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Der Botschafter von Schweinitz an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Grafen Herbert von Bismarck. Eigenhändiger geheimer Privatbrief.
»St. Petersburg, den 23. Mai 1888
Euerer Exzellenz beehre ich mich zur Vervollständigung meines heutigen Berichts Nr. 133 über die Konferenz, welche am 19. d. M. in Gatschina stattfand, Nachstehende ganz ergebenst zu melden:
Der Herr Kriegsminister hat Herrn von Giers scharf zugesetzt und konnte in Anbetracht der mitteleuropäischen Bündnisse und der bedeutenden Kredite, welche in Berlin und Wien bewilligt wurden, in Budapest und London aber in Aussicht gestellt sind, seine Forderungen mit gewichtigen Argumenten unterstützen.
Letztere zu entkräften, hatte Herr von Giers nur ein einziges Mittel, und dieses durfte er in der Diskussion nicht anwenden: dem Zaren gegenüber hat er es aber zur Geltung gebracht, und zwar mit vollem Erfolge: es bestand in dem Hinweis auf unseren Vertrag, welcher noch für zwei Jahre gilt.
»Es lastet schwer auf dem Gemüte meines Herrn«, sagte der Minister, »daß er dem Kaiser Friedrich, den Er so hoch verehrt, nichts von dem Vertrage sagen darf; Er sieht aber ein, daß dies jetzt unmöglich ist und daß wir dem Fürsten Bismarck unbedingtes Vertrauen schenken dürfen; Ihr Kronprinz weiß übrigens um die Sache.« – Die Behauptung des Ministers von Giers stimmt mit den Tatsachen nicht überein. Der Verfasser. Auf strengste Bewahrung des Geheimnisses legt Kaiser Alexander nach wie vor den größten Wert.
Das »unbedingte Vertrauen« des Zaren und Seines Ministers ›zum Fürsten Bismarck‹ bezieht sich, wie er hinzufügte, nicht auf die Möglichkeit eines deutschen Angriffs, woran man jetzt weniger glaubt als im vergangenen Herbste, sondern darauf, daß Seine Durchlaucht der Herr Reichskanzler kriegerische Velleitäten der Ungarn unschädlich machen wird.
Der österreichisch-ungarische Botschaftsrat von Aehrenthal an den Innenminister Graf Kálnoky in Wien:
Nr. 36B
(Sr. Exz. Hr. Gf. Kálnoky)
»St. Petersburg, 22. Juni 1888
Pr. 1. 7. 1888
Hochgeborener Graf!
Die Nachricht von dem Ableben Kaiser Friedrichs hat in allen Kreisen Rußlands eine mächtige Wirkung erzeugt. Abgesehen von dem rein menschlichen Mitgefühl für den edlen Dulder auf dem Kaiserthrone hatte das Russentum auf das Regiment dieses Monarchen sanguinische Hoffnungen gesetzt. Unter Friedrich III. würde, so argumentierte man hier, das stramme Preußentum nicht mehr die dominierende Stellung einnehmen, Fürst Bismarck, der Urquell alles Bösen, werde, des Kampfes müde, schließlich zurücktreten und ein neues Deutschland in Europa erstehen, mit welchem, weil politisch und militärisch schwächer, die Nachbarn sich besser vertragen könnten. Man hat sich derart in diese Hoffnung eingelebt, daß man die schwere Erkrankung des Kaisers nicht glauben wollte und die ungünstigen Nachrichten auf tendenziöse Entstellungen gewisser Berliner Kreise zurückführte. Die Todesnachricht mußte auf diese Weise um so nachhaltiger wirken. In der ersten Zeit war die Enttäuschung die dominierende Note in der Beurteilung des Ereignisses seitens der russischen Presse. Kaiser Wilhelm II. wurde sehr kühl begrüßt und das Wiedererscheinen der Bismarckschen Sonne mit unverhohlenem Ärger kommentiert. Diese Stimmung war indes nur von kurzer Dauer. Ein Wink seitens der Presseverwaltung genügte, um die unfreundliche Annahme des neuen deutschen Kaisers in das Gegenteil zu verwandeln. Das »Journal de St. Petersbourg« machte den Anfang, indem es daran erinnerte, daß die denkwürdigen Worte des sterbenden Kaisers Wilhelm für den erhabenen Enkel ein heiliges Vermächtnis sein und die leitenden Gesichtspunkte für die Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland angeben würden. – Die übrige Presse folgte willig dieser Anregung, und man hat jetzt das merkwürdige Schauspiel, wie die russischen Blätter unter sich eine Art von Wettlauf um die deutsche Freundschaft beginnen. Die Proklamation an die Armee wurde noch mit Mißtrauen aufgenommen; die späteren Enunciationen des jungen Kaisers fanden hingegen eine sehr sympathische Begrüßung. – Man verliert auch keine Zeit, dem Kaiser Wilhelm und seinem Kanzler gewissermaßen die Bedingungen anzudeuten, unter welchen die russische Freundschaft zu haben sein werde. So zum Beispiel hofft die »Nowoje Wremja«, daß sich Kaiser Wilhelm II. mit der orientalischen Frage nur insoweit beschäftigen werde, als diese die deutschen Interessen direkt in Mitleidenschaft zieht. – Zwischen Rußland und Deutschland bestünden keine Gegensätze. An dem neuen Machthaber sei es zu zeigen, daß er Rußlands Friedensliebe zu schätzen wisse. Dasselbe Blatt nimmt keinen Anstand, im schärfsten Gegensatz zu seiner früheren Haltung den Fürsten Bismarck in den wärmsten Ausdrücken zu glorifizieren. Es hofft von seiner seltenen Weisheit, daß er die ihm zugefallene erhabene Mission der Ausgleichung der Gegensätze, der Versöhnung der Völker auch ausführen werde. Dieser Frontwechsel kommt in erster Linie auf Rechnung eines Befehles der Presseverwaltung. Ich möchte auch ein anderes Moment erwähnen, welches mitbestimmend gewesen sein dürfte. Das Russentum hatte sich in die Hoffnung auf ein schwächeres Deutschland und ohne eisernen Kanzler vollkommen hineingelebt. Des letzteren Stellung scheint nun fester denn je zu sein. Da man hier nach den gemachten Erfahrungen keine Lust hat, mit dieser mächtigen Individualität Streit zu beginnen, so zieht man vor de faire bonne mine à mauvais jeu.
Der unvermittelte Umschwung in den Auffassungen der Blätter über die Tagesfragen konnte nicht verfehlen, eine Reaktion nach einer anderen Richtung zu erzeugen. Das Mißtrauen gegen die neue Aera in Deutschland durfte nicht weitergesponnen werden. Der hier nie versiegende Vorrat an Gift und Galle mußte aber eine Ablagerung finden, und der Strom entlud sich gegen Österreich-Ungarn. Die hiesige Presse hat auch in der Tat in den letzten Tagen im Verschimpfen der Monarchie eine schöne Leistung aufzuweisen. Dieses Poltern gegen uns dürfte bis zu dem Zeitpunkt andauern, wo die hiesigen Preßpolitiker, von ihrer Campagne um die deutsche Freundschaft enttäuscht, ihre Angriffe neuerdings gegen die Suprematie Berlins kehren werden. Genehmigen Eure Exzellenz den Ausdruck meiner tiefsten Ehrfurcht
Der Österreich-ungarische Botschaftsrat von Aehrenthal an den Außenminister Graf Kálnoky in Wien:
Nr. 42B
(Sr. Exz. Hr. Gf. Kálnoky)
»St. Petersburg, 27./15. Juli 1888
Pr. 8. 8. 1888
Hochgeborener Graf!
Wie ich mit meinem ergebensten Telegramm Nr. 95 vom 21. d. Mts. zu melden in der Lage war, hatte ich am Nachmittage des 20. Juli Grafen Herbert Bismarck in Petersburg besucht, welcher gerade von seiner ersten Unterredung mit Herrn von Giers zurückgekehrt war. Über diese Unterredung machte mir Graf Bismarck nachstehende Mitteilung mit dem Ersuchen, sie in streng vertraulicher Weise zur Kenntnis Eurer Exzellenz zu bringen:
Die erste Begegnung der beiden Minister hätte gewissermaßen einen persönlichen Charakter gehabt. Graf Bismarck begann damit, auszuführen, daß der Besuch Kaiser Wilhelms keinen anderen Zweck verfolge, als in feierlicher Weise seinen Willen kundzugeben, mit Rußland im Frieden zu leben und die seit einem Jahrhundert zwischen den beiden Herrscherhäusern bestehenden Freundschafts- und Familienbande zu erneuern. Der Staatssekretär betonte mir gegenüber die Notwendigkeit, mit dem autokratischen Herrscher Rußlands eine gewisse Fühlung zu unterhalten, um sich durch die Pflege des persönlichen Moments die Möglichkeit zu sichern, auf diesen entscheidenden Faktor der russischen Politik im Bedarfsfalle einwirken zu können. Kaiser Wilhelm, der ein sehr kluger Herr sei, habe volles Verständnis für die Wichtigkeit dieser Beziehungen.
Graf Bismarck war entschlossen, die Initiative zur Besprechung concreter Fragen Herrn von Giers zu überlassen. Nach einigem Zögern sah sich dieser auch hiezu gezwungen und leitete die Conversation mit der Bemerkung ein, daß, da nun einmal die Minister des Äußeren von Deutschland und Rußland beisammen seien, es am Platze wäre, auch etwas über Politik zu sprechen.
Der russische Minister des Äußeren constatierte zunächst, daß das Cabinett von Petersburg in Betreff der weiteren Behandlung der bulgarischen Frage ein bestimmtes Programm nicht besitze, daß es aber auf dem bekannten Standpunkt verharre, die faits accomplis und somit das Regime Coburg nicht anerkennen zu können. Rußland werde auch weiterhin in dieser Reserve verbleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß sich das Provisorium in Bulgarien noch jahrelang hinschleppen sollte. Für den Fall der Entfernung des Prinzen Ferdinand würde Rußland jede andere Candidatur acceptieren, nur um von der leidigen bulgarischen Frage nichts mehr hören zu müssen. Nicht die gleiche Zurückhaltung werde aber seitens Österreich-Ungarns beobachtet, dessen Vertreter überall auf dem Balkan und speziell in Bulgarien große Tätigkeit entwickeln. In Sofia sei Herr von Burian die einflußreichste Persönlichkeit und seine Ratschläge entscheidend. Herr von Giers würde es nicht fair finden, wenn die diplomatischen Vertreter eines Monarchen, der mit Kaiser Alexander befreundet ist, die jetzige, für Rußland unvorteilhafte Situation auf dem Balkan auszunützen fortsetzen würden. Auf die Frage des Grafen Bismarck, ob diese Anschauungen eine positive Grundlage hätten, antwortete Herr von Giers ausweichend, konkrete Fakta lägen zwar nicht vor, aber alle Nachrichten, die man von dort erhalte, lauteten übereinstimmend in diesem Sinne. Herr von Giers beklagte die hierdurch geschaffene Situation, weil Bulgarien der Dorn im Fuße Rußlands sei, was natürlich eine große Empfindlichkeit in der hiesigen öffentlichen Meinung erzeuge. Insbesondere müsse die Tätigkeit der österreichischen Diplomaten Kaiser Alexander verstimmen, der sich zwar mit der bulgarischen Frage fast gar nicht beschäftige, aber für alles, was ihn an die Mißerfolge der russischen Politik in diesem Lande erinnert, eine große Empfindlichkeit an den Tag legt; für ihn sei diese Frage gewissermaßen doch sein Steckenpferd (C'est son dada, waren die Worte des Ministers).
Neue Vorschläge zur Regelung der bulgarischen Angelegenheit hätte Herr von Giers nicht vorgebracht, vielmehr Ratschläge des deutschen Staatssekretärs erwartet. Diesem Anwurf begegnete Graf Bismarck mit dem Hinweis, daß die deutsche Politik im allgemeinen und in der bulgarischen Frage im besonderen eine sehr klare und allgemein bekannte sei. Für Deutschland sei es ganz gleichgültig, was mit Bulgarien geschehe und wer dort regiere.
Die deutsche Politik habe stets nur das Ziel vor Augen gehabt, ein Einvernehmen zwischen Rußland und Österreich in den Balkanfragen herzustellen, und zu diesem Ende sei die Idee der Teilung der Interessensphären wiederholt in St. Petersburg und in Wien angeregt worden, – eine Idee, die jedoch an beiden Orten nicht goutiert wurde. Auch jetzt noch habe man dieselbe Auffassung, da es doch ein großes Unglück wäre, wenn sich zwei monarchische und conservative Mächte wegen eines elenden Stück Landes, wie Bulgarien, verbluten würden. Se. Maj. Kaiser Franz Joseph und Eure Exzellenz seien von dieser Auffassung der deutschen Regierung genau unterrichtet und hätten auch im Prinzip Verständnis dafür gezeigt, doch sei bisher das Terrain für die praktische Inangriffnahme der Sache sehr ungünstig gewesen.
Da die russische Regierung die faits accomplis in Bulgarien nicht anerkennen könne, was Bismarck vollständig begreiflich findet, so sei doch noch eine andere Remedur denkbar und dieselbe bestände darin, die illegale Regierung des Coburgers über den Haufen zu werfen. Herr von Giers zeigte sich durch diese Zumutung sehr bestürzt, verwahrte sich gegen eine so weitgehende Initiative und beteuerte, daß Rußland auf dem Balkan keine Vergrößerungspolitik treibe; Rußland sei groß genug und brauche keine neuen Erwerbungen. Graf Bismarck hätte hierauf die Ansicht entwickelt, daß, wenn auch die Idee einer Intervention perhorresciert werde, Rußland über eine große Anzahl erfahrener Staatsmänner verfüge, denen es nicht schwer fallen könnte, ein entsprechendes Programm auszuarbeiten. Deutschland habe noch diesen Winter bewiesen, daß es jeden russischen Vorschlag nach Kräften unterstütze. Darüber hinaus könne es aber nicht gehen, denn es sei nicht seine Sache für Rußland Programme zur Lösung der bulgarischen Frage auszuarbeiten. Wenn Deutschland in einen Conflict mit einem kleinen Staate, wie die Schweiz oder Belgien, geraten sollte, so würde es sich gewiß nicht ein Projekt zur Beilegung des Streites von einem dritten Staate erbitten. Die deutsche Regierung würde sich über die Lösungsmodalitäten zunächst selbst klar werden und erst dann die betreffenden Regierungen das Ersuchen um Unterstützungen stellen. Was speziell Bulgarien betrifft, so scheine es Grafen Bismarck, daß ein direktes Einvernehmen mit den näher beteiligten Großmächten auch ein Weg sei, um zum Ziele zu gelangen.
Herr von Giers brachte sodann das Gespräch auf die Lage in Serbien, in Betreff welcher er sich gleichfalls sehr alarmiert aussprach. Auch in diesem Lande übte Österreich-Ungarn einen dominierenden Einfluß aus; die Zustände wären immerhin derartige, daß ein Zusammenbruch zu den Möglichkeiten der nächsten Zukunft gehöre. Für diese Eventualität sieht Herr von Giers eine österreichische Intervention voraus, was einen Sturm der Entrüstung in Rußland hervorrufen würde, den zu beherrschen die russische Regierung kaum die nötige Kraft haben dürfte. Graf Bismarck war bestrebt, diese Besorgnisse zu zerstreuen. Soweit die deutsche Regierung über die Pläne des Wiener Cabinets informiert sei, hätte letzteres bisher keine Veranlassung gehabt, sich mit der Idee einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten Serbiens zu beschäftigen. Auch die inneren Verhältnisse des Landes seien nicht derartige, um die Befürchtungen des Herrn von Giers zu rechtfertigen. Nach den Berichten des deutschen Gesandten in Belgrad herrsche dort vollständige Ruhe und selbst der Konflikt zwischen König und Königin habe bisher keinerlei besorgniserregende Symptome erzeugt. Gesetzt aber den Fall, daß sich Österreich-Ungarn auf die Entwicklung der Dinge doch gezwungen sehen würde, in Serbien zu intervenieren, so brauche dies für Rußland noch kein Grund zu sein, um mit der Monarchie in Conflict zu geraten. Rußland könnte ja einen österreichischen Einmarsch in Serbien mit einer Occupation Bulgariens beantworten. Herr von Giers verwahrte sich entschieden gegen eine solche Politik und beteuerte neuerdings, daß Rußland keinerlei egoistische Pläne auf der Balkanhalbinsel verfolge.
Wie mir Graf Bismarck sagte, hat Herr von Giers die Intervention der deutschen Behörden in dem Conflicte zwischen König Milan und der Königin Natalie mit keinem Wort berührt. Wäre dies geschehen, so hätte der Staatssekretär nicht unterlassen, seinem russischen Collegen den Standpunkt der deutschen Regierung klar und verständlich auseinanderzusetzen.
Beim Abschied teilte Herr von Giers dem Grafen Bismarck mit, daß Kaiser Alexander ihn am Sonntag nachmittags empfangen werde. Bei dieser Gelegenheit würden zweifelsohne die Beziehungen zu Österreich sowie die Balkanfragen zur Sprache kommen. Wenn auch Kaiser Alexander für die Person unseres allergnädigsten Herrn die freundschaftlichsten Gefühle hege und in ihn volles Vertrauen setze, so werde sich doch Graf Bismarck überzeugen können, daß bei Erwähnung der österreichischen Politik sich Seiner Majestät stets eine gewisse Empfindlichkeit zu bemächtigen pflege.
Sowohl aus dem Tone, mit welchem mir Graf Bismarck diese Unterredung mitteilte, wie auch aus ausdrücklichen Bemerkungen konnte ich ersehen, daß er für die Impotenz der augenblicklichen russischen Politik nur ein Lächeln der Befriedigung übrig habe.
Genehmigen Hochdieselben die Versicherung meiner tiefsten Ehrfurcht
Aehrenthal.«
Bemerkung des Kaisers Franz Joseph auf diesem Akte:
»Der Standpunkt der deutschen Politik ist zwar der alte und bekannte, aber korrekt und im Einklange mit dem Berliner Vertrage ist er nicht.
Aus einem Berichte des österreichisch-ungarischen Botschafters Grafen Széchényi an den Außenminister Grafen Kálnoky in Wien:
»Berlin, 9. Jänner 1889
Pr. 15. 1. 1889
Wenn der jugendliche Kaiser Wilhelm II. das Haupt etwas höher trägt, als er es bei seinen Jahren und dem selbstverständlichen Mangel irgend einer erfolgreichen Vergangenheit tun sollte, so ist dies fürwahr nicht zu verwundern, wenn man in Betracht zieht, wie und unter welchen Umständen er zur Regierung gelangte und welche die persönlichen Befriedigungen waren, die ihm in so kurzer Zeit schon zu Teil geworden sind.
