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Derjenige, der sich erkühnt hatte, sich eine so hartnäckige, gefährliche Feindschaft wie die Jean Carvayans zuzuziehen, war heute ein Greis mit gefurchter Stirn, schneeweißem Haar, mit schwankendem Schritt und vom Alter gebeugtem Rücken. Einst hatte man ihn den schönen Clairefont genannt, und die Triebfeder jenes unversöhnlichen Hasses, gegen den er heute zu kämpfen hatte, war ein alter Liebeshandel.
Sein Geburtsjahr, 1816, sah die Restauration auf dem Höhepunkte ihrer Macht und ihres Glanzes. Sein Vater hatte mit dem Vermögen seiner Frau, einer reizenden Engländerin, die er während der Revolution, als Flüchtling im Auslande lebend, geheiratet, das väterliche Stammschloß zurückgekauft und ausgedehnte Ländereien erworben, welche ihm ein jährliches Einkommen von 120 000 Pfund sicherten. Der Gunst Ludwigs XVIII., mit welchem er während fünfundzwanzig Jahren Whist gespielt, indem er ihm überallhin in die Verbannung folgte, von Koblenz nach Verona, von Hartwell nach Paris, hatte er es zu verdanken, daß er zum Kammerherrn und Kommandeur des Ludwigsordens ernannt wurde. Gar viele von den Getreuen, welche in der Vendee vor den republikanischen Kanonenschlünden ihr Leben in die Schanze geschlagen, errangen sich durch ihren Heldenmut nicht so viel, als Herr von Clairefont durch seine Robber.
Mit dreizehn Jahren erlebte Honoré den ersten Kummer: Er verlor seine Mutter. Er war untröstlich, doch sein Vater ließ ihm nicht lange Zeit dazu. Der Marquis war durchaus nicht der Mann, um einem unfruchtbaren Schmerze nachzuhängen. Er bewog den Sohn, seine Thränen zu trocknen, und um ihn zu zerstreuen, ließ er ihn als Page am Hofe Karls X. empfangen. Hier gefielen seine Anmut und Lebhaftigkeit, die Herzogin von Berry gewann ihn lieb und geruhte oft ihre schöne Hand durch die blonden Locken des Knaben gleiten zu lassen. Der Sohn schien demnach zu demselben glücklichen Geschicke erkoren, wie der Vater; schon erlernte er das Whistspiel, als die Revolution, die sich darin gefällt, die Karten der Völker und der Könige durcheinander zu mischen, Karl X. im Fluge nach Cherbourg brachte und ihn zwang, sich nach England einzuschiffen.
Der Marquis, der im Exil seine Carriere gemacht, glaubte sich auch der jetzigen Trübsal nicht entziehen zu dürfen, von welcher er überdies wußte, daß sie im gegebenen Augenblicke glänzend belohnt zu werden pflegt. Er begleitete seinen Gebieter nach Görz und begann den Sohn in die Kunst einzuweihen, dem Unglücke den Hof zu machen. Diese neue Auswanderung, versüßt durch den Genuß eines sehr bedeutenden Vermögens, dauerte länger, als es der Marquis vorausgesehen. Der jüngere Zweig, wie ein Pfropfreis auf den französischen Thron gesetzt, trieb dort feste Wurzeln, und Honoré von Clairefont, der als Knabe den fremden Boden betreten, wuchs auf demselben heran und reifte zum Manne. In dem Maße, als er im Alter vorschritt, traten immer größere Charakterverschiedenheiten zwischen ihm und dem Marquis zu Tage.
Der ehemalige Gefährte des Grafen von Provence war leichtlebig, skeptisch und begabt mit all den glänzenden Eigenschaften der ein wenig sittenlosen Zeit des achtzehnten Jahrhunderts; der Page des Grafen von Artois hingegen hatte ein ernstes Wesen und war begeistert von dem Nützlichkeitsprincipe der neuen Zeitströmung. Als sein Vater, der wie seine zeitgenössische Aristokratie wenig unterrichtet war, bemerkte, daß er sich mit wissenschaftlichen Arbeiten beschäftige, machte er sich über einen Studieneifer lustig, welchen er beklagenswert und pöbelhaft fand.
»Welchem Berufe willst du dich denn widmen?« sagte er zu Honoré. »Willst du etwa Industrieller oder Kaufmann werden? Es gibt nur eine Wissenschaft, die einem Manne von deinem Range ziemt: es ist die, standesgemäß zu leben, und ich fürchte, daß diese gerade die einzige ist, welche dir abgeht. Es betrübt mich, zu sehen, daß du die Geschmacksrichtung eines armen Schluckers hast . . . Du schadest deiner Stellung in der großen Welt und deinem Avancement . . . Diese Sinnesart muß von seiten deiner Mutter auf dich übergegangen sein, welche einst in ihrer Familie Tuchwirker hatte . . . es war das zu Zeiten dieses Schlingels von Cromwell . . . Denn was die Clairefonts betrifft, die haben niemals etwas anderes gelernt, als den Degen zu führen und ihre Revenüen schicklich auszugeben . . . Alles andere wußten sie schon durch ihre Geburt.«
Diese Spöttereien bekehrten Honoré nicht, der in den wissenschaftlichen Studien Erholung von dem langweiligen Leben fand, welches er an dem trübseligen, verdrießlichen Hofe des entthronten Königs führen mußte. Für Physik und Chemie hatte er eine besondere Vorliebe gefaßt. Seine glücklichsten Stunden verbrachte er in einem zu einem Laboratorium umgewandelten Zimmer, in Gesellschaft eines gelehrten ehemaligen Professors von der Jenaer Universität, welchen er durch sein einnehmendes Wesen an sich zu fesseln verstanden hatte. Eines Morgens, als während eines Experimentes sich ein starker Knall vernehmen ließ, fragte ihn sein Vater ironisch, was es denn sei, das er mit so viel Gepolter erzeuge, und als Honoré, der den Marquis sehr fürchtete, stumm dastand, fuhr er fort: »Sollte es etwa ein Lebenselixir sein, wie es mein Freund, der Graf von Saint-Germain, zu besitzen vorgab, so wirst du gut thun, mein Bester, mir eine kleine Flasche davon zu geben, denn ich fühle mich seit einiger Zeit nicht ganz wohl.«
Der junge Marquis erschrak und ließ den Leibarzt kommen, doch die sorgfältigste Pflege blieb erfolglos. Der Vater starb. Seine ganze Krankheit war ein Alter von achtzig Jahren.
Kaum großjährig geworden, war Honoré nun völlig frei, sehr reich und des Lebens in der Fremde herzlich müde. Er wollte nicht länger in dem Salon eines armen, fast kindisch gewordenen Fürsten schmollen, und da es ihm gleichgültig war, wie Louis Philipp seine Rückkunft aufnehmen würde, so kehrte er nach Frankreich zurück und eilte, Schloß Clairefont wiederzusehen. Die heimatliche Luft machte ihn freudetrunken, und nun erst fühlte er sich wirklich jung und lebenslustig, was für ihn eine völlig neue Empfindung war. Frische Jugendkraft durchströmte ihn, er dachte weniger an die Retorten, das Laboratorium sah er selten und zuletzt beschloß er, die Wintermonate in Paris zu verbringen.
Der Marquis war ein wenig zu früh gestorben. Wenn er gesehen hätte, wie ausgezeichnet sein Honoré es nun verstand, zu schmausen, zu spielen u. s. w., würde er sicherlich die tröstliche Ueberzeugung ins Jenseits mitgenommen haben, daß der Name der Clairefonts keinem Pedanten zugefallen war. Der junge Mann gehörte zum Jockeyklub, der gerade zu der Zeit ins Leben getreten war; er ließ seine Pferde rennen, verkehrte hinter den Coulissen der Oper, und als sein Einkommen zu dieser Lebensweise nicht hinreichte, griff er flott das Kapital an. Jeden Sommer, während der Jagdzeit, verlebte er einige Monate auf Schloß Clairefont und verblüffte die Bewohner von Neuville durch den Reichtum seiner Equipagen und die Pracht seiner Empfangsabende. Die außerordentlichsten Gerüchte waren über die Feste verbreitet, welche der junge Schloßherr seinen Freunden gab. Man erzählte sich, daß bei einem Mahle achtzig Flaschen Champagner getrunken wurden und daß Damen in Männertracht den vom Schloßherrn veranstalteten Treibjagden beiwohnten. Eine von diesen Damen hatte sogar einmal, als sie nach einem Reh zielte, die Wade eines Treibers getroffen, und der Verwundete ward mit zweitausend Franken für seine Schmerzen entschädigt. Ein kleines Vermögen das! Seitdem träumten alle Bauern der Umgegend davon und schlichen unvorsichtigerweise an Jagdtagen im Walde umher, um vielleicht auch einen solchen Treffer zu erhaschen.
Der Marquis Honoré war ein schöner junger Mann, von mittelgroßem Wuchse, blond, mit blauen, sehr sanften Augen. Wenn er seinen Jagdwagen durch das Städtchen lenkte und das Pflaster unter den Hufen der Pferde erzitterte, folgte ihm so mancher verstohlene Blick aus Frauenaugen. Viele Herzen schlugen insgeheim für ihn. Aber was war von einem solchen Lebemanne zu hoffen, von dem es hieß, daß er in Paris sich eines fabelhaften Liebesglückes erfreute, und mit denselben Blumenketten berühmte Schauspielerinnen und stolze, vornehme Damen gefesselt hielt? Inzwischen bereitete sich ein Ereignis vor, welches das größte Aufsehen im Städtchen erregen und einen bedeutenden Einfluß auf das Geschick des Marquis ausüben sollte.
In der Rue du Marché neben dem öffentlichen Brunnen, dessen fortwährend überlaufendes Wasser die Mauern der Nachbarhäuser mit grünlichem Schimmel überzogen hatte, stand ein enges, niedriges Haus mit spitzem, schiefstehendem Giebel und grünen, in der Mitte mit Butzenscheiben geschmückten Schiebfenstern. Oberhalb der Thür stand auf einer schwarzen Tafel geschrieben: »Kleien, Hafer. Futterhändler Gatelier.« Der kleine Laden im Erdgeschosse war mit Getreidesäcken angefüllt; einem an der Wand angebrachten großen Fächerkasten, in welchem Getreideproben in Gläsern aufbewahrt wurden, entstieg ein muffiger Geruch. Diese feuchte, trübe Wohnung, wohin nie ein Lichtstrahl drang, erschien dem Marquis aber heute hell und leuchtend. Es war an einem Markttage; sein Wagen, durch einen Knäuel ins Stocken geratener Fuhrwerke aufgehalten, mußte stillhalten. Zerstreut warf er einen Blick auf das düstere Haus, und überrascht, geblendet blieb sein Auge darauf haften. An dem emporgezogenen Fenster saß, mit einer Stickerei beschäftigt, ein junges Mädchen, blond, wie eine Madonna von Raphael, mit durchsichtig weißer Gesichtsfarbe, zartem, träumerischem Munde, die blauen Augen von langen, braunen Wimpern beschattet, voll zarter, reizender Anmut, die ihm wie eine Blume erschien, welche ohne Licht und Sonne schmachtet.
Die Karren, welche die Straße versperrt hielten, hatten sich entfernt, die Bauern, die unter großem Aufwande von Geschrei und kräftigen Handschlägen sich um die Verkaufspreise herumgestritten, waren in die benachbarte Schenke getreten, der Weg war frei, die Pferde des Marquis, welche kein Hindernis mehr vor sich sahen, schnaubten und stampften ungeduldig den Boden, und doch hielt der junge Marquis noch immer still, die Augen unverwandt auf das Fenster gerichtet, wo jene entzückende Schönheit strahlte. Er vergaß völlig, wo er sich befand, unbekümmert um die Klatschereien der Einwohner des Städtchens, blieb er in Bewunderung völlig versunken und empfand nur den einen Wunsch, abzusteigen, um sich derjenigen zu nähern, die auf den ersten Anblick einen solch tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Der schrille Ton einer Glocke, von dem Marktwächter in Bewegung gesetzt, schreckte ihn in höchst unangenehmer Weise aus seinem Entzücken empor. Mit verdrießlichem Blicke betrachtete er die schmutzige Straße, das alte, dunkle Haus und fragte sich, durch welche Schicksalsironie diese Perle in einen solchen Pfuhl kam. Plötzlich durchzuckte es ihn wie ein elektrischer Schlag. Ein Mann war aus dem Hause getreten, hatte sich an die Thürbrüstung gelehnt und ließ seine gelbschimmernden Augensterne mit herausforderndem Blicke auf dem jungen Marquis ruhen. Herr von Clairefont musterte von seinem Sitze aus den Kühnen. Er sah einen kleinen, mageren Mann mit schlauem Gesichtsausdruck, erhellt durch Augen von außergewöhnlicher Lebhaftigkeit. Wie ein Arbeiter gekleidet, trug er eine grauwollene Bluse und grüne, abgenutzte Samtbeinkleider. Im selben Augenblicke erhob das junge Mädchen den Kopf und bemerkte Honoré, der vor dem Hause hielt. Sie errötete, wendete sich ab, und mit scheinbar gleichgültiger Miene verließ sie ihren Sitz am Fenster und verschwand in dem Dunkel des Ladens. Der Marquis hörte, wie sie mit sanfter, wohlklingender Stimme sagte: »Carvayan, statt auf die Straße zu schauen, beendigen Sie lieber Ihre Arbeiten.«
Der Gehilfe schüttelte die sonngebräunte Stirn, wie um peinliche Gedanken von sich zu weisen, und wendete noch einmal sein finsteres, drohendes Gesicht dem Marquis zu; dann trat er langsam in das Haus zurück, und knarrend fiel die Thür hinter ihm ins Schloß.
Honoré gab den Pferden einen leichten Hieb, und sich zu seinem Diener wendend, welcher mit gekreuzten Armen ruhig auf dem Rücksitze saß, fragte er mit anscheinend unbefangener Miene: »Wer ist denn dieses hübsche Mädchen?«
»Das ist die Tochter des Vaters Gatelier, Herr Marquis. O, sie ist in der ganzen Gegend gekannt, sie heißt Edile . . . Aber meistens wird sie die schöne Kornhändlerin genannt . . .«
»Anständig?«
»O, Herr Marquis, durchaus ehrenhaft . . . Der Vater ist wohlhabend, und wenn sie etwas Ehrgeiz besitzt, wird sie mindestens einen städtischen Beamten heiraten können . . .«
»Und wer ist der Bursche mit dem Fuchsgesicht, der auf der Thürschwelle stand?«
»Das ist Jean Carvayan, der Gehilfe . . . Ein pfiffiger, tüchtiger Arbeiter, der das ganze Geschäft leitet, denn Vater Gatelier ist weit öfter im Wirtshaus, als in seinem Laden zu finden . . .«
Der Marquis nickte mit dem Kopfe, um zu bedeuten, daß er nun alles wisse, was ihm zu wissen beliebe, und der wohlgeschulte Lakai verfiel wieder in sein feierliches Schweigen.
Die folgenden Tage erschien Honoré ebenfalls in der Rue du Marché. Er stieg zu Fuß den steilen Weg hinab, der von Clairefont nach Neuville führte, und mit Erstaunen sahen die Einwohner, wie er, den Spazierstock unter dem Arm, in Gedanken vertieft, daherkam. Das gab ein endloses Geschwätz. Aus welchem Grunde spazierte der Marquis in den schlecht gepflasterten Straßen umher, da er doch viel angenehmer auf dem weichen Boden der Parkalleen lustwandeln konnte? Für wen bemühte er sich dermaßen?
Jean Carvayan wußte es gar wohl, er, der von der Höhe einer Dachluke aus die Wege und Wendungen des jungen Mannes beobachtete. Er hatte es von der ersten Minute an geahnt, daß dieser sein Augenmerk auf Edile gerichtet habe. Und damit hatte sich auch sofort ein wilder, unversöhnlicher Haß in seinem Herzen entzündet. Er fühlte sich gleichzeitig in seinem Vorteil bedroht, der darin bestand, der Nachfolger seines Herrn zu werden, und in seinem Glücke, welches für ihn in der Hand des reizenden, jungen Mädchens lag. Und diesen Plan, den er seit den zehn Jahren, welche er im Geschäfte des Vaters Gatelier verbrachte, sorgfältig gehegt hatte, sah Carvayan nun durch die Laune eines großen Herrn bedroht. Er erbleichte vor Wut, wenn er in den stillen Mittagsstunden, während deren die Leute der Hitze wegen zu Hause blieben, den festen, kühnen Schritt des Marquis auf dem Pflaster der Rue du Marché vernahm. Er träumte von schrecklicher Rache, und aus dem Heuboden auf die Straße hinunterspähend, ließ er seinen Feind nicht aus den Augen: der Gedanke stieg in ihm auf, daß ein von dem Giebel des alten Hauses sich losbröckelnder Stein leicht die Vorsehung spielen und mit einemmale der ganzen Geschichte ein Ende machen könne. Und mit erregter Hand begann er unverdrossen das Gemäuer zu lockern. Als eines Tages ein herabstürzendes Stückchen Kalk den Marquis an der Schulter streifte, erhob dieser den Kopf und gewahrte im Dunkel der Dachluke ein verzerrtes Gesicht, aus welchem ein Paar Augen blitzten, wie die eines im Hinterhalte liegenden Tigers. Honoré begriff die Gefahr, die ihm drohte, und seitdem wandelte er auf der anderen Seite der Straße, auf und nieder. Er hatte den Mann wiedererkannt, der schon vom ersten Tage an sich ihm als Widersacher entgegengestellt hatte.
Er erkundigte sich über dessen Person und erfuhr, daß der Gehilfe Gateliers der Sohn eines spanischen Unteroffiziers sei, welcher im Jahre 1813 im Gefolge des Königs Joseph nach Frankreich gekommen war und Carvayal hieß. Der Josephiner hatte sich in Neuville niedergelassen und hier als Schreiber ein armseliges Dasein geführt. Carvayal Juan war im Munde der Landbevölkerung in Carvayan verwandelt worden, und dieser veränderte Name hatte den rechtmäßigen vollständig ersetzt. Doch wenn der junge Jean von seinem Vater einen französischen Namen erbte, so war es mit seinem Temperament und seinem Charakter nicht das Gleiche. Von hervorragender geistiger Begabung und verhältnismäßig wohl unterrichtet, verriet er seinen Ursprung durch seine Leidenschaftlichkeit, Heftigkeit und Rachsucht. Er war der Mann, jahrelang den richtigen Augenblick zu erwarten, um dann über seinen Gegner herzufallen und ihn ohne Gnade zu zermalmen.
Mit sechzehn Jahren war er in das Geschäft Gateliers getreten und hatte bald in dem Getreidehandel eine mächtige Handhabe erblickt, um auf die Landbevölkerung einzuwirken. Ehrgeizig, wie er war, beschränkte er seine Wünsche keineswegs auf die Gründung eines großen Vermögens, sondern träumte davon, sich im Lande eine angesehene, bedeutende Stellung zu schaffen. Mit großer Geistesschärfe hatte er den gesellschaftlichen Umschwung, der sich in Frankreich vollziehen sollte, erkannt und die Herrschaft des Bürgertums vorausgesehen. Er wollte daher Bürger sein, reich werden und damit den ganzen Kreis in seine Hand bekommen. Der Marquis Honoré hatte keine Ahnung, auf welch furchtbaren Gegner er stoßen sollte.
Das Kirchweihfest von Neuville, welches am St. Firminustage abgehalten wird, fiel in jenem Jahre auf den 25. September. In dem kleinen Städtchen bietet dieses Fest nicht nur Gelegenheit zum Vergnügen, sondern auch zu regem Geschäftsverkehr. Die reichen Grundbesitzer und die Pächter des ganzen Bezirks kommen zum Markte, welcher vier Tage dauert und während dessen sich ein bedeutender Handel mit Pferden, Rindvieh und Getreide entwickelt. Vater Gatelier hatte von jeher seine Wintervorräte auf dem St. Firminusmarkte eingekauft. Im Kaffeehause schloß er mit den Landwirten die Geschäfte ab, wobei er nicht vergaß, dem Gläschen fleißig zuzusprechen. Während dreier Tage wurde der Getreidehändler nicht nüchtern, und seltsam, je betrunkener er wurde, desto besser verstand er sich auf seinen Vorteil, und je öfter er den Mund öffnete, um ein Schlückchen passieren zulassen, desto fester schloß sich seine Börse. So hieß es auch scherzweise von ihm: Wenn Vater Gatelier im Nassen ist, sind die Verkäufer auf dem Trockenen. Am dritten Tage war er rund wie ein Faß, und seine Käufe waren abgeschlossen. Dann wurde er nach Hause gebracht, um in Ruhe die unzähligen Tassen Kaffee und die Gläschen Branntwein, die er zu sich genommen, auszuschlafen.
Während die Alten den Geschäften nachgingen, waren die Jungen sehr eifrig bei ihren Vergnügungen. Unter einem riesigen Zelte, welches vor dem Rathause aufgeschlagen wurde, tummelten sich die Tänzer, und dieser Ballsaal wurde nie leer. Die ganze Bürgerschaft von Neuville kam herbei, und die benachbarten Großgrundbesitzer erschienen gleichfalls, um ihre Leutseligkeit den Pächtern gegenüber zu beweisen, deren Frauen und Töchter ein ganzes Jahr lang von diesem Feste träumten. Es war Sitte, daß die vornehmen Herren wenigstens einmal sich am Tanze beteiligten, und zitternd dachte Carvayan, daß der junge Marquis bei diesem Anlasse Edile zum Tanze auffordern und mit ihr sprechen könne, ohne daß er es zu verhindern imstande war.
Zu seiner großen Ueberraschung ließ sich Honoré am ersten Festtage gar nicht im Ballsaale sehen; er verkehrte nur draußen mit den Pächtern, plauderte mit deren Töchtern, gab in den Marktbuden viel Geld aus und verteilte die gemachten Einkäufe unter die Kinder, die sich um ihn drängten, kurz, er war gegen alle äußerst liebenswürdig, hatte für jeden ein Lächeln. Hierauf zog er sich, eine heftige Migräne vorschützend, zeitig zurück. Edile lachte, tanzte und unterhielt sich mit so viel Unbefangenheit, daß Carvayan, von seinen bangen Ahnungen befreit, sich weiter keinen Zwang anthat und sich gleichfalls dem Vergnügen hingab. Er fing an zu glauben, daß das Ganze bloß eine Eintagslaune des Marquis gewesen und daß irgend eine neue Grille dieselbe verscheucht habe. Er faßte wieder Vertrauen, und neue Hoffnung beseelte ihn. Er selber mußte über sich lachen. Hatte er nicht schon seine ganze Zukunft bedroht, sein Glück verloren geglaubt? Nun fühlte er sich wie erlöst, und zeigte eine ungewohnte Heiterkeit. Am Sonntag beteiligte er sich an den Geschicklichkeitsspielen der jungen Leute mit dem leidenschaftlichen Eifer, der ihm eigen war und trug mehrere Preise davon. Der Marquis war nicht erschienen, es hieß, er sei krank. Während einiger Stunden fühlte Carvayan sich vollkommen glücklich und seine laute fröhliche Stimme übertönte alles. Er tanzte mit unermüdlichem Feuer und war der Tonangeber des Festes. Um Mitternacht, als die Unterhaltung am lebhaftesten war, suchte er Edile, um sie zum Tanze aufzufordern. Er fand sie nicht. Er ging hinaus und fragte bei allen Freunden des Vaters Gatelier nach ihr. Niemand hatte sie gesehen. Carvayans Knie begannen zu wanken, sein Blick umflorte sich, eine furchtbare Herzbeklemmung drohte ihn zu ersticken. Er hatte das Vorgefühl, daß er hintergangen sei und daß das Fernbleiben des Marquis nur ein Vorwand gewesen. Er eilte in das Kaffeehaus und fand seinen Prinzipal außer stande, zwei Schritte zu thun, geschweige denn einen Gedanken zu fassen. Alsdann stürzte er wieder auf die Gasse hinaus, weil ihm der Gedanke gekommen, daß Edile, müde geworden, sich vielleicht nach Hause begeben habe. Die Vorderseite lag im Dunkel, kein Licht strahlte aus dem Fenster des jungen Mädchens. Dennoch stieg er die Treppe hinauf, die dumpf unter seinen Füßen hallte, pochte an die Thür, erhielt jedoch keine Antwort. Einige Augenblicke stand er regungslos in dem schweigenden Dunkel, mit verwirrtem Sinne auf die heftigen Schläge seines Herzens horchend; dann fiel er, vernichtet von dem Gefühle seiner Ohnmacht, auf die Stufen nieder und weinte laut vor Wut und Herzeleid.
So blieb er lange Zeit. Dann leuchtete ein Gedanke in seinem von Zorn verdunkelten Gehirn auf. Edile war vielleicht in Clairefont; vielleicht war es noch Zeit, sie dem Marquis zu entreißen. Rasch eilte er hinunter und folgte, so schnell ihn seine Füße tragen wollten, dem Wege zum Schlosse.
In einer Viertelstunde stieg er den steilen Hügel hinan, kam wie ein Besessener vor das Schloßthor, welches offenstand, und eilte in den Hof. Dort stand ein Wagen mit zwei kräftigen Pferden bespannt, gerade fiel der Schlag geräuschvoll zu, was ihm bis ans Herz drang, und als der Kutscher die Tiere in Gang setzen wollte, stürzte er vor. Im Dunkel des Wagens unterschied er zwei Gestalten, die eines Mannes und die einer Frau. Er stieß ein heiseres Brüllen aus, und heftig die Thür aufreißend, schrie er: »Edile!«
Ein halberstickter Ausruf antwortete ihm: im selben Augenblicke aber faßte ihn eine nervige Hand beim Kragen und stieß ihn fort, während eine Stimme in befehlendem Tone rief: »Vorwärts!«
Carvayan begriff, daß nun alles zu Ende ging, daß eine Sekunde genügen würde, um ihn und das Mädchen, welches er liebte, durch eine unüberschreitbare Kluft zu trennen. Da wagte er eine äußerste Anstrengung und warf sich den Pferden in die Zügel mit dem Angstschrei: »Edile, steigen Sie aus! . . . Noch ist es Zeit! . . . Ich lasse Sie nicht fort!«
Die sich bäumenden Rosse schüttelten ungeduldig die Kinnkette ihres Stahlgebisses. Die nämliche Stimme wie vorhin rief nochmals zornbebend: »Macht ein Ende! Wenn er nicht ausweicht, haut ihm die Peitsche ins Gesicht.«
Der Arm des Kutschers erhob sich. Ein Sausen, und Carvayan rollte, die Wange bluttriefend, die Brust von der Deichsel getroffen, zu Boden.
Als er wieder zum Bewußtsein kam, war der Schloßhof finster und schweigsam, und auf der Straße nach Paris glänzten wie zwei Sterne die Laternen des Wagens, welcher Edile und ihren Verführer davontrug. Carvayan erhob sich, und mit schwer beklommenem Herzen und trockenen Augen stieg er wieder nach Neuville hinab und trat in das Haus der Rue du Marché, wo Vater Gatelier eben heimgebracht worden war. Er begab sich zu seinem Prinzipal, schüttelte ihn heftig, um ihn zu wecken, und schrie ihm ins Ohr, daß seine Tochter entflohen sei, entführt von Herrn von Clairefont.
»Entführt! Verstehen Sie mich?« brüllte er, indem er seine Finger in den Arm des alten Trunkenboldes bohrte. »Entführt, von dem Elenden!« . . .
»Ah, ah! Fortgeführt!« stammelte Gatelier, indessen Gehirn sich noch etliche Bruchstücke von Geschäftsgedanken herumtrieben. »Fortgeführt . . . Aber du weißt doch, Carvayan, daß bei allen unseren Lieferungen die Fracht auf Kosten des Käufers geht!«
Der Ladengehilfe ließ den Unglücklichen los, der alsbald in schweren Schlaf versank, während Carvayan in seine Kammer hinaufstieg und sich auf das Bett warf, verzehrt von Scham und Zorn.
Die Entfernung Ediles, die alle Pläne Carvayans umstoßen zu müssen schien, hatte für diesen nur glückliche Folgen. Es gibt bevorzugte Wesen, denen alles zum guten ausschlägt, selbst das Unglück. Vater Gatelier, von seiner Tochter verlassen, fand in vermehrtem Trinken das einzige Linderungsmittel für seinen Kummer. Er verließ das Kaffeehaus nicht mehr, und von früh bis abends konnte man ihn mit leuchtenden Augen und schwerer Zunge an dem für ihn reservierten Tische sitzen sehen, umgeben von einem ganzen Berge von ihm geleerter Tassen und Gläser. Vollständig verkommen, kümmerte er sich gar nicht mehr um sein Geschäft, sprach niemals von seiner Tochter und überließ Carvayan die ganze Leitung des Hauses. In drei Jahren hatte sich dasselbe zu einer so bedeutenden Stellung emporgeschwungen, wie es sie niemals besessen, als noch Gatelier die Geschäfte hinter dem Glase abschloß.
Carvayan, berechnend und kalt, thätig und pünktlich, wie er war, hatte damit begonnen, selbst den Bezirk zu bereisen, die Pächter zu besuchen und, wenn sie in Verlegenheit waren, ihnen Geld vorzustrecken, indem er die noch auf dem Felde stehende Ernte als Pfand annahm. So legte er den ersten Grund zu einer landwirtschaftlichen Bank, die ihm späterhin sowohl in finanzieller als in politischer Hinsicht sehr bedeutende Vorteile verschaffte. Zu Anfang des vierten Jahres starb Vater Gatelier.
Alle, die mit ihm getrunken hatten, folgten dem Leichenzuge: es war eine große Menge. Seine Tochter, welche am Morgen des Begräbnistages angekommen war, stieg in der Rue du Marché ab. Sie erschien in der Kirche an der Seite Carvayans, schwarz gekleidet, das Gesicht verborgen hinter einem dichten Kreppschleier, welcher die Züge nicht unterscheiden ließ. Nach der Ceremonie kehrte sie in die Rue du Marché zurück und reiste noch am selben Abend ab, nachdem sie während des ganzen Tages mit Carvayan eingeschlossen geblieben. Am nächsten Morgen wurde der Zimmermaler von Neuville geholt, welcher den Auftrag erhielt, das alte Schild abzukratzen und statt des Namens Gatelier denjenigen Carvayans hinzusetzen. Auf diese Weise erfuhr das Städtchen, daß der Gehilfe der Chef des Hauses geworden und daß er das Geschäft seines Herrn zum Weiterführen übernommen hatte.
Welches Uebereinkommen war zwischen Edile und dem Manne, der sie einst so sehr geliebt, abgeschlossen worden? Niemand erfuhr es je, doch ging das Gerücht, daß sie, vom Marquis getrennt, in guten Verhältnissen lebe. Sie entfernte sich, um niemals wieder zurückzukehren. Carvayan blieb eine Zeitlang bleich und traurig. Doch niemand wagte ihn zu befragen, so lebhaft erregt auch die öffentliche Neugierde war; aber dieses kleine, dürre, eckige Männchen besaß eine Art, den Zudringlichen ins Auge zu blicken, welche alle Vertraulichkeiten kurz abschnitt.
Von diesem Tage an lebte Carvayan nurmehr für seinen Ehrgeiz und seine Rache. Der eine störte die andere durchaus nicht, im Gegenteil, sie hatten beide ein gemeinsames Ziel und der eine half dem anderen. Der Ehrgeiz stiebte danach, den Marquis von Clairefont, welcher ein bedeutendes Vermögen und den größten Einfluß im Lande besaß, zu stürzen und sich selbst an dessen Stelle zu setzen. Der Haß konnte sich für befriedigt halten, wenn dies doppelte Ziel erreicht war. Ein Mann, welcher im Leben eine einzige Idee mit Feuereifer verfolgt, ist unbezwinglich. Carvayan, mit seiner alles gebietenden Willenskraft und seiner unerschütterlichen Geduld, wußte alle seine Handlungen der langsamen und sicheren Vorbereitung für seine Rache unterzuordnen. Er wußte, daß das herbeizuführende Ergebnis lange Jahre vielleicht würde auf sich warten lassen. Aber er war entschlossen, den Boden so lange zu unterminieren, bis ein letzter Schlag den gänzlichen Zusammenbruch herbeiführen könne. Die Entfernung des Marquis hatte die Heftigkeit seiner Empfindungen keineswegs geschwächt. Er brauchte nur den Kopf zu erheben, um sich an das Geschehene zu erinnern. Ihm gegenüber auf dem Hügel konnte er zu jeder Zeit das weiße Schloß der Clairefonts erblicken. Dort war es, wohin er während der St. Firminusnacht mit keuchendem Atem gestürmt war, um sich Edile zurückzuholen. Angeführt, so vollständig angeführt, er, Carvayan, von dieser Puppe von Marquis! Nach zehn Jahren erbleichte er noch bei dieser Erinnerung vor Zorn und Demütigung.
Von ferne folgte er dem Lebensgange Honorés und mit wilder Freude sah er, wie das Vermögen des Edelmannes in dem Maße sich verringerte, als das seine von Tag zu Tage wuchs. Der Marquis, der das lustige Leben bald satt hatte, war wieder zu seinem Steckenpferde, den wissenschaftlichen Experimenten zurückgekehrt. Er hatte bedeutende Kapitalien in verschiedene industrielle Unternehmungen gesteckt, welche aber nicht gelingen wollten. Sein Verstand war mehr lebhaft als scharf, faßte die Dinge in mehr kühner als zweckmäßiger Art auf. Er verrannte sich in eine Idee, verfolgte sie eifrig und liebevoll, und nach einer beträchtlichen Einbuße an Zeit und Geld ließ er sie im Stich, um sich wieder für eine andere zu begeistern. Carvayan, der von den kostspieligen Versuchen des Marquis stets aufs genaueste unterrichtet war, lachte bitter: »Ich werde gar nicht nötig haben, mich dreinzumischen, er selber wird sich zu Grunde richten.«
Eines Tages verlautete im Städtchen eine Nachricht, welche Carvayan mit düsterer Freude erfüllte. Der Marquis war auf seine Besitzung zurückgekehrt. Man hatte den wappengeschmückten Wagen ankommen sehen, und ein Mann war demselben entstiegen, welcher kaum mehr der Schatten des glänzenden Kavaliers war, für welchen einst alle weiblichen Herzen in Neuville höher schlugen. Carvayan wollte sich mit eigenen Augen von der Anwesenheit des Verhaßten überzeugen. Er stieg den Pfad nach Clairefont hinauf, und von der Straße aus sah er die Fenster des Schlosses geöffnet. Lange Zeit blieb er am Rande der Terrasse stehen, in wilde Rachegedanken versunken, und als der Abend herankam, bemerkte er in der Ferne einen Mann langsam zwischen den Blumenbeeten auf und ab wandeln. Nur schwer konnte er Honoré wiedererkennen. Die ehemals schlanke Gestalt war beleibt, die Züge des feinen schönen Gesichtes verschwommen, die Haare dünn. Er war wohl noch der Edelmann von stolzer, schöner Haltung, aber er war nicht mehr der schöne Jüngling mit der frauenhaften Anmut, welche ihn ehemals so verführerisch gemacht.
Carvayan folgte ihm mit seinen durchdringenden Blicken, und als er ihn bei einer Biegung der Allee verschwinden sah, erhob er den Arm drohend wider seinen Feind.
»Du hast die Unklugheit begangen, dich in meinen Bereich zurückzuwagen . . . Wohlan! Ich oder du!« Und langsamen Schrittes kehrte er wieder in das kleine, düstere Haus zurück, in welchem er vereinsamt seinen Haß zu immer hellerer Flamme schürte.
Der Marquis schien es darauf abgesehen zu haben, die Bewohner von Neuville in Erstaunen zu setzen. Ein so geräuschvolles, tolles Dasein er einstens geführt, so zurückgezogen und arbeitsam lebte er nun. Mit nicht rastendem Fleiße bemühte er sich um die Hebung der Kultur auf seinen Feldern und in seinen Waldungen. Er schien darüber seine ganz eigenen Ansichten zu haben, denn er verwandelte einen großen Teil der Ackergründe in Weideland, errichtete eine Mustermolkerei und ließ inmitten des Hochwaldes eine Sägemühle aufstellen, für welche er die Stämme in den eigenen Forsten schlug. Man sah ihn sehr eifrig bei der Beaufsichtigung der Arbeiter, und niemals schien er glücklicher zu sein, als in ihrer Mitte. An der Säge brachte er Verbesserungen eigener Erfindung an und pflegte selbst Hand anzulegen, wenn irgend etwas nicht recht von statten gehen wollte. Die übrige Zeit verbrachte er in einem alten Turme, der mit Physikinstrumenten angefüllt war und in welchem sich auch ein Ofen zu chemischen Versuchen befand. Dort lebte er allein mit einem alten Diener und unter dem bunten Lichte, welches durch die alten, bemalten Fensterscheiben fiel, schien er ein zweiter Faust. Die außerordentlichsten Gerüchte waren über dieses geheimnisvolle Zimmer verbreitet. Man sagte, der Marquis verweigere dort jedem den Eintritt, weil er sich mit Zauberkünsten befasse. Zuweilen erglühten des Abends die Fenster des Turmes in phantastischen Lichtern, was von den Leuten im Thale stets mit Entsetzen wahrgenommen wurde.
Der Marquis mußte unstreitig irgend ein Geheimmittel entdeckt haben, welches die Fruchtbarkeit seines Bodenbesitzes so sehr gesteigert hatte, denn seitdem er sich selbst mit dessen Nutzbarmachung beschäftigte, waren seine Ernten die ergiebigsten in der ganzen Gegend. Neidisch pflegten seine Pächter zu sagen: »Unser Gutsherr hat wohl das schönste Getreide und die reichste Heuernte, doch nur er selbst weiß, wie hoch ihm die zu stehen kommen. Seine Dungmittel sind nicht bekannt, aber teuer sind sie jedenfalls und vielleicht nicht ganz christlich. Lasset es nur gut sein . . .«
Die Bauern mit ihrem Hasse gegen alles Neue wollten nichts von dem Verfahren wissen, welches der Marquis anwendete, um solch erstaunliche Resultate zu erzielen; in ihrem Aberglauben zogen sie es vor, dies auf Rechnung eines übernatürlichen Vorganges zu setzen. Carvayan, der an Teufelsspuk nicht glaubte, war eifrig bemüht, die veränderte Lebensweise des Marquis für seine Zwecke auszubeuten. Auf seinen Fahrten durch alle Winkel des Bezirkes äußerte er sich zu den Landwirten: »Ei, ei! meine lieben Freunde, da habt ihr ja eine völlig unerwartete Konkurrenz bekommen . . . Der Marquis betreibt Viehzucht, wie ich höre, und schickt Milch zum Markte . . . Er hat eben die Mittel, um im großen zu arbeiten . . . Wer weiß, wie es euch nun gehen wird, denn die Preise werden durch diesen großen Zuwachs bedeutend sinken . . . Ihr wisset doch, Herr Honoré hat es nicht nötig und er wird noch dazu unter dem Preise verkaufen . . .«
Auf diese Weise legte er bei der Landbevölkerung die ersten Keime zur Unzufriedenheit. Bald hatte er an Tondeur, dem Holzhändler, einen treuen Verbündeten gewonnen, da dieser nicht ruhig zusehen konnte, daß der Marquis die hundertjährigen Eichen selbst fällen und sägen ließ und sie direkt den Schiffswerften zusendete.
Das Kriegsroß, welches der verschmitzte Tondeur am liebsten tummelte, war die Dampfmaschine des Marquis. Ueber diesen Punkt erwies er sich unerschöpflich.
»Wie, wir Unglücklichen, wir haben nur unsere Hände, um unser Brot damit zu verdienen, und nun kommt dieser reiche Kauz daher und unterdrückt die Arbeit, indem er Werkzeuge gebraucht, die ganz von selber gehen . . . Der Tagelohn der Holzsäger, welcher früher drei Franken betrug, ist jetzt auf deren zwei herabgesetzt und ich finde für diesen Lohn Leute mehr denn genug . . . Es gibt mehr Arbeiter als Arbeit . . .«
Die Erhaltung der Dampfsäge, mit Verbesserungen von der Erfindung des Marquis kostete zwar weit mehr, als sie einbrachte. Durch die Herabsetzung der Tagelöhne erreichte der Holzhändler somit das doppelte Resultat, daß er dem Marquis moralisch geschadet und zugleich ein gutes Geschäft gemacht hatte.
Indessen war die Popularität des Schloßherrn trotz all der Umtriebe Carvayans und seiner Clique eine sehr feste, und das begonnene Zerstörungswerk ließ sich nicht an einem Tage zu Ende führen. Bei den Deputiertenwahlen im Jahre 1847 hatte der Marquis, welcher, von dem royalistischen Komitee gestützt, als Kandidat aufgetreten war, mit starker Majorität gegen Zéphyre Dumontier, den reichen Müller, gesiegt, der die republikanische Partei vertreten hatte.
Die Wahlschlacht war eine sehr heiße gewesen, und Carvayan war so energisch zu Gunsten des Gegners von Honoré aufgetreten, daß die Tochter des Müllers sich davon tief gerührt fühlte. Was der junge Mann aus Haß gegen den Marquis gethan, das sah sie als eine Liebeskundgebung für sich selbst an. Carvayan war viel zu praktisch, um aus dieser Einbildung des reichen Fräuleins keinen Nutzen zu ziehen. Sechs Monate später heiratete er sie mit hunderttausend Franken Mitgift.
Im nächsten Jahre vermählte sich der Marquis gleichfalls. Im Gegensatze zu seinem Vater, der eine Geldheirat geschlossen, ging er eine Ehe aus Liebe ein. Er verband sich mit der jüngsten Tochter des Baron von Saint-Maurice, seines Gutsnachbarn, eines alten Edelmannes mit großen Manieren und kleinem Vermögen, der auf seinen Adel gar sehr erpicht war und seinen Standesstolz auf seine älteste Tochter, Fräulein Isabella, vererbte. Die junge Marquise, eine sanfte, schlichte Natur, schenkte ihrem Gatten zwei Kinder, Robert und Antoinette; sie war während ihrer nur zu kurzen Lebensdauer der gute Engel der Familie, und als sie mit fünfunddreißig Jahren von dannen ging, nahm sie alle Klugheit des Hauses mit sich. Der Marquis gab sich fortan seiner Erfindungssucht hin, die mit dem Alter immer hartnäckiger und kostspieliger wurde.
Robert war dreizehn und Antoinette zehn Jahre alt, als sie ihre Mutter verloren. Deren Stelle vertrat fortan bei den Kindern ein Vater, dessen ganzes Sinnen und Trachten bei wissenschaftlichen Hirngespinsten weilte, und eine Tante, ein altes Mädchen, welches durch die Ehelosigkeit sich ein männliches Wesen angeeignet hatte und um fünfzig Jahre hinter dem Zeitgeiste zurück war. Fräulein Isabella hatte das kleine, der Familie Saint-Maurice gehörige Schlößchen verlassen und war nach Clairefont gekommen, um die Leitung des Hauswesens zu übernehmen. Und während ihr Schwager sein Leben damit hinbrachte, Erfindungen zu ersinnen, die in der Theorie bewundernswert waren, in der Anwendung aber stets als trügerisch sich erwiesen, unterrichtete sie ihre junge Nichte im Reiten und hielt im Parke Schießübungen mit ihrem Neffen, wobei sie mit ihrer entschiedenen Redeweise, ihren derben Grundsätzen und ihrer naturwüchsigen Laune alle Welt in Erstaunen setzte.
Im Grunde war sie die ehrbarste Frau der Welt, dabei von einer Unwissenheit und leicht verletzten Empfindlichkeit, die jedem alten Bärenbeißer zur Ehre gereicht hätten. Ihr Kinn zierte ein kleines Bärtchen, und wenn jemand sich vergaß und sie mit »Frau« statt »Fräulein« anredete, wäre sie beinahe imstande gewesen, ihm die Ohren zu schütteln. Niemals entströmten einem menschlichen Munde mehr Sprachwidrigkeiten. Sie sagte glattweg: »Mein Neffe reitet wie ein ›Bucentaurus‹«. Der Marquis versuchte dann wohl ihren Irrtum zu berichtigen und ihr den Unterschied zwischen einem Roßmenschen und der prächtigen Galeere des Dogen von Venedig begreiflich zu machen, sie aber entgegnete erzürnt: »Ich bitte Sie, mein Bester, lassen Sie mich in Ruh' mit Ihren ›Mischmaschs . . . Jeder spricht auf seine Weise, und ich bin keineswegs sicher, ob gerade die Ihrige die richtige ist. Die Hauptsache ist, daß man mich versteht, und bis heute haben Ihr Sohn und Ihre Tochter immer noch sehr wohl gewußt, was ich ihnen sagen wollte. Und außerdem gute Nacht! Unsere Väter wußten nicht so viel, und doch standen zu ihren Zeiten die Sachen viel besser, während das heutzutage ein wahres ›Kapernaum‹ ist.«
Tante Isabella hatte auf die Charakterbildung ihres Neffen Robert einen verhängnisvollen Einfluß geübt. Sie hatte den jungen Grafen von seiner Kindheit an mit ihrer, wenn auch gut gemeinten, doch derben Zärtlichkeit behandelt und ihm die Meinung beigebracht, daß die Welt bloß zum Privatvergnügen der Clairefonts und der Saint-Maurices geschaffen worden, und daß die übrigen lebenden Wesen, welche sich noch auf der Erdoberfläche zeigten, die demütigen Diener der beiden adligen Familien seien.
Robert, ein schöner, liebenswürdiger Junge, mit von Gesundheit strotzender Gesichtsfarbe, begabt mit einer erstaunlichen Geistesträgheit und einer ebenso wunderbaren körperlichen Regsamkeit, machte der Erziehung, die ihm Tante Isabella gegeben, alle Ehre. Er war der kühnste Schütze, der tapferste Trinker, der keckste Mädchenjäger des ganzen Bezirkes. Es lag etwas von der männlichen, rohen Gewalt des Mittelalters in ihm, und mit Stolz sagte das alte Fräulein von Saint-Maurice zu ihrem Schwager, wenn dieser sich über Mangel an Fleiß und über das ungestüme Wesen Roberts beklagte: »Ja, Sie können den Jungen nicht begreifen, Sie sind eben ein Clairefont von heute, und er ist ein Clairefont von ehemals.«
Antoinette hingegen war trotz der zügellosen Unterrichtsmethode der Tante Isabella ein sehr liebenswürdiges, einfaches und modernes Mädchen geworden. Sie kehrte in ihrem Benehmen keineswegs die Marquise hervor und war ebenso ruhig und sanft, wie ihr Bruder lebhaft und ungestüm. Durch vieles Lesen hatte sie sich ziemliche Kenntnisse erworben, ohne dabei die körperlichen Uebungen zu vernachlässigen, welche die alte Tante von Saint-Maurice so leidenschaftlich liebte.
Sie war von hohem Wuchse, und wundervoll gebaut. Ihr volles Gesicht, mit dem frischen rosigen Teint, war von glänzenden schwarzen Augen erleuchtet, ihre zarten Lippen ließen beim Sprechen kleine weiße Zähne erblicken. Dazu hatte sie die schönsten Hände und Füße. Der gewöhnliche Ausdruck ihres Gesichtes war heiter und wohlwollend. Man fühlte, daß sie seelengut sei und sich einer ausgezeichneten Gesundheit erfreue.
Für ihren Vater hegte sie eine schwärmerische Verehrung, sie verzog ihn wie ein wahres Kind. Sie war die einzige im Hause, die seinen wissenschaftlichen Liebhabereien Aufmerksamkeit schenkte. Sie bemühte sich, dieselben begreifen zu lernen, und wo ihr dies nicht gelang, bewunderte sie dieselben mit gläubigem Vertrauen. Sie kopierte seine Modelle, und untermalte dieselben mit Wasserfarben. Dann war Herr von Clairefont auf dem Gipfel seines Glückes, denn die rührende Bewunderung, die er in den Augen seiner Tochter las, war für ihn der süßeste Triumph. Leider war dies auch sein einziger. Einen unglücklicheren Erfinder hat es wohl nie gegeben. Der Marquis, dessen fruchtbares Gehirn so vielfältige Erfindungen kombinierte, vermochte niemals auch nur eine derselben nützlich anzuwenden.
Immer war es das Gebiet der Landwirtschaft, auf welchem er seine kühne, ersprießliche Thätigkeit entfaltete. Kühn war dieselbe in der That, manche meinten sogar verrückt, aber ersprießlich blieb dieselbe bloß für die Kaufleute, welche ihm die Maschinen, das Material, die chemischen Produkte und die sonstigen höchst kostspieligen Bestandteile zu seinen Versuchen lieferten.
Tante Isabella sprach sich über diese vernünftig scheinende fixe Idee ihres Schwagers sehr frei aus. Sie sagte zu ihm: »Sie sind nur ein halber Narr, nicht verrückt genug, daß man das Recht hätte, Sie einzusperren, und doch nicht verständig genug, um Sie in Freiheit zu lassen . . . Mit allen Ihren ›Machinationen‹ verzehren Sie Ihr Vermögen, und wenn alles dahin sein wird, so werden weder Sie noch ich imstande sein, ein neues herzuschaffen . . . Ja, ehemals, da wäre Ihnen mit einem kleinen, königlichen Kabinettsbefehl sofort geholfen gewesen . . . Aber heutzutage . . . Da kann sich auch unsereins zum Teufel scheren . . .«
Der Marquis lachte über diese Einfälle der streitfertigen alten Dame und begnügte sich mit der Entgegnung: »Beruhigen Sie sich, liebe Schwägerin, vielleicht schon in den nächsten Tagen werde ich gefunden haben, was ich suche, und Sie sollen mich ein Vermögen erwerben sehen, um welches mich die größten Industriellen beneiden werden; denn ich werde mir Reichtum und Ruf mit einem Schlage erringen.«
»Nun, dann wird man sagen: ›Clairefont, Kaufmann oder Fabrikant . . .‹ Schöner Ruhm das, in der That! Als Sie meine Schwester heirateten, hatten Sie noch achtzigtausend Franken Revenüen . . . das war weitaus genug, um bequem zu leben! . . . Und darauf hätten Sie sitzen bleiben sollen, wie eine Henne über ihren Eiern, um sie sich zu bewahren und Ihre Kinder damit auszustatten . . . Aber Sie ziehen es vor, die Wissenschaft auszustatten mit neuen Errungenschaften, und lassen sich von Betrügern anführen, welche Ihnen dummes Zeug, das keine vier Sous wert ist, um schweres Geld verkaufen . . . Sie denken niemals an die Zukunft . . . und das ist ein großes Unrecht . . . denn Sie haben Feinde und Sie kennen das Sprichwort: Wer die Rechnung ohne den Wert macht . . .«
»Ohne den Wirt, liebe Schwägerin,« berichtigte sanft Honoré, und sein bereits völlig ergrautes Haupt schüttelnd, stieg er wieder in seinen Turm hinauf, wo er sich mit köstlicher Sorglosigkeit in die Probleme vertiefte, welche seine Lebensfreude bildeten und die ihm, wie er hoffte, in Zukunft Schätze bringen sollten. Jedoch ungeachtet der Sorgen, welche die zunehmende Verschlechterung der finanziellen Lage des Marquis seiner Umgebung verursachte, waren die Schloßbewohner von Clairefont glücklich. Nicht so verhielt es sich im Hause Carvayans, trotzdem seine Stellung und sein Einfluß im Lande zu immer größerer Bedeutung gelangten und seine Reichtümer sich insgeheim stetig vermehrten.
Noch zehn Jahre später war das kleine Haus in der Rue du Marché in demselben Zustande, als da Vater Gatelier es noch bewohnte. Carvayan hatte sich hier seinen Haushalt eingerichtet und lebte bescheiden und arbeitsam. Die reiche Müllerstochter, welche gar bald ihre Illusionen verloren und erkannt hatte, daß ihr Gatte sie nur ihres Geldes wegen geheiratet, hatte im stillen manch bittere Thräne der Enttäuschung geweint. Ihre einzige Freude war die Liebe zu ihrem Kinde, dem sie sich mit leidenschaftlicher Hingebung widmete. Der kleine Pascal war ihr ganzes Leben, ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Sie vergaß ihr Leid, wenn sie ihn lächeln sah, und der Gedanke, daß das Kind eines Tages sehr reich sein werde, ließ sie willig die an Geiz grenzende Sparsamkeit Carvayans ertragen.
In diesem alten, niedrigen, engen und düsteren Hause wuchs Pascal heran, in bebender Furcht vor seinem Vater, dem strengen Manne mit dem dunklen Teint, der großen, spitzigen Nase, den klaren, runden Augen, die gelblich schimmerten wie Goldstücke. Neben dieser drohenden Gestalt sah er das bleiche, traurige Antlitz seiner Mutter, deren milder Blick die Seele des Kindes erwärmte und deren zärtliche Worte seinen Geist erhellten.
Mutter und Sohn lebten zurückgezogen und einsam in einem Zimmer mit dunklem Holzgetäfel und nur einem Fenster, in welchem Levkojen und Nelken in einem Holzkasten blühten. Vor diesem Fenster, dem einzigen heiteren Plätzchen der düsteren Wohnung, spielte der kleine Pascal, so daß seine Mutter ihre Lieblinge, Kind und Blumen, stets vor Augen hatte.
Carvayan erschien bloß während der Mahlzeiten. Wenn er nicht auf der Landstraße umherfuhr, so saß er in seinem Kabinett im Erdgeschoß; dorthin kamen an Markttagen die in Geldverlegenheit geratenen Landwirte behufs einer Anleihe und brachten an ihren groben Schuhen Proben von dem Straßenschmutze aller Gemeinden des Bezirkes mit. Der schwere Thürklopfer, von ungeduldiger Hand in Bewegung gesetzt, tönte mit dumpfem Klange durch das Vorhaus, und der schleppende Schritt der Magd, welche zum Oeffnen herbeikam, glitt über den Steinboden.
Zuweilen drangen laut und zornig gesprochene Worte, welche alsbald von der harten, schneidigen Stimme Carvayans übertönt wurden, bis hinauf in den ersten Stock, dann hörte man die Thüren heftig zuschlagen. Neugierig steckte sodann Pascal den Kopf zwischen zwei Blumentöpfen zum Fenster hinaus und blickte dem Besucher nach, welcher sich die Straße entlang entfernte, mit gesenktem Kopfe und gebeugten Schultern, wie gebrochen. Manchmal wendete sich der Mann, an der Ecke der Straße angelangt, nochmals um, mit zornigem Gesicht und drohend geballter Faust. Einmal war es sogar vorgekommen, daß ein Bauer, kaum aus dem Hause getreten, dicht vor demselben mit lauter Stimme gerufen hatte: »Du hast meine Wiesen, du hast meine Felder, willst du nun auch noch meine Haut, elender Wucherer?«
Der Knabe, welcher damals sieben Jahre zählte, blieb lange sinnend am Fenster. Er fühlte, daß es eine Beschimpfung gewesen, die man an seinen Vater gerichtet, ihre Bedeutung aber verstand er nicht. Lange Zeit behielt er dieses Wort tief in sein Gedächtnis eingeprägt, wendete es in seinem Kinderköpfchen hin und her und versuchte den Sinn desselben zu ergründen. In seiner erregten Einbildungskraft malte er sich von einem Wucherer ein fürchterliches Bild aus. Er stellte sich einen solchen unter der Gestalt eines jener schwarzen, wilden Riesen vor, welche in den Feenmärchen die Unschuldigen und Schwachen bedrücken. Nachts träumte er davon und erblickte das schreckliche Ungeheuer mit den Zügen seines Vaters. Eines Tages vermochte er nicht sich länger zurückzuhalten, und nach langem Zögern wagte er es endlich, die Mutter zu fragen: »Was ist denn das, ein Wucherer?«
Unter dem hellen Blicke ihres Kindes erbleichte die arme Frau. Sie schwieg einen Augenblick, dann erwiderte sie: »Wie kommst du zu dieser Frage?«
Pascal erzählte den Vorgang, wie er ihn mit angehört; Frau Carvayan blickte einige Minuten mit geneigtem Haupte sinnend zu Boden und entgegnete hierauf: »Wiederhole niemals wieder dieses Wort, mein liebes Kind . . . Die Menschen, welche nicht glücklich sind, werden gar leicht ungerecht . . . Jener Mann ging wahrscheinlich von hier weg, ohne das erhalten zu haben, worauf er hoffte, und nun siehst du, macht ihn sein Mißgeschick gegen deinen Vater zornig . . . Aber sei versichert, wenn Carvayan in Geschäften auch zuweilen hart ist, so ist er doch ein Mann von peinlichster Ehrenhaftigkeit . . . Und er ist dein Vater, du mußt ihn achten und lieben . . .«
Und dabei zitterte ihre Stimme und Thränen stiegen in ihre Augen. Dieser Auftritt blieb in der Erinnerung des Kindes für immer haften, aber viele Jahre später gelangte Pascal erst zum Verständnis der fürchterlichen Bedeutung desselben. Der erbarmungslose Kampf, welchen sein Vater gegen den Marquis von Clairefont führte, war seiner Kindheit gänzlich unbekannt geblieben. Die verschlossene Seele Carvayans ließ ihre Geheimnisse nicht durchblicken. Niemals hatte er jemand seine Rachepläne vertraut, still und verborgen arbeitete er an deren Verwirklichung. Man kannte das Ziel nicht, nach welchem er lange Jahre hindurch mit der Geduld einer Spinne strebte, die ihr tödliches Netz webt. Man sah bloß die Mittel, die er gebrauchte, und die waren freilich dazu angethan, Bangen einzuflößen.
Pascal hatte seine Studien auf dem Gymnasium zu Evreux begonnen. Später, als Carvayan größere Reichtümer anhäufte, war ihm der Unterricht in der Provinz nicht mehr genügend erschienen, und er schickte daher seinen künftigen Erben nach Paris. Dort studierte Pascal die Rechte, bestand glücklich das Examen und kehrte als Referendar nach Neuville zurück. Er war nun ein Mann geworden, und sein klarer Verstand befähigte ihn zu einer richtigen Beurteilung der Vorgänge um ihn her. Nichts in dem alten Hause schien ihm verändert. Es war noch immer niedrig und düster, noch immer gab es dort dasselbe Kommen und Gehen, welches auf dem Boden die gewohnten Schmutzspuren zurückließ und die alten Räume mit dem Gesumme streitender Stimmen erfüllte. Verleiher und Entlehner waren gealtert, aber die Geldgeschäfte wurden noch in der gleichen Weise betrieben. Die Gesichter der Fortgehenden bebten noch immer vor Zorn und ihr Mund verzog sich, um ein Wort herauszuschleudern, das man aber jetzt zurückzuhalten sich bemühte, denn Jean Carvayan war ein Mann geworden, mit dem man behutsam umgehen mußte. Und dieses Wort war dasselbe, welches man ihm in der Vergangenheit zugerufen und das ihn sein lebenlang begleiten sollte: Wucherer.
Auch die Lebensweise Carvayans war die gleiche geblieben. Die ganze Dienerschaft des Hauses bestand aus einer Magd, welche wie ein Pferd arbeitete. Frau Carvayan lebte noch immer still und traurig in ihrem Zimmer wie vor der Abreise Pascals. Nur ihr Haar war inzwischen grau geworden. Die Heimkehr des Sohnes erfüllte sie mit lebhafter Freude, doch war diese nur von kurzer Dauer. Von den ersten Tagen an stand es fest, daß ein gutes Einvernehmen zwischen Pascal und seinem Vater für die Dauer nicht zu erwarten sei. Und wer Carvayan kannte, wußte, welch gewaltige Stürme nun über das stille Haus ziehen würden.
Nach Verlauf von vierundzwanzig Stunden, die er den mütterlichen Herzensergießungen gönnte, ließ das Familienoberhaupt seinen Erben in das Kabinett im Erdgeschosse rufen. Pascal traf ihn dort mit langsamen Schritten auf und ab wandelnd.
»Mein Sohn,« begann der Vater, indem er plötzlich stehen blieb, »du bist nun wieder in mein Haus zurückgekehrt, und ich bin froh, dich in meiner Nähe zu haben. Du hast deine Studien in sehr guter Weise vollendet, und alles läßt darauf schließen, daß du kein Tölpel bist . . . Du bist nun Advokat und wir haben hier einen Gerichtshof . . . Die hiesigen Sachwalter sind Esel . . . Es wird dir also keine Mühe kosten, dich ihnen überlegen zu zeigen. Ich bin in der Lage, dir binnen kurzem eine sehr schöne Praxis zu verschaffen . . . Bist du einverstanden, diese Laufbahn zu betreten?«
Und als Pascal, ohne zu antworten, den Kopf neigte, fuhr er fort: »Ja? Nun dann wirst du alsbald um deine Eintragung bei der Advokatenkammer von Neuville ansuchen, und für den Anfang könntest du diese Rechtssachen hier übernehmen . . .«
Hierauf langte er von seinem Schreibtische mehrere Aktenstöße herab, belud damit die Arme seines Sohnes, und, ihm freundschaftlich auf die Schultern klopfend, sagte er: »Du kannst dich mir sehr nützlich machen, wenn du die Geschichten verstehen willst, und ich werde dir viel Geld zu verdienen geben.«
Pascal verblieb während des ganzen Tages auf seinem Zimmer und vertiefte sich in das Studium der ihm übergebenen Dokumente. Bald genug war er über dieselben im klaren. Das, was sein Vater Geschichten nannte, war die Kunst, seine Mitmenschen mit staunenswerter Geschicklichkeit auszubeuten. Und all dies spielte sich in den gesetzlichen Bahnen ab. Für die schwierigen Fälle gab es Zwischenpersonen, welche die Verantwortung auf sich nahmen und Carvayan den Nutzen ließen. Nie kam sein Name ins Spiel, immer hieß es, daß man ihm die Schuldforderung überlassen habe und daß er der letzte Inhaber derselben sei. Die ganze Manipulation des Strohmännersystems zog an den verblüfften Augen Pascals vorüber. An diesem einen Tage lernte er seinen Vater gründlich kennen, und unwiderruflich verurteilen. Träumend, mit geneigtem Haupte saß er vor dem Aktenplunder, welcher ihm soeben mit einem Male die Wahrheit enthüllt hatte. Die ganze plötzlich erweckte Vergangenheit erschien vor ihm. Er erinnerte sich der Unglücklichen, welche mit der Miene halb erwürgter Opfer das kleine Haus verließen. Er vernahm den Wortwechsel, aus welchem heftige Reden laut wurden; er sah die verzerrten Gesichter wieder und die Fäuste, die sich gegen das väterliche Dach zornig ballten, und in seinem Ohre tönte noch das schimpfliche Wort: Wucherer! Er war also der Sohn eines solchen Menschen, er, in dessen Busen sich alle edlen, großmütigen Gefühle flammend regten, er, der das Gute, das Wahre, das Schöne mit Begeisterung liebte? Sollte er nun der Helfershelfer seines Vaters werden? Sollte er mit der Würde seiner Stellung ihn decken, mit seiner Beredsamkeit ihn verteidigen und die Macht seines Wissens zu dem niedrigen Werke der Beraubung der Schwachen mißbrauchen? . . . Nein! Niemals! . . .
Er erhob sich, und erbleichend bei dem Gedanken, daß er es werde wagen müssen, die ihm von seinem Vater übertragene Aufgabe zurückzuweisen, öffnete er das Fenster, um sich an der frischen Abendluft die fieberheiße Stirn zu kühlen.
Die Nacht war hereingebrochen, schweigend lagen die öden Straßen des Städtchens da. Noch leuchtete von den letzten Strahlen der am Horizonte untergegangenen Sonne der Himmel in purpurfarbenem Glanze. Aus der Ferne klang leiser, wehmütiger Glockenton herüber, und Pascal schien es, als läute das Totenglöckchen seiner Ehrbarkeit. Nun war es für ihn zu Ende mit seiner Jugend, mit seiner Lebensfreude . . . niemals glaubte er wieder einen glücklichen Augenblick finden zu können . . . Eisigkalt wurde es in seinem Herzen, und im tiefsten Inneren getroffen, weinte er schwere, bittere Thränen.
Die Stimme der Magd entriß ihn seinen schweren Gedanken: »Herr Pascal, man erwartet Sie zum Essen . . .«
Nun sollte er seinem Vater entgegentreten. Ein Zittern durchfuhr ihn bei diesem Gedanken. Doch es mußte geschehen. Er ging in das Speisezimmer hinab, wo seine Eltern bereits am Tische saßen, auf welchem die Suppe dampfte. Seine niedergeschlagene Miene fiel der Mutter auf, sie sah ihn fragend und besorgt an. Carvayan rieb sich vergnügt die Hände und lachte. »Dem Jungen sieht man an, daß er tüchtig gearbeitet hat . . . So ist's recht! . . . Essen wir! . . .«
Das Mahl wurde schweigend eingenommen. Während desselben erwog Pascal nochmals seine Absicht. Frau Carvayan hielt traurig das Haupt gesenkt voll trüber Ahnungen. Carvayan aß mit hastiger Gier. Nach dem Essen sagte er zu seiner Frau in einem Tone, der keine Entgegnung zuließ: »Du kannst nun auf dein Zimmer gehen, meine Liebe, Pascal und ich haben miteinander zu reden . . .«
Sodann führte er den jungen Mann in sein Kabinett, ließ sich vor dem Schreibtische nieder, und mit durchdringendem Blicke und scharfer Stimme fragte er: »Nun?«
Kein Zögern, keine Umschweife, kein unnützes Reden; er ging wie immer gerade auf das Ziel los. Und so mußte ihm auch auf dies schreckliche »Nun?«, welches so viele Stürme in sich barg, ohne Ausflüchte geantwortet werden. Pascal nahm all seinen Mut zusammen, und mit trockenem Munde und unsicherer Stimme erwiderte er: »Nun, lieber Vater, um die Wahrheit zu sagen, diese Geschäfte erscheinen mir sehr kläglich . . . Ich habe sie gründlich studiert . . . Wenn man auf der gewaltsamen Eintreibung besteht, so muß man mit Recht in Verruf kommen; falls ich mir erlauben dürfte, dir einen Rat zu geben, so wäre es der, sich auf gütlichem Wege zu einigen, um eine öffentliche Verhandlung zu vermeiden . . .«
Carvayan antwortete nicht sofort; seine Gesichtszüge wurden so hart, daß sie wie in Stein geschnitten schienen, und mit einem ironischen Zischen erhob er sich langsam.
»Aber, mein Sohn, ich habe ja Geld vorgestreckt . . . Ich muß doch meine Auslagen zurückerhalten . . . Ich brauche wahrhaftig das Licht nicht zu scheuen . . . jeden Augenblick sehe ich mich in die Notwendigkeit versetzt, Schuldner pfänden zu lassen, welche ihren Verpflichtungen nicht nachkommen . . . Diese Dickschädel von Bauern haben eine wahre Sucht, mehr Geld zu entlehnen, als sie bezahlen können . . . Die, welche keinen Grundbesitz haben, geben mir ihre Ernten als Pfand . . . Und das, mein Bester, ist ja der landwirtschaftliche Kredit . . . Ohne mich könnten sie den Pachtzins nicht bezahlen . . . Glaubst du etwa, daß ich ihnen mein Geld schenken soll? . . . Potztausend, ich bin doch schließlich kein Philanthrop, ich bin ein Geschäftsmann . . . Nach Ablauf des Termines muß ich entweder Gelder oder Geldeswert haben . . . Aber du lässest mich reden und stehst da wie ein neugeborenes Kind . . . Du verstehst die Frage ebensogut als ich! . . . Sieh doch, du darfst die Dinge nicht theoretisch, nicht mit deinen Schulansichten beurteilen . . . Du mußt dir die praktische Seite ansehen . . . Und willst du das Ende vom Liede wissen? . . . Nun so höre, daß diese Schlingel, welche dich zum Mitleid rühren, mich hintergehen . . . Und bei diesen Geschäften, welche dich erschrecken, bin ich es schließlich, der sein Geld verliert!«
Diese Worte wurden mit einem so bewundernswürdigen Ausdrucke von Ueberzeugung hingeschleudert, daß Pascal unmöglich etwas dagegen einzuwenden vermochte . . . Carvayan war es, den man übervorteilte! . . . Er war das Opfer, und seine Schuldner beschwindelten ihn! . . . Der Banquier machte noch einige Schritte, dann stellte er sich seinem Sohne gegenüber und suchte ihm bis auf den Grund der Seele zu blicken.
»Kurzum, willst du dich meiner Angelegenheiten annehmen?«
Pascal zauderte eine Sekunde, und indem eine lebhafte Röte sein Antlitz überflog, gab er ein entschiedenes »Nein« zur Antwort.
»Ah, ah!« rief Carvayan aus. »Jedenfalls bist du ein Bursche, der mit seiner Ansicht nicht hinter dem Berge hält . . . Aber glaubst du etwa, daß ich dich unterhalten werde, ohne daß du etwas zu thun brauchtest?«
»Ich werde eine Beschäftigung finden, sei unbesorgt, Vater . . . Ich bitte dich nur inständigst, mir keinen Zwang aufzulegen . . .«
»Habe ich eine derartige Absicht geäußert?« sagte Carvayan in barschem Tone . . . »Glaubst du etwa, daß ich deine Hilfe nötig habe? Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich dich an meinen Spekulationen hätte beteiligen können und du dir meine Erfahrungen zu nutze gemacht hättest. Du verschmähst dieselben und meinst an deinen eigenen Kräften genug zu haben . . . Nun, es ist ja möglich, daß ich einem Genie das Leben gegeben habe; bis du mir aber nicht andere Beweise davon gibst, meine ich, daß du ein Dummkopf bist . . . Gute Nacht, mein Junge . . . Du willst für einen Mann gelten, der sich Skrupeln macht . . . Wir werden ja sehen, was dir das im Leben einträgt . . .«
Damit öffnete er die Thür, machte seinem Sohne ein Zeichen zum Hinausgehen, und ohne etwas weiter hinzuzufügen, schloß er sich in sein Kabinett ein. Hier ging er eine Zeitlang schweigend auf und nieder, das Gesicht von innerer Erregung gerötet. Dann hielt er still, und, indem er mit der Faust auf den Schreibtisch schlug, rief er: »Wie entschieden er sich mir gegenübergestellt hat! . . . Ein Bürschchen von zwanzig Jahren, das sich unterfängt, seinen Vater zu kritisieren! Potztausend! Und doch ließ ich ihm die Freiheit! . . . Es ist das erste Mal, daß ich einen Widerstand ertrage . . . Mein Ehrenwort, ich glaube, der Junge hat mich verblüfft . . .«
Er schüttelte den Kopf, blieb sinnend stehen, dann sprach er mit halbem Lächeln vor sich hin: »Gleichviel, er weiß, was er will, er ist ein Carvayan!«
Er war ein Carvayan, aber einer von der guten Art, welcher die thatkräftige Entschlossenheit, das feurige Streben seines Geschlechtes mit peinlichster Gewissenhaftigkeit verband. Er hielt Wort und ließ sich bei der Advokatenkammer in Neuville eintragen. Kaum ein Jahr hatte er plaidiert, als sein Ruf gemacht war und er gar häufig an das Appellationsgericht nach Rouen geschickt wurde, um dort gegen die tüchtigsten Veteranen des normännischen Gerichtshofes einen Rechtshandel zu führen. Er sprach mit außerordentlicher Klarheit und Feinheit, und wenn er gelegentlich ins Feuer geriet, sogar mit unwiderstehlicher Beredsamkeit. Ueberrascht hörten die Geschworenen ihn an, ohne zerstreut und schläfrig zu werden, und diese Aufmerksamkeit, welche er ihnen abzuringen verstand, kam seinen Prozessen zu gute.
Die glänzenden Erfolge Pascals übten auf seinen Vater eine doppelte Wirkung aus: Er fühlte sich geschmeichelt und war zugleich wütend. Er sah, wie rasch der junge Mann zu hohem Ansehen gelangen würde, begriff aber auch zugleich, daß dieser alsdann für seine Pläne völlig verloren sein dürfte. Wäre Pascal ein bloß mittelmäßiger Mensch gewesen, so hätte er sich weiter nicht viel um ihn gekümmert, würde ihn mit verächtlicher Gleichgültigkeit in seinem Hause behalten und für seine Existenz gesorgt haben. Doch einen Sohn von hervorragenden Fähigkeiten sein zu nennen und sich seiner nicht bedienen zu können, war das nicht zum Verzweifeln?
Welch ein Werkzeug mußte dieser in den Händen eines geschickten Mannes werden und wie rasch konnte man sich zum Herrn des ganzen Bezirkes emporschwingen. Das einzige, was ihm, Carvayan, mangelte, war die Rednergabe, denn vermochte er auch das Schwierigste zu ersinnen, zum beredten Ausdrucke bringen konnte er es nicht. Nun hatte das Geschick zu all den Begünstigungen, mit welchen es ihn bedachte, auch noch eine völlig unverhoffte Stütze hinzugefügt, indem es ihm einen Sohn gab, welcher die Stimme seiner Intelligenz hätte werden können. Und da fand es sich, daß diese Stimme die Argumente nicht wiederholen wollte, welche man ihm einflüsterte, daß dieser Sklave sich empörte. Heute kam es Carvayan nicht mehr darauf an, seinem Sohne anrüchige Prozesse aufzubürden. Sein Ehrgeiz war mit den Triumphen des jungen Advokaten gestiegen. Er wollte den Marquis auf politischem Gebiete bekämpfen, sich der öffentlichen Meinung bemächtigen und selbst Abgeordneter werden, denn wenn er, Carvayan, sich nur einmal in dem Strudel der politischen Ränke und Kniffe befände, so müßte er es in kurzer Zeit zu etwas sehr Hohem bringen.
Doch, wie einen Einfluß auf seinen Sohn gewinnen? Er war ihm niemals mit Zärtlichkeit begegnet. Von seinen Geschäftssorgen vollständig in Anspruch genommen, hatte er ihn heranwachsen lassen, ohne es je zu versuchen, das Herz seines Kindes sich zuzuwenden. Und nun war es zu spät. Indes verblieb ihm doch noch immer ein letztes, ein sicheres und gewaltiges Hilfsmittel: Die Liebe, welche Pascal für seine Mutter hegte. Die arme Frau war seit vielen Jahren leidend. Es ging sichtlich mit ihr zu Ende, ohne daß sie aber je eine Klage laut werden ließ. Die Rückkehr ihres Sohnes bereitete ihr viele Freude. Das alte, düstere Haus selbst schien durch seine Gegenwart verjüngt und erhellt. Auch Carvayan war weniger griesgrämig und oft heiter, ja, er wurde sogar gesprächig, was sonst nie bei ihm vorgekommen war. Abends nach dem Essen blieb er im Speisezimmer und plauderte mit schalkhafter Laune. Er wollte sich offenbar beliebt machen. Der Werwolf war bemüht, sich zahm zu zeigen. Und wiewohl diese Veränderung Mutter und Sohn sehr zu statten kam, fragten sie sich dennoch voll Unruhe, welcher Hintergedanke sich wohl unter dieser Liebenswürdigkeit verbergen möge. Eines Morgens betrat Carvayan früh das Zimmer seiner Frau, erkundigte sich nach ihrem Befinden, gab ihr einen freundlichen Klaps auf die Wange und setzte sich auf den Bettrand nieder.
»Willst du mich ein wenig anhören, meine Liebe? Ich bedarf deiner Mitwirkung in einer sehr heiklen Angelegenheit. Wenn du thust, um was ich dich bitte, so werde ich dir großen Dank dafür wissen . . . Es genügt dabei, daß du nur willst, und es wird geschehen . . .«
»Um was handelt es sich?« fragte die Frau, der es plötzlich einen Stich ins Herz gab.
»Um deinen Sohn . . .«
»Was ist ihm geschehen?« rief die Mutter in Todesangst.
»Nichts, beruhige dich . . . Es ist nicht die Rede von der Gegenwart, sondern von der Zukunft . . . Die möchte ich ihm sichern . . . Unser Sohn ist ein bedeutender Mensch, der nach dem Höchsten streben darf . . . Aber wenn man Erfolg haben soll, so muß man lange zuvor die Wege ebnen, und das ist es, was mich zu dir führt . . . Ihr plaudert doch stets mitsammen . . . Aber statt ihn mit Nichtigkeiten zu unterhalten, solltest du ihm ernsthafte Ratschläge erteilen . . . Wer aus den modernen Ideen seinen Vorteil zu ziehen weiß, kann sich eine einflußreiche Stellung im Lande schaffen . . . Die Republikaner beginnen sich zu rühren . . . Mit ihnen muß man es halten . . . Suche Pascal auf diese Bahn zu lenken . . . Und sage mir dann, wie er darüber denkt . . . Sei geschickt . . ., wenn dir dies gelingt, so wirst du es gewiß nicht zu bedauern haben . . . Das verspreche ich dir . . .«
Nachdem er so seine geheimen Gedanken enthüllt hatte, ging er auf ein anderes Gespräch über, schmeichelte seiner Frau, um sie seinem Wunsche geneigt zu machen, dann entfernte er sich. Wartend ließ er mehrere Tage verstreichen, beobachtete Mutter und Sohn, suchte eifrig ihre Gesichtszüge, jede ihrer Bewegungen zu erforschen, um sie bei irgend einem Zeichen des Einverständnisses zu überraschen. Es war jedoch nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Nach Verlauf einer Woche, während welcher der sonst so ruhige, ans Warten gewöhnte Mann von Ungeduld verzehrt wurde, entschloß er sich endlich, seine Frau zu fragen. Die Antwort fiel nicht so aus, als er sie erhofft hatte. Pascal besaß gar keinen politischen Ehrgeiz und wies es entschieden zurück, sich an politischen Umtrieben zu beteiligen. Beim Anhören dieser Mitteilung stieg ein heftiger Zorn in Carvayan auf, der ihm fast den Atem benahm. Es schien ihm, als sei sein Kopf hart wie Stein geworden und sein Gehirn darin eingepreßt. Mit schwindelnder Schnelligkeit kreuzten sich die Gedanken in seinem Haupte. Einige Minuten blickte er mechanisch auf seine heftig zitternden Hände hinab. Dann brach er mit einem schrecklichen Schrei los: »Glaubt ihr etwa, daß ich mich noch länger von euch an der Nase werde umherführen lassen? Du und dein Sohn, ihr werdet mir gehorchen oder dies Haus verlassen . . . Ich bin hier der Herr, niemand hat mir noch widerstanden, und dieser Grünschnabel sollte es wagen, mir die Spitze zu bieten! Ich werde ihm die Flügel kürzen . . . hörst du, Frau Carvayan? Ich werde deinem Hahne den Kamm stutzen, dann werden wir sehen, ob er noch so laut singen wird . . . Ah, ein Bürschchen, das noch nicht hinter den Ohren trocken ist, untersteht sich, mit seinem Vater zu spielen! Weh ihm! . . . Ich werde ihn aus dem Hause jagen . . . Und die ganze Welt soll es erfahren, daß er seinem Vater den Gehorsam verweigerte . . .«
Lange sprach er so fort, seinem Zorne in den heftigsten Worten Luft machend. Er erschreckte damit die unglückliche Frau dermaßen, daß sie, von Fieber geschüttelt, zu Bette gebracht werden mußte. Am nächsten Tage war ihr Zustand sehr bedenklich, und nach einer Woche lag sie in den letzten Zügen.
Ihr Sohn verließ das Zimmer nicht, er pflegte sie mit leidenschaftlicher Hingebung, während er voll Entsetzen die Phantasien der Fieberkranken vernahm, in welchen seine Mutter alle Drohungen Carvayans wiederholte. Eines Abends kam sie zur Besinnung, und ihre eiskalte Hand auf die Stirn Pascals legend, welcher an ihrem Bette kniete, flüsterte sie: »Wir werden uns trennen müssen, mein teures Kind. Oh! Es ist dies ein bitterer Schmerz für mich . . . Ich habe dich so sehr lieb . . . In der letzten Zeit hatten wir großen Kummer . . . davon sollst du nichts in deiner Erinnerung bewahren . . . Aber du selbst sollst anderen nie Kummer bereiten . . . denn sieh, mein Kind, was uns auf Erden die höchste Befriedigung gewährt, das ist: Gut zu sein . . .«
Eine Ohnmacht befiel sie, und Pascal, die Augen von Thränen überschwemmt, sah sie erblassen, als ob sie schon am Sterben sei. Sie kam jedoch wieder zu sich, ließ ihren Mann rufen und sprach einige Augenblicke mit ihm, ohne daß ihr Sohn, der am Fenster stand, wo noch immer die Lieblingsblumen blühten, ihre Worte vernehmen konnte . . . Mit finsterem Gesichte, ohne zu antworten, hörte Carvayan zu. Endlich machte sie eine befehlende Gebärde, welche er mit einem bejahenden Kopfnicken erwiderte. Die Züge der Sterbenden erhellten sich. Wie von einer schweren Last befreit, sank sie mit einem Seufzer der Erleichterung in die Kissen zurück.
Dann winkte sie Pascal herbei und sagte: »Umarme deinen Vater hier vor mir . . .«
Der junge Mann, von Schmerz überwältigt, warf sich mit überströmender Zärtlichkeit in die Arme seines Vaters und küßte ihn zweimal, was dieser mit eiskalter Lippe erwiderte. Dann hieß Frau Carvayan ihren Sohn sich entfernen und blieb mit dem Notar allein. Kurz darauf schien ihr Ende herangekommen. Wieder brach sie das Schweigen, das sie eine Zeitlang bewahrt hatte, und flüsterte Pascal ins Ohr: »Ich habe deinem Vater alles vermacht, worüber mir das Gesetz zu verfügen gestattet . . . Ich weiß, daß du imstande bist, dir selbst ein Vermögen zu erwerben . . . Das hielt ich für das einzige Mittel, dir deine Ruhe zu sichern . . . Carvayan ist ein schrecklicher Mensch . . . Tritt ihm nie in den Weg . . . Die Ueberlassung deines Erbteiles ist der Preis deiner Freiheit . . . Verzeihe mir, daß ich es dir entzog . . . Bleibe gut im Leben . . . Man soll gut sein . . .«
Mit diesen milden Worten auf den Lippen verschied sie. Pascal drückte ihr die Augen zu, neigte sich über sie, um sie noch einmal zu umarmen, und flüsterte mit leiser Stimme: »Sei ruhig, Mutter, deine Herzensgüte ist mein bestes Erbteil . . .«
Und als ob an der Schwelle der Ewigkeit, in welche sie einzog, die Tote noch das heilige Gelöbnis ihres Sohnes vernommen hätte, strahlte ihre bleiche Stirn, und ihre friedlichen Züge erglänzten in himmlischer Schönheit.
Am Morgen nach dem Leichenbegängnisse berief Carvayan seinen Sohn in das Kabinett, welches Zeuge ihrer ersten Entzweiung gewesen, und mit ruhiger Stimme begann er: »Mein Sohn, das Unglück, welches uns getroffen, wird höchst wahrscheinlich eine Aenderung in unserem Leben herbeiführen. Ehe ich einen Entschluß fasse, wünsche ich deine Pläne zu hören.«
»Meine Pläne, Vater, sind sehr einfach; wenn du nichts dagegen hast, so werde ich Neuville verlassen.«
»Ich stelle es dir frei, zu thun, was dir beliebt,« erwiderte Carvayan, dessen Stirn bei der brennenden Erinnerung an seine gescheiterten Hoffnungen sich in tiefe Falten legte.
»Gut, so werde ich morgen abreisen.«
»Wenn du zurückkehren willst, so wird dir mein Haus zu jeder Zeit offen sein . . .«
»Ich danke dir.«
Weiter wurde kein Wort zwischen ihnen gewechselt.
Am nächsten Morgen verließ Pascal seine Vaterstadt, und in dem kleinen Hause der Rue du Marché blieb Carvayan allein zurück mit seiner Rachsucht.