrigsten Tänzern zeichnete sich der Rotkopf durch das wilde Ungestüm aus, mit welchem er umhersprang. Rose tanzte mit ihm, wie sie es versprochen, und starker Hand führte der Schäfer das schöne Mädchen mit dem Aufgebote einer unglaublichen Kraft. In regellosen Sprüngen und Wendungen, mit bleichen Wangen, blitzenden Augen und zusammengepreßten Zähnen tollte er dahin, mit Anspannung aller seiner Muskeln, so daß er in dem Taumel des für ihn völlig neuen Vergnügens ein fast entsetzenerregendes Aussehen annahm.

Rose, betäubt von dem rasenden Galopp ihres Tänzers und den wilden Klängen der Musik, ließ sich halb ohnmächtig fortziehen, den Kopf auf die Schulter des Rotkopfes geneigt, der stolz mit ihr dahinjagte. Tondeur stand auf einem Schemel, das Gesicht vom reichlich genossenen Weine hochgerötet, und brüllte aus Leibeskräften, wahrend er mit dem Stiele des Knüttels, von dem er sich niemals trennte, an seinen schlechten Hut schlug und mit seinen Zurufen die ausgelassene Lustigkeit noch mehr aufreizte: »Vorwärts, Jungens! Haltet euch wacker, meine Kinder! . . . Frisch! hoho! hoho! Vorwärts!«

Und immer keuchender wurde der Atem, immer schwerfälliger fielen die Füße auf die Dielen zurück, die Schnelligkeit des Tanzes nahm allmählich sichtlich ab.

Die Instrumente schwiegen, und mit einem Seufzer der Erleichterung hielten die Paare still, zerstreuten sich nach allen Richtungen und ließen sich taumelnd auf die Bänke nieder, wie Schiffbrüchige, wenn sie festen Boden betreten. Nur der Rotkopf, Rose in seinen Armen, stürmte leidenschaftlich und unermüdlich fort.

»Ist der Kerl toll?« schrie Tondeur, von seinem Piedestal herabspringend. »Er will gar nicht aufhören . . . Er würde bis morgen so hinjagen.«

Doch im selben Augenblicke erfaßte Robert das junge Mädchen, entriß es den Armen des Tänzers und setzte die völlig Erschöpfte auf einen Sessel. Der Schäfer war stehen geblieben und trat mit unverständlichem Gebrumme an Rose heran.

»Er hat noch nicht genug!« rief Tondeur, und brach in ein Lachen aus, das ihn zu ersticken drohte . . . »Ihr werdet sehen, er will sich beschweren . . .«

Der junge Graf runzelte die Stirn und sagte leise zu dem Rotkopf: »Nun ist's genug! Fort! Hinaus! Pack dich zu deinen Schafen!«

Der Bursche schien jedoch nicht geneigt, zu gehorchen und blieb hartnäckig vor dem schönen Mädchen aufgepflanzt. Doch mit einem Handgriffe, als wollte er eine Raupe von einem Blumenkelche hinwegstübern, hatte Robert den Starrköpfigen fortgeschnellt, daß er im Garten niederpurzelte.

»Ach!« seufzte Rose, die Augen öffnend, »ich glaubte, der Atem ginge mir aus für immer . . .«

»Ein wenig Punsch,« sagte lustig der junge Mann, »und es wird gleich gut sein . . .«

»Ich danke bestens,« erwiderte Rose . . . »ich liebe keine starken Getränke. Ich habe zu viel Püffe gekriegt, wenn Vater Chassevent getrunken hatte . . . Aber ich muß nun ans Nachhausegehen denken . . .«

»Hast du schon genug am Tanzen?«

»Meiner Treu ja, es ist hier gar zu heiß . . .«

Als die Paare zu einer neuen Quadrille sich anstellten, verließ Robert seine Freunde, ging mit Rose hinaus und führte sie in die dunkle Laube. Sie waren allein, inmitten der lärmenden Menge, niemand beachtete sie. Die Zecher ringsum hatten nur Augen für ihr Glas und Ohren für Chassevent, der zu singen fortfuhr. Einige Augenblicke saßen sie schweigend da, das tolle Jauchzen anhörend, welches nach Schluß eines jeden Couplets ausbrach. Robert hatte sich Rose genähert und allmählich seinen Arm um ihre Taille geschlungen. Ruhig ließ sie es geschehen, und sie, die sonst lebhaft und munter wie ein Vogel war, schien ernst und nachdenklich. Sie empfand ein leichtes Frösteln, und die Spitzenschärpe, welche ihr beim Kommen als Kopfputz gedient, um den Hals knüpfend, meinte sie: »Ich werde mich hier erkälten . . .«

»Freilich, mit bloßem Halse . . . das ist nicht klug . . .« Damit nahm er ein seidenes, blau und rotes Tuch aus der Tasche und reichte es ihr. »Hier hast du eine Krawatte.«

Sie äußerte eine lebhafte Freude, als sie die warme, weiche Seide befühlte.

»Sie sind sehr liebenswürdig,« sagte sie. »Aber bleiben wir nicht länger hier in diesem Weinduft und diesem Lärm.«

»Gut, gehen wir,« erwiderte Robert aufstehend; er ließ das Mädchen durch den Garten gehen, dann folgte er ihr nach. Hinter ihnen hatte sich der Rotkopf mit geschmeidigem, leisem Schritte hinausgeschlichen.

Etwa hundert Schritte von der Schenke hielten sie vor dem Fußpfade still, der von hier aus durch Heidekraut und Stechginster zum Steinbruche emporstieg. Das Haus, die Lauben, der Tanzsaal schimmerten durch die Bäume, aber das lärmende Getöse, die Stimmen der sich vergnügenden Menge drangen nicht mehr herüber. Im Dunkel der Nacht tauchten unkennbare Gestalten auf, die in dem Maße, als sie näher kamen, bestimmtere Umrisse gewannen. Es waren Einwohner von Soucelles oder Couvrechamps, welche den Tanz zeitig verließen, weil die Arbeiten sie ungeachtet des Festtages zum Frühaufstehen nötigten. Eine spottende Stimme rief: »Nun, Rose, dich wird man gewiß nicht ausplündern, da du unter dem Schutze eines so tapferen Ritters stehst.«

»Unser Herr will die Güte haben und mich bis zum Kreuzwege von Clairefont begleiten, liebe Leute,« entgegnete das Mädchen . . . »Ist dabei etwas Schlechtes?«

»Nein, im Gegenteil . . . Sieh nur, daß du nicht gar zu lange verweilst . . .«

Robert lachte. Rose war unzufrieden und entfernte sich von ihm.

»Hören Sie, wie man mich Ihretwegen neckt; es wird für mich besser sein, allein nach Hause zu gehen . . .«

Er ergriff ihre Hand und flüsterte der Schönen leise ins Ohr: »So bleib doch, Röschen, wir wollen von Vater Chassevent und dem Häuschen reden, das du dir wünschest . . .«

Darauf verließen sie die offene Straße und bogen in den Steg ein, der über den wüsten Abhang des Hügels zur Hochebene emporführte. Der Rotkopf schlich immer hinterdrein, mit behendem, katzenartigem Schritte, ohne daß loses Gerölle oder knisternde Zweige seine Gegenwart verraten hätten. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und die Sterne erwiesen sich willfährig, indem sie die Dunkelheit nur schwach erhellten. Langsam gingen Rose und Robert dahin, Arm in Arm, den würzigen Duft einatmend, welchen die blühende Heide in die Nachtfrische ausströmte. Von Zeit zu Zeit zog es wie leises Flügelrauschen durch die Luft, das Geräusch eines Kusses, der ihre Unterhaltung begleitete, und als Echo dieser Liebesharmonie erhob sich im Dunkel ein klagendes Seufzen wie das drohende Knirschen eines verwundeten Tieres.

Ohne sich im geringsten zu beeilen, stiegen sie weiter hinauf, in dem tiefen Frieden, der sie umgab, die köstliche Stunde genießend. Der Festeslärm tönte nur als leises Summen herüber, und entzückt von dem poetischen Zauber, der von dem sternenfunkelnden Himmel und der balsamisch duftenden Erde ausging, schmiegten sie sich immer liebevoller und zärtlicher aneinander. Und immer klagender, immer erzürnter und eifersüchtiger flüsterte in der Dunkelheit die Stimme ihres geheimnisvollen Beobachters.

Der Fußweg war nicht lang, und man brauchte gewöhnlich nicht mehr als eine Viertelstunde, um ihn hinanzusteigen; aber unter den langsamen Schritten der jungen Leute zog er sich vielleicht in vielfacheren Windungen dahin, oder mochte wohl schwerer zu erklimmen sein, denn lange Zeit, nachdem sie ihn betreten, verweilten sie noch immer dort. Der Turm von Clairefont hatte im Schweigen der Nacht schon mehrmals die Schläge seines Uhrwerkes erklingen lassen, die Morgendämmerung begann den Himmel zu lichten, und es war schon nahe an drei Uhr morgens, als Robert und Rose an dem Steinbruch vorbeikamen, wo das Gehölz von Couvrechamps seinen Anfang nimmt.

»Lassen Sie mich nun gehen,« sagte Rose sanft, »es ist höchste Zeit, daß ich heimkehre . . .«

»Wo werde ich dich wiedersehen?«

»Sie werden mich wohl zu finden wissen,« erwiderte die Schöne mit neckischer Heiterkeit, »wenn Sie die Laune haben sollten, wieder mit mir zu sprechen . . . Das ist nicht so ganz sicher, denn Sie lieben die Veränderung . . .«

»Du sagst nicht, was du denkst! . . .«

»Doch, ja!«

Er schlang den Arm um ihre Taille, hob sie in die Höhe und küßte sie herzhaft. Dann sagte er, als ob er sich nur schwer entschließe, sie zu verlassen: »Warum willst du dich von mir nicht bis vor deine Thür begleiten lassen?«

»Damit man Sie mit mir sehen und die ganze Gegend darüber klatschen soll? . . . Nein, nichts da! Gehen Sie Ihren Weg, und ich den meinigen . . . Gute Nacht oder vielmehr guten Morgen!«

Damit trennten sie sich, und die eine schlug die Richtung nach Couvrechamps, der andere die nach Clairefont ein. Bei der Biegung des Weges wendete sich Robert nochmals um, doch war die Dunkelheit noch zu groß, als daß er das schöne Mädchen hätte sehen können. Hierauf beschleunigte er seinen Gang und erreichte kurz nachher die kleine Thür des Schloßparkes.

Rose war gleichfalls raschen Schrittes fortgeeilt. Sie folgte der langen mit Nadelbäumen begrenzten Allee, indem sie lächelnd der Versprechungen gedachte, welche der junge Graf ihr mit seinen Küssen besiegelt hatte. Plötzlich erbebte sie; es schien ihr, als höre sie seitwärts im Dunkel der Bäume ein Rascheln. Sie war sonst nicht furchtsam, aber jetzt fing ihr Herz heftig zu pochen an und ein leichter Angstschweiß trat auf ihre Schläfe. Sie schritt rascher dahin, dabei fortwährend dem geheimnisvollen Geflüster der Nacht lauschend. Da schlug neuerdings ein kurzes Krachen an ihr Ohr, als trete ein menschlicher Fuß auf dürres Geäst.

Sie befand sich gerade längs der weißen Böschung, gegenüber dem Balkengerüste, welches den Schachteingang überragte. Vor ihren wirren Blicken gewannen die ihr so wohlbekannten Orte ein phantastisches Aussehen und bevölkerten sich mit gespensterhaften Gestalten. Die Bäume schienen düsterer und buschiger sich über ihren Kopf zu neigen. Sie wollte laufen. Im selben Augenblicke sprang ein scheußliches Wesen auf sie zu, schloß sie in seine Arme und trug sie mit teuflischem Grinsen in das Dickicht. Noch hatte sie die Kraft, mit herzzerreißendem Tone zweimal: »Robert! Robert!« zu rufen, dann preßte sich eine rauhe Hand auf ihre Lippen, und zu Tode erschrocken, verlor sie die Besinnung.

Gleichzeitig stiegen zwei Männer den gewundenen Pfad empor, auf welchem sich Rose und Robert in verliebtem Geplauder so lange spazieren geführt. Der eine stolperte sehr häufig, der andere war bemüht, den Gefährten vor dem Fallen zu bewahren.

»Alle Wetter! Ich weiß nicht, warum die Kieselsteine heute abend so hoch sind,« sagte die heisere Stimme Chassevents.

»Ei, mein Bester, Ihr hebet heute Eure Füße nicht so hoch, als gewöhnlich,« versetzte die krähende Stimme Pourtois'.

»Ich habe doch nicht getanzt . . .«

»Nein, aber Ihr habt Euch den Schlund hübsch ausgespült . . .«

»Das wirfst du mir noch vor, du Undankbarer! Meinst du, wenn ich nicht so gebrüllt hätte, um deine Gäste zu unterhalten, daß ich einen solchen Spitz hätte und du eine solche Einnahme?«

»Gewiß nicht, Alter . . . deshalb wollte ich Euch auch meinen guten Willen zeigen und begleite Euch ein Stück Weges, um sicher zu sein, daß Ihr nicht in eine Kalkgrube stürzt.«

»Gut,« brummte der Trunkenbold, »wenn du dich bloß aus Vorsicht und nicht aus Freundschaft bemühst, so kannst du gleich wieder nach Hause gehen . . . Sei nicht eigensinnig . . . Ich brauche dich nicht . . . Je betrunkener ich bin, desto klarer sehe ich . . .«

Trotz der Schwere in seinen Füßen marschierte er jetzt in aufrechter Haltung vor dem Wirte, der schnaufend wie eine Robbe hinter ihm hertrabte. So gelangten sie bis zu dem Kreuzwege von Couvrechamps, und nun sagte Pourtois: »Laßt uns hier eine Minute ausruhen, dann mache ich Euch meine Reverenz und gehe nach Hause.«

Sie ließen sich auf den Rand des Weggrabens nieder, und aus Gewohnheit verbarg sich der Wilddieb hinter einem Gebüsche. Sodann nahm er die Pfeife aus der Tasche, stopfte sie und begann zu rauchen, als ein rascher Schritt seine Aufmerksamkeit erregte. Mit einer geschickten Bewegung drückte er seinen Begleiter in das Heidekraut nieder, und mit seinen, an das nächtliche Dunkel gewöhnten Augen die Finsternis durchdringend, blieb er regungslos auf der Lauer.

»Es ist der junge Mann von Clairefont,« sagte er mit leiser Stimme. »Wo zum Teufel mag der jetzt herkommen? Er muß vor dem Nachhausegehen noch gebummelt haben . . . Wird gewiß irgend einer Schürze nachgelaufen sein . . . Wer weiß? Vielleicht ist es gar meine Kleine . . . Er streicht schon lange um sie herum . . . Ei, dann brauchte ich mich ja in meinem Geschäfte weniger zu genieren . . . Auch ist heute gerade das Wetter dazu, um Schlingen zu legen . . . Ob ich's versuche? . . . Ich habe sie bei mir . . .«

Damit zog er aus seiner Bluse ein Bündel Messingdrähte hervor.

»Halt! Wartet ein wenig,« rief Pourtois, sich vom Boden erhebend . . . »Ich habe durchaus keine Lust, die Bekanntschaft des Gerichtspräsidenten zu machen . . . Brecht Euch den Hals, wenn Ihr wollt, Alter, ich mache, daß ich fortkomme . . .«

Doch der dicke Mann hatte kaum noch die Zeit, einen Schritt vorwärts zu thun; ein markerschütternder Schrei, der von fernher zu klingen schien, ließ ihn erstarrt stillhalten, dann tönte nochmals der von Todesangst durchbebte Ruf: »Robert! Robert!«

»Was ist das?« fragte Chassevent, indem er heftig den Arm des Wirtes ergriff.

»Es ist, als ob jemand erwürgt würde!« stammelte Pourtois, dessen Zähne aneinander schlugen.

»Donnerwetter! Wir müssen hinlaufen, und sehen . . . Wir zwei Männer werden doch nicht einen Unglücklichen umbringen lassen, ohne ihm zu Hilfe zu kommen . . .«

»Chassevent, gehen wir nicht hin,« flehte in kläglichem Tone der Dicke. »Es kam aus der Gegend des Steinbruches!«

»Und wenn es aus der Hölle wäre, ich geh' hin,« entgegnete der Wilddieb, dessen Rausch mit einem Male verflogen zu sein schien . . .

Er stürzte fort, und Pourtois, der, vor Angst an allen Gliedern zitternd, es vorzog, ihm zu folgen, als allein zu bleiben, keuchte mitten durch das Ginstergestrüpp der Heide hinter ihm her. Mit dem Instinkte des erfahrenen Jägers eilte Chassevent geradeaus nach der Richtung hin, woher der Hilferuf erklungen war, und in seinen schweren, eisenbeschlagenen Schuhen rannte er über Stock und Stein, ohne nur einmal zu schwanken. So legte er etwa hundert Meter zurück, indem er mit fabelhafter Geschicklichkeit die Gruben und Pfützen vermied, mit welchen der Boden übersäet war. Dann hielt er still, den keuchenden Atem zurückhaltend, um zu lauschen . . . In der Tiefe vor ihnen ließ sich ein Stöhnen vernehmen . . . Ohne ein Wort zu verlieren, eilte der Wilddieb hinunter, indem er bemüht war, das Geräusch seiner Schritte soviel als möglich zu dämpfen . . . Aber er mußte dennoch gehört worden sein, denn eine verschwommene Gestalt erhob sich rasch und jagte wie ein aufgescheuchtes Raubtier in gewaltigen Sätzen dahin, über den steilen Abhang hinunter . . .

»Er wird uns entwischen . . . Holla! Halt dich brav, Pourtois! . . .« schrie Chassevent, indem er seinen Gefährten aufmunterte, als ob er seine Hunde anzufeuern hätte . . .

Als der Flüchtling die Stimme des Vagabunden erkannte, blieb er plötzlich stehen . . . Er schien sich hinabzuneigen und einen Gegenstand, dessen er sich entledigen wollte, auf den Boden niederzulegen, dann setzte er mit verdoppelter Schnelligkeit seinen Lauf fort, erreichte die Hochebene und verschwand.

»Er entwischt uns!« schrie Chassevent, »aber er hat ein Bündel zu Boden geworfen. Wir müssen sehen, was es ist . . .«

In einigen Sekunden erreichten sie den Rand einer ehemals dem Bergbau dienenden Grube, in welcher jetzt Heidekraut sproßte. Auf dem Grunde derselben lag eine weiße Gestalt.

»Man könnte meinen, es sei ein Frauenkörper!« rief in fürchterlicher Erregung Pourtois, dem der Schweiß herabtroff.

»Ich steige hinab,« sagte Chassevent. Und sich an Gebüsche und Felsstücke anklammernd, gelangte er hinunter. Er kniete nieder, beugte den Kopf herab und warf ihn alsbald mit dem gellenden Schrei zurück: »Es ist meine Tochter!«

Diese entsetzlichen Worte verliehen Pourtois Flügel. Halb springend, halb niedergleitend, kam er bei seinem Kameraden an, und seine Geistesgegenwart keinen Augenblick verlierend, nahm er das leblose Mädchen in die Arme, hob ihren Kopf in die Höhe und befühlte ihre Hände, die warm waren.

»Licht!« rief er.

Augenblicklich zog der Wilddieb ein Endchen von einem Wachsstock und Zündhölzchen aus der Tasche, und man konnte nun deutlich sehen. Es war ein grausiges Bild, welches die dunkle Grube bot, in welcher die beiden Männer beim rötlichen Scheine des Lichtstümpfchens sich über das regungslos daliegende Mädchen beugten. Rose, leichenblaß, mit blauen Lippen und geschlossenen Augen, hatte um den Hals ihre Schärpe gewunden wie einen Strick . . . Mit Mühe löste Pourtois dieselbe los . . . Ein tiefer Seufzer entstieg dem Munde des schönen Mädchens, ihre Augen öffneten sich weit mit dem Ausdrucke entsetzlicher Angst, dann fielen sie wieder zu; die Hände fuhren krampfhaft in der Luft umher und der Kopf sank hintenüber.

»Großer Gott! . . . Sie stirbt!« jammerte der Wirt.

»Oh!« heulte Chassevent . . . »Meine Tochter! . . . Meine kleine Rose! . . . Aber wo ist der Missethäter?«

Er schlug sich an die Stirn, dann schrie er mit dem Ausdrucke unbändigen Hasses: »Das kann kein anderer sein, als der Schuft, der Clairefont! . . . Er war da . . . er ist's. Ah, Canaille!«

»Was redet Ihr da? Ihr werdet verrückt!« rief Pourtois . . . »Ihr wisset wohl, daß wir Herrn Robert heimkehren sahen, noch ehe wir schreien hörten . . .«

»Er ist's! Er ist's!« hub Chassevent mit wachsender Wut wieder an . . . »Oh, aber meine Tochter . . . er soll mir sie bezahlen! Er soll wissen, was ein so gutes, sanftes Kind wert ist!«

»Sehen wir vor allem, ob es nicht noch ein Mittel gibt, sie wieder zu beleben. Mein Haus ist nicht weit . . . Tragen wir sie hin . . .«

Sie hoben das arme Mädchen, dessen Hände bereits erkalteten, empor, und im Halbdunkel des anbrechenden Tages stiegen sie zur Schenke hinab.

Ende des ersten Bandes

 


 << zurück weiter >>