Der junge Herrscher besteigt den Thron fast ohne Übergang, und nachdem ihm dies noch kaum vor einem halben Jahre nach aller menschlichen Berechnung erst in weiter Ferne in Aussicht stand.
Er wünscht, daß zu dieser Feier sämtliche Souveraine des deutschen Reiches sich um ihn versammeln; es geschieht, indem es gleich einer förmlichen Huldigung vor Augen tritt.
Er wünscht, daß sich an der Neujahrsgratulation sämtliche Befehlshaber der deutschen Armeecorps beteiligen, etwas was von Kaiser Wilhelm I. nie verlangt worden ist; sie erscheinen vollzählig und unter der Zahl zwei königliche Prinzen: Prinz Georg von Sachsen und Prinz Leopold von Bayern …
Wenn man nun noch bedenkt, daß die Umgebung des jungen Herrschers nicht nur ihre Gegenwart der Gunst ihres kais. Herrn verdankt, sondern auch ihre Zukunft von demselben erhofft, so ist es ja ganz begreiflich, wenn sie sich stets hütet, eine von Höchstdessen Intentionen abweichende Ansicht auszusprechen, und mit einer solchen nur dann hervortritt, wenn sie von ihr eigens verlangt wird, so daß die jugendliche und rasche Initiative des Souverains in vielen Fällen nicht das wünschenswerte Gegengewicht findet.
Indeß bleibt dieser nächsten Umgebung des Monarchen immerhin noch in den Fällen, wo dieselbe befragt wird, ein hinlänglicher Spielraum, um einen nicht unbedeutenden Einfluß auszuüben, von dem keineswegs anzunehmen ist, daß davon stets der beste Gebrauch gemacht werde.
So dürfte denn, wie Kaiser Wilhelm I. während seiner letzten Regierungsjahre infolge seines Greisenalters manchmal mißbraucht worden ist, und Kaiser Friedrich infolge seines hoffnungslosen körperlichen Leidens mißbraucht wurde, nunmehr Wilhelm II. wegen seiner Jugend mißbraucht werden …
Und dennoch ist es nicht zu leugnen, daß Kaiser Wilhelm II. trotz alledem viel populärer ist, besonders im großen Publikum und in den breiteren Volksschichten, als man es den gegebenen Verhältnissen und dem Gerede der Leute nach glauben sollte.«
Aus einem Privatschreiben des österreichisch-ungarischen Botschafters Grafen Wolkenstein an Graf Kálnoky in Wien:
»St. Petersburg, 9. Juni/28. Mai 1889
Pr. 22. 2. 1891
In der gegenwärtigen Phase der Entwicklung des deutschen Reichs bildet naturgemäß Se. Maj. der deutsche Kaiser das wichtigste Moment. Die Individualität des Kaisers zeichnet sich nunmehr in immer bestimmter werdenden Umrissen. Zeigen sich gleich in diesem Prozesse der Ausgestaltung einzelne dunkle Punkte, so bleibt der Gesamteindruck ein entschieden günstiger und ist der Ausblick in die Zukunft ein vielversprechender. Der Kaiser ist zweifelsohne eine ernste, sittliche Natur, die die Elemente ihres Denkens, Wollens und Handelns beinahe ausschließlich in sich selbst sucht und findet. Eine Einflußnahme auf den Kaiser von außen her scheint somit nur in geringem Grade möglich.
Diese Gestaltung seines inneren Seins – verbunden mit einer hervorragenden Kraft des Willens, mit einem rasch und intensiv arbeitenden starken Verstände und mit einer hoch ausgebildeten physischen und geistigen Vitalität – muß, insbesondere bei der immerhin noch großen Jugendlichkeit des deutschen Kaisers, auch ihre Kehrseite haben. Als solche traten im gegenwärtigen Momente hervor, eine gewisse, zuweilen mit großer Rücksichtslosigkeit geknüpfte Ungeduld, ein bemerkbarer Mangel an Maßhalten und an Stetigkeit, ein Überhasten der Entschließungen sowie des Handelns und endlich ein auf Unterschätzung fremder Meinungen basierendes, stark entwickeltes Selbstgefühl.
Betätigt nun einesteils der Kaiser – wie schon oben angedeutet – eine hochernste Auffassung seiner Regentenpflichten und ein vorwiegend auf ethischer Grundlage ruhendes Bestreben, den Regentenaufgaben gerecht zu werden, so können auf der anderen Seite die unerwünschten Consequenzen jener Eigenschaften des Kaisers, die ich oben als die Kehrseiten seines inneren Wesens zu bezeichnen bemüßigt war, nicht ausbleiben. Sicher läßt sich der Kaiser oft zu Entschlüssen, ja selbst zu Handlungen hinreißen, die zu beklagen sind und die bei reiflicherer Überlegung und bei sachgemäßer Inbetrachtnahme competenter Auffassungen dritter Personen unschwer zu vermeiden sein würden.
Die Fehler des Kaisers, obgleich sie als ein direkter Ausfluß seiner Charakterart aufzufassen sind, scheinen indessen nicht von einer Bedeutung zu sein, die für die Zukunft Besorgnisse ernster Natur erregen müssen. Jedenfalls stellt sich heute schon die Bilanz zu Gunsten der guten und teilweise vortrefflichen Eigenschaften. Des weiteren ist aber auch zu hoffen, daß bei der voraussichtlich bald eintretenden größeren Reife und geistigen Abklärung des jungen Monarchen derselbe wohl in einer nicht zu fernen Zukunft jenes physische und moralische Gleichgewicht erlangen werde, das ihm gestatten kann, seine ohnehin schon in überwiegendem Maße vorhandenen Vorzüge und guten Charaktereigentümlichkeiten mehr und mehr zur Geltung zu bringen.
Ich habe schon bemerkt, daß der Kaiser seiner eigentlichsten Natur nach, sich wenig dazu eignet, von dritten Personen beeinflußt zu werden … Was den Reichskanzler betrifft, so kann nicht geleugnet werden, daß in wichtigen Dingen – in Fragen erster Ordnung – der Kanzler einen großen und oft entscheidenden Einfluß auf den Kaiser noch ausübt …
Es ist und bleibt eine überraschende Tatsache, daß man in Berlin in der Gesellschaft und wohl auch im großen Publikum von der Kaiserin Augusta, von Kaiser Friedrich, ja selbst von Kaiser Wilhelm I. verschwindend wenig spricht. Dieses scheinbare oder wirkliche Vergessen mag seinen Grund haben in den die öffentliche Aufmerksamkeit in hohem Grade in Anspruch nehmenden actuellen Zeitfragen oder aber in der Macht, Tiefe und Breite des Eindrucks, den die wuchtige Persönlichkeit Kaiser Wilhelms II. jetzt schon ausübt, oder endlich in beiden Momenten zugleich. Mag dem sein, wie ihm wolle, immerhin bleibt dieses teilweise auffallende weitgehende Vergessen eine Tatsache.
Eine der bemerkenswertesten und interessantesten Erscheinungen, die zur Zeit dem Beobachter entgegentreten, ist die große und weitgehende Vorsicht des Reichskanzlers in seinem Auftreten gegenüber dem Kaiser. Schon im Monate Dezember des letztverflossenen Jahres konnte ich wahrnehmen, wie sehr Fürst Bismarck es sich zur Aufgabe gemacht hatte, in seinen Beziehungen zu seinem Monarchen eine große Reserve eintreten zu lassen und alles zu vermeiden, was geeignet wäre, dem Kaiser den Druck seiner durch natürliche Veranlagung, durch ein selten dagewesenes Glück und durch welthistorische Ereignisse übermächtig gewordenen Individualität fühlbar zu machen. Im Hause Bismarcks wurde damals die Parole ausgegeben: »Es handle sich hauptsächlich darum, daß der junge Kaiser auf eigenen Füßen zu stehen und die Führung seines Regentenlebens selbständig und unbeeinflußt zu bewirken lerne.« – Diese Formel, die vielleicht in einer etwas demonstrativen Weise zum Ausdruck kam, war mindestens zur Hälfte nichts anderes als die euphemistische Umschreibung jener anderen, die da lautet: »Der neue Kaiser ist eine so starke and so selbstbewußte Individualität, daß er niemanden – am allerwenigsten aber des Reichskanzlers – Druck ununterbrochen zu ertragen vermöchte.« – Trat diese Zurückhaltung des mächtigen deutschen Staatsmannes schon am Schlusse des vergangenen Jahres deutlich in die Erscheinung, so lehrt die Geschichte der seither eingetretenen politischen Entwicklung mit Bestimmtheit, daß der Reichskanzler die Beschränkung seines Wollens und Handelns als notwendiges Element eines ersprießlichen Zusammenwirkens mit seinem kaiserlichen Herrn nicht nur sorgfältig aufrechterhält, sondern auch vermehrt und verstärkt. In dieser weisen Selbstbeschränkung liegt für mich ein neuer Beweis für die große politische Weisheit des Reichskanzlers. Würde er sich eine derartige weitgehende Reserve nicht auferlegen, so könnte nur zu leicht, wenn vielleicht auch nicht ein voller Bruch seiner Beziehungen zum deutschen Kaiser, so doch eine entschiedene Trübung des Verhältnisses zwischen Kaiser und Reichskanzler eintreten. Diese Störung könnte schließlich so weit reichen, daß eine schwere Gefährdung der Staatsinteressen keineswegs ausgeschlossen erschiene. Der Reichskanzler scheint sich – wie schon oben bemerkt wurde – seinen Einfluß und wenn nötig sein Recht des Einspruchs in den Hauptfragen dadurch zu wahren, daß er einesteils Fragen geringeren Belanges passiv gegenübersteht, andererseits aber dadurch, und dies wohl in erster Linie, daß er es sorgfältig vermeidet, einen dauernden Druck – der nicht so sehr die Natur einzelner Handlungen, sondern eher jene eines Zustandes an sich trüge und welcher nur zu leicht von Seite des Kaisers als ein Versuch der Bevormundung aufgefaßt werden könnte – auf den Herrscher auszuüben.
Als ein recentes Beispiel direkter Einflußnahme des Reichskanzlers in einer Richtung, welche gegensätzlich zu dem Willen und dem Einflüsse des Kaisers lief, kann hier hingewiesen werden auf die Haltung des Fürsten Bismarck in der Angelegenheit des rheinisch-westphälischen Streikes. Es war die Meinung verbreitet, der Kaiser hätte beabsichtigt, das Schwergewicht seiner Autorität in erster Linie gegenüber den streikenden Arbeitern zur Geltung zu bringen. Es scheint – laut guter Information – nicht so gewesen zu sein. Wenngleich die Sprache des deutschen Kaisers an die Arbeiter eine ernste und bestimmte war, wenngleich der höchste Herr entschlossen gewesen ist, durch den Druck seines persönlichen Auftretens die Arbeiterfrage rasch wieder in einen geordneten, den Interessen des Gemeinwesens entsprechenden Zustand zurückzuführen, so waren dennoch seine landesväterlichen Empfindungen und sein Wohlwollen auf Seite der Arbeiter. Sein kaiserliches Mißfallen traf hingegen in einem so hohen Grade die betreffenden Arbeitgeber, daß der Kaiser durch sein persönliches Eingreifen dieselben zu Paaren treiben und zur Annahme von für sie sehr onerösen Ausgleichsbedingungen zwingen wollte. War die Sprache, welche der Kaiser den Arbeitgebern gegenüber tatsächlich führte, eine strenge und ernste, so hätte dieselbe – wäre Kaiser Wilhelm seinen ursprünglichen Intentionen gefolgt – unendlich härter und zwingender gelautet. Nur den ernsten Vorstellungen des Kanzlers, welcher den Kaiser darauf aufmerksam machte, daß ihm für sein beabsichtigtes, gewissermaßen in letzter Instanz entscheidendes Vorgehen jede Rechtsunterlage fehle und daß es ihm gesetzlich nicht zustehe, durch einen Machtspruch in streitige privatrechtliche Verhältnisse einzugreifen, ist es gelungen, den Kaiser von seinem Vorhaben abzubringen und der Ansprache jene Form zu geben, in der sie dann in die Öffentlichkeit gelangte.
Was im allgemeinen die Amtstätigkeit des Reichskanzlers und seine Haltung als erster Staatsdiener im deutschen Reiche betrifft, so habe ich über diesen Punkt nur so viel gehört, daß der Fürst, im Gegensatz zu vergangenen Tagen, jetzt in seinem Auftreten und Handeln sehr milde und ruhig sei und in seinem ganzen Wesen eine Abgeklärtheit, ein Gleichgewicht an den Tag lege, welches nur diejenigen erlangen, die sich aus dem Widerstreite der Dinge und Verhältnisse herauszuheben und sich über dieselben zu stellen vermochten …
Der Kaiser steht, was ebenso natürlich wie richtig ist, im Mittelpunkte der Situation. Dort accentuiert sich seine Eigenart immer mehr und mehr. Es ist von hohem Interesse, die Entwicklung seiner Individualität, die jetzt schon für so vieles und so wichtiges von entscheidender Bedeutung ist und dies in der Zukunft in noch höherem Maße sein wird, aufmerksam zu verfolgen. Diese Beobachtung wird um so notwendiger, als vorauszusetzen ist, daß die Eigenart des Kaisers sich – im weiteren Entwicklungsgange – in ihrem inneren Gefüge noch wesentlich festigen und folgerichtig durch ihre, sich in gleichem Maße steigernde Bestätigung nach außen hin eine sehr erhöhte Bedeutung gewinnen wird.
Gleichgültig kann die kräftige Individualität des deutschen Kaisers für niemanden sein. In Zuneigung oder in Abneigung – in Liebe oder in Haß – wird das Gewicht der Persönlichkeit des Kaisers jetzt schon überall empfunden. So sehr tritt in der Gegenwart dieses Gefühl in den Vordergrund, und so sehr erlangt es zur Zeit schon die Herrschaft, daß man ohne Zweifel heute in Deutschland schon weniger vom Reichskanzler Fürsten Bismarck spricht, als unter Wilhelm I. und Friedrich III.
Ich würde mit mir selbst in Widerspruch geraten, schriebe ich nicht dieses partielle Schweigen und Vergessen zum Teile dem – früher eingehend besprochenen – freiwilligen Zurücktreten des großen Kanzlers zu. Doch der andere Teil dieses relativen Verstummens entspringt sicherlich dem Eindrucke der wuchtigen Individualität des deutschen Kaisers.«
»Monza, 20. 10. 1889
Lieber Vetter!
Leider war es mir nicht möglich, Dir noch vor meiner Abreise, wie ich es wollte, die Eindrücke von dem Czarenbesuche zu schildern. Daher hole ich es hier nach. Den äußerlichen Teil hast Du zur Genüge aus den Zeitungsbeschreibungen entnommen, ich übergehe ihn daher. Nur so viel will ich sagen, daß der Berliner im Publikum sich sehr gut benahm und zu meinem Erstaunen den Czaren soviel wärmer begrüßte, als ich es erwartete und als es geschildert worden ist. Was nun die Sache selbst betrifft, so lag sie etwa wie folgt: (Die Eindrücke sind vom Fürsten Bismarck und mir nachher vergleichsweise durchgesprochen) Der Czar ist mit einem Herzen voll schweren Befürchtungen und bangen Sorgen nach Berlin gekommen. Man hatte ihm im letzten Jahre wieder scharf zugesetzt, und die zwei Monate in Fredensborg waren auch von der dort versammelten hohen Weiblichkeit nicht unausgenützt gelassen worden. Item aus seinen Fragen, welche er aus seinem gequälten Herzen an den gleich zur Audienz befohlenen Kanzler richtete, ging hervor, daß man ihm weisgemacht hatte, ich hätte mich mit Dir, Umberto und der Königin von England verbunden – dazu sollte noch der Sultan jetzt kommen, um unversehens in Bälde vereint über den Czaren herzufallen, sein Reich zu zerstören und ihn und sein Haus zu vernichten!! Der Fürst hat es nun in seiner ruhigen und klaren und versöhnlichen Weise so meisterhaft verstanden, alle Punkte dieses Unsinns zu widerlegen und noch dazu ein Aperçu der Politik Europas überhaupt zu geben, daß der Czar ganz vergnügt mir nachher sagte: »Ah je suis tout à fait soulagé maintenant, et la conversation du Prince de Bismarck m'a dissipé toutes mes craintes, ce qui me laisse entièrement satisfait.« Man hat ihm auch noch persönlich viele Lügen über mich erzählt, um ihn möglichst soupçonneux zu machen; das war aber alles mit einem Zauberstabe weggenommen. Er war heiter, zufrieden, fühlte sich zu Hause und wurde beim Frühstück beim Alexander-Regiment so fidel, daß er einen deutschen Toast hielt und fast mit allen seinen Lieutenants trank. Woronzoff sagte mir, das sei das erste Mal seit 25 Jahren, daß er den Czaren habe öffentlich deutsch sprechen hören. Er hat seine Heimreise in der besten Stimmung angetreten und mich zu seinen großen Manövern nach Krasnoe Selo zum nächsten Jahre eingeladen, ein Effekt, der dem Kanzler ganz überraschend, aber sehr angenehm kam. Jedenfalls haben wir vorläufig auf ein Jahr sicher Frieden, so Gott will hoffentlich noch mehr. Dies ist der Verlauf der Dinge, wie er sich abspielte, und welchen ich mich unterfange Dir zu melden. Mit vielen treuen Grüßen an die Kaiserin bleibe ich stets
Dein treuer Freund und Vetter
Wilhelm
P.S. Reise bisher gut verlaufen.«
EIN TESTAMENT FÜR MEINEN SOHN
UND MEIN VOLK!
DER WAHRHEIT DIE EHRE!
Aufzeichnungen über den Rücktritt des Fürsten Bismarck in Form eines Briefes an den Kaiser Franz Joseph dem Flügeladjutant v. Scholl diktiert.
3. IV. 1890
1. Abschrift hiervon ist im Besitz der Königin von England.
2. Abschrift im Besitz S. M. des Kaisers Franz Joseph.
NACH MEINEM TODE ZU VERÖFFENTLICHEN.
WILHELM I. R.
Berlin den 3. IV. 90
Mein theuerer Freund!
Bei dem innigen und warmen Freundschaftsverhältnis, welches unsere Länder und vor allem uns Beide verbindet, und bei dem großen Vertrauen, welches Du insbesondere mir stets entgegengebracht hast, halte ich es für meine Pflicht, Dir offen und klar einen vertraulichen Überblick zu geben, über die Entwicklung und das schließliche Eintreten des Rücktritts des Fürsten von Bismarck.
Ich thue dies auch um so lieber, als es für einen fernstehenden Beobachter fast zur Unmöglichkeit wird aus dem Wust von Vermuthungen und Combinationen der Presse, verbunden mit offiziösen und halboffiziösen Notizen sich einen faßbaren und verständlichen Kern herauszuschälen. Meine Darstellung soll nur eine einfache Schilderung, resp. Aneinanderreihung von Thatsachen sein, ohne Polemik oder Kritik, die ich Dir allein überlasse. Im Voraus will ich gleich bemerken, daß es keine Frage der Auswärtigen Politik ist, die zwischen dem Fürsten und mir zu Meinungsverschiedenheiten Veranlassung bot, sondern rein innere und taktische Gesichtspunkte.
Als im Mai vorigen Jahres der Kohlenstreik ausbrach und schnell die großen den ganzen Staat in seinem gesamten inneren Gewerbsleben bedrohenden Dimensionen annahm, wurde naturgemäß nach Treffen der üblichen Sicherheitsmaßregeln durch Truppendislokationen etc. nach den Ursachen desselben geforscht. Es wurden Beratungen im Staatsministerium gepflogen, um die ich mich vorläufig nicht kümmerte, während ich durch meine Freunde, besonders durch meinen Erzieher den Geheimen Rat Hinzpeter, der Westphale ist und an Ort und Stelle wohnte, Erhebungen und Nachforschungen anstellen ließ über das Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer, Lage der Industrie etc. Bald jedoch baten mich die Minister zu den Beratungen zu kommen, da der Fürst ganz untraitabel sei, und die Verhandlungen keinen Schritt vorwärts kämen. –
Ich erschien und assistierte. Da stellte es sich sogleich heraus, daß der Fürst auf einem diametral entgegengesetzten Standpunkt, als ich und die Minister sich befand. Er wollte, daß der Streik im ganzen Lande ungehindert toben und sich gründlich ausbrennen sollte. Er verwarf jede Idee des Einschreitens der Staatsgewalt, und meinte, daß dies Sache der Industrie sei, die ihre Privatfehde auskämpfen dürfen müsse. Ich war dagegen der Ansicht, daß diese Bewegung schon über den Rahmen eines Privatzwistes der Industrie hinausginge und fand mich in der Übereinstimmung von dem ganzen Staatsministerium, daß wenn diese Sache nicht schleunigst vom Könige in die Hand genommen werde, unendlich viel Schaden und Unheil dem Lande erwachsen wird. Demgemäß wurden die alten Beamten, deren Kopflosigkeit die Verwirrung nur noch größer gemacht, abgesetzt, und durch eingeweihte beste Kräfte ersetzt. So wie das geschehen, empfing ich die Arbeiter- und Grubenbesitzerdeputationen mit dem bekannten Erfolg. Auch dieses Unternehmen mißbilligte der Fürst, der Zusehens immer mehr auf die Seite der Großindustrie trat, und die Arbeiterbewegung als zum Theil auch revolutionär und total unberechtigt ansah, die nur mit »Blut und Eisen« d. h. mit Kartätschen und Repetiergewehren gehemmt und geheilt werden müsse.
Nach Abschluß dieser Angelegenheit zog sich der Fürst aufs Land zurück, wo er acht bis neun Monate bis zum 25-ten Januar dieses Jahres verblieb. In dieser Zeit hatte er so gut wie gar keinen Verkehr mit dem Innland, und hatte in Bezug auf die Arbeiterschutzbewegung nur Verbindung mit dem alten Kommerzienrath Baare – einen unserer größten Arbeitgeber – welcher der geschworenste Feind dieser Idee war. Dieselbe Zeit benutzte ich um Material über die Arbeiterschutzangelegenheit zusammentragenzulassen, ließ mich von allen Seiten über die Lage der Arbeiter, deren mögliche und unmögliche Wünsche orientieren, nahm Fühlung mit dem Reichstage durch die Parteihäupter etc. Ich kam im Herbst zu der klaren Erkenntnis und Überzeugung, daß die Zeit kostbar sei, und gebieterisch eine baldige in Angriffnahme des Arbeiterschutzgesetzes erheischte, damit nicht die Sozialdemokraten uns zuvorkämen, und diese Angelegenheit auf ihre Fahnen schrieben, wie sie es nach sicheren Nachrichten vor hatten. Ich ließ daher den Fürsten im Laufe des Herbstes und bis in den Januar hinein in drei verschiedenen Reprisen erst bitten, dann ersuchen und schließlich als meinen Wunsch wissen, daß er eine Novelle über den Arbeiterschutz in Angriff nehmen, und mir behufs Veröffentlichung einer Ordre darüber vorlegen möge. Er verweigerte dies dreimal in sehr kurzer Weise, er wolle es nicht und sei nun einmal grundsätzlich dagegen, und dabei müsse es sein Bewenden haben.
Ich setzte mich daraufhin, und arbeitete in zwei Nächten eine Denkschrift aus, welche eine Darlegung der Verhältnisse unserer Industrie in geschichtlicher Form gab, und daneben eine Reihe von Hauptpunkten bezeichnete, welche nach Ansicht Aller die schwersten Uebel enthielten, denen man gesetzlich umgehend zu Leibe gehen müsse. Sobald ich die Arbeit beendigt hatte, berief ich einen Ministerrath und den Fürsten aus Friedrichsruh. Während dieser Zeit spielten sich die Sozialistengesetzdebatten im Reichstage ab, welche sehr unerquicklich waren, und in denen die Kartellparteien durch den unbeugsamen Eigenwillen des Kanzlers gezwungen in die Opposition geriethen. Sie hatten sich verpflichtet ihm das Gesetz durchzubringen, wenn er nur erklären ließe, daß der Ausweisungsparagraph »zur Erwägung« gezogen werde, nicht etwa fallen gelassen.
Am 25-ten Januar hielt ich den Ministerrath ab, entwickelte meine Ansichten an der Hand meiner Denkschrift, und schloß mit dem Wunsch, das Ministerium möge unter Vorsitz des Fürsten die Punkte durchberathen, auch den der Berufung einer internationalen Konferenz, und mir dann darüber zwei Erlasse zur Publikation unterbreiten. Es knüpfte sich hieran eine Erörterung bei der der Fürst sogleich seinen feindlichen Standpunkt vom Frühjahr von Neuem betonte, und die ganze Angelegenheit als unausführbar bezeichnete. Die Minister waren so in Angst vor ihm, daß sich keiner zur Sache äußern wollte. Schließlich kam ich auch auf den Ausweisungsparagraph im Sozialistengesetz, welches am nächsten Tage angenommen werden oder fallen sollte, und bat auf das Inständigste der Fürst möge es den Regierungsparteien leicht machen, und den Reichstag vor einem kläglichen Ausgang mit einem Misston bewahren, indem er bei der Schlußabstimmung in Aussicht stelle, den Paragraph »in Erwägung zu nehmen«. Zugleich erwähnte ich, daß ich direkt von König- und Regierungstreuen Männern darum auf das Innigste gebeten worden sei. Als Antwort darauf, warf er mir in unehrerbietigster Weise mit dürren Worten seinen Abschied vor die Füße. Das Ministerium blieb stumm, und ließ mich im Stich. Ich nahm natürlich das Gesuch nicht an, der Fürst hatte seinen Willen, das Gesetz fiel durch, und unter allgemeinem Ingrim und Missvergnügen von dem ich unter der Firma Schlappheit etc. auch Verschiedentliches zu hören bekam, trennte sich der Reichstag, um diese Stimmung als Vorbereitung zu den Neuwahlen im Lande zu verbreiten. Die direkten Folgen der selben sehen wir in ihrem vollsten Umfange jetzt vor uns. Von dem Momente kannst Du meinen tiefen Schmerz wohl nachfühlen, als ich nun erkennen mußte, daß der Fürst nicht mit mir gehen wollte. –
Es begann nun eine schwere Zeit für mich. Während die Erlasse berathen wurden, versuchte der Fürst allerhand anderes hinein zu bringen, und ärgerte die Minister fortdauernd. Als er endlich die beiden Erlasse zur Unterschrift brachte erklärte er mir, er sei vollkommen dagegen, sie würden zum Unheil und zum Verderben des Vaterlandes ausschlagen und er rathe davon ab. Wenn ich sie dennoch unterschrieb, so werde er nur so lange diese Politik mitmachen, wie er es mit seinen Ansichten vereinbaren könne, ginge das nicht mehr, so werde er gehen. Die Erlasse wurden veröffentlicht, und der enorme Erfolg den sie hatten belehrte den vollkommen überraschten Fürsten, daß er völlig auf einem Holzwege gewesen, daß seine ganze Opposition nutzlos und ich im Recht gewesen sei. Es kamen nun die Vorbereitungen zur Einladung der Konferenz und Berufung des Staatsrathes unter meinem Vorsitz. Der Fürst begann zugleich einen nicht immer mit ehrlichen Mitteln geführten Coulissenkrieg gegen mich, der mich tief betrübte, den ich aber ruhig hinnahm. Mich auf denselben einzulassen war ich einerseits zu stolz, andererseits liebte ich den von mir angebeteten Mann zu sehr noch. Bald jedoch mehrten sich die Conflikte an allen Orten. Der Fürst hinderte plötzlich die Minister beim Immediatvortrag bei mir durch Hervorziehen einer unbekannten, dreißig Jahre vergrabenen Ordre. Er nahm den Reichsstaatssecretären alle Arbeit fort, und wollte alles selbst machen und gegenzeichnen. Dabei ging seine Gesundheit von Woche zu Woche zurück, er konnte nicht mehr schlafen und seine Nerven gaben nach. Er bekam Weinkrämpfe in den Nächten und zuweilen auch beim Vortrag. Sein Arzt erklärte, falls diese Lage noch drei Wochen weiter anhielte, würde der Fürst an einem Gehirnschlag sterben. Endlich gegen Ende Februar erklärte mir der Fürst in einem Vortrage er könne es mit seinen Nerven und seiner Gesundheit nicht länger machen, und bäte um theilweise Entlastung von den Geschäften. Ich ersuchte ihn mir ganz nach seinem Willen und Wunsch darüber Vorschläge zu machen, da ich auch nur den Schein vermeiden wollte, als schickte ich ihn fort oder sehnte mich nach seinem Abgang. Nach längeren Verhandlungen kam er mit dem Chef meines Zivilkabinetts, den er sich dazu ausgesucht hatte, dahin überein, daß er das Präsidium des Staatsministeriums abgeben wolle und blos den Kanzler und das Auswärtige zu behalten wünsche. Nach einigen Wochen wollte er das dann auch abgeben, und um den 20. Februar oder Anfangs März ganz ausscheiden. Schweren Herzens willigte ich in seine Vorschläge ein, und wurde demgemäß eine Ordre nach seinen Angaben verfaßt und bis auf das Datum, welches er sich zu bestimmen vorbehalten, fertig gestellt. Er selbst sprach sich mir mit dieser Lösung völlig zufrieden aus, und erklärte mir er werde nunmehr diese Thatsache dem Ministerrath mittheilen. Zwei Tage darauf kam er zum Vortrag, und erklärte mir mit kurzen Worten zu meinem größten Erstaunen, er dächte gar nicht daran fortzugehen, er bleibe. Als Grund gab er auf meine verwunderte Frage an, das Staatsministerium habe ihn bei seiner Abgangsmittheilung nicht sofort gebeten unter allen Umständen zu bleiben, und hätten die Herren zu vergnügte Gesichter darüber gemacht. Daraus habe er geschlossen, die Herren wollten ihn los sein, und da habe sich der alte Geist des Widerspruch in ihm geregt, und er werde nun bestimmt bleiben, »schon blos um die Minister zu ärgern«. So schloß er. –
Ich konnte nur erwidern, ich freute mich sehr ihn noch ferner an meiner Seite zu wissen, hoffte aber, daß die zunehmende Last der Arbeit und Aufregung seiner Gesundheit keinen Schaden zufügen möchten. Von diesem Tage an ging nun der Kampf los. In jedem Vortrage suchte der Fürst das Ministerium zu diskreditieren. Die Herren, die er sich selbst vor 12 Jahren ausgesucht, und herangebildet hatte, beschimpfte er in der gröbsten Weise, und versuchte mich zu einer Massenentlassung zu zwingen, worauf ich nicht einging. – Es näherte sich die Zeit der Konferenz, deren Zustandekommen er mit allen Mitteln der Diplomatie zu hintertreiben suchte. Als nun erst die Sitzungen des Staatsrates glänzend verliefen, die Resultate derselben auch schlagend bewiesen, daß ich mit meiner oben erwähnten Denkschrift, und ihren Punkten das Richtige getroffen, so übermannte ihn die Eifersucht auf seinen jungen Kaiser und er beschloß dessen Erfolge zu zerstören. Er versuchte zunächst einzelne Diplomaten hinter meinem Rücken zu bestimmen nach Hause gegen die Konferenz zu berichten und schließlich versuchte er den Schweizer zu bereden, die Berner Regierung zu ersuchen, ihre Konferenz nicht zu meinen Gunsten aufzugeben, damit meine Konferenz durchfallen möge. Der Schweizer, ein braver, ehrlicher Kerl, – der zufälligerweise ein guter Bekannter von mir ist, – empört über ein solches heimtückisches, unpatriotisches Benehmen gegen den deutschen Kaiser, telegraphierte umgehend an die Berner Regierung; wenn binnen 12 Stunden nicht die offizielle Absage der Schweizer Konferenz in seinen Händen sei, dann nehme er umgehend seinen Abschied, aber er werde auch sagen, warum. Am anderen Morgen war die gewünschte Anzeige da, und meine Konferenz gerettet. –
Als dieser Plan fehlgeschlagen war, warf sich der Fürst auf einen anderen. Der neue Reichstag war gewählt, er war entrüstet über die Wahlen, und wollte denselben so bald wie möglich sprengen. Dazu sollte das Sozialistengesetz wieder herhalten. Er schlug mir vor ein neues, noch verschärftes Sozialistengesetz einzubringen, das werde der Reichstag ablehnen, dann werde er ihn auflösen. Das Volk sei schon aufgeregt, die Sozialisten würden aus Ärger Putsche machen, es würde zu revolutionären Ausschreitungen kommen und dann sollte ich ordentlich dazwischen schießen und Kanonen und Gewehre spielen lassen. Darüber – das war seine heimliche Absicht – wären Konferenz und Arbeiterschutzgesetz natürlich verloren gegangen, und als Wahlmanöver oder Utopie für lange Zeit unmöglich. Ich ging hierauf nicht ein, sondern erklärte rund heraus, daß das ein unmöglicher Rat sei für einen jungen, eben anfangenden König, – »der so schon unter allerhand Verdacht stehe« – die Bitten und Wünsche seiner Untertanen mit Schnellfeuer und Kartätschen zu beantworten. Darüber wurde er sehr zornig. Er erklärte, zum Schießen müsse es nun doch einmal kommen und daher je eher desto besser und wenn ich nicht wollte, dann nehme er hiermit seinen Abschied. Da war ich nun wieder vor einer Krisis. Ich ließ mir die Führer der Kartellparteien kommen und stellte ihnen die Frage, ob ich ein Sozialistengesetz einbringen und den Reichstag sprengen oder nicht. Einstimmig erklärten sie sich dagegen. Sie sagten, die Erlasse und die Ergebnisse des Staatsrates wirkten bereits beruhigend, ebenso wäre es die Konferenz. Von Putschen oder revolutionären Bewegungen sei keine Rede und die Arbeiterschutz-Gesetzgebung werde spielend durch den Reichstag durchgehen, und wenn man ihm nicht allzuschwere Vorlagen bringe, werde er sich ganz vernünftig machen. Sie ermächtigten mich, dies als ihrer Wähler Meinung dem Fürsten mitzuteilen, und ihn zu warnen, vor jeder Brüskierung mit Sozialistengesetz-Vorlage, da er auch nicht eine einzige Stimme dafür erhalten werde. Der Fürst kam und sorgenvoll um den Ausgang der Unterredung eröffnete ich ihm, daß ich nicht auf den Wunsch, das Gesetz einzubringen eingehen könne. Darauf erklärte er, ihm liege an der ganzen Geschichte nichts, und wenn ich nicht das Gesetz einbringen wolle, sei es damit abgethan. Es war ihm seine ganze Stellung, die er wenige Tage vorher mir gegenüber in dieser Sache eingenommen hatte, bereits aus dem Gedächtnis entschwunden. Und eine Angelegenheit wegen der er die Minister, mich und die Regierungsparteien über vier Wochen in der größten Aufregung erhalten, wegen welcher er Minister hatte stürzen und Konflikte heraufbeschwören wollen, ließ er wie eine Lappalie fallen. –
Durch diese Machinationen und Intriguen, Reibereien und Aufeinanderhetzungen auf allen möglichen Gebieten, auch durch das Fehlschlagen seiner kleinen Ambüscaden war aber der Fürst in einen Zustand der Aufregung gerathen, der seines Gleichen nicht kannte. Zornausbrüche, Grobheiten der schwersten Art mußten die Minister sich von ihm gefallen lassen, bis sie sich weiter zu arbeiten weigerten. Die Geschäfte stockten und häuften sich, nichts wurde mehr erledigt, kein Projekt von noch so großer Dringlichkeit, konnte mir vorgelegt werden, da der Immediatvortrag (hinter meinem Rücken), den Ministern verboten war. Alles mußte ihm vorgelegt werden und was er nicht haben wollte, wies er einfach zurück und ließ es nicht bis zu mir dringen. Es entstand eine allgemeine Unzufriedenheit in den Beamtenkreisen, die auch bis in die parlamentarischen hineindrang. Dazu erhielt ich durch meinen Leibarzt die Kunde von der großen Besorgnis Schweningers, daß der Fürst in einem solchen Zustande sich befinde, daß er in Kurzem einem totalen Zusammenbruch entgegengehe, der mit Nervenfieber und Gehirnschlag ende. Alle meine Versuche auf irgend eine Weise, durch größere Teilnahme an den Geschäften dem Fürsten Erleichterung zu verschaffen, faßte er als Versuche ihn hinauszudrängen auf. Herren und Räte, die ich kommen ließ um mit ihnen Angelegenheiten zu besprechen, fielen deswegen bei ihm in Ungnade und standen unter dem Verdacht, bei mir gegen ihn zu intriguieren. Endlich kam es zum Klappen. Die aufgespeicherte Elektrizität entlud sich auf mein schuldig Haupt. Der Fürst von Kampfeslust beseelt und von den oben angeführten Motiven geleitet, bereitete im Stillen und zum Entsetzen der Eingeweihten, trotz meiner gegenteiligen Befehle, eine Campagne gegen den neuen Reichstag vor. Alle sollten geärgert und geprügelt werden. Erst die Kartellparteien abgetrumpft, und dann die Sozialisten gereizt werden, bis der ganze Reichstag in die Luft flog, und Seine Majestät nun doch gezwungen werden, nolens volens zu schießen. Dazu kam die vom Juden Bleichröder inszenirte Entrevue mit Windthorst, die einen Sturm von Entrüstung im Vaterlande losließ, und die offiziös mit einem Misterium umgeben wurde, welches auf alles mögliche schließen ließ. Noch dazu suchte man den Schein zu erwecken, als ob ich darum gewußt und sie gebilligt hätte. Während ich die Thatsache erst drei Tage später durch die Zeitungen und bestürzten Anfragen, die ich von allen Seiten erhielt, erfuhr. Als ich am dritten Tage nach dieser Affaire, die immer weitere Kreise schlug, und für den Fürsten anfing ein recht unangenehmes Gesicht zu bekommen, mit ihm zusammenkam, brachte er die Sprache auf den Windthorst'schen Besuch, ihn so darstellend, als ob derselbe quasi in seinem Vorzimmer unvermutet erschienen und ihn überrascht hätte.
Ich hatte jedoch bestimmt erfahren, daß Bleichröder ihm diese Entrevue mit seinem Einverständnis arrangiert hatte. Als ich dies dem Fürsten sagte und ihn bat, er möge mich in Zukunft doch durch irgend ein Billett oder mündliche Mitteilung seines Secretärs über eine solche wichtige Angelegenheit orientieren, brach der Sturm los. Aller Höflichkeit und Rücksicht bar, erklärte er mir, er ließe sich nicht von mir am Gängelbande führen, so was verbäte er sich ein für alle Mal von mir, ich hätte von parlamentarischem Leben keine Ahnung, hätte ihm in solchen Dingen überhaupt nichts zu befehlen etc. etc. Als er sich endlich ausgetobt, versuchte ich ihm klar zu machen, daß es sich hier nicht um Befehle handle, sondern daß mir daran läge über solche wichtigen Schritte, welche für mich evtl. bindende Entschließungen, denen ich mich nicht entziehen könnte, zur Folge hätten, nicht hinterher durch die Presse orientiert zu werden, sondern das von ihm zu hören, damit ich mir danach doch meinen Vers machen könne. Alles das half nichts, als ich ihm nun schilderte, was er für eine Aufstörung und Verwirrung, durch diesen Besuch in dem von den Wahlen noch erregten Volk gemacht habe, und daß das wohl nicht seine Absicht sein könne, da entschlüpfte ihm das folgenschwere Wort: »Es ist im Gegenteil meine Absicht, es muß im Lande eine solche Verwirrung und ein solches Tohuwabohu herrschen, daß kein Mensch mehr wisse, wo der Kaiser mit seiner Politik hinaus wollen.« Als ich hierauf erklärte, das wäre durchaus nicht meine Absicht, sondern meine Politik müsse offen und sonnenklar meinen Untertanen gegenüberstehen, erklärte er nichts mehr zu sagen zu haben, und warf mir barsch seinen Abschiedsgesuch vor die Füße. Ich reagierte nicht auf diese dritte Scene im Laufe von sechs Wochen, sondern ging über zum Ministerrat und zu der Ordre, durch die er die Immediatvortrage verhindert hatte. Er erklärte, er traute »seinen« Ministern nicht, die trügen mir hinter seinem Rücken Dinge vor, die er nicht billigen könne und deshalb habe er sie darüber belehrt. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß darin eine schwere Beleidigung für mich, seinem ihm treu zugetanenen Souverän liege, den er heimlicher Intriguen hinter seinem Rücken bezichtigte, wollte er das nicht zugeben. Er werde aber, wenn ich das verlangte, mir sofort im Laufe des Tages die Ordre zur Aufhebung einsenden, es sei ihm das schließlich auch egal. Als ich nun noch einmal lediglich in der Absicht dem augenfällig schwer kranken und nervös überreizten Mann, einen Teil seiner Arbeit und Sorgen abzunehmen, ihn bat mich mehr teilnehmen zu lassen am Geschäft und bei wichtigen Entschließungen mich einzuweihen und heranzulassen, verweigerte er es entschieden, mit der Bemerkung, er müsse seine Entschlüsse schon vorher gefaßt haben, ehe er zu mir komme. In tiefem Schmerz und wunden Herzens sah ich nun klar, daß der Dämon der Herrschsucht den großen Mann erfaßt hatte und daß er jede Angelegenheit, welcher Natur sie auch war, benutzte zum Kampf gegen den Kaiser. Er wollte allein alles machen und herrschen und der Kaiser nicht einmal mitarbeiten dürfen. Mit dem Augenblick stand es bei mir fest, daß wir uns trennen müßten, sollte nicht alles zu Hause moralisch ruiniert und zugrunde gerichtet werden. Gott ist mein Zeuge, wie ich manche Stunde im Gebet gerungen habe, das Herz dieses Mannes zu erweichen und mir das furchtbare Ende ersparen möge, ihn von mir gehen zu lassen. Allein, es sollte nicht sein. Als nach zwei Tagen die Ordre zum Kassiren vom Fürsten nicht eingesandt war, ließ ich bei ihm anfragen, ob er sie nicht schicken wollte. Er antwortete, es fiel ihm gar nicht ein, er brauche sie gegen ›seine‹ Minister. Da riß mir die Geduld, der alte Hohenzollerische Familienstolz bäumte sich auf. Jetzt galt es den alten Trotzkopf zum Gehorsam zu bringen oder die Trennung herbeizuführen, denn jetzt hieß es, der Kaiser oder der Kanzler bleibt oben. Ich ließ ihn noch einmal bitten, die Aufhebung der Ordre einzusenden und sich meinen, ihm früher ausgesprochenen Wünschen und Bitten zu akkomodieren. Er verweigerte dieses glatt. Damit war das Drama zu Ende. Der Rest ist Dir bekannt. –
Der Mann, den ich mein Leben lang vergöttert hatte, für den ich im Elternhause Höllenqual moralischer Verfolgung ausgestanden, der Mann für den ich allein nach dem Tode des Kaisers Wilhelm mich in die Bresche geworfen, um ihn zu halten, wofür ich den Zorn meines sterbenden Vaters und den unauslöschlichen Haß meiner Mutter auf mich lud, der achtete dies alles Nichts und schritt über mich hinweg, weil ich ihm nicht zu Willen war. Seine grenzenlose Menschenverachtung, die er für alle hatte, auch für die, die sich für ihn zu Tode arbeiteten, spielte ihm hier einen schlimmen Streich, indem er auch seinen Herrn für Nichts achtete und ihn zu seinem Trabanten herabwürdigen wollte. Bei seiner Abmeldung beschuldigte er mich, ihn schimpflich weggejagt zu haben, worauf ich ihm selbstverständlich nichts erwiderte. –
Aus diesem langen Opus mögest Du nun ermessen, was für einen Winter ich hinter mir habe, und ob ich falsch gehandelt. Als braver und treubewährter Freund stand mir der Großherzog von Baden in den letzten schweren Tagen bei und fand mein Verhalten seine völlige Billigung. Der Nachfolger ist nächst dem Fürsten Bismarck der größte Deutsche, den wir haben, mir treu ergeben und ein felsenfester Charakter.
gez. Wilhelm.
Angefangen d. 3., beendigt d. 5. April 1890.
Gehalten am 4. Oktober 1888 in Aschersleben.
Nach dem wesentlichen Auszug in der »Neuen (Preußischen) Kreuzzeitung«, Abendausgabe vom 6. Oktober 1888:
»Man hat die gegenwärtige Lage als eine unklare und unsichere bezeichnen wollen. Freilich der auswärtigen Politik unseres jugendlichen Kaisers hat die gesamte – auch die oppositionelle – Presse Gerechtigkeit widerfahren lassen müssen. Liegen doch die Erfolge, welche Kaiser Wilhelm während der kurzen Zeit seiner Regierung in bezug auf die Festigung des Friedens zu verzeichnen gehabt hat, zu klar auf der Hand, und hat doch bezeichnenderweise die Börse den Regierungsantritt unseres so irrtümlich, kriegerisch ausgegebenen Kaisers mit einer sehr bedeutenden Steigerung aller Werte begrüßt. Noch heute kennzeichnet dieselbe in ihrer ganzen Tendenz das festeste Vertrauen zur Friedensliebe seiner Regierung. Es ist eine vielleicht nicht allgemein bekannte Tatsache, daß der Kaiser schon vor 2 Jahren mit glücklichsten Erfolge eine vermittelnde Rolle gegenüber der russischen Politik, von der man eine Gefahr für den Frieden fürchtete, übernommen hat. Schon als Prinz Wilhelm hat er mit eisernem Fleiß die rudimentären Anfänge der russischen Sprache erlernt. Diese ungewöhnliche Kenntnis und der Zauber seiner Persönlichkeit eroberten ihm schon damals in Rußland alle Herzen, und die unvergleichliche nordische Meerfahrt des Kaisers bald nach dem Antritt seiner Regierung hat jüngst vollendet, was er damals bereits erfolgreich begonnen hatte.
Man hat den jungen Kaiser den Kartellkaiser genannt. Sicherlich mit Unrecht, wenn man darunter verstehen will, daß er nur ein Kaiser für diejenigen seiner Untertanen sei, welche den sogenannten Kartellparteien angehören. Er ist ein Kaiser und König für alle Untertanen ohne Unterschied und wird Recht und Gerechtigkeit über alle gleichmäßig walten lassen. Aber wenn es sich um die Frage handelt, wer auf dem Boden des kais. Programms steht und von wem unser Kaiser eine Förderung seiner Politik, wie ich sie eben gekennzeichnet habe, erhoffen kann, so sind dies allerdings diejenigen Parteien, welche endlich angefangen haben zu begreifen, daß Einigkeit und gemeinsame Arbeit uns nottut, nicht aber kleinlicher Parteihader. Die auf eigensten Wunsch unsers Kaisers erfolgte Berufung des Hrn. v. Benningsen, des Führers der nationalliberalen Partei, in ein hohes Staatsamt ist nicht nur die Anerkennung der dienstvollen politischen und sonstigen Wirksamkeit dieses Mannes. Es ist vor allem auch ein Beweis dafür, daß der Kaiser entschlossen ist, bei seiner Regierung ohne Rücksicht auf die spezielle Parteifärbung die Unterstützung aller derjenigen in Anspruch zu nehmen, welche in den Grundfragen mit ihm einig sind, und wenn heute das Zentrum, die Freisinnigen u. a., wozu leider wenig Aussicht vorhanden ist, sich in den für unser Staatswesen fundamentalen Fragen auf den gleichen Boden stellen, so werden auch sie unbeschadet ihrer besonderen Anschauungen die rückhaltlose Anerkennung ihrer patriotischen Gesinnung finden. Sie wissen, wie eine Versammlung, welche bei dem jetzigen Chef des Generalstabes Gfn. Waldersee abgehalten wurde, und an der der damalige Prinz Wilhelm teilnahm, ausgebeutet wurde, um den Prinzen in der öffentlichen Meinung zu verdächtigen und ihn mit den politischen Parteibestrebungen hochkirchlicher Kreise, insbesondere mit denen des Hofpredigers Stoecker, zu identifizieren.
Alle diese Versuche, dem Kaiser eine persönliche Stellungnahme zugunsten bestimmter Parteianschauungen zuzuschreiben, beruhen auf positive Entstellung der Wahrheit. Mein verehrter Freund, der nationalliberale Abgeordnete v. Benda, welcher jener Versammlung beigewohnt hatte, hat sich unmittelbar nachher notiert, was ihm im Verlauf derselben bemerkenswert erschien. In diesen Notizen heißt es wörtlich: »Der Prinz hob ausdrücklich hervor, daß es sich für ihn um Bestrebungen handle, welche jedem einseitigen kirchlichen Standpunkt fernliegen. Das ist die authentische, nicht zu mißdeutende Widerlegung aller jener törichten oder böswilligen Gerüchte. Das offene Gerede ist denn auch verstummt, namentlich nachdem der Kaiser Friedrich die damalige Kronprinzessin, unsere erlauchte Kaiserin, durch eine besondere Kabinettsordre ermächtigt hat, sich an die Spitze des Liebeswerkes zu stellen, das in jener Versammlung in seinen ersten Anfängen geplant war. Aber ich halte es doch gerade gegenüber den versteckten Angriffen, welchen gegen unseren Kaiser aus Anlaß der damaligen Versammlung noch jetzt erhoben werden, für geboten zu konstatieren, daß die Beziehungen, welche der Kaiser Wilhelm zu dem Hofprediger Stoecker unterhalten hat, nur sehr vorübergehende waren, die sich lediglich auf jene echt humanen, weil echt christlichen Bestrebungen behufs praktischer Hilfeleistung bei den unteren Klassen ihrer Notlage gegenüber beschränkt haben, welche jeder christlich denkende und das Volk liebende Mann auf das wärmste begrüßen muß und für die dem Hofprediger Stoecker rückhaltloser Dank und Anerkennung zu zollen ist. Darüber hinaus hat keine Verbindung mit dem Hofprediger Stoecker bestanden, und am wenigsten huldigt unser Kaiser den extremen politischen und konfessionellen Parteianschauungen, welche man an den Namen dieses Abgeordneten zu knüpfen pflegt. Darüber besteht volle, unzweideutige Klarheit. Und wenn versucht worden ist, den Kaiser sogar mit der antisemitischen Bewegung in Verbindung zu bringen, so ist auch dies eine Dreistigkeit, der ich auf das bestimmteste entgegentreten kann. Der Kaiser ist sich bewußt, daß er auch in dieser Beziehung auf einer höheren Warte steht, als auf der Zinne der Partei, und daß die Preußen jüdischen Glaubens so gut seine Untertanen sind, wie die christlichen Preußen. Hieraus ergibt sich, daß er ihnen in gleicher Weise wie diesen seinen kgl. Schutz gewähren wird und gewähren will. Ich darf in dieser Beziehung auf eine der »Berl. Börs. Ztg.« von vertrauenswürdiger Seite zugegangene Mitteilung Bezugnehmen. Danach hat der Kaiser gelegentlich einer Unterredung ähnliche Anschauungen geäußert wie:
»Ich kenne nur Vaterlandsfreunde und Gegner unserer gesunden Entwicklung. Niemand wird mir zutrauen, das Rad der Zeit zurückschrauben zu wollen. Im Gegenteil, es ist der Hohenzollern Stolz, über das zugleich edelste und gereifteste wie gesitteste Volk zu regieren. Und in dieses Lob schließe ich Alldeutschland ein. Unsere ganze Gesetzgebung ist von humanen Grundanschauungen diktiert. Wer dies verkennt und die Geister gegeneinander hetzt, gehöre er welcher Richtung immer an, hat auf meinen Beifall nicht zu rechnen. Es gibt wahrlich Ernsteres zu tun.«
Ich kann versichern, daß S. M., nachdem er diese ihm zugeschriebene Äußerung gelesen hatte, zwar bemerkt hat, er entsinne sich der Worte nicht mehr, aber er nehme keinen Anstand, sich zu der darin ausgedrückten Auffassung zu bekennen.«
19.6.1888
» Freisinnige Zeitung«. Die in einfachem Druck und Angabe des Blattes wiedergegebenen Zeitungsstimmen sind Zitate der mit Starkdruck herausgehobenen Zeitungen.
Die Proklamation kennzeichnet sich als ein herzlicher Nachruf für den dahingeschiedenen kaiserlichen Vater und als eine Kundgebung des Vertrauens zum Volke in gleicher Weise, wie jene des Kaisers Friedrich. Einer besonderen politischen Färbung entbehrt die Proklamation. – Auch Kaiser Wilhelm verpflichtet sich, den Frieden zu schirmen.
» Times«
Es dürfe als ausgemacht gelten, daß Kaiser Wilhelm den Frieden wünsche und fortfahren werde, denselben zu wünschen, so lange der Friede möglich sei zu Bedingungen, die mit der Würde, Wohlfahrt und Stabilität des Reiches vereinbar seien. Wenn der europäische Friede gestört werde, so werde dies nicht der Fall sein, weil Deutschland aufgehört habe, den Frieden zu wünschen, sondern weil andere Mächte weniger friedlich gesinnt seien.
22.6.1888.
»Nationalliberale Korresp.«
Kaiser Wilhelm tritt als Erbe der großen Errungenschaften auf, welche von den älteren Lebenden mitgewonnen und erkämpft wurden. Sein glorreicher Vater stand noch mitten in der mächtigen Zeit. Kaiser Wilhelm ist dieser großen Vergangenheit bar, er soll erst noch erwerben, was er ererbt hat. Es ist zu erwarten, daß er als echter Hohenzoller sich den heraufziehenden Wirrnissen gewachsen zeigen werde.
1.7.1888.
» Bauhütte« Nr. 26
Der Kaiser hat ein unbesiegbares Vorurteil gegen die Freimaurerlogen. –
Hiezu
» Reichsbote«
In allen christlichen Kreisen Deutschlands wird diese Nachricht mit großer Beruhigung begrüßt werden. Kaiser Wilhelm unternimmt eine sittliche Tat, wenn er jetzt mit dem traditionellen Verhältnis seines Hauses zur Freimaurerei bricht.
» Berliner Volksblatt« (Vorgänger des »Vorwärts«):
Bringt keine Kritiken oder Kommentare, sondern zitiert nur andere Zeitungen.
16.6.1888.
»Berliner Tageblatt«:
Noch hat er das 30. Jahr nicht vollendet und schon legt ihm das Schicksal eine der schwersten Lasten auf, die je ein Mann getragen. Er wird sie zu tragen vermögen und das ganze Volk wird ihm freudig dabei helfen, wenn er mit unbefangenem und freiem Geiste, mit Selbstvertrauen und mit Vertrauen auf das Volk danach ringt, die leuchtende Bahn, die Kaiser Wilhelm und Kaiser Friedrich beschritten, weiter zu verfolgen. – Wir glauben, auch unter Kaiser Wilhelm ein friedengesegnetes Regiment erhoffen zu dürfen. Unser jugendlicher Kaiser hat es feierlich verkündet, daß er diese Segnungen in ihrer ganzen Bedeutsamkeit würdigt. Und so wollen wir, gestützt auf unsere Kraft, auf unsere Freunde und auf unsere Friedensliebe, hoffen, daß der Übergang der Gewalten auf den Sohn Kaiser Friedrichs auch in seinem Erben Kaiser Wilhelm II. einen Mehrer des Reichs an der Wohlfahrt der Bürger des Vaterlands erstehen lasse.
17.6.1888.
» Vaterland« (Wien)
Ein jüngeres Geschlecht ist zum Thron berufen, welches mit schuldlosen Händen an die Erbschaft der Gewalt herantritt, und dem anheimgestellt ist, freiwillig Sühne zu leiten. Wehe dem neuen Erben, wenn er die ungereinigte Erbschaft antritt! Mit dem Segen, der an den heldenmütigen Taten haftet, übernimmt er den fortzeugenden Fluch ungesühnter Frevel.
18.6.1888.
Pol. Wochenschau von Levysohn
Die Vergangenheitslosigkeit ist vielleicht für frisches, fröhliches Wirken ein besonderer Vorzug der neuen Generation, wenn auch das Wagemutige, Allzukühne, welches der Jugend eigen zu sein pflegt, für Kaiser Wilhelm II., durch den Umstand gemildert erscheinen dürfte, daß ihm der bejahrte Berater seines Vaters und Großvaters, daß ihm Fürst Bismarck zur Seite steht. Solange dieser Reichskanzler dem jugendlichen Monarchen erhalten bleibt, solange wird sein Regiment von jedem Mangel an Kontinuität des Regierungsgedankens nach Innen wie nach Außen bewahrt sein.
19.6.1888.
Rede des Prof. Dernburg (Univ. Berlin)
Das jugendlich aufstrebende Deutschland hat einen jugendlichen Herrscher erhalten. Möge er es zum Heile und Wohle der Untertanen und des Landes leiten. Man sagt ja, die Jugend hat Glück.
» Figaro«
Ein Fürst, welcher für das Heer schwärmt, schwärmt selbstverständlich auch für den Krieg. Doch ist es unwahrscheinlich, daß internationale Schwierigkeiten entstehen, ehe er sich an seine Allmacht gewöhnt hat und die zahlreichen Fäden der Regierung in der Hand hält.
» Times«
Die mehr spontanen Gesinnungen des Kaisers sind eher in den Erlässen an Heer und Flotte als in der Proklamation an das Volk zu entdecken.
» Standard«
Die Proklamationen erinnern an frühere Äußerungen des neuen Kaisers; sie sind zwar ganz frei von einer direkten Drohung, atmen aber einen unverkennbaren Geist des Militarismus.
20.6.1888.
» Temps«
Das Manifest ist nur beruhigend für Deutschland. – Hält sich über die »Verteidigung des Friedens« auf, den niemand anzugreifen beabsichtigt, der höchstens erhalten zu werden braucht.
» Liberté«
spöttelt über den Mystizismus der Proklamation.
» Cocarde« (Boulangisten-Blatt)
prophezeit für Deutschland unter der neuen Regierung Unheil.
21.6.1888.
Die russische Oberpreß-Verwaltung hat strenges Verbot ausgegeben, anläßlich des Thronwechsels pessimistische Äußerungen über das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland zu bringen.
23.6.1888.
Der Umstand, daß Kaiser Wilhelm sein erstes öffentliches Kaiserwort an die Armee und Marine gerichtet hat, mußte dazu herhalten, um den deutschfeindlichen Kreisen des Auslandes die Meldungen von der angeblich kriegerischen Sinnesart des neuen Monarchen in verstärkter Weise zu beglaubigen, namentlich in Frankreich und Rußland.
26.6.1888.
Seit Menschengedenken ist von einer parlamentarischen Versammlung kein so unzweideutiges, schlichtes und eindringliches Friedensbekenntnis abgelegt worden, als dies gestern durch unseren jugendlichen Kaiser in seiner Thronrede vor dem deutschen Reichstage geschah.
» Nowoje Wremja«
verspricht sich für Rußland von Kaiser Wilhelm II. besonders wohlwollende Einwirkung, da er sich leichter als andere über den Umfang des Unglücks zu orientieren vermöge, das die Entwicklung der bulgarischen Frage über Deutschland bringen könne.
26.6.1888 (Abd.).
» Neue Freie Presse« (Wien)
Gesegnet sei Kaiser Wilhelms Eingang! Seine Thronrede bringt eine beglückende Verheißung für alle Menschen.
» Tribuna«
(Bezugnehmend auf die bestandenen warmen Sympathien der Italiener für Kaiser Friedrich).
Die Verträge und Allianzen werden bestehenbleiben, aber der Glorienschein der Sympathie, der sie zu umgeben begann, ist vernichtet und wie wir fürchten, für immer.
» Daily Chronicle«
Die Nichterwähnung Englands in der Thronrede ist ein erfreuliches Anzeichen, daß England in die Tripelallianz nicht verwickelt ist.
» Gaulois«
jubelt darüber, daß England nicht gespannt ist, was beweist, daß es weder formell noch materiell der Tripelallianz anhänge.
13.7.1888 (Abd.)
» Riforma« (Crispi-Blatt)
Das offizielle Italien und das ganze italienische Volk haben den neuen deutschen Kaiser mit großer Sympathie begrüßt.
19.6.1888.
»Allgemeine Zeitung« (München):
» Neue freie Presse« (Wien)
Da die Armee zur Säule des Staates geworden ist, richtete Kaiser Wilhelm II. sein erstes Wort an diese. Infolgedessen kann man dem Umstande, daß der Armeebefehl der Proklamation an das Volk vorangeht, eine gewisse Folgerichtigkeit nicht absprechen.
21.6.1888.
» Pester Lloyd«
Nach der Proklamation hat der junge Kaiser seine Mission gründlich erfaßt und wird Gott zum Wohlgefallen regieren. Wie aber die Proklamation den weltlichen oder eigentlich politischen Ansprüchen des deutschen Volkes gerecht wird, kann nur als unbefriedigend gefunden werden. Es befinden sich sehr bedenkliche Abklänge an das christlich-soziale Programm. – Wo bleiben die großen nationalen und politischen Interessen, um deretwillen eine ganze Generation ihr Herzblut auf dem Schlachtfelde vergossen hat? Wo bleiben die großen Interessen der Kultur und des Fortschritts? – Es kann das nicht das letzte Wort des Kaisers Wilhelm sein, es muß seine Ergänzung finden.
17.6.1888.
» Vossische Zeitung«:
In dem Lebensbuche des neuen Kaisers sind nur wenige Blätter beschrieben, aber was dort geschrieben ist, liest sich wohlgefällig. Wir wissen, daß er ein pflichttreuer Mann ist, eifrig vor allem in dem Berufe, der für einen Hohenzollernschen Regenten naturgemäß der erste ist, in dem Berufe des Kriegers, daß er es mit seiner Aufgabe im Großen und Kleinen ernst genommen hat. Wir wissen, daß ihm eine ernste Führung des Lebens zu eigen ist und daß er von den Pflichten, die auf ihn übergegangen sind, eine tiefe und große Vorstellung hat.
» Justice« » Soleil« » Autorité« » Radical« » Lanterne«
18.6.1888.
» Intransigeant«
weisen daraufhin, daß Wilhelm II. in erster Linie Führer des Heeres, nicht der Herrscher des Volkes sein will, und die Anspielung auf den Waffenruhm der Vorfahren sei nicht geeignet, die schwachen Friedenshoffnungen neu zu beleben.
19.6.1888.
Die Worte, welche König Wilhelm II. zum Preußischen Volke spricht, können ihre volle Deutung erst durch weitere Kundgebungen erhalten. Sie sind eine schöne und edle Schale, deren Inhalt noch undurchsichtig ist.
» Temps«
Kaiser Wilhelm II. hat nicht geglaubt, die Friedensversicherungen erneuern zu sollen, die in der Ansprache des Kaisers Friedrich III. an sein Volk auffielen. – Alles ist geeignet, uns nachdenklich zu stimmen, schwere Schuld würde die belasten, die aus jenen Ereignissen nicht die Lehre ziehen würden, welche sie in sich schließen.
26.6.1888.
» Budapester Tageblatt« (oppositionell)
Der neue Kaiser lebt, aus jeder Zeile, aus jedem Worte der Thronrede spricht Leben. Man möchte sagen, daß Wilhelm II. mit beiden Füßen auf den leergewordenen Platz springt, aber man muß auch hinzufügen, daß er diesen Platz vollkommen ausfüllt.
16.6.1888 Abd.
»Kölnische Zeitung«:
» République française«
Nicht ohne Beunruhigung steht Europa vor der Thronbesteigung Wilhelms II. Der neue Herrscher hat zwar gewiß die feste Absicht, die Bahnen seines Vaters und Großvaters zu wandeln, aber er zählt erst 30 Jahre. Nichts bürgt dafür, daß Bismarcks Politik unter Wilhelm II. genau dieselbe sein wird, wie unter Wilhelm I. Seien wir also auf unserer Hut, furchtlos und besonnen.
» Mot d'Ordre«
Man muß auf alles gefaßt sein. Für uns Franzosen schlägt eine sehr ernste Stunde. Halten wir uns bereit! Alle anderen Erwägungen treten heute vor der gebieterischen Pflicht der nationalen Verteidigung zurück.
» Figaro«
Gewiß müssen wir mehr als je wachsam sein; allein wir haben allen Grund anzunehmen, daß Kaiser Wilhelm ruhig und besonnen bleiben wird. Wir haben also für den Augenblick keinen Grund zur Besorgnis.
16.6.1888.
»Neue preußische (Kreuz-) Zeitung«:
» Nationalzeitung«
Wie an den soeben dahin geschiedenen Monarchen von Links her, so haben sich an den nunmehrigen Herrscher von Rechts her, noch bevor er Kronprinz wurde, extreme Elemente herangedrängt mit der anmaßenden Absicht, ihn im voraus als den Träger einseitiger Meinungen darzustellen, ihn dadurch zu isolieren und so für diese Meinungen zu gewinnen. – Wir vertrauen, daß Kaiser Wilhelm II., der schon anfangs dieses Jahres öffentlich die Intriguen des anderen Extrems deutlich genug von sich abgewiesen hat, deren Ansprüche enttäuschen wird.
» Hannov. Kurier«
Man hat einen Gegensatz zu den Anschauungen des Kronprinzen Wilhelm aufgestellt, dem eine Zuneigung zu den Grundsätzen der Kreuzzeitungspartei und der kirchlichen Orthodoxie zugeschrieben wurde. Unsere Leser werden es verstehen, wenn wir diese Taktlosigkeiten der nationalliberalen Blätter am offenen Sarge des dahingeschiedenen Kaisers einer Erwiderung nicht für wert halten.
19.6.1888.
Nur wenige kurze Worte sind es, die der Kriegsherr wie der König redet, aber sie reichen aus, um auch da, wo man den jungen Herrscher nur vom Hörensagen kennt, ein fertiges Bild aufsteigen zu lassen, und dieses Bild ist das eines großen Mannes. – Die Hauptsache bleibt der Eindruck zielbewußter Willensstärke, den daheim wie draußen jedermann empfangen hat. Dieser Eindruck aber muß dem Frieden in jedem Sinne zugute kommen. – Die Erlässe haben alles gebracht, was irgend erwartet werden konnte; ja, sie haben mehr getan als das: sie haben freudig überrascht.
26.6.1888.
Die Worte, in welche sich die kaiserliche Botschaft kleidet, sind das Meisterwerk eines kalten Kopfes, dem ein warmes Herz zur Seite steht. Da ist alles gesagt, was zu gewinnen, nichts, was zu verletzen geeignet wäre. – Sie enthalten das Bekenntnis zur Reichsverfassung. Kein Mißbrauch der Macht ist darum zu befürchten. Wer ihn dennoch besorgt, wird es mit seinem eigenen bösen Gewissen auszumachen haben.
8.7.1888.
» Freisinnige Zeitung«:
(Zur Kaiserreise nach Petersburg.) Kaiser Wilhelm erzeigt durch seine Reisen den anderen Monarchen Freundlichkeiten; er wird sicherlich ebenso freundliche Eindrücke aus den Hauptstädten der Nachbarländer zurückbringen. Man darf anderseits die politische Bedeutung solcher Reisen nicht überschätzen. Wir würden es freudig begrüßen, wenn die Kaiserbegegnung wenigstens auf dem Gebiete einen sicheren Erfolg brächte, wo die Interessen Deutschlands und Rußlands nicht entgegengesetzter Natur sind, nämlich auf dem wirtschaftlichen.
19.7.1888.
» Königsberger Hartung'sche Zeitung«
Kaiser Wilhelm hat bei der letzten Anwesenheit seines Vaters in Königsberg einmal die Räume der dortigen Freimaurerlogen besucht und machte bei diesem Anlasse eine scherzhafte Bemerkung über die Loge, die indes durchaus harmlos war und in keiner Weise eine Abneigung gegen die Maurerei bekundete.
20.7.1888.
» Norddeutsche allg. Zeitung«
Die deutsche Politik hat sich durch die herausfordernde und revolutionäre russische Presse niemals in ihrer festen Friedenspolitik irremachen lassen. Diese Überzeugungen leiten auch den Kaiser Wilhelm II. und bewegen ihn, seinem Nachbarn in Petersburg den Antrittsbesuch zu machen ohne irgendwelche Wünsche oder Forderungen. Wir wüßten nichts, was Rußland uns gewähren könnte und wir nicht hätten. Uns sind keine Forderungen Rußlands bekannt, denen Deutschland nicht jederzeit entsprochen hätte. Ungeachtet der unverschämten Großsprechereien einiger russischer Zeitungen.
26.7.1888.
» Journal de St. Pétersbourg«
Der Zug der gegenseitigen Sympathie bestätigte sich beim Abschied auf der Yacht »Hohenzollern«. Der Besuch des Kaisers Wilhelm entspringt seinem Wunsche, gleich vertrauensvolle Beziehungen herzustellen, welche der Freundschaft der beiden Reiche zustatten kommen und das Vertrauen in den europäischen Frieden befestigen.
»
Frankfurter Journal«
(Bericht von Schweinburg.)
Die Petersburger Presse hält daran fest, daß Kaiser Wilhelm die Ansprüche Rußlands auf der Balkanhalbinsel unterstützen werde.
27.7.1888.
» Standard«
Deutscherseits wurde ein Vorschlag über die bulgarische Frage gemacht, welchen Rußland annahm: Rußland solle geduldig warten, bis der Coburger seine weitere Anwesenheit in Bulgarien unmöglich macht. Dann soll Rußland wieder Beziehungen zur neuen bulgarischen Regierung anknüpfen.
31.7.1888.
» Pol. Corr.« (Wien)
Die russische Reise hat nur das Terrain vorbereitet für die Beseitigung der kritischen Lage. Positive Entschlüsse dürfen nicht vor der Begegnung zwischen Kaiser Franz Joseph und Kaiser Wilhelm gefaßt werden, da zuerst ein Einverständnis zwischen Österreich-Ungarn und Rußland erzielt werden müsse.
» Nord.« (Russische offiziöse Ztg. in Brüssel)
Bei der Kaiserbegegnung sind keinerlei formelle Abmachungen erfolgt, dagegen hat die Freundschaft zwischen Deutschland und Rußland eine positive Bestätigung erfahren.
»Berliner Volksblatt« (später Vorwärts):
keine den Kaiser betreffende Kommentare der Reise nach Petersburg.
21.7.1888.
»Berliner Tageblatt«:
» Soleil« (Orleanistisch)
Die Reise des Kaisers Wilhelm nach Petersburg ist eine letzte deutsche Anstrengung, Rußland zu versöhnen, und ein großer Erfolg der russischen Diplomatie, der den deutschen Kaiser als Vasall seines mächtigen russischen Nachbarn erscheinen läßt.
21.7.1888 (Abds.)
» Nowoje Wremja«
Die Entrevue wird zwar kein in Rußland unsympathisches Bündnis im Gefolge haben, aber unter Aufrechterhaltung der Aktionsfreiheit Rußlands alle zwischen beiden Staaten schwebenden Mißverständnisse wegräumen.
» Journal de St. Pétersbourg«
Man kann auf eine Ära freundschaftlicher Beziehungen rechnen, welche ein sicheres Unterpfand für die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens sein werden.
23.7.1888 Abds.
»Neue preußische (Kreuz-) Zeitung«:
Nichts könnte die herzgewinnende und sieghafte Gestalt der Persönlichkeit unseres Kaisers und Königs heller beleuchten, als die Tatsache daß seit dem Erscheinen Sr. Maj. auf russischem Boden auch derjenige Teil der dortigen öffentlichen Meinung, der Deutschland mißgünstig gesinnt ist, sich bezwungen zeigt.
27.7.1888 Abds.
Mit der jugendlichen Frische und Genußfreudigkeit, die ihm so wohl ansteht, überall durch seine offene männliche Art die Herzen gewinnend, weiß der deutsche Kaiser den zahllosen Repräsentationspflichten mit bewunderungswürdiger Ausdauer gerecht zu werden.
18.9.1888.
» Kölnische Zeitung«:
Während Ultramontane, deutschfreisinnige und der sonstige Anhang dieser Gesellschaft die Nationalliberalen damit zu verhöhnen suchen, daß Herr von Bennigsen nur Oberpräsident und der Konservative, Herr von Malzahn, Staatssekretär des Schatzes geworden ist, haben wir in den Reihen unserer politischen Freunde nur allgemeine Genugtuung darüber wahrgenommen, daß unser langjähriger Führer dem parlamentarischen Leben und demgemäß auch seiner Partei erhalten worden ist.
22.9.1888.
Die vollzogene Berufung des Prof. Harnack in die theologische Fakultät der Universität Berlin ist wegen der begleitenden Umstände als ein sehr erfreuliches und bedeutungsvolles Ereignis zu betrachten. Die hochkirchliche Unduldsamkeit hat eine schwere Niederlage erlitten; das ist das Erfreuliche an der Erledigung des Falles Harnack.
17.9.1888.
»Neue preußische (Kreuz-) Zeitung«,
» Indépendance belge«
Es würde in der Tat eigentümlich sein, daß, nachdem der Kaiser in der Armee dem jungen Element einen so weiten Spielraum eingeräumt, und nachdem er so deutlich seinen Willen einer allgemeinen Verjüngung zu erkennen gegeben hat, er in der Regierung des Reiches es beim Alten lassen sollte. Hieraus erklärt sich auch das Gerücht, daß zwischen dem Kanzler und seinem Souverain eine Meinungsverschiedenheit besteht. – Wilhelm II. bewundert sicher als Kaiser den Kanzler ebenso wie er ihn bewunderte als Prinz von Preußen und Kronprinz. Aber Wilhelm II. als Kaiser ist nicht wie Wilhelm I. durch ein unwiderrufliches ›niemals‹ verpflichtet. Wilhelm II. ist 28 Jahre alt und Fürst Bismarck ist für einen so jungen Fürsten ein Ratgeber unbequemen Alters.
Das »Berliner Tageblatt« (18. 9. 1888) sucht aus dem Umstände, daß Herr von Bennigsen zum Oberpräsidenten von Hannover und Freih. v. Malzahn-Gültz zum Reichsschatzsekretär ernannt worden sind, zu beweisen, daß wir einer Art parlamentarischer Ära entgegengingen. – Das ist aber eine Täuschung. Die Heranziehung der genannten beiden Politiker bedeutet ohne Zweifel eine Anerkennung für die Haltung der von ihnen vertretenen Parteien, allein sie trägt in nichts den Charakter einer dauernden Verpflichtung in sich, wie sie für das parlamentarische System bezeichnend ist. – Erst wenn die Opposition berücksichtigt werden muß, weil sie über die nötige Zahl von Stimmen verfügt, geht es mit dem monarchischen Prinzip zu Ende.
21.9.1888 Abds.
» Nationalzeitung«
Es handelt sich bei dem Falle Harnack durchaus um eine Bekundung der Gesamtpolitik, wie dieselbe sich unter dem neuen Herrscher entwickelt. –
» Post«
Die Erledigung dieser Angelegenheit hat programmatische Bedeutung. – Das Eintreten der »Post« und ihrer nationalliberalen Gesinnungsgenossen im Dezember v. J. gegen die »Stöckerei und Muckerei« waren die taktlosen Vorbereitungen zu der noch größeren Taktlosigkeit, die Person Se. Maj. des Kaisers bei jeder Gelegenheit in dem Wahlkampf geradezu als den Bundesgenossen ihrer rein parteipolitischen Mache auszunützen. Dieses Bestreben haben wir ebenso zurückgewiesen, wie kürzlich, als die »Magd. Ztg.« Se. Maj. den König als ihren Gesinnungsgenossen zu reklamieren die Dreistigkeit hatte. Zu welchen geradezu beleidigenden Konsequenzen aber diese steten Versuche, die eigene Feindschaft gegen die Kirche, deren Schatten schon der »Nat. Ztg.« so unheimlich ist, mit der Person unseres königlichen Herrn zu decken, führen müssen, scheint dieser Presse völlig unverständlich zu sein.
7.1.1889.
»Berliner Tageblatt«:
(Polit. Wochenschau von Levysohn)
Die öffentliche Meinung des In- und Auslandes ersieht in der Einstellung des Strafverfahrens gegen Prof. Geffcken nicht eine gewöhnliche richterliche Entscheidung, sondern – mit Recht oder Unrecht – eine erschütternde Niederlage des deutschen Reichskanzlers. – Die juristische Feder, welche den Immediatbericht des Kanzlers an unseren Kaiser niedergeschrieben, verdient jedenfalls nicht den Dank der Vaterlandsfreunde.
10.1.1889.
»D. Wochenbl.«
Wenn der Prozeß Geffken trotz allem, wie wir zugeben müssen, zu einer Niederlage des Fürsten Bismarck geworden ist, so trägt die Schuld hieran nur die Veröffentlichung des Immediatberichtes. – Das Blatt beklagt, daß der Kanzler, wie bei anderen Anlässen auch der Kaiser, juristisch so schlecht beraten sei: die Strafanträge, welche S. M. der Kaiser gleichfalls in der Tagebuchangelegenheit gegen die »Freisinnige Zeitung« und gegen die »Kieler Ztg.« richtete, mußten zurückgezogen werden.
Wir meinen, daß, ehe dem Monarchen die Stellung eines Strafantrages angeraten werden darf, die gewissenhafteste Untersuchung notwendig ist, ob die Klage durchführbar und die Erlangung eines obsiegenden Urteils sicher ist. Es dient nicht dazu, die monarchische Autorität zu erhöhen, wenn eine vom Kaiser angestellte Klage abgewiesen oder zurückgezogen wird. Für uns ist es eine beschämende Tatsache, daß die Klage des Kaisers zurückgezogen werden mußte. In eine solche Lage hätte der Kaiser niemals gebracht werden dürfen.
9.1.1889.
» Berliner Volksblatt« (später »Vorwärts«)
Die Haftentlassung Geffckens und die grausame Abfertigung der Verleumder Moriers und des verstorbenen deutschen Kaisers sind Ereignisse von hoher politischer Bedeutung. – Es sind zwei schwere Schläge, welche durch ein sicherlich nicht zufälliges Zusammentreffen fast gleichzeitig, auf den deutschen Reichskanzler und dessen ältesten Sohn und Nachfolger in spe herniedergefallen sind.
7.1.1889 Abds.
»Vossische Zeitung«:
» Daily Telegraph«
Selbst in despotisch regierten Ländern ist von einem erzürnten Staatsmann oder einer unverantwortlichen Exekutive selten ein schlimmerer Fehlgriff gemacht worden, als die Verhaftung und Gefangenhaltung Geffckens.
9.1.1889 Abds.
» Wes. Ztg.«
Fürst Bismarck, auf dessen Immediateingabe von Kaiser Wilhelm II. bekanntlich die Untersuchung gegen Geffcken eingeleitet wurde, hat ein langes Memorandum zu den Akten gegeben, in welchem derselbe besonders betonte, daß der Angeschuldigte durch die Veröffentlichung des Tagebuches Kaiser Friedrichs III. die Beziehungen Deutschlands zu den Kabinetten Englands, Luxemburgs und Belgiens getrübt hat. Diese Behauptung konnte Geffcken sofort durch die Thronrede Kaiser Wilhelms II. widerlegen, in der gerade ausgesprochen steht, daß die Beziehungen Deutschlands zu den übrigen europäischen Staaten die besten und ungetrübtesten seien.
» Dresd. Nachr.«
Der Präsident Dr. Simson erhielt bekanntlich von Kaiser Friedrich den Schwarzen Adler-Orden, wurde aber von Kaiser Wilhelm bei der Grundsteinlegung des Reichsgerichtsgebäudes nicht angesprochen.
7.1.1889.
»Neue preußische (Kreuz-) Zeitung«:
» Köln. Ztg.«
Der Immediatbericht des Reichskanzlers an S. M. den Kaiser hat den Zweck gehabt, einmal den unmittelbaren Urheber zu ermitteln, dann aber die Hintermänner festzustellen, welche durch ihr Intriguenspiel den Reichskanzler zu stürzen drohten. – Von letzteren spricht er in seinem Immediatbericht kein Wort. Wenn man sich jener Reichstagssitzungen erinnert, wo Bismarck die freisinnige Insinuation, er suche Schutz hinter der Person seines kaiserlichen Herrn, in voller, aus tief entrüstetem Herzen kommenden Erregung zurückwies, ist dies so selbstverständlich, daß man nicht berechtigt ist, das Gegenteil auch nur für möglich zu halten.
8.1.1889.
» Wiener Tagbl.«
zieht das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in Diskussion und sucht die oberste Autorität im Staate zu untergraben. Schließt: der Tote ist unbesiegbar.
» Wiener allg. Ztg.«
polemisiert gegen die Entschließungen des Kaisers Wilhelm II. als den Ausfluß der wildesten Reaktion. Man könnte sich über solche Unverschämtheiten hinwegsetzen …, wenn man nicht wüßte, wer alles sich hinter diesem Papier verbirgt, und wenn man nicht sofort erkennen würde, in welch systematischer und hartnäckiger Weise diese Aktion seit dem ersten öffentlichen Auftreten des Kaisers Wilhelm aller Orten, nicht blos in Wien, betrieben wird. Als wir anläßlich der deutsch-österreichischen Zeitungsfehde im vergangenen November darauf hinwiesen, daß jene große destruktive Macht – das Großjudentum – bei allen Wirrnissen seine Hand im Spiele hat, … warf man uns Taktlosigkeit vor, weil wir es gewagt, freche Angriffe auf die Person unseres Kaisers zurückzuweisen. – Dieselben Personen, welche solche Artikel schrieben, stehen im Mittelpunkte der internationalen Bewegung für die Herrschaft des Judentums, … die sich in Paris und London mit einer Strömung vereint, welche ihren Grund nur in dem Neide und der Mißgunst gegen die ruhmvolle Machtstellung des Deutschen Reichs und seines christlichen Kaisers hat.
20.1.1889.
»Kladderadatsch«:
Die Deutschfreisinnigen haben Glück mit ihren erkorenen Lieblingen. Mit welchem Stolze können sie jetzt wieder auf den edlen Märtyrer Geffcken blicken, der sich durch schnöden Vertrauensbruch gegenüber dem verstorbenen Kaiser Friedrich einen Namen gemacht hat.
19.4.1889.
»Berliner Tageblatt«:
» Reichsbote«
Wir wollen durchaus keine Begünstigung oder Verhätschelung der positiven kirchlichen Kreise durch die Regierung; in der Hof- und Staatsgunst treibt das christliche Leben leicht ungesunde und unwahre Auswüchse; das Christentum gedeiht nur in der gesunden, reinen Gottesluft. Dieses Bekenntnis macht den Eindruck, als ob der Fuchs die Trauben der Hofgunst sauer fände, weil sie ihm höher gehängt werden sollen.
24.4.1889.
Hätte nicht eine Menge von Verwirrung und Verhetzung vermieden und unserem Vaterlande die Ausbreitung einer traurigen Mißbildung erspart werden können die der verewigte Kaiser Friedrich als eine Schmach für alle Zeiten gebrandmarkt hat? Ist der Hofprediger-Demagoge heute verwerflich und gefährlich, warum war er es nicht schon seit Jahr und Tag? Und hat man nicht seither durch Duldung begünstigt und gehätschelt, was man heute zu beseitigen für Pflicht hält?
24.4.1889 Abds.
» Köln. Volksztg.«
Für uns stellt sich die Entscheidung in Sachen Stoecker als eine Art Kompromiß zwischen den vom Fürsten Bismarck vertretenen politischen Gesichtspunkten und den fürstlichen Erwägungen dar, welche in einflußreichen Hofkreisen einen Rückhalt haben. Stoecker hat sich für die Beibehaltung des Hofamtes unter der Bedingung des Fernbleibens von der politischen Agitation entschieden, wobei angeblich der Einfluß des Grafen Waldersee oder gar ein noch viel höherer Einfluß auf ihn maßgebend gewesen sein soll. Der Kaiser selbst soll gewünscht haben, daß Stoecker Hofprediger bleibe.
24.4.1889.
» Vossische Zeitung«:
Die offiziösen Angriffe, deren Ziel Herr Stoecker neuerlich ist, haben mit dem Unwillen über den Antisemitismus oder die »Berliner Bewegung« nichts gemein, sondern wollen in dem Hofprediger nur ein Werkzeug einflußreicher Kreise treffen, welcher der Stellung des Kanzlers gefährlich werden. – Das Schicksal des Herrn Stoecker ist nur eine Etappe in dem Kampfe, der zwischen weit mächtigeren Personen geführt wird, als dem Hofprediger und dem Pastor an der Golgatha-Kirche.
In der
» Schlesischen Zeitung«
wird ein besonderes Gewicht darauf gelegt, daß der Kaiser am Karfreitag dem Frühgottesdienst in der Domkirche beigewohnt, bei welchem der Hofprediger Stoecker die Predigt hielt. Es mag mehr als ein Vierteljahr vergangen sein, seit der Kaiser zum letzten Male bei einer Predigt dieses Geistlichen zugegen war. Weshalb will man darin ein Zeichen erblicken, daß der Kaiser die jetzige Lösung billige, wobei es dahin gestellt gelassen wird, welchen Anteil der Kaiser selbst an der Sache genommen hat.
25.4.1889 Abds.
Nach der
» Germania«
soll der Rücktritt Stoeckers vom politischen Kampfplätze ein Vorstadium gehabt haben, in welchem er den Versuch gemacht hat, seine Dienstentlassung einzureichen, aber von »hochstehender Seite« bestimmt wurde, das Amt zu behalten. Am Karfreitag hat dann die kaiserliche Familie im Dom seiner Predigt beigewohnt und gleich darauf ist er nach dem Süden abgereist. – Herr Stoecker würde sich hienach an dem Versuche, als politischer Charakter zu erscheinen, haben genügen lassen, diesen Ehrgeiz aber bald vor dem größeren Interesse zurückgezogen haben, als er sah, daß seiner Eitelkeit von »hochstehender Seite« genüge geschah.
26.4.1889.
Den Rücktritt Stoeckers vom Hofamte hat der Kaiser selbst verhindert und, wie die »Lib.-Korr.« berichtet, zu diesem Zwecke Herrn Stoecker einen Besuch abgestattet. – Den Einfluß des Herrn Stoecker an gewissen maßgebenden Stellen dürften diejenigen befestigt haben, die darauf aus waren, einen unbequemen Gegner beiseite zu schaffen.
21.4.1889.
»Berliner Volksblatt« (später »Vorwärts«):
Mit Stoecker und dessen Schicksal beschäftigen sich zahlreiche Blätter (namentlich die konservativen) jetzt täglich in eingehender Weise. Was daraus wird, können wir ruhig abwarten.
26.4.1889.
Es ist ein Stück weltgeschichtlichen Humors, daß Stoecker, der gewaltige und gefeierte Sozialistentöter, genau zur selben Zeit in die Versenkung politischer Untätigkeit verschwinden muß, wo die deutsche Sozialdemokratie sich zu einem Wahlkampfe rüstet, der ihr Verfolge verspricht, wie sie von ihr noch nie erzielt worden sind.
24.4.1889.
»Kladderadatsch«:
Der Kaltgestellte.
Jacta est alea! Der Tapfere, Kühne,
Der wie ein Turm im Schlachtgewühle stand,
Mißmutig, grollend, mit umwölkter Miene,
Hängt er das Schwert, die Tartsche an die Wand.
Das Ungewitter kam ihm immer näher
Und endlich schlug es krachend bei ihm ein:
Es darf fortan – aufatmet, Ihr Hebräer –
Hofpred'ger nur, nicht Agitator sein.
(Folgen noch drei Strophen mit dem gleichen Refrain.)
Im Süden.
Süß umduftet von Millionen Veilchen,
Von der Nachtigallen Gesang umflötet,
Durch die Myrtenhaine des Südens steigt der
Herrliche Stoecker.
Wonnig strahlt sein rosig glattes Antlitz,
Friede haust im Busen ihm und Versöhnung,
Milde lächelnd säuselt er: »Donnerwetter,
Hol' der Fuchs sie!«
Stoecker am Scheidewege.
Herr Stoecker wird »vorläufig« vom politischen Parteikampfe zurücktreten und in den nächsten zehn Tagen fern von Berlin darüber nachdenken, wie lange er das aushalten kann.
26.1.1890.
»Berliner Tageblatt«:
(Zum Reichstagsschluß.)
Wir sind so wenig verwöhnt, daß es uns schon auffallen und mit einer gewissen Genugtuung erfüllen darf, wenn wir wahrnehmen, daß Kaiser Wilhelm II. zu wiederholten Malen ausdrücklich hervorhebt, wie groß das Verdienst des Reichstages gewesen, als es sich um die Aufrechterhaltung des Friedens nach Innen und Außen handelte. – Man hätte es sicherlich gerne gesehen und mit Freuden begrüßt im Lager des Kartells, wenn die Kundgebung Kaiser Wilhelms II. ein Wort, ja nur einen Wink enthalten hätte, den man für die Wahlkampagne irgendwie hätte ausbeuten können. Aber es scheint, daß der Monarch voll konstitutionellen Gefühls sein Ohr vor denen verschloß, die solche Zumutungen bis zu dem Throne gelangen ließen. – Die vornehme, kühle und weise Zurückhaltung, welche den Träger der Krone davor schützt, mit der großen Mehrzahl der Wähler des Reiches in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu geraten, darf wohl als ein Zeichen angesehen werden, daß Kaiser Wilhelm II. von wirklich konstitutionellen Gesinnungen beseelt ist. Und da er in keiner Anspielung des Ausfalls der kommenden Wahlen gedenkt, so ist es sicher kein Interpretationskunststück, wenn man den Schluß daraus zieht, der Kaiser wolle in freien Wahlen den ungefälschten Ausdruck der öffentlichen Meinung aller Staatsbürger erkennen.
27.1.1890.
(Polit. Wochenschau von Levysohn)
Alle jene mißgünstigen Unterstellungen, welche die Neider und Feinde des deutschen Namens an die Persönlichkeit des jungen Kaisers geknüpft, haben sich durch das Tun und Lassen Wilhelms II. als Lüge und Verleumdung erwiesen. – Die absolutistischen Regungen, die man dem neuen Souverän in gewissen Kreisen zuschiebt, sind in keiner Weise hervorgetreten. So hat denn das deutsche Volk gelernt, mit ehrlichem Vertrauen zum Träger des Königstums emporzublicken, wie dieser es bei keiner Gelegenheit versäumt, der Nation sein volles kaiserliches Vertrauen entgegenzubringen. – Kaiser Wilhelm II. geht oft seine eigenen Wege, die nicht immer mit denen zusammenfallen, welche bürokratische Schablone dem Kronenträger gerne vorschreiben möchte. Auch in der Thronrede (zum Schlusse des Reichstags) gibt sich die eigentümliche Selbständigkeit der Anschauungen kund, die unser Kaiser so oft schon betätigt.
1.2.1890.
(Ernennung von Berlepsch zum Handelsminister)
Der Kaiser hat in letzter Zeit wiederholt Gutachten von den Herren Berlepsch und Hinzpeter, der arbeiterfreundliche Auffassungen hegt, über die Köpfe der Minister hinweg eingeholt. Es würde zugleich bekunden, daß der Kaiser darauf bedacht ist, den Einfluß des Reichskanzlers wenigstens auf einem Gebiete, allerdings einem der wichtigsten (der Arbeiterschutzgesetzgebung), mehr zurückzuschieben.
6.2.1890.
(Erlässe des Kaisers)
In diesen wenigen Worten ist ein ungeheuer folgenschwerer Schritt geschehen, der uns zeigt, daß der Monarch einen offenen Blick hat für die Erfordernisse der Gegenwart. – Er stellt sich mitten hinein in die pulsierende Gegenwart und ist der Ansicht, daß, wenn der Arbeiter dem Kaiser gebe, was des Kaisers ist, der Kaiser auch die Pflicht hat, dem Arbeiter zu geben, was des Arbeiters ist. – Jedenfalls werden die Anregungen, welche Kaiser Wilhelm II. in seinem Ermessen an den Reichskanzler wie an den preuß. Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten gegeben hat, weithin tönenden Nachhall finden. Wir Liberalen können uns freuen, daß wir dieser Initiative des Monarchen vorgearbeitet haben. – Deutschland stellt sich mit dieser Kundgebung seines Herrschers an die Spitze der neuen und wahren Zivilisation.
6.2.1890 Abds.
Unser Kaiser selbst hat die Internationale Konferenz für die Arbeiterfrage auf seine Fahne geschrieben, und nun finden plötzlich auch unsere Gegner den Gedanken ganz vortrefflich. Wir freuen uns dieser Bekehrung und sind dem Kaiser dankbar dafür, daß er sie zu Wege gebracht hat.
7.2.1890.
» Post«
Mit den Arbeitsverhältnissen vertraute und dabei arbeiterfreundliche Industrielle erblicken in der Einrichtung von Arbeiterausschüssen eine ernste Gefahr namentlich in der Richtung, daß sich diese leicht zu einer Organisation der Sozialdemokraten entwickeln könnten. Dieser Standpunkt ist der des Industriekönigs Stumm, dessen engherzige Gedanken Kaiser Wilhelm erst jüngst auf dem Bismarck-Diner energisch zurückgewiesen haben soll.
» St. James Gazette«
Die beiden Erlässe sind ein bedeutsames Zeichen der Zeit.
» Pall Mall Gazette«
Die Erklärungen des Kaisers sind ganz vortrefflich. Die Erlässe sind eines der bedeutendsten Ereignisse in der modernen Geschichte Europas.
7.2.1890 Abds.
» Köln. Ztg.«
Das kräftige Eintreten der deutschen Kaisermacht für die praktischen Arbeiterinteressen wird viele hochfliegende Hoffnungen erwecken, denen Enttäuschungen folgen müssen, und wird das Machtbewußtsein und den Großmachtskitzel der Arbeitermassen steigern.
» Fremdenblatt« (Wien)
Kaiser Wilhelm hat einen unvergeßlichen Beweis seiner hochherzigen, wahrhaft volksfreundlichen Gesinnung geliefert. Dauerhafter als Erz wird die Erinnerung daran in dem Gefühle aller und in der Geschichte fortleben.
» Wiener Tagblatt«
Die Erlässe künden eine neue Weltaera an. Es gereicht dem deutschen Kaiser zum Ruhme, daß er mit seiner mächtigen Hand die Lösung der Arbeiterfrage durchführen will.
8.2.1890 Abds.
» Journal des debats«
Die Erlässe sind eines der bedeutendsten Ereignisse in der ökonomischen Geschichte der Jetztzeit.
» Rhein.-Westf. Ztg.«
Die Beharrlichkeit der arbeitenden Klassen wird infolge der Erlässe unzweifelhaft zunehmen.
9.2.1890.
Wie seine großen Vorgänger will auch Wilhelm II. ein Mehrer des Reichs an allen Gaben und Gütern des Friedens sein. – Auch die Tapferkeit und den Wagemut seiner Ahnen hat Kaiser Wilhelm II. geerbt. (Die Schwierigkeiten welche der internationalen Regelung der Arbeiterfrage entgegenstehen, verhehlt er sich nicht, aber er sieht ihnen ins Auge und geht ihnen entgegen.)
» Reichsbote«
Bei der Vorberatung der Erlässe sind dem Kaiser Bedenken entgegengetreten, durch die er sich aber nicht beirren ließ, indem er auf den Beruf des Königtums zur Beschützung der wirtschaftlich Schwachen hinwies, wie ihn König Friedrich II. in dem bekannten Ehrentitel, ein »König der Armen« zu sein, zum Ausdruck brachte.
10.2.1890.
» Polit. Wochenschau von Levysohn«
Der Freisinn jubelt dem Programm des Kaisers mit frohlockender Begeisterung zu; die Kartellparteien stehen zum großen Teile schmollend abseits oder stimmen mit süßsauren Mienen zu, während das Häuflein jener Ultrakonservativen, denen die Regierungspresse soeben noch mit aller Wucht Fehde angesagt hatte, den Entschließungen des Monarchen uneingeschränkten Beifall zollt.
10.2.1890 Abds.
» Nord« (Russisch, offiziös. Brüssel)
Die Erlässe sind wahre Friedenskundgebungen, welche den Waffenlärm in Europa übertäuben.
11.2.1890.
» Tägl. Rundschau«
Die Hauptsätze der kais. Kundgebung hatten zum Verfasser den Kaiser selbst.
15.2.1890.
Die kais. Staatsrede wird von der Presse fast aller Richtungen im großen und ganzen mit derselben Befriedigung aufgenommen, wie die Erlässe, auf deren Boden die neueste Kundgebung des Kaisers steht.
17.2.1890.
» Polit. Wochenschau von Levysohn«
Es bewahrheitet sich noch bei Lebzeiten des Fürsten Bismarck sein prophetisches Wort: Dieser Kaiser werde einst sein eigener Kanzler sein. – Man darf sich der berechtigten Hoffnung hingeben, daß die weit aussehende Initiative des Kaisers, trotz aller kartellparteilichen geheimen und offenen Widerstände, die zu besiegen sein werden, doch eine relative Gesundung unseres staatlichen Körpers herbeizuführen vermögen werden. – Während der Kaiser ersichtlich mit großer Aufmerksamkeit dem politischen und sozialen Pulsschlage der Nationen lauscht und von dessen künstlicher Beschleunigung und Verlangsamung durch Wahlbeeinflussung mittels der administrativen Maschine oder einer offiziellen Wahlparole nichts wissen will, hat er seine Freude, seine sozialpolitischen Anregungen im Auslande wenigstens bei den Regierungen zumeist ohne Hintergedanken anerkannt zu sehen. –
19.2.1890 Abds.
» Hamburg. Nachr.«
Was die sachliche Meinungsverschiedenheit zwischen Kaiser und Kanzler betrifft, die vor Publikation der Erlässe bestanden und in einer Modifikation dieser ihren Abschluß gefunden haben soll, so wird dieselbe wohl überschätzt. Kaiser und Kanzler sind wenigstens über das Endziel aller zu ergreifender Maßregeln niemals verschiedener Meinung gewesen.
24.2.1890.
» Polit. Wochenschau von Levysohn«
Die Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes, der Rücktritt des Fürsten Bismarck vom Handelsministerium und die beiden sozialpolitischen Erlässe des Kaisers waren die äußerlichen Kundgebungen einer selbständigen Sinnesweise des Monarchen, die weit ab führt von den Pfaden, welche Fürst Bismarck bisher gewandelt. – Kaiser Wilhelm II. fühlt modern genug, um nicht die Unmöglichkeit einzusehen, eine Regierung in Geleisen zu führen, die dem ausgesprochenen Willen der Nation antipathisch sind.
26.2.1890 Abds.
Die kais. Erlässe müssen jetzt dazu herhalten, die Wahlniederlage des Kartells und des Fürsten Bismarcks zu beschönigen. Die Nordd. allg. Ztg. hat die Stirne, das Fiasko des Kartells und die sozialistischen Siege ziemlich unverblümt auf die Erlässe zurückzuführen. Auch die »Schles. Ztg.« führt an, daß viele sich den Anschein gegeben hätten, als stimmten sie im Sinne des »Arbeiterkaisers«, indem sie für den Arbeiterkandidaten ihren Wahlzettel einlegten. Ganz dieselbe Beobachtung soll nach dem »Hambg. Korr.« angeblich namentlich in ländlichen Kreisen gemacht worden sein. – Es erscheint hiernach, daß die Kartellpresse auf ein gegebenes Signal hin die Erlässe und damit den Kaiser selbst für den sozialistischen Triumph verantwortlich machen will.
27.2.1890 Abds.
» Straßburger Post«
Wenn der Kaiser für die Steuerreformarbeit, die bisher mehr als gut verschleppt worden ist, eine hilfsbereite Mehrheit in dem neuen Reichstage findet, dann kann und, wie wir den Kaiser zu kennen glauben, wird es ihm gleich sein, von welchen Parteien dieselbe gebildet wird.
28.2.1890.
Ein strammes Regiment führt allerdings Kaiser Wilhelm, denn jedes Regiment muß eben so sein, oder es ist überhaupt keines. Der Kaiser will eine stramme soziale Ordnung herbeiführen und das ist nach seiner Ansicht nur durchführbar durch internationale sozialpolitische Einrichtungen. – Der Kaiser erblickt in dem Arbeiter den allen übrigen gleichberechtigten Staatsbürger. Demgemäß erblickt der Kaiser seine höchste Aufgabe darin, dem Arbeiter zu seinen sozialen Rechten zu verhelfen, wie seine Vorfahren es an den Bürgern getan. – Aber weit davon entfernt, eine Bevölkerungsklasse auf Kosten der anderen zu begünstigen, will der Kaiser vielmehr durch seine sozialpolitischen Bestrebungen den Staatsgedanken kräftigen und gerade darum erweist sich der Kaiser als der Vertreter der Volksgesamtheit und nicht als der Vertreter einer Klasse.
3.3.1890.
» Polit. Wochenschau von Levysohn«
Bemerkenswert, daß die Nachricht von einer überstandenen Kanzlerkrisis das Publikum kalt ließ. In der Nation fängt sich das Gefühl an zu regen, daß sie nun, da sie schon 20 Jahre im Sattel sitzt, auch reiten gelernt hat, daher würde das deutsche Volk seinen Gleichmut bewahren, wenn noch eine Kanzlerkrisis eintreten sollte. Die Nation weiß das Staatsschiff in den guten starken Händen des Kaisers sicher geborgen und geht mit Zuversicht den Tagen entgegen, da kein Bismarck mehr sein wird.
5.3.1890 Abds.
» Augsburger Postzeitg.« (Freih. v. Fechenbach über die Erlässe)
An Deutschlands Spitze steht unser junger, geistig und körperlich starker Kaiser, der unsere Herzen schon in seiner frühesten Jugend gewann und mit Vertrauen, Liebe und Hoffnung erfüllt. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß unter ihm eine Epoche beginnt, nach welcher die Geschichte seine Zeit nennen wird, eine Epoche, die für die ganze zivilisierte Welt eine neue wirtschaftliche Ordnung festsetzt, die ihre eigene Signatur besitzt und den Ruhm, die Größe und das Glück des deutschen Volkes für Jahrhunderte mit dem Namen Wilhelm II. auf das engste verbindet. Die Voraussetzungen sind alle vorhanden, das weitere liegt bei Gott und bleibt einem klaren, festen Willen vorbehalten.
10.3.1890.
» Polit. Wochenschau von Levysohn«
Die Rede des Kaisers, die er auf dem Feste des Brandenburgischen Provinziallandtages gehalten, enthält eine überaus peinliche Lektion für alle diejenigen, welche bisher geglaubt hatten, allein ein Anrecht auf Regierungsfähigkeit zu besitzen. (… »zerschmettere ich.«) – Es ist ein offenes Geheimnis, daß in gewissen hohen Regionen ein kaum unterdrücktes Mißvergnügen über die kais. Reformideen vorherrscht abfällige Beurteilung der sozialpolitischen Ideen des Kaisers, seiner großen Friedensrundreisen, daher mag es dem Souverain wünschenswert erschienen sein, durch eine nicht mißzuverstehende Kraftäußerung jene von politischen Beklemmungen befallenen Mitglieder der hohen und höchsten Kreise daran zu erinnern, daß sie keine Ursache haben, sich schwarzen Befürchtungen hinzugeben, und daß sie sich des Unterschiedes eingedenk bleiben müssen, der stets zwischen einem Hohenzollern und einem Bourbon bestanden. – Jedenfalls beginnt sich mehr und mehr seine Scheidung zwischen dem Alten und dem Neuen zu vollziehen. Das Neue in der Person des Kaisers nimmt schon heute einen Teil des Platzes ein, den die Riesengestalt des Kanzlers bisher allein ausgefüllt.
7.3.1890 Abds.
» Hamburg. Nachr.«
Ob der greise Kanzler, trotz seiner aller Maßstäbe spottenden Verdienste und Eigenschaften hinter dem Glänze, den der junge, tatkräftige Kaiser, der Repräsentant einer neuen Zeit mit neuen Aufgaben ausstrahlt, in politischem Bewußtsein der Nation zurückzutreten beginnt, lassen wir dahingestellt. Wenn es der Fall wäre, würde es sich daraus erklären, daß der leitende Staatsmann in der letzten Zeit in so großer Zurückgezogenheit verharrt hat, daß ein politischer Einfluß kaum noch empfunden wurde. Der Abwesende ist immer im Nachteil. – Der Kaiser ist ein Mann von außerordentlicher Auffassung, großer Selbständigkeit, der als solcher den berechtigten Wunsch hegt, als Herrscher über ein so mächtiges Reich mit so großen und schwierigen Aufgaben seine Eigenschaften zur Geltung zu bringen. – Die frühere Zeit, wo der Kanzler im politischen Staatsleben alles besorgte, der Kaiser mehr zurücktrat, ist sicherlich für immer vorbei.
18.3.1890.
(Rücktritt Bismarck)
Kaiser Wilhelm II. gehört einem anderen Geschlecht an als der gealterte Kanzler, den selbst in seiner eigensten Domäne, der auswärtigen Politik, wie die Samoa-Affäre und die Wohlgemuth-Frage beweisen, jene Kraft und Sicherheit zu verlassen begonnen hatten, denen er bis dahin seine hauptsächlichsten Erfolge zu verdanken gehabt. Kaiser Wilhelm trat als ein unbeschriebenes Blatt an die Regierung und er mußte zu seinem Erstaunen und seinem Leidwesen gewahren, daß man ihm zumutete, alle die Traditionen, alle die Regierungsmethoden, alle die Rankünen mit auf sein Konto zu übernehmen, in denen der langjährige Berater seines Großvaters ergraut war. Das war es im innersten Grunde, was ein gedeihliches Zusammenarbeiten der beiden Männer auf die Dauer unmöglich machen mußte.
19.3.1890.
Dem Kaiser legt man die Äußerung in den Mund: wenn man es nur mit schlechten Elementen und vaterlandsfeindlichen Menschen zu tun hat, dann mag man sich immerhin durch Gesetze wie das Sozialistengesetz und das Septennat vor peinlichen Überraschungen sichern. Rechnet man aber auf die selbsttätige Mitwirkung des ehrlichen und guten Teils der Bevölkerung, so verlangt das Vertrauen, welches man fordert, zugleich das Vertrauen, welches man gibt. – Solche Empfindungen lassen sich mit dem Mißtrauen in die politischen Gegner, das bei Bismarck ein Regierungsinstrument geworden war, nicht vereinigen.
1.2.1890.
» Vossische Zeitung«:
Sind die Mitteilungen der »Köln. Ztg.« und des »Hamburg. Korr.« richtig, so bildet der Ministerwechsel eine Art Kompromiß zwischen dem Kaiser und dem Kanzler. Der Kaiser scheint ein Freund des vom Reichstage einstimmig angenommenen Arbeiterschutzgesetzes zu sein. Darin gibt Fürst Bismarck anscheinend nach. Der Kanzler aber dürfte, im Gegensatz zu den Ausführungen des Kaisers gegenüber den Vertretern der Grubenbesitzer im Mai v. J. ein entschiedenes Eintreten gegen die Forderungen der Bergarbeiter durchgesetzt zu haben.
1.2.1890 Abds.
» Rhein. Westf. Ztg.«
Wir erblicken gerade in der Ernennung des Frh. v. Berlepsch das untrügliche Zeichen dafür, daß die Regierung unseres Kaisers und Königs zunächst im engeren Vaterlande, das ja auch am meisten von Streiks heimgesucht worden ist, solche Maßregeln ergreifen will, welchen man recht eigentlich den Namen »arbeiterfreundliche« geben können wird.
6.2.1890.
Daß der Rücktritt des Fürsten Bismarck vom Preuß. Min. f. Handel u. Gewerbe ganz unpolitischer Natur gewesen sei, wird angesichts der Erlässe des Kaisers und Königs vom Dienstag niemand mehr zu behaupten unternehmen. Die Berufung des Herrn von Berlepsch an die Stelle des Fürsten Bismarck ist mehr als ein Personenwechsel, es ist ein vollkommener Systemwechsel, den wir nun freudig begrüßen können. – Die Erlässe zeigen an vielen Stellen eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Ansprache, welche der Kaiser am 16. 5. an die Grubenbesitzer gerichtet hat. Sie stehen aber zugleich in unverkennbarem Gegensatze zu den Anschauungen, welche Fürst Bismarck bekannt hat. – Wenn der Kaiser die internationale Verständigung über die Möglichkeit, den Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, anordnet, so verwirklicht er einen Plan, den Fürst Bismarck früher bekämpft hat. – Die Stellung, welche der Kaiser bisher zu der Arbeiterfrage genommen hat, schließt den Verdacht aus, daß es sich bei den obigen Erlässen nur um ein Schaugericht für die Wahlen handle. – Nun hat der Kaiser seinen Willen kundgetan, und hoffentlich lehrt die Zukunft, daß auch hier, wo ein fester Wille ist, auch ein Weg sich befindet.
6.2.1890 Abds.
In früheren Fällen hat Fürst Bismarck selbst königl. Entschließungen die Veröffentlichung im »Staatsanzeiger« oder nur bedingungsweise zugestimmt. – Heute können Erlässe erscheinen, welche noch vor kurzem zweifelsohne den Kanzler zum Rücktritte veranlaßt hätten.
7.2.1890 Abds.
Wir wünschen, daß einmal der Tag komme, an welchem man froh erklären könnte, der Erlaß des Kaisers an den Kanzler sei zur vollen Wirklichkeit geworden. Aber wir geben uns keiner Täuschung hin, daß darüber viel, sehr viel Wasser die Berge herabfließen wird.
» Presse« (Wien)
Es ist dies eine politische Tat ersten Ranges, welche für die soziale Frage in Europa auf lange Zeit hin epochemachend sein wird. – Das Unternehmen eines internationalen Arbeiterschutzes durch den deutschen Kaiser ist an sich eine Verbreitung des Friedensgedankens, der durch die internationale Behandlung auch zum internationalen Friedensgedanken sich erweitert.
» Pesti Naplo«
Ein glänzendes Programm hat der Kaiser sich vorgesetzt. Ob es realisierbar ist, wollen wir nicht untersuchen; allein, daß ein Monarch, dem Millionen Bajonette zur Verfügung stehen, nicht nach dem blutigen Lorbeer des Krieges strebt, sondern danach, das Los der Elenden und Beladenen zu verbessern, ist jedenfalls eine Erscheinung, welche ihm mehr zum Ruhme gereicht, als alle kriegerischen Taten.
» Neues Pester Journal«
Des Kaisers Anregung darf des vollen Beifalls aller derer gewiß sein, welche menschlich fühlen. – Er ist heute vielleicht populärer, als es der eiserne Kanzler jemals gewesen ist.
»
Moniteur universel«
und
»
Figaro«
meinen, Fürst Bismarck habe seine Rolle ausgespielt, Kaiser Wilhelm werde selbst Bismarcks Nachfolger sein, wie Ludwig XIV. Mazarins Nachfolger gewesen ist.
10.2.1890 Abds.
» Hambg. Corr.«
Zwischen den in den Erlässen vorgezeichneten Grundlinien der kais. Sozialpolitik und den bisher von der Regierung eingehaltenen Marschlinien bezüglich der Arbeiterschutzgesetzgebung ist der Gegensatz unverkennbar. Nicht im gleichen Maße ist dies hinsichtlich der Organisation der Arbeiter der Fall.
Der Gegensatz zwischen Kaiser und Kanzler in diesem Punkte ist »nicht im gleichen Maße« unverkennbar. Daß sich ihre Ansichten deckten, ist indessen auch hier wohl zu viel behauptet.
15.2.1890.
Daß die Erlässe des Kaisers eine Art Kompromiß mit dem Kanzler darstellen, wird durch die Eröffnungsrede zum Staatsrate bestätigt.
17.2.1890 Abds.
» Deutsche Revue«
Zuschrift des Kardinals Manning, Erzbischofs von Westminster:
Ich halte diesen kais. Akt für den weisesten und würdigsten, der von einem Souverän unserer Zeit ausgegangen ist. Die Lage, in der sich die Lohnarbeiter aller europäischen Staaten befinden, ist eine schwere Gefahr für jeden Staat in Europa … Das häusliche Leben wird für diese zur Unmöglichkeit gemacht (durch die lange Arbeitszeit), und doch beruht auf dem Familienleben die ganze staatliche Ordnung … Kaiser Wilhelm hat sich daher als ein wahrer und weitsichtiger Staatsmann erwiesen.
18.3.1890.
Es ist immer mißlich, neuen Wein in alte Schläuche zu füllen. Bei aller Verehrung, welche der Kaiser für den gewaltigen Staatsmann empfindet, ist er doch selbst eine zu ausgeprägte Persönlichkeit, als daß er sich dessen Führung unterzuordnen vermöchte. – Heute ist die Krisis da und – ein Zeichen der Zeit, auch ein Zeichen der Gesinnungstreue der Kanzlerpartei – nicht eine Hand hat sich gerührt, nicht eine Feder bewegt, so weit Personen und Blätter unabhängig sind, um für das Verbleiben des Fürsten Bismarck im Amte einzutreten. – Den eisernen Kanzler hatte die Sicherheit verlassen, er begann zu schwanken, während der Wille des jugendlichtatkräftigen Herrschers sich immer stärker betätigte. Das Kind einer anderen Zeit, getragen von einer anderen Weltanschauung, erfüllt von Ideen, welche den des greisen Ministers schnurstracks zuwiderliefen, trat Kaiser Wilhelm an seine Aufgabe. Seit dem ersten Tage seiner Regierung hat es keine vollständige Einheit in der Staatsleitung mehr gegeben. Und wie wäre sie möglich gewesen? Dort der Kanzler, der in vormärzlicher Zeit wurzelt, in dem System Metternichs aufgewachsen ist, hier der Kaiser, der den Geist der Tage seit dem erhebenden Kriegsjahre in sich aufgenommen! Dort die bedachte Vorsicht, die Anhänglichkeit an die Überlieferung, hier der kühne Wagemut und neben dem Selbstvertrauen das Vertrauen zu anderen! Dort die Erinnerung an persönliche Gegnerschaften, hier die frische Vorurteilslosigkeit gegen alle Parteien! Die Friktionen blieben nicht aus und Fürst Bismarck hat oft gesiegt; aber er hat Pyrrhussiege erfochten und sieht sich heute mattgesetzt.
19.3.1890.
» Köln. Ztg.«
Fürst Bismarck hatte sich seelisch in die unumschränkte Machtfülle einer allgewaltigen Stellung eingelebt. Jetzt stand ein Kaiser von männlich kräftiger Entschlußkraft neben ihm, ein Monarch, der selbst regieren wollte. – Fürst Bismarck kam oft in die Lage, daß er zügeln zu müssen glaubte, wo der Kaiser mächtig vorwärts drängte.
19.3.1890 Abds.
» Soleil«
Die Schildwache des europäischen Friedens ist abgelöst, der deutsche Kaiser leitet jetzt die Regierung selbst. Von jetzt an hört er auf, unter Bismarcks Vormundschaft zu stehen. Seine Regierung aber ist das Unbekannte.
» Justice«
Niemand kann wissen, was der junge Kaiser tun wird, der sich augenblicklich dem christlichen Sozialismus hingibt.
» Fremdenblatt« (Wien)
Kaiser Wilhelm wird so wenig wie seine Vorgänger von dem strengen Einhalten der friedliebenden Richtung abweichen und an den Bündnissen festhalten, welche zum Nutzen der drei Reiche geschlossen worden. – Die hohe Einsicht und das Pflichtgefühl des Kaisers Wilhelm vermehren die Bürgschaften der Friedenspolitik. Was vor allem mit Vertrauen erfüllt, ist die Begabung, Charakterstärke und rastlose Tatkraft des Kaisers, die Vaterlandsliebe der deutschen Fürsten, die Opferwilligkeit der Nation und der große Zug, der in ihr zu herrschen beginnt.
21.3.1890 Abds.
Der deutsche Kaiser hat in den Erlässen an den gewaltigen Mann, der ein Menschenalter hindurch die Zügel des Staatswagens in kraftvoller Hand geführt hat, den Empfindungen Ausdruck gegeben, welche nicht nur ihn, sondern die weit überwiegende Mehrheit der Deutschen beseelen. Ohne Groll, ohne Bitterkeit ist die Trennung erfolgt. Der Dank des Vaterlandes wird dem Fürsten Bismarck niemals fehlen; aber man wird sich auch der Erkenntnis nicht verschließen, daß in der inneren Politik des deutschen Reichs ein durchgreifender Wandel seit langer Zeit notwendig und endlich unvermeidlich war.
24.3.1890 Abds.
Man erinnert sich, daß schon ehe Fürst Bismarck sein Gesuch um Entlassung eingereicht hatte, von den Offiziösen Alarmsignale in der Presse ertönten, in der klaren Absicht, den Kaiser zur Ablehnung des Gesuches zu bewegen. Nachdem die Entscheidung den Erwartungen nicht entsprochen hat, wird jetzt die Verantwortung dafür in ihrer ganzen Schwere dem Monarchen zugeschoben. Jeder Schein, als wenn Fürst Bismarck irgendeinen Teil an dieser Verantwortung trage, wird demonstrativ beseitigt.
» Nordd. allg. Ztg.«
Unvollkommen unterrichtet zeigt sich der »Hambg. Korr.«, wenn er behauptet, daß es an Versuchen, den Fürsten zur Weiterführung der auswärtigen Politik zu bewegen, nicht gefehlt hat. Im preuß. Staatsministerium mögen Versuche dieser Art allerdings stattgefunden haben; aber persönliche Schritte des Kaisers oder einflußreicher Bundesfürsten sind nicht erfolgt.
» Hambg. Nachr.«
Im allgemeinen wird man nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß das Programm der Zukunft in einer Verschmelzung einer Kabinettsregierung im Sinne Friedrichs des Großen mit dem Parlamentarismus zu erblicken ist, daß der Kaiser in der Hauptsache alles selbst bestimmen und in den Ministern nur Vollstrecker seines Willens sehen will.
» Times«
Alle Zwischenfälle sind Varianten einer und derselben Erklärung: der Kaiser hat beschlossen, sein eigener Kanzler zu sein. Er und sein neuer Kanzler haben ein Blatt unbeschriebenes Papier vor sich liegen, um darauf Geschichte zu schreiben. Die Welt erwartet spannungsvoll, welche Art von Geschichte es sein wird.
25.3.1890.
Der Kaiser wird nicht sein eigener Kanzler sein. Er ist nicht imstande, überall zwischen dem natürlichen Partikularismus der einzelnen Verwaltungen zu vermitteln. Er bedarf eines leitenden Staatsmannes, der dieses Geschäft selbst übernimmt. Der Kaiser kann nicht bis zu dem Grade die Staatsgeschäfte führen oder überwachen, um alle Reibungen auszugleichen, er müßte sich denn so sehr in alle Einzelheiten der verschiedenen Ressorts vertiefen, daß seine noch so rüstige Kraft bald erlahmen müsste. – Geffcken sagt: die Unverantwortlichkeit des Staatsoberhauptes ist nur dann vorhanden, wenn sie gedeckt wird durch die Verantwortlichkeit der Minister. – Gleichwohl liegt in dem Satz, daß der Kaiser sein eigener Kanzler sein wolle, ein Körnchen Wahrheit. Das parlamentarische System wird wahrscheinlich nicht eingeführt. Aber das System der auch über die Krone ausgedehnten ministeriellen Alleinherrschaft, welches unter Verleugnung der englischen Voraussetzungen für die Stellung des Premiers diese Stellung beanspruchte, wird gebrochen – Fürst Bismarck sägte den Ast ab, auf dem er saß, indem er der Krone die Freiheit verschränken wollte. – Fortan wird, was Fürst Bismarck als notwendig bezeichnete, ohne daß es vorhanden war, durchgeführt: der Kaiser wird, wenn auch nicht regieren, so doch herrschen.
27.3.1890 Abds.
Wenn der Kanzlerwechsel etwas geändert hat, so ist es die Stelle, auf die sich Ansehen und Verdienst der Friedenspolitik in den Augen der öffentlichen Meinung bildete, von jetzt ab will und wird es der deutsche Kaiser selbst sein. – Der feste Entschluß des Kaisers, an der bisherigen Friedenspolitik festzuhalten, vermag den Verlust um so eher aufzuwiegen, als der Friedensbau heute nicht erst gezimmert zu werden braucht, sondern in festem, solidem Gefüge aller Welt vor Augen steht.
6.2.1890 Abds.
»Neue preußische (Kreuz-) Zeitung«:
(Erlässe des Kaisers)
Wir haben Ausdruck zu geben unserem innigsten und freudigsten Dank für S. M. unseren Kaiser und König, der von neuem seinem Volke, ja der ganzen Welt bewiesen hat, mit welch umfassendem Blicke und mit welch hingebender Fürsorge er an die Lösung der großen, unsere Zeit beherrschenden Aufgaben herantritt. – Zweck und Ziel der kais. Wünsche sind so klar, daß jedes weitere Wort ihre Bedeutung nur verschleiern würde.
9.2.1890.
Mit größerem Recht, als irgendeine andere Partei, dürfen wir Konservative, die wir zugleich christlich und sozial sein wollen, behaupten, daß der Inhalt der Erlässe sich mit unseren langjährigen Bestrebungen vollständig deckt.
15.3.1890.
Mit Staunen und Bewunderung, zum Teil auch mit Neid bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß Deutschland in der Person seines Kaisers die Führung auf einem Wege übernommen hat, der, wenn mit Stetigkeit verfolgt, wohl geeignet ist, die Entwicklung der Völker in ganz neue, friedliche Bahnen hinüberzuführen.
19.3.1890.
Unser Kaiser und Herr hat von jeher keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um laut zu bezeugen, wie hoch er die unvergänglichen Verdienste des Reichskanzlers schätze, mit welcher Wärme er ihm persönlich sich verbunden fühle. Wenn er nun doch sich von ihm getrennt hat, so konnten die Gründe, welche zu diesem Entschlüsse geführt haben und – wir sagen es offen – führen mußten, schon seit geraumer Zeit dem unbefangenen Beobachter nicht verborgen sein. – Wie aber die wohl früher in Deutschland sich äußernde Sorge, wie es werden solle, wenn der Kanzler, der Mitbegründer des Deutschen Reichs, einmal nicht mehr sei, der festen Zuversicht gewichen ist, daß unser junger Kaiser und Herr mit weitem Blick, klarem Verstand und starker Hand das Ererbte auch erworben hat, um es sicher zu besitzen, so weiß das Ausland, daß Deutschlands Fürsten und Stämme in unerschütterlicher Treue zum Reiche stehen, dessen Kaiser zwar dem versöhnenden Friedenswerk sein Sinnen und Trachten gewidmet hat, aber auch das scharf und schneidig gehaltene Schwert zu führen geschickt ist. In freudigem Aufblick zu unserem Kaiser, dem Gottes Gnade und Beistand nie bei seinem Werke fehlen möge, wird Deutschland der Zukunft, mag sie auch innere und äußere Stürme in ihrem Schöße bergen, ruhig und hoffnungsvoll entgegenblicken können.
30.3.1890.
» Deutsches Tagebl.«
Bietet auch Kaiser Wilhelm II. selbst die denkbar besten Bürgschaften dafür, daß die Geschicke des deutschen Vaterlandes weiter in demselben Geiste geleitet werden, so würde sich der Eindruck und das Gefühl in den deutschen Herzen nicht verwischen lassen, daß dem ersten großen Staatsmann Deutschlands ein Unrecht zugefügt wurde, wie es unverdienter nicht gedacht werden könnte. Denn den Gedanken, daß Fürst Bismarck freiwillig seine Ämter niederlegen könnte, hält man für absolut ausgeschlossen. Machtlüsterne Männer konnten vielleicht versucht haben, den Kaiser darüber zu täuschen, welch eine schwere Belastung des nationalen Bewußtseins darin liegen würde, auf den Beistand und Rat eines politischen Weisen, wie es Fürst Bismarck ist, früher zu verzichten, als es der Ratschluß Gottes gebietet. Für ganz unglaublich aber und durchaus unmöglich halten wir es, daß Kaiser Wilhelm II. auch nur einen Augenblick einem solchen Ratschlag Raum geben könnte. Er wird schon heute darüber mit sich einig sein, daß es nur eine Lösung der Krisis gibt, welche die Nation zu beruhigen vermag, nämlich daß er das Wort seines Großvaters auf das Entlassungsgesuch Bismarcks erneuert, das eine Wort: niemals.
» Neue freie Presse« (Wien)
Fürst Bismarck zieht sich zurück, junge Hände greifen nach dem Ruder des Staates, eine weite Lücke öffnet sich und vergebens sieht man sich nach Männern um, welche sie ausfüllen sollen.
20.3.1890 Abds.
» Grashdanin«
Der Rücktritt des Fürsten Bismarck ist ein Schauspiel, das für Deutschland ein Drama werden kann. Ist schon das Spiel mit den Sozialisten eine Gefahr, so birgt die Trennung vom Fürsten eine noch viel größere Gefahr für den Kaiser in sich. Es spielt sich ein interessanter persönlicher Kampf ab zwischen dem jungen, unerfahrenen, geschäftsunkundigen jedoch von heißen Wünschen, Anschlägen und Träumen erfüllten Monarchen und dem erfahrenen, mit allen Formen menschlicher Intriguen vertrauten, an Erinnerung und wohlverstandenen Lehren reichen Greis. Der Kaiser will Bismarck der Macht entkleiden, um sich von dessen Kuratel zu befreien, denn er ist ungeduldigen Charakters und vermag nicht das natürliche Ende des großen Begründers des deutschen Kolosses abzuwarten. Doch ebensowenig, als ein kais. Befehl jemanden zu einem Bismarck zu machen vermag, kann durch einen Federstrich einem Bismarck befohlen werden, nicht mehr zu sein. Es gibt wohl nur wenige Deutsche, bei denen der Fürst und Deutschland nicht identisch sind. Es kann sich daher ereignen, daß der Kaiser mit den Sozialisten isoliert bleibt, während sich Bismarck mit dem für ihn eintretenden Deutschland in den Schatten stellt. Dann wird der junge David dem alten Goliath sagen: da, nimm die Sozialisten und gib mir Deutschland wieder.
23.3.1890.
Der Rücktritt Bismarcks vom Amte, obwohl er die Gemüter in aller Welt aufs tiefste bewegt, hat sich sachlich genommen so ruhig und ungestört vollzogen, als ob es sich um einen gewöhnlichen Ministerwechsel handelte. – Zu dem Kaiser und seinem ersten neuen Ratgeber hat das deutsche Volk feste das Vertrauen, daß das Können dem Wollen entsprechen werde; ruhig und getrost sieht es darum der Zukunft entgegen; unter viel glücklicheren Bedingungen hat sich der Umschwung vollzogen, als man vielfach geglaubt. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
7.2.1890.
»
Berliner Volksblatt« (später »Vorwärts«):
(Erlässe des Kaisers.)
Die Frontveränderung in der Sozialpolitik des Reichs ist eine Niederlage des Reichskanzlers. Diese Niederlage des Kanzlers ist aber ein Sieg der Sozialdemokratie. Die Weisungen, die der Kaiser in seinen Erlässen erteilt, beziehen sich sämtlich auf alte, vor Jahren erhobene sozialdemokratische Forderungen. Daraus folgt, daß die Arbeiter bei den bevorstehenden Wahlen möglichst viel sozialdemokratisch wählen müssen, soll die nunmehr zu inaugurierende Arbeiterschutzgesetzgebung wirklich ihren Bedürfnissen und Interessen entsprechen.
21.3.1890.
(Sturz Bismarck.)
Wir waren und sind Gegner des Reichskanzlers aus Prinzip und haben unter seiner Politik schwer gelitten, allein wir zählen uns zu den anständigen Politikern und stimmen unserer Reputation halber nicht ein in den Chorus der gewerbsmäßigen Lobhudler und Tadler.
(Über den Kaiser wird nichts gesagt