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Die Stunden, welche nun folgten, waren schrecklich. Croix-Mesnil war unermüdlich, es gelang ihm aber nicht, Fräulein von Clairefont über den Zustand ihres Vaters zu beruhigen. Der Doktor Margueron, der am selben Morgen eine Rundfahrt zu den Patienten in der Umgegend angetreten hatte, kam erst gegen sieben Uhr abends ins Schloß. Er fand den Marquis, dessen eine Gesichtshälfte konvulsivisch zuckte, in großer Aufregung, er verschrieb ein Senfpflaster für die Beine, und wenn der Blutandrang zunehmen sollte, auch Blutegel, im Nacken anzulegen. Er verheimlichte keineswegs die Bedenklichkeit des Zustandes und versprach, am nächsten Morgen wiederzukommen.
Mit Herrn von Croix-Mesnil am Kopfende des Bettes sitzend, verbrachte das junge Mädchen die schmerzlichsten Stunden ihres Lebens. Im Halbdunkel der Stube lauschte sie den kurzen, mühsamen Atemzügen des Kranken, die häufig von unzusammenhängenden Worten unterbrochen wurden. Zuweilen wendete sie ihre schmerzerfüllten Blicke dem treuen Freunde zu, der auf die erste Nachricht von ihrem Unglück ohne Zögern herbeigeeilt war. Beide schwiegen. Antoinette, in tiefster Seele getroffen, war von den peinlichsten Gedanken bestürmt. Sie vermochte nicht einmal ihre ganze Sorge dem armen Manne zuzuwenden, der in heftigem Delirium an ihrer Seite seufzte und stöhnte. Die eine Hälfte ihres Selbst bangte um den Bruder, der in noch größerer Gefahr schwebte, wenn sie ihn auch nicht so augenblicklich bedrohte. Welch ein Golgatha hatte das arme Mädchen zu erklimmen und wie schwer das Kreuz sie drückte! Alle Kräfte waren von ihr gewichen, an allen Nerven fühlte sie sich lahm. Ihr Kopf war schwer und glühend heiß, und sie sehnte sich danach, weinen zu können. Es schien ihr, daß, wenn die Quelle ihrer Thränen sich erschließen könnte, ihr dies Erleichterung und Beruhigung verschaffen würde; doch ihre Augen blieben trocken, versunken unter den zusammengezogenen Brauen, als ob die Anstrengung des Denkens sie nach innen zöge.
Um zehn Uhr kam der alte Germain auf den Fußspitzen hereingeschlichen und fragte, ob man nicht zu Abend essen wolle. Antoinette schüttelte verneinend den Kopf, doch der Baron bat sie inständigst, mit ihm in den Speisesaal hinabzugehen, sie habe seit dem Morgen nichts gegessen, sie müsse ihre Kräfte erhalten, um den Vater pflegen zu können. Daraufhin versprach sie, eine Suppe zu sich zu nehmen, das Zimmer ihres teuren Kranken wollte sie jedoch nicht verlassen.
Als der Baron wieder zu ihr zurückgekehrt war, bemühte er sich, sie ihren düsteren Betrachtungen zu entziehen. Er sprach ganz leise zu ihr, eine überflüssige Vorsicht indes, da der Marquis außer stande war, irgend etwas zu verstehen; die Worte, welche an sein Ohr klangen, erweckten in seinem Geiste keinen Widerhall. Die Ruhe des jungen Mädchens erschreckte Herrn von Croix-Mesnil, ein exaltierter Zustand hätte ihn weniger beunruhigt. Antoinette beurteilte die jüngsten Ereignisse mit erstaunlicher Geistesklarheit und Kaltblütigkeit. Sie erkannte die verzweifelte Lage und hegte keine Hoffnung mehr. Sie erkundigte sich bei dem Baron, welchen Eindruck Roberts Verhaftung in der Bevölkerung hervorgerufen habe, da sie nichts weiter darüber wußte, als daß Tante Isabella geschrieben, die Zeitungen hätten den Vorfall aufs eingehendste besprochen.
Croix-Mesnil erzählte, ein Freund habe ihm den »Courier de l'Eure« gebracht, in welchem er mit Entsetzen die Beschreibung des Mordes und die Verhaftung des angeblichen Mörders gelesen habe. Darauf hatte er sich sogleich einen Urlaub von vierundzwanzig Stunden erbeten und war unverzüglich abgereist. Die anderen Blätter der Provinz hatten ihn indes auch mit der Tendenz der öffentlichen Meinung bekannt gemacht.
Zwei Strömungen hatten sich bereits gebildet; die eine war Robert günstig, die andere gegen ihn. Unglücklicherweise war die zweite viel mächtiger als die erste. Die politische Leidenschaft, von Carvayans Parteigängern geschickt entflammt, war mit ins Spiel gezogen. Die radikalen Zeitungen strömten von Verwünschungen über gegen »die blutgierige Ausgelassenheit der letzten Repräsentanten der Feudalität, die ihren unnatürlichen Gelüsten gemäß über Leben und Ehre der Proletarier noch immer frei verfügen zu können wähnen«. Chassevent wurde »ehrwürdiger Greis, achtbarer Arbeiter« genannt, der die einzige Tochter, die Stütze seines Alters beweine. Das Ganze schloß mit einem warmen Appell an die Unparteilichkeit der Richter und an die Strenge des Gesetzes, denn ein solch ungeheuerliches Verbrechen verdiene eine exemplarische Bestrafung.
Herr von Croix-Mesnil hütete sich wohl, Antoinette etwas von diesen niedrigen Aufreizungen und wütenden Gehässigkeiten wissen zu lassen, ebenso wie er ihr nichts von dem Telegramm sagte, welches er gerade, als er von Evreux abzureisen im Begriffe war, von seinem Vater erhalten hatte, der ihn vor einem in der ersten Erregung unüberlegten Schritte schützen wollte und ihn aufforderte, sich von den Clairefonts fernzuhalten. »Nicht du hast den Bruch herbeigeführt,« erklärte der weltkluge Beamte, »benutze die Gelegenheit, die sich dir bietet, und kompromittiere dich nicht. Alle thatsächlichen Beweise klagen den unglücklichen Robert an, für ihn sprechen nichts als moralische Gutachten, die zudem sehr schwach sind!« Der Baron steckte das Telegramm in die Tasche und reiste eilends ab. Er hatte eines von den schlichten Herzen, welche, selbst wenn sie zu viel leisten, niemals genug gethan zu haben meinen. Antoinette war unglücklich, ihr Bruder angeklagt, verleumdet. Das war nicht der Augenblick, um sich fernzuhalten, wie es ihm sein Vater telegraphierte, sondern vielmehr, um sich zu nähern. Und so war er denn gekommen.
Die beiden jungen Leute, er sehr traurig, sie sehr blaß, flüsterten im Halbdunkel der matt brennenden Lampe leise miteinander wie an dem Bette eines Sterbenden. Zuweilen hielten sie inne, um auf den Greis zu hören, der in seinen Fieberphantasien wilde Drohungen ausstieß und schauerlich auflachte. Zitternd vernahmen sie die schmerzlichen, zwischen den übereinander gepreßten Zähnen gemurmelten Klagen, welche sie unerbittlich in die schreckliche Gegenwart zurückführten.
»Carvayan, immer er! Er ist's, der den Verdacht auf Robert gelenkt, nicht wahr?« fragte der Baron.
»Herr Malézeau behauptet es . . . Und wie könnten wir daran zweifeln nach dem, was am Abende vorher sich ereignete? Er hat sich in furchtbarer Weise für die Beleidigung gerächt, welche mein Bruder ihm angethan . . . Ach! Wir haben mit eigenen Händen an unserem Unglück gearbeitet und haben uns bei vielen Anlässen höchst unklug benommen. Wir können unsere Feinde anklagen, aber, um gerecht zu sein, müssen wir damit anfangen, uns selber anzuklagen . . .«
Als gelte es, feierlich Verwahrung einzulegen gegen diese Freimütigkeit und Demütigung, erhob sich im Dunkel des Alkovens die pfeifende Stimme des Marquis: »Carvayan! Ah! Ah! Elender! . . . Vermögen, Ehre, alles, alles, nur nicht mein Werk! . . .«
Von ehrfurchtsvollem Schauer ergriffen, schwiegen die beiden fortan, und in der lautlosen Stille bezeichnete nur das langsame, einförmige Ticktack der Uhr die entfliehende Zeit. Dreimal schon hatte der alte Germain sein sorgenvolles Gesicht in der Thür blicken lassen, der treue Diener wollte die Nacht am Bette seines Herrn wachend verbringen, doch Antoinette hatte ihn sanft zurückgewiesen, indem sie ihm befahl, schlafen zu gehen, um am nächsten Morgen rüstig zu sein.
Gegen zwei Uhr morgens trat sie an das Bett ihres Vaters und betrachtete ihn aufmerksam. Sein Gesicht war weniger krampfhaft verzogen, sein Atem ging regelmäßiger, er schien ruhiger zu sein. Sie empfand einen kurzen Augenblick der Freude, und mit einem Male quollen reichliche Thränen, welche die grausamste Pein ihr nicht hatte entlocken können, unaufhaltsam aus ihrem Herzen empor, das ein Hoffnungsschimmer wieder erwärmt hatte. Mit gefalteten Händen kniete sie am Bette nieder, und der Baron hörte, wie sie Gott um die Erhaltung ihres Vaters bat. Der edle Freund näherte sich ihr, wollte sie ermutigen, doch sie sagte: »Lassen Sie mich, das thut mir wohl . . . Ich glaubte ersticken zu müssen . . .« Sie wies auf den Marquis. »Sehen Sie . . . ich glaube, es geht ihm besser . . . Das Fieber hat nachgelassen . . . Wenn wir ihn retten könnten! . . . Eben dachte ich noch, daß es doch gar zu grausam für den armen Robert wäre, wenn er den Vater nicht wiedersehen sollte und denken müßte, daß der Kummer um ihn seinen Tod herbeigeführt habe . . .«
»Ja, Sie werden ihn retten,« entgegnete tief bewegt der Baron, »und Sie werden Vater und Sohn vor Ihren Augen wieder vereint sehen. Nicht immer triumphiert das Schlechte, und was man auch sage, es gibt eine Vorsehung . . .« Worauf Antoinette einfach erwiderte: »Ich, ich glaube daran.«
Noch einige Minuten blieben sie an dem Bette stehen und beobachteten den Greis, dann erklärte Fräulein von Clairefont dem Baron, daß sie nun allein zu bleiben wünsche.
»Wenn ich einer Hilfe bedürfen sollte, so verspreche ich Ihnen, Sie holen zu lassen,« fügte sie hinzu.
Nach kurzem Zögern gehorchte Herr von Croix-Mesnil. Tiefes Schweigen lag über dem Schlosse, und alles schien zu schlafen. Durch die Nacht schallte das klagende Wimmern einer Eule, doch ihr unheilverkündendes Geschrei erschreckte das junge Mädchen nicht. Es erschien ihr wie ein Echo ihrer eigenen Trübsal. War dies nicht der einzige Vogel, der dieses dem Unglück verfallene Haus umkreisen mochte? Sie blieb regungslos, im Lehnstuhle hingestreckt, die Augen starr auf eine im Lichtschein schimmernde Verzierung des Kamins geheftet, ihrer Phantasie folgend, die sie weit fort entführte. Allmählich beschlich sie ein Gefühl der Beruhigung, der Erleichterung, als ob ihr ganzes Wesen in der Luft schwebe, von lindem Zephyrhauch gewiegt; sie empfand ihre Müdigkeit nicht mehr, und losgelöst von allen Schmerzen, schwamm sie im unendlichen, entzückenden Blau dahin. Ihrem Munde entströmte ein regelmäßigerer Atem – sie war eingeschlummert. Ihr Schlaf währte eine volle Stunde, dann war es ihr, als vernehme sie mitten in ihrer Ruhe eine Stimme, welche ihren Namen rufe. Erschrocken fuhr sie empor und eilte an das Bett des Kranken. Halb aufgerichtet, auf den Ellbogen gestützt, sah der Marquis mit verstörtem, unsicherem Blicke umher. Sie sprach ihm leise, beschwichtigend zu; er erfaßte ihre Hand, drückte sie, wie um ihr zu sagen, daß er sie erkenne; dann stieß er mühsam die Worte hervor: »Du mußt den jungen Mann sprechen, mein Kind . . . Er ist rechtschaffen . . . Er wird deinen Bruder retten . . .«
Sie glaubte, der Vater rede im Delirium, umarmte ihn, um ihn zu besänftigen, und, indem sie auf seine Idee einzugehen schien, wie man es mit Kindern zu machen pflegt, erwiderte sie: »Ja, lieber Vater, ja, beruhige dich nur . . . Alles wird gut werden . . .«
Er schüttelte das weiße Haupt, erhob die Augen, in welche jetzt das Bewußtsein zurückgekehrt war, und wiederholte mit einem Tone, der Antoinette prophetisch zu klingen schien: »Dieser junge Mann wird uns retten . . . Er ist rechtschaffen . . . Du mußt ihn sprechen, mein Kind . . .«
Er versuchte seine Blicke auf sie zu richten, um zu sehen, ob sie gewillt sei, ihm zu gehorchen. Doch seine Halsmuskeln mußten ihn schmerzen, denn sein Gesicht verzog sich krampfhaft bei dieser Bewegung. Ein Schatten von Wahnsinn strich wieder über sein Antlitz hin.
»Soeben war er noch hier,« murmelte er, »und er war es, der dich bat . . . Ich habe ihn wiedererkannt . . . Dort neben dem Vorhange stand er . . .«
»Es war Herr von Croix-Mesnil, lieber Vater . . .«
»Nein,« entgegnete der Kranke in steigender Erregung. »Ich weiß, was ich sage . . . Ich bin bei Verstand . . . Es war Pascal Carvayan . . . Er allein ist's, der deinen Bruder retten kann . . . Versprich mir, daß du mit ihm reden wirst . . . Ich werde eher keine Ruhe haben, als bis du es mir versprochen hast . . .«
»Beruhige dich, Vater, ich verspreche es dir.«
Die Gesichtszüge des Marquis erhellten sich. Er ließ sich behaglich in die Kissen zurücksinken und flüsterte Worte, welche das junge Mädchen nicht verstehen konnte. Wenige Augenblicke später schlief er ruhig.
Fräulein von Clairefont überließ sich träumerischem Nachdenken. Die so plötzlich erweckte Erinnerung an Pascal bemächtigte sich ihrer völlig. Sein energisches, stolzes Antlitz stand vor ihr, seine Lippen öffneten sich, um zu reden; sie wollte ihn jedoch nicht anhören, sie wußte zum voraus, was er sagen würde. Doch in schmeichelnden Flüstertönen stiegen seine Worte wie ein Gebet zu ihr empor. Wie hätte sie zweifeln können, daß er sie liebe. Alles bewies es ihr, seine stumme Bewunderung, seine scheue Huldigung, sein feinfühliges Zurücktreten. Er hatte gezittert, als er sie erblickte, war erblaßt, als sie sich entfernte, er hätte auf ihrem Wege niederknieen mögen, er hatte Herrn von Croix-Mesnil herausgefordert, weil er ihn von ihr geliebt glaubte. Ja, er würde ihr gerne dienen. Er mußte alles, was nicht sie und was nicht für sie war, hassen, er verabscheute die Kniffe seines Vaters, er hätte sein Blut vergießen mögen, damit sein Name ihr keinen Widerwillen errege, obwohl er niemals hoffen durfte, ihre Freundschaft zu erlangen. Ja, er würde ein eifriger Diener, ein aufrichtiger Verteidiger sein. Und alles, was sie über Pascal gehört hatte, kam ihr wieder in den Sinn, seine erprobte Geschicklichkeit als Geschäftsmann, sein Talent als Advokat, seine Kämpfe gegen den väterlichen Despotismus. Dabei klangen ihr immer noch die Worte, ihres Vaters in den Ohren: »Er wird deinen Bruder retten!«
Welche geheimnisvolle Erkenntnis hatte den Greis dahin geführt, Pascal als den möglichen Retter Roberts zu bezeichnen? Eine überirdische Macht mußte ihm in seinen Träumen den jungen Mann gewiesen haben. Er behauptete, ihn erkannt zu haben, und hatte ihn doch niemals gesehen. Welche himmlische Stimme hatte seinen Namen ihm ins Ohr geflüstert? Wie kam es, daß er zur entscheidenden Stunde sich auf seinem Schmerzenslager emporrichtete, um diesen gewagten Rat zu erteilen? War es nicht ihre Pflicht, ihn zu befolgen? Sie hatte es versprochen, und im Innersten ihrer Seele begann schon eine geheime Hoffnung zu keimen. Vielleicht kam die Rettung von dieser Seite, durch den Sohn würde man gar vieles bei dem Vater erreichen. Wenn Carvayans Haß, durch die Demütigung seiner Feinde besänftigt, gestillt werden könnte! Wenn er sich nur neutral verhalten und nicht mehr die bösen Leidenschaften seiner Parteigänger gegen die Familie hetzen wollte, wie bald würde der Himmel sich aufhellen! Und Robert, von jedem Verdachte freigesprochen, würde zu dem Kranken zurückkehren, und seine Gegenwart mußte dessen Genesung beschleunigen.
Bei diesem Gedanken fühlte das junge Mädchen sich von feuriger Begeisterung beseelt. Wie! Was! Sie könnte noch zögern, wenn der glückliche Erfolg in Ihren Händen ruhte? Lächeln träufelte ihre Lippen. Doch um den Preis welcher Demütigung war er zu erlangen? Sie mußte zu Pascal gehen, ihn zu überzeugen suchen, ihn bitten . . . Nachdem sie ihm einst so klar zu verstehen gegeben, daß er für sie nicht existiere, und daß ein Carvayan von einer Clairefont nur Verachtung zu erwarten habe, sollte sie sich ihm nun als Bittende nahen und ihm ihren Kummer mitteilen. Wohlan denn! Sie würde es mit Freuden vollbringen. Welches Opfer konnte ihr schwer fallen, wenn sie damit die Befreiung ihres Bruders sichern könnte? Und zudem, hatte sie selbst nicht auch manches zu sühnen? War sie nicht auch teilweise an dem gemeinsamen Unglück schuld? Auch sie hatte ein hochmütiges, geringschätziges Benehmen an den Tag gelegt: gern wollte sie sich jetzt in das Opfer ihres Stolzes schicken und es ihrem Feinde als Tribut darbringen. Ja, sie würde, wenn es sein müßte, sogar zu Carvayan selbst gehen, dem Ungeheuer trotzen, sie würde ihn um Verzeihung bitten, daß sie ihn hinausgewiesen, und ihm die Befriedigung eines vollständigen Triumphes gönnen.
In solcher Stimmung fand sie der anbrechende Tag. Ihr Entschluß stand fest, nichts konnte ihn wankend machen. Sie wußte zwar noch nicht, wie die Zusammenkunft ermöglicht werden sollte; sie verließ sich auf den Zufall. Gegen sieben Uhr morgens erschien Herr von Croix-Mesnil wieder. Der Marquis lag in schwerer Betäubung versunken, er atmete mühsam, doch phantasierte er nicht mehr. Den Bitten ihres Freundes nachgebend, willigte Antoinette ein, den Kranken seiner Obhut anzuvertrauen. Sie betrat ihr Zimmer, erfrischte ihr Gesicht und ruhte kurze Zeit auf ihrem Lager aus. Um neun Uhr, als sie ihre Toilette beendigt, klopfte der alte Germain an die Thür und benachrichtigte sie, daß der Doktor Margueron in Begleitung des Notars Malézeau angelangt sei. Das junge Mädchen traf die beiden am Bette des Kranken. Auf Anordnung des Arztes waren alle Fenster geöffnet worden, das hereinflutende Tageslicht und die frische Luft thaten dem Alten wohl und hatten ihn neu belebt. Er hatte die Augen geöffnet und war bei Bewußtsein. Das Fieber hatte nachgelassen, doch blieb die linke Seite leicht gelähmt. Antoinette fand den Doktor heute viel beruhigter; er setzte gerade Herrn Malézeau auseinander, daß sein Kranker eine Kongestion nach dem Kopfe gehabt, welche nun auf gutem Wege zur Genesung zu sein scheine.
»Man darf ihn nicht ermüden,« sagte er, »und insbesondere darf man ihn nicht sprechen lassen . . . Gehen wir hinab; ich werde unten das Rezept schreiben.«
Auf der Terrasse, zwischen dem Notar und Fräulein von Clairefont, konnte der treffliche Mann sich nicht enthalten, von Robert zu sprechen. Am Abend zuvor, in der ersten Aufregung, der Sorge um den Marquis, hatte er den geeigneten Moment nicht gefunden, um zu erklären, welch mächtigen Eindruck ihm die Konfrontation gemacht.
»Sehen Sie, gnädiges Fräulein, als ich den jungen Grafen vor dem Bette der Toten niederknien und ihn so ruhig beten sah, da hat mein Gewissen sich gerührt, und ich sagte mir: Entweder ist dieser junge Mann ein vollendeter Bösewicht, oder er ist unschuldig . . .«
»Nein, er hat nichts mit dem Unglück zu schaffen!« rief Herr Malézeau voll Feuer aus . . . »Er ist stets freimütig! Er hat die Wahrheit gesagt . . . Ein Clairefont lügt nicht, Doktor . . .«
»Er hat schreckliche Feinde,« hob Herr Margueron wieder an, »sogar die von mir abgegebene Meinungsäußerung wurde zu des Grafen Ungunsten arg entstellt und cirkuliert nun in ganz Neuville; aber vor dem Schwurgerichte werde ich meine Meinung offen darlegen . . . Und wenn die Richter nicht voreingenommen sind . . .«
»Ist das möglich?« fragte Antoinette entsetzt.
»So was ist allerdings schon vorgekommen . . .« erwiderte Malézeau.
Fräulein von Clairefont ließ den Arzt sich entfernen und hielt den Notar zurück. Sie war zum sofortigen Einschreiten entschlossen. Zugeben, daß Carvayan weiter fortfahre, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, hieße vielleicht selbst die Verurteilung Roberts besiegeln. Sie hieß Malézeau Platz nehmen und begann gerade heraus: »Wie soll ich es anfangen, um eine Unterredung mit dem Sohne des Herrn Carvayan zu haben?«
Der Notar war sprachlos vor Ueberraschung. Auf alles war er eher gefaßt, als auf einen derartigen Schritt. Er glaubte, sie habe in ihrer Erregung irgend einen verzweifelten Entschluß gefaßt, doch dazu sah sie zu ruhig und besonnen aus. Er fing an, sie in geschickter Weise zu befragen. Doch sie erzählte sogleich, was sich in der vergangenen Nacht zugetragen, und gestand offen, daß der ihr von ihrem Vater erteilte Auftrag ihr ein Befehl des Himmels zu sein dünke. Indem er sie anhörte, fühlte sich Malézeau von einer seltsamen Erregung ergriffen. Vielleicht war dies in der That der vernünftigste Plan, Pascal bei seinem Ehrgefühl zu fassen und Carvayan durch zu gewährende Vorteile zu gewinnen; vielleicht konnte man zu einem freundschaftlichen Vergleiche gelangen, indem man, ohne die Versteigerung abzuwarten, dem Maire die Besitzung auslieferte. Und war dies nicht den Schrecken eines Kriminalprozesses vorzuziehen? Der Notar war von der festen Ueberzeugung durchdrungen, daß alle Aussagen, die gegen Robert abgegeben wurden, von Fleury, Tondeur und Konsorten beeinflußt waren. Er irrte sich darin keineswegs; ein Wort von Carvayan, und die Sache nahm eine andere Wendung. Anstatt vor das Schwurgericht zu kommen, durfte man auf eine Niederschlagung des Prozesses aus Mangel an genügenden Beweismitteln hoffen.
»Sehr wohl, gnädiges Fräulein,« sagte Malézeau, seine Betrachtungen beschließend, »es gilt, einen Versuch zu machen, gnädiges Fräulein . . . Der Sohn des Herrn Carvayan ist heute morgen mit dem Frühzuge angekommen . . . Er ist demnach in Neuville anwesend. Aber ich glaube nicht, daß es Ihnen angenehm wäre, dem Vater zu begegnen. Wir müssen daher schlau zu Werke gehen . . . Wenn Sie sich auf mich verlassen wollen, gnädiges Fräulein . . .«
»Ich rechne nur auf Sie . . .«
»Nun, so werde ich Sie zu meiner Frau begleiten, und während Sie bei ihr verweilen, will ich auf Kundschaft ausgehen und Ihren Besuch ermöglichen . . .«
Nach einer Abwesenheit von vierundzwanzig Stunden, welche Carvayan viel zu denken gab, war Pascal in der That an demselben Morgen nach Neuville zurückgekehrt. Eine Frage nach dem Ziele seiner Reise hatte er mit der lakonischen Erklärung erwidert, daß er nach Havre gehe, um dort einen seiner Korrespondenten zu sprechen, wobei er freilich ein Erröten nicht hatte verhindern können, denn er war nicht gewohnt zu lügen. In Wirklichkeit hatte sich die Reise nach Havre auf einen Aufenthalt in Rouen beschränkt, wo er einen ehemaligen Schulkollegen zu finden hoffte, der jüngst zum Staatsanwalts-Substituten ernannt worden war. Der Beamte hatte ihn mit jener steifen, lärmenden Liebenswürdigkeit empfangen, die seinem Berufe eigen, er hatte während einer halben Stunde sehr viel gesprochen, zuerst über die ihn niederdrückende Arbeitslast, dann über die Sorgen, welche seine Verantwortlichkeit ihm auferlege, indem er sich dabei in weitläufigen Phrasen erging. Als aber Pascal die Clairefontsche Angelegenheit aufs Tapet bringen wollte, da war der Substitut plötzlich eiskalt und mißtrauisch geworden. Von nun an blieb er höchst einsilbig.
»Ernste Sache . . . sehr ernste Sache . . . Untersuchung höchst schwierig . . . Angeklagter schlau und sehr verschlossen . . .«
Und als der junge Mann mit weiteren Fragen in ihn drang: »Ah, Sie müssen ja doch über den Fall sehr wohl unterrichtet sein, mein Bester, Sie kommen doch aus Neuville . . . Sie werden mehr darüber wissen, als ich . . .«
Und statt zu antworten, fing er zu fragen an. Nach einem einstündigen Besuche entfernte sich Pascal sehr beunruhigt mit der festen Ueberzeugung, daß die Staatsanwaltschaft entschlossen sei, den Prozeß bis aufs Aeußerste zu verfolgen. Er verbrachte einen traurigen Abend in einem Hotel, da er vor dem nächsten Morgen nicht zurückkehren wollte, um den Argwohn seines Vaters nicht zu erwecken.
In dem Kabinette des Banquiers eingeschlossen, bemühte sich Pascal zu arbeiten, um die Zeit zu töten, aber seine rebellische Phantasie trug ihn weit weg von seinen Referaten und Abhandlungen. Es litt ihn nicht lange an einem Platze, er trat vom Tische weg ans Fenster, um hinauszublicken. Ein Gewitter war im Anzuge, schwere Wolken jagten am Himmel dahin. Ein Blitzstrahl zuckte hernieder, von fernem Donner gefolgt, das Tageslicht nahm einen gelben Schein an, als sei die Luft von Asche erfüllt. Im selben Augenblicke wurde die Thürklingel von ungeduldiger Hand gezogen, ein Flüstern ließ sich draußen im Flur vernehmen, und gleich darauf trat der Notar Malézeau bei Pascal ein. Er zeigte eine gar seltsame Miene, und noch nie hatten seine Augen hinter der goldenen Brille so viel gezwinkert. In geheimnisvollem Tone sagte er: »Es ist doch gewiß, daß Ihr Vater heute auf der Straße nach Lisors fortgefahren ist? Sie sind in der That allein zu Hause? Ja! Eine Dame ist hier, die Sie zu sprechen wünscht.«
Bei diesen Worten fühlte Pascal all sein Blut zum Herzen strömen, seine Knie wankten, er sah, wie sich das ganze Gemach plötzlich zu drehen anfing. Mit bebender Stimme fragte er: »Wer ists?« hatte aber dabei die Gewißheit, daß die Antwort Fräulein von Clairefont lauten würde.
Malézeau verlor jedoch seine Zeit nicht mit der Erfüllung dieser Formalität, sondern öffnete rasch die Thür, und zurücktretend, um den Eingang frei zu lassen, sagte er: »Bitte, treten Sie ein, gnädiges Fräulein!«
Und auf der Schwelle des düsteren väterlichen Zimmers erblickte Pascal Antoinette. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, das Gesicht von einem Schleier verhüllt, den sie alsbald mit einer heftigen Bewegung abnahm. Pascal sah sie bleich, mit leidender Miene, die Augen von Schlaflosigkeit und Thränen gerötet. Trotzdem war er noch viel erregter als sie. Ohne zu wissen, was er that, bot er ihr einen Sitz an. Indem sie sich niederließ, richtete sie eine bittende Gebärde an Malézeau, worauf der Notar sich verbeugte und hinausschritt. Sie blieben allein einander gegenüber. Dieser Augenblick, den Pascal tags zuvor mit seinem Leben hätte erkaufen mögen, verursachte ihm nun eine peinliche Verlegenheit. Eine verzehrende Glut stieg ihm zu Kopfe, jede einzelne Haarwurzel brannte ihm wie Feuer. Er dachte: »Wenn ich nicht rede, mache ich mich lächerlich, wenn ich aber rede, laufe ich Gefahr, irgend eine Dummheit zu sagen, die mich widerwärtig macht.« Er heftete seine Augen mit so flehendem Ausdrucke auf das junge Mädchen, daß diese begriff, es sei an ihr, zu befehlen, und an ihm, sich zu ergeben. Sie lächelte traurig, und mit einem Tone, der Pascal bis ins Innerste seiner Seele drang, begann sie: »Ich komme zu Ihnen, mein Herr, als Bittende . . . Und wie hätte ich es wagen dürfen, einen solchen Schritt zu thun, wenn mich nicht die Erinnerung an unsere erste Begegnung dazu ermutigen würde? . . . Der Zufall, Sie sehen es wohl, wußte, was er that, als er Sie in meinen Weg stellte . . .«
Sie hatte den Mut, ihn mit kokettem Lächeln anzublicken. Sie wollte siegen. Und er, unter dem Zauber ihres Wesens gebannt, lauschte noch immer, als sie schon längst zu reden aufgehört. So war sie es also selbst, welche die Erinnerung an jenen Hohlweg wachrief, wo sie sich zum erstenmal gesehen hatten. Alles, was seither geschehen, existierte nicht, sie hatte es freiwillig aus dem Gedächtnis getilgt. Für ihn und für sie galt nur noch jener kurze Spaziergang an einem schönen Sommermorgen im Sonnenlichte, im Grün und Blumenduft. Wenn er die Worte gesprochen hätte, die ihm heiß zu den Lippen emporstiegen, so würden sie gelautet haben: »Ich liebe Sie.« Aber das wollte er nicht. Sie war vertrauensvoll zu ihm gekommen, sie blieb allein ihm gegenüber unter dem Schutze seiner Ehre, sie war unglücklich. Er dachte: »Ich werde ihr niemals sagen, daß ich sie anbete, aber ich will es ihr beweisen, indem ich ihr mein Leben widme.« Er trat an sie heran, und mit seiner schönen, vollklingenden Stimme, die selbst zu Carvayans Herzen den Weg sich bahnte, erwiderte er in ehrfurchtsvollem Tone: »Ich weiß, gnädiges Fräulein, was Sie herführt, und es scheint, als hätte ich eine Ahnung gehabt, Sie heute zu sehen, denn ich begab mich gestern nach Rouen, um Erkundigungen über Ihren Bruder einzuziehen . . .«
Sie stieß einen Ruf freudiger Ueberraschung aus, während ein rosiger Schimmer ihre Wangen überhauchte, als sie sich so rasch und so gut verstanden sah.
»Er ist, wie man mir versicherte, bei bestem Wohlsein und sehr ruhig. Was die Angelegenheit selbst betrifft, so sind die Beamten bis jetzt sehr schweigsam . . .«
»Vielleicht ist noch nichts entschieden,« sagte sie, die Hände faltend. »Vielleicht ist es noch Zeit . . . Ach, mein Herr, wenn Sie Ihre Bemühungen mit den unserigen verbinden wollten! Ich fühle, daß ich auf Sie rechnen kann, daß Sie einen gerechten Sinn und ein großmütiges Herz besitzen. Ich bitte Sie, sprechen Sie für uns mit Herrn Carvayan! . . .«
Pascal erbleichte beim Anhören dieser schrecklichen Bitte, welche seinen Vater als Henker hinstellte, dessen Grausamkeit man entwaffnen wollte. Antoinette fürchtete, ihn beleidigt zu haben, sie nahm eine schmeichelnde Miene an: »Verzeihen Sie, wenn meine Worte Ihnen mißfallen . . . Allein, was ich von Ihnen fordere, läßt sich so schwer ausdrücken! . . . Ich will nichts sagen, was Ihnen unehrerbietig gegen Ihren Vater scheinen könnte, und dennoch muß ich Ihnen begreiflich machen, daß wir um Gnade bitten . . . Wir sind in seiner Gewalt, in der Ihren . . . Alles, was von uns gefordert wird, wollen wir gern erfüllen, wenn wir nur damit erreichen könnten, daß er gegen den armen Robert sich nachsichtiger verhalte . . . Alles, Sie verstehen mich, mein Herr? Und weil wir dachten, daß Ihre Fürsprache mächtiger sein wird als jede andere, haben wir uns an Sie gewendet . . .«
So hatte sie nur an ihren Bruder gedacht! Es war nicht der Zug ihres Herzens, der sie zu Pascal geführt. Ihr Herz war verschlossen für alles, was nicht Robert war, und nur aus Liebe zu ihm hatte sie es über sich gewonnen, ihren Stolz zu besiegen und zu bitten. Er verbannte jede eitle Hoffnung auf Gegenliebe aus seinem Herzen, stählte seinen Sinn und dämpfte das heiße Wallen seines Blutes.
»Wenn Sie wüßten, wie schwer wir geprüft werden!« fuhr das junge Mädchen fort. »Infolge einer Unterredung mit Herrn Carvayan . . . oh! ich will ihn nicht anklagen . . . ist mein Vater erkrankt und flößt uns ernste Besorgnis ein . . . Alles kommt auf einmal über mich, Sie sehen es . . . Und ich weiß nicht, wohin meine Blicke richten, von allen Seiten droht mir Unheil . . . Ich bin allein in Clairefont und ohne einen treuen Freund, der mir zu Hilfe geeilt . . .«
Pascals Herz zog sich schmerzlich zusammen, er wechselte Farbe, seine Fäuste ballten sich.
»Herr von Croix-Mesnil,« murmelte er dumpf.
»Ja, Herr von Croix-Mesnil. Seine Freundschaft für uns bringt ihm nur Sorgen und Kummer, der arme Mensch! . . .«
Das klang so ruhig, warm und doch so gleichgültig, daß Pascal wieder auflebte.
»Glauben Sie, gnädiges Fräulein,« erklärte er, »daß ich bereit bin, alles aufzubieten, um Ihrem Wunsche zu willfahren . . . Aber ich kann nur mich selbst binden, und Sie verlangen, daß ich mich für meinen Vater verbürge . . .«
Es schien Antoinette, als ob derjenige, den sie erobern wollte, ihr entschlüpfe.
»Haben nicht Sie die meiste Gewalt über ihn?« hub sie von neuem an . . . »Habe ich nicht gesehen, wie er Sie in seine Zukunftspläne einschließt? . . . Oh! ich bitte Sie, werden Sie unser Verbündeter . . . nehmen Sie unsere Sache in die Hand! . . . Wir haben keine andere Hoffnung mehr, als die, welche wir in Sie setzen . . . Robert! Roberts Befreiung allein liegt uns am Herzen, und gerne wollen wir dafür alles andere hingeben.«
»Ihre Besitzung, Ihr Schloß, den Rest Ihres Vermögens, nicht wahr?« sagte bitter der junge Mann.
Sie schwieg . . . Zum zweitenmal stellte sie dieses Anerbieten. Und mußte sie nicht darauf hinauskommen? Malézeau hatte es ihr wohl zu verstehen gegeben, was allein ein bestimmender, entscheidender Beweggrund für den Banquier sein könnte: Der Steinbruch, das Ziel seines Strebens, der Traum seines Ehrgeizes, die Beute, welche seine Genossen lockte. Fräulein von Clairefont fühlte, daß sie sich auf heißem Boden befände, aber mußte sie denn nicht bei diesem Kapitulationsvertrage die Bedingungen festsetzen? . . . Sie wagte nicht weiter zu reden, sondern blickte schweigend auf Pascal, der mit gesenktem Haupte auf und nieder schritt. Bald jedoch hielt er still, fuhr mit der Hand über die Augen, stieß einen Seufzer aus, der mehr einem Schluchzen glich, und ließ sich am Fenster nieder, als habe er völlig vergessen, daß er nicht allein sei. Er litt. Antoinette fühlte sich von Mitleid ergriffen, sie trat zu ihm hin und sagte in einem Tone, der ihn erbeben machte: »Habe ich Sie verletzt? Ich bitte, verzeihen Sie mir . . .«
Er sah sie mit finsterem Blicke an.
»Verletzt, mich? Inwiefern? Kann man einen Carvayan verletzen, wenn man ihm Geld anbietet? . . .«
Er lachte schmerzlich auf, sie blieb sprachlos vor Bestürzung.
»Weshalb sollte ich auch empfindlich sein?« sprach er weiter. »Ist es nicht allbekannt, daß der eigene Vorteil die alleinige Richtschnur des Hauses ist, in dem wir uns befinden? . . . Was Sie sagen, ist durchaus vernünftig und logisch . . . Nach allem handelt es sich ja doch um ein Geschäft! Sie kennen mich nicht, wissen nicht, ob ich nicht auch ein Herz und Gewissen habe . . . Woher sollte Ihnen die Vermutung kommen, daß ich unter dem, was um mich vorgeht, leide? Wer hätte Ihnen meinen Widerwillen und meine Schmerzen verraten sollen? Wäre Ihnen vielleicht zufällig selbst der Gedanke gekommen, daß ich stolz und uneigennützig sein könnte, oh, so glauben Sie es nicht; ich bin ein Carvayan, das heißt, ein bestechliches, habsüchtiges Wesen. Der Handel, den Sie mir anbieten, ist vorteilhaft, kein Zweifel daher, daß ich ihn annehmen werde. Rechnen Sie auf meine Geldgier, Sie haben das Wahre gefunden und werden sich nicht getäuscht haben.«
Sie sah sein Gesicht von der heftigen Erregung seiner Gefühle verstört, und schüttelte sinnend das Haupt.
»Und gerade das ist es, was ich nicht glauben mag,« entgegnete sie mit großer Ruhe. »Ich bin überzeugt, daß Sie gut sind und daß Thränen und eine Bitte hundertmal mehr zu unseren Gunsten vermögen, als die glänzendsten Versprechungen . . . Für all das, was Sie für uns thun wollen, biete ich Ihnen bloß meine aufrichtige Dankbarkeit, ich verlange von Ihnen keine andere Verpflichtung, als daß Sie Ihre Hand in die meine legen . . . Wollen Sie einschlagen?«
Die kleine Hand, welche im Hohlwege von Couvrechamps so beleidigend die Luft mit der Reitgerte durchschnitten, streckte sich ihm nun offen und schmeichelnd entgegen. Diese feinen, rosigen Finger berühren, hieß sich zum Sklaven machen, Antoinette sich widmen, hieß gegen Carvayan sich erklären. Pascal zögerte keinen Augenblick. War er doch seit seiner Heimkehr nach Neuville dazu entschlossen.
Er hegte keine Hoffnung, eines Tages Gegenliebe zu finden, und gab sich keiner Täuschung über die Gefühle hin, welchen das junge Mädchen gehorchte. Er sah sie von einer unerbittlichen Notwendigkeit gezwungen, ihren Stolz, ja ihre mädchenhafte Schüchternheit zu besiegen. Er beklagte sie und wollte ihr die Prüfung abkürzen, ergriff die Hand, die sie ihm darreichte, drückte sie leise mit achtungsvoller Rührung und sich verbeugend, entgegnete er: »Seien Sie versichert, gnädiges Fräulein, daß Sie weder in Ihren Neigungen noch in Ihrem Vermögen getroffen werden sollen . . . Dafür verbürge ich mich mit meiner Ehre.«
In ihrer freudigen Erregung fand Antoinette kein Wort der Erwiderung. Das Versprechen hatte in der Stille des düsteren Raumes so feierlich geklungen, daß Pascal selber davor erschrak.
»Bedenken Sie indes, mein Herr,« entgegnete Fräulein von Clairefont mit Würde, »daß ich durchaus nicht verlange, Sie sollten in unserem Interesse irgend etwas thun, was Ihnen schaden könnte . . .«
»Nichts könnte mir mehr schaden,« erwiderte er, »als mich, selbst indirekt, an einer That beteiligen, die meinem Gewissen widerstrebt.«
Fräulein von Clairefont nickte zustimmend mit dem Kopfe, und ein seltsamer Schimmer leuchtete in ihrem Auge auf. Ihre Stimme schien Pascal weicher, milder, fast herzlich.
»Gleichviel,« versetzte sie, »ich wünsche, daß Ihr großmütiges Versprechen Sie nur in einem Maße verpflichte, das Sie allein bestimmen . . .«
Doch als fürchte sie, daß dieser letzte Aufschrei ihres Stolzes den jungen Mann wieder verletzt hätte, fügte sie hinzu: »Was sich aber aus dieser Unterredung auch ergeben möge, seien Sie versichert, daß ich von derselben eine ungeteilte Hochschätzung Ihrer Person und eine lebhafte Erkenntlichkeit bewahren werde . . .«
Noch einmal reichte sie ihm die Hand, und diesmal fürchtete er nicht mehr, sie zu ergreifen und zu drücken, es war ihm vielmehr, als ob diese flüchtige Berührung ihn noch unlöslicher mit Antoinette verbinde.
Die Thür wurde geöffnet, Herr Malézeau eilte herbei, und Fräulein von Clairefont war schon am Ausgange der Rue du Marché verschwunden, als Pascal, auf der Schwelle des Hauses stehend, ihr noch immer nachblickte. Langsam zog er sich wieder zurück, stieg die Treppe empor und schloß sich in sein Zimmer ein. Um sieben Uhr abends kehrte Carvayan aus Lisors zurück. Er hatte tüchtigen Hunger, da er sieben Meilen im Wagen zurückgelegt, verlangte stürmisch nach dem Essen und begab sich sofort in das Speisezimmer. Dort suchte ihn alsbald sein Sohn auf. Der Banquier war in bester Laune und redete mit großer Lebhaftigkeit von dem Geschäfte, das ihn im Laufe des Tages in Anspruch genommen und welches ihm reichen Gewinn versprach.
»Siehst du, mein Sohn, es ist eine Branntweinbrennerei, deren Betrieb einer großen Erweiterung fähig ist . . . Die guten Leute, welche sie errichteten, hatten keine genügenden Mittel und sind nun mit ihrem Gelde auf dem Trockenen . . . Zu einem derartigen Unternehmen braucht man eben bedeutende Kapitalien . . . Die Dummköpfe haben mit den Oekonomen der Nachbarschaft Jahresverträge über die Lieferung von Rüben abgeschlossen, und die Maische verkaufen sie den benachbarten Pächtern, anstatt sie selbst zur Viehmästung zu benutzen . . . Dazu mußte erst Vater Carvayan kommen, um ihnen dies begreiflich zu machen . . . Dumontier und ich, wir werden ihnen 150 000 Franken vorstrecken . . . auf erste Hypothek . . . Lisors ist nicht weit . . . ich werde von Zeit zu Zeit hinfahren, um den Betrieb zu überwachen. Ah! Das Essen hat mir sehr gut geschmeckt, aber ich habe auch meine Suppe nicht gestohlen! . . . Und du, mein Bester, was hast du gethan?«
Pascal bekam heftiges Herzklopfen. Sollte er seinem Vater dreist das Vorgefallene berichten oder sollte er ihn zuvor in schlauer Weise auf eine derartige Mitteilung vorbereiten? Er antwortete ausweichend: »Ich blieb den ganzen Tag zu Hause . . .«
Carvayan spitzte die Ohren. In der Stimme seines Sohnes war ihm irgend ein seltsamer Klang aufgefallen. Er blickte Pascal forschend an und bemerkte eine verlegene Haltung an ihm.
»Gehen wir in mein Kabinett, ein wenig rauchen,« sagte er hierauf, sich vom Tische erhebend.
Sie traten in das große düstere Gemach, das von einer auf dem Schreibtische stehenden Lampe matt erleuchtet war. Mit köstlichem Entzücken fand Pascal die Luft von einem leisen, feinen Parfüm durchzogen, die flüchtige Spur von Antoinettes Verweilen in dem Hause ihres Feindes. Carvayan besaß den Geruchssinn eines Wilden; er that ein paar kräftige Nasenzüge, ließ aber keine Bemerkung laut werden. Seiner Gewohnheit gemäß ging er mit langen Schritten auf und ab. Der Argwohn, den ihm die Gesinnung seines Sohnes einflößte, begann eine deutlichere Gestalt anzunehmen und verursachte ihm eine unbestimmte Unruhe. »Sollte Pascal mit den Schloßbewohnern im Einverständnisse sein?« fragte er sich. »Doch wie, und wer hatte dabei den Vermittler gespielt?« In die Lösung dieses Rätsels vertieft, griff er mit seinen Beinen weit aus, zwischen dem Fenster und dem Schreibtische hin und her gehend, als plötzlich auf einem Tischchen, einem alten Mahagonimöbel aus der Kaiserzeit, welches den Raum zwischen den auf die Straße hinausgehenden Fenstern schmückte, ein schwarzes Spitzengewebe seine Aufmerksamkeit erregte. Mechanisch trat er näher, betrachtete es, und als er sah, daß es ein kleiner Damenschleier war, stieß er einen Schrei aus und griff mit beiden Händen danach.
»Wer hat dies hier zurückgelassen?« schrie er. »Wer war in meiner Abwesenheit hier? Der Teufel! Beim Hereintreten habe ich hier gleich einen Geruch verspürt, der mir nicht katholisch vorkam . . .«
Damit hielt er den Schleier Pascal unter die Nase.
»Du wirst wohl darüber besser Bescheid wissen, du, Herr Stubenhocker, der den ganzen Tag nicht aus dem Hause gekommen ist. Dieses Toilettenstück gehört nicht einer Dame aus Neuville . . . Gott sei Dank, die verbergen sich noch nicht das Gesicht! . . . Was ist's damit?«
Der Verdacht, welcher in ihm aufstieg, kam ihm selber so ungeheuerlich vor, daß er ihn nicht zu fassen wagte. Er blieb ratlos, den Mund vor Zorn verzogen, in der ausgestreckten Hand den Schleier zerknitternd, dem ein köstlicher Veilchenduft entströmte. Pascal schloß die Augen, um seinen Vater, der ihm in diesem Zustande Schrecken einjagte, nicht zu sehen, dann sagte er fest entschlossen: »Ich will dich nicht lange suchen lassen, die Person, welche heute hier war, ist Fräulein von Clairefont.«
»Ah! ah!« spottete Carvayan . . . »Die dort droben müssen in der That nicht mehr wissen, wo hinaus, wenn sich die stolze Antoinette herbeiläßt, zu uns hinabzusteigen . . . Und hast du sie empfangen?«
»Ja, Papa.«
»Was wollte sie?«
»Für die Ihrigen eine Fürbitte bei dir einlegen . . .«
»Eine Fürbitte? Wirklich? Da ist sie mit einem Male gar sehr demütig geworden! . . .«
Er änderte den Ton und sah seinen Sohn mit Strenge an: »Und weshalb hast du mir nicht gleich bei meiner Heimkehr die Sache erzählt?«
»Weil ich hoffte, daß es mir im Laufe des Abends gelingen würde, dich in eine günstige Stimmung zu versetzen.«
Die beiden Männer sahen einander schweigend eine kurze Weile an.
»Ah! Das hofftest du! . . . Wirklich? Hältst du mich denn für einen Lustspielonkel, der alles thut, was man von ihm verlangt? Bin ich der Mann, um zu Gunsten einer Laune seine Entschlüsse zu ändern oder wegen Weibergeflenne auf seine Pläne zu verzichten? . . . Die Schöne hat sich ohne Zweifel bemüht, dich mit feuchten Blicken zu rühren und mit ihren schmeichlerischen Phrasen zu berücken! . . . Ah! Die versteht sich auf ihren Frauenberuf . . . Eine Zierpuppe erster Klasse! Sie hat uns ja schon einmal ein Pröbchen davon geliefert an dem Ballabend, als der Dummkopf, ihr Verlobter, sich geweigert, dein Vis-à-vis zu sein . . . Vor solchen Leuten muß man auf seiner Hut sein . . . Sie versprechen einem den lieben Herrgott und geben einem den Teufel! Ich habe sie während der Zeit, in welcher ich mit ihnen zu thun habe, sehr genau kennen gelernt . . . Was sie am besten verstehen, das ist Lügen! Das Fräulein hat dir schön gethan, aber sie war noch nicht am Ende der Straße, als sie dich schon auslachte . . . Du darfst mir's glauben!«
Pascal entgegnete nichts. Er hatte sich vorgenommen, alle Spöttereien und Heftigkeiten geduldig über sich ergehen zu lassen. Konnte denn die Verwirklichung des Versprechens, welches er dem jungen Mädchen gegeben, zu teuer erkauft werden?
Carvayan durchmaß wieder mit raschen Schritten das Zimmer. Er überlegte, und seine Gesichtszüge hatten einen sehr ernsten Ausdruck angenommen. Plötzlich hielt er still und seinem Sohne einen finsteren Blick zuwerfend, fragte er: »Aber schließlich hat sie doch nicht bloß geseufzt, nicht wahr? Sie hat wohl auch ein wenig gesprochen . . . Was sagte sie? Welchen Vorschlag machte sie? Wenn man Frieden begehrt . . . so stellt man gewisse Bedingungen . . . Lassen wir die sentimentale Seite der Frage aus dem Spiele und besehen wir uns die praktische . . . Was fordert sie?«
»Daß du ihren Bruder rettest und ihren Vater schonst . . .«
»Mit anderen Worten, daß ich klar wie der Tag beweisen soll, der junge Clairefont sei weiß wie die Unschuld, und daß ich den Alten, nachdem ich ihn völlig in meiner Hand habe, frisch und unangetastet wieder freilassen soll . . . Nicht übel! Und was bietet sie mir als Ersatz dafür? Ohne Zweifel eine ewige Dankbarkeit?«
»Fräulein von Clairefont hat keine Bedingungen gestellt.«
»Und wer soll sie denn stellen, zum Kuckuck?« schrie Carvayan, dessen braunes Gesicht eine dunkle Röte überzog.
»Du, Vater,« erwiderte Pascal ruhig . . . »Bist du nicht der Herr?«
Carvayan sah seinen Sohn mit Mißtrauen an. Er lehnte sich an den Kamin und kreuzte die Hände über dem Rücken.
»Ich bin der Herr, das ist wahr!« entgegnete Carvayan voll verschmitzter Gutmütigkeit . . . »Doch die Lage ist eine verwickelte . . . und zwei Meinungen sind mehr wert als eine . . . Sage mir, was thätest du an meiner Stelle?«
»Darüber ließ ich dich nie im unklaren, Vater, und gleich von der ersten Stunde meiner Heimkehr an suchte ich dich zu einem Vergleiche zu bewegen . . . Die Lage der Familie Clairefont war damals noch keine so ernste, als sie es heute ist, und ich sprach einzig und allein in deinem Interesse . . . Ich wünschte, daß du die Feindseligkeiten aufgibst, welche dich in der Meinung vieler Leute herabsetzen . . . Ich wünschte, daß deine Ansichten der Höhe der Stellung entsprechen möchten, welche du dir zu erringen verstanden hast . . . du warst der Stärkere . . . dir ziemte es, dich großmütig zu zeigen . . . So redete ich zu dir, als diejenigen, welche du als deine Feinde ansiehst, noch Widerstand leisten konnten . . . Was soll ich heute sagen, da sie völlig besiegt sind und in Verzweiflung um Gnade bitten? . . . Es ist kein Rat, den ich dir heute gebe, es ist eine Bitte, die ich an dich richte. Sei menschlich, schlage nicht Leute, die schon auf dem Boden liegen . . . Wende dich ab von diesen Clairefonts, die zu existieren aufgehört haben . . . drücke den Sohn nicht nieder, dessen einziges Verbrechen der Name ist, den er trägt, und laß den Vater in Ruhe sterben auf seinem zerstückelten, verarmten Edelsitze . . .«
»Den Sohn!« rief Carvayan in heftigem Zorne. »Vergißt du, daß er dich vor der ganzen Stadt beschimpft hat? . . . Den Vater! Weißt du nicht, daß er mich gestern morgen erwürgen wollte? . . . Leute, die auf dem Boden liegen! Was thäten sie erst, wenn sie noch auf ihren Füßen ständen? Du kennst sie nicht . . . diese Banditen!«
Sodann wurde er wieder sehr ruhig, und mit den Händen in die Tasche fahrend, sagte er: »Schließlich, mein Wackerer, ist das alles sehr hübsch, aber die Leute schulden mir 400 000 Franken!«
»Die Besitzung ist das Doppelte wert! . . .«
»Hoffentlich! Wenn das nicht wäre, würde ich ja selber blank dastehen!«
»Vater,« begann Pascal wieder mit einer Erregung, die seine Stimme erbeben ließ, »entziehe mir nicht jede Hoffnung, dich überzeugen zu können . . . Bringe mir zuliebe dieses Opfer, und ich will mein ganzes Leben dir dafür dankbar sein. Fordere als Ersatz von mir, was du willst, und ich willige im voraus ein . . . Ich will dir stets zu Diensten sein, will dein Vermögen vergrößern und deinen Ehrgeiz befriedigen . . . Meine Tage, meine Nächte, ich will sie dir widmen . . . aber im Namen alles dessen, was es Heiligstes auf Erden gibt, verweigere mir nicht, um was ich dich bitte! . . .«
Carvayan schritt auf seinen Sohn zu und fragte mit bitterer Ironie: »Was hat man dir dafür versprochen, wenn du mich überredest?«
»Vater!«
»Bist du mein Sohn oder der Sachwalter der Clairefonts?«
»Bin ich nicht ein guter Sohn, wenn ich den Namen meines Vaters geehrt und geachtet wissen will?«
»Achtung, Ehre, diese Worte klingen herrlich aus deinem Munde. Geh doch, mein rechtschaffener Herr, gestehe doch kühn, was du denkst, habe doch den Mut des Verrates! Glaubst du, ich hätte nicht schon lange bemerkt, daß ich in meinem eigenen Hause einen Verräter habe? Du denkst, mich täuschen zu können? . . . Dazu bist du denn doch zu jung! . . . Narr, der sich von einem Weibe bethören läßt und seinen eigenen Vater anführen will! Sprich für sie, verteidige, seufze um sie! Dreifacher Narr! Du wirst sehen, wie sie es dir lohnen wird! Ah! Ich wollte wissen, woran ich bin, jetzt bin ich im klaren. Du hast mit der schönen Antoinette geliebäugelt und zappelst jetzt in ihren Netzen . . . Geh, sie wird dich Ehre und Achtung lehren . . .«
»Vater!«
»Wage doch zu sagen, daß sie dich nicht bestrickt hat! Wage es zu leugnen, daß du sie liebst!«
Pascal, der sich unter dem väterlichen Zorne demütig gebeugt hatte, richtete sich nun mit vor Leidenschaft strahlendem Gesichte in die Höhe.
»Ja, bei meiner Ehre und Seligkeit, ich liebe sie! Und diese Liebe wird das Unglück meines Lebens sein, weil ich zwischen euch stehe, zwischen dir, den ich unerbittlich finde, und zwischen ihr, die mir heilig ist. Habe Mitleid mit mir! Jeder Schlag, den du gegen sie führst, wird mein Herz treffen. Das Schicksal wollte es so . . . Mir wäre es niemals in den Sinn gekommen, Fräulein von Clairefont aufzusuchen. Ich sah sie, ohne zu wissen, wer sie sei . . . Und als ich zu überlegen begann, war es zu spät . . . Ich gebe dir mein Wort, daß ich sie nicht wiedersehen will, wenn du schonend mit ihrer Familie verfährst . . . Ich kenne weder ihren Vater, noch ihren Bruder . . . Vor meinen Augen steht nur sie. Sie allein! Sie kannst du doch nicht hassen, sie that dir niemals etwas zuleide . . . Vater, auch du hast einst geliebt und gelitten . . . Um der Vergangenheit willen sei heute gut und mache deinen Sohn nicht so unglücklich, als du es selbst einst gewesen!«
»Ah! Du thust nicht klug daran, die Erinnerung an die Vergangenheit zu wecken, denn sie gerade verbietet mir jedes Mitleid! Entsage deiner Liebe, sie ist etwas weniger alt, als mein Haß! Seit meiner Jugend finde ich ihn stets lebendig in meinem Herzen. Aus diesem Hasse schöpfte ich die Thatkraft, deren ich bedurfte, um dahin zu gelangen, wo ich heute stehe. Alles, was ich unternahm, geschah nur, um diesem Haß Genugthuung zu geben, und nun ich dem Ziele so nahe bin, verlangst du, daß ich um einer Laune, einer Liebelei willen auf die so heiß ersehnte Freude verzichte. Geh! Du bist ein schwaches, verblendetes Kind . . . Ueberlasse mir die Leitung deiner Sache, ich will sie mit der meinen verbinden, und du sollst sehen, daß ich mehr erreichen werde, als du dir selber wünschen konntest. Du beschuldigst mich fast, ein schlechter Vater zu sein . . . Nun, ich will dir meine Liebe bezeugen . . . Dieses Mädchen, das du liebst, willst du es haben? Ich werde es dir geben . . . Du sollst das Fräulein willig und ergeben finden! Ihr Stolz! Ah! Ah! Ich besitze ein unfehlbares Mittel, um junge Mädchen, die sich etwas einbilden, gefügig zu machen . . . Habe Vertrauen zu mir . . . Befolge meinen Rat, mische dich in nichts, bleibe bloß Zuschauer und die Prinzessin wird dir gehören.«
»Niemals!« rief Pascal wütend aus. »Ich würde vor Scham sterben!«
»Oho!« stieß Carvayan hervor. »Ich glaubte mich geduldig gezeigt zu haben, aber du beginnst mir die Ohren zu ermüden! Ich schätze die Phantasie, doch nur unter der Bedingung, daß sie sich nicht zu sehr in die Länge zieht. Es gibt keine Macht auf Erden, die mich zwingen könnte, ein Nein zu sagen, wenn ich ein Ja für gut finde. Ich habe mir vor mehr als dreißig Jahren geschworen, den Marquis aus seinem Schlosse zu verjagen und mich selbst an seine Stelle zu setzen!«
»Und ich, Vater, ich habe mir soeben geschworen, daß ich dich daran hindern werde.«
»Also wirklich, das hast du geschworen?« sagte Carvayan mit entsetzlicher Ruhe. »Nun, du sollst bald zu deinem Schaden erfahren, daß man keine voreilige Verpflichtung eingehen soll . . . In vierzehn Tagen, verstehst du mich, wird die Versteigerung des Gutes stattfinden und der Marquis obdachlos sein.«
»Nein, Vater, das wirst du nicht erleben, denn morgen schon wirst du bezahlt sein.«
»Geh!« spottete der Banquier. »Mit wessen Gelde?«
»Mit dem meinen!«
Ein plötzlicher Zusammensturz des Hauses hätte nicht so verblüffend auf Carvayan wirken können, als diese Entgegnung.
»Hast du dir reiflich überlegt,« stotterte er, »was du eben sagtest?«
»Ja, Vater, ebensogut als du, was du zu thun gedenkst!«
»Du willst meine Pläne durchkreuzen?«
»Ich werde alles thun, um einen unwürdigen Raub zu verhindern.«
»Woher nimmst du die Vermessenheit, so mit mir zu sprechen?«
»Aus dem Abscheu, den deine Handlungen mir einflößen.«
Bei diesen Worten näherte sich Carvayan drohend seinem Sohne, sein Gesicht war von wildem Zorne verzerrt, er selbst schien größer geworden. Wie er so dastand, ganz in Schwarz, die Finger wie Klauen gekrümmt, die gelben Augen glitzernd wie Gold, hätte man ihn für einen Dämon des Hasses halten können.
»Ah! Steht's so?« rief er. »Du drohst mir und beschimpfst mich! Ich sage dir, diejenigen, die du verteidigen willst, werde ich ohne Gnade und Barmherzigkeit verfolgen. Ah! Sie hofften auf eine glückliche Wendung, indem sie dich an sich lockten? Sie glaubten, ich würde mich zurückziehen, um nicht gegen dich zu kämpfen? Jetzt erst sollen sie sehen, was ich zu thun imstande bin, wenn man mir trotzt. Einen schönen Beschützer suchten sie sich da aus! . . . Du bist sehr kühn, wenn du es wagst, dich mit deinem Vater zu messen. Ah! Ah! Mein Junge . . . ich habe schon stärkere, als du es bist, mürbe gemacht, und auch du wirst die Faust des alten Carvayan kennen lernen! . . . Dummkopf, der alles glaubt, was ihm die Clairefonts versprechen . . . Das sind die größten Heuchler! Sie bedienen sich deiner, haben dich mit ihrer Tochter geködert . . . Du sahst nichts als die Flamme . . . Ah! Sie ist mit ihren Reizen nicht geizig . . . Frage nur den Offizier . . . Dich aber kann sie doch nur verachten . . . Was gilt denen ein Mann ohne Namen, der Sohn deines Vaters, ein Herr, der nicht ›von‹ ist! Wenn du ihnen die Kastanien aus dem Feuer geholt haben wirst, werden sie dich wie einen Lakai fortjagen. So lerne doch die Sache einsehen . . . Pascal . . . mein Freund . . . Ich täusche dich nicht, ich bin gegen dich aufrichtig und freimütig . . . Du rennst in dein sicheres Verderben . . . Du wirst deine Pflichten verletzt, deinen Vater verleugnet haben und dich mit Schande bedecken . . . Wie? Hörst du mich? . . . Antworte mir . . . Du stehst da mit starren Augen . . . Verstehst du mich? . . . Warum willst du nicht reden? . . . Du hast doch sonst den Mund nicht vernäht . . . Versprich mir, daß du dir die Sache überlegen wirst . . . Wirf doch nicht Hunderttausende nur so hin . . . Potztausend! Geld ist schwer zu verdienen . . . Wie bald würden diese Leute auch das deine durchbringen. Pascal . . . Pascal! . . .«
Er näherte sich dem jungen Manne, faßte ihn beim Arme, drückte ihn, schmeichelte ihm, sprach zu ihm voll Zärtlichkeit und Beredsamkeit in allen Tonarten, mit leidenschaftlichem Feuer, um ihn zu überzeugen, zu verführen. Er fand ihn jedoch unzugänglich, stumm und taub, gepanzert mit eisernem Willen. Da jedoch alles fruchtlos blieb, schrie Carvayan schäumend vor ohnmächtiger Wut: »Fort aus meinem Hause, Elender, ich jage dich hinaus! Schändlicher, der seinen Vater verkauft! . . . Der ihn ermordet! Ja, du bringst mich um! Wenn ich diese Clairefonts nicht im Staube sehe, sterbe ich, ich habe nur für die Stunde gelebt, in der sie, gedemütigt, vernichtet, meine Gewalt empfinden sollten! Und du stiehlst mir dieses so lange erstrebte Glück . . . Geh fort! . . . Geh, sage ich dir, ich wäre imstande, dir ein Leid anzuthun!«
»Ich verbiete dir, mich Vater zu nennen . . . Bin ich es überdies? . . . Ich zweifle daran, wenn ich deine Handlungsweise sehe.«
Der junge Mann blieb sprachlos vor Entsetzen diesem Zorne gegenüber, der vor keiner Drohung, keiner Lästerung zurückschreckte. Er machte eine Gebärde der Verzweiflung und wendete sich der Thür zu. Sein Vater aber stand schon dort, zu einem letzten Versuche bereit.
»Pascal . . . Schließen wir wenigstens einen Vergleich,« sagte er mit wirren Blicken, doch mit völlig klarem Verstande . . . »Bezahle nicht . . . Und ich will sie in Ruhe lassen . . .«
»Nein, Vater . . . Ich habe kein Vertrauen mehr zu dir . . . Du würdest mich täuschen . . .«
Carvayans graue Haare sträubten sich auf seinem Kopfe; er wollte seinen Sohn schlagen, seine Arme fielen kraftlos hinab; er wollte schreien, schimpfen, doch er brachte es nur zu einem Stammeln: »Wenn deine Mutter da wäre, sie würde dich verfluchen! . . .«
»Nein, Vater, sie würde es nicht,« sagte der junge Mann, stolz den Kopf erhebend.
Und den Alten fast sinnlos vor ohnmächtiger Wut zurücklassend, schritt er hinaus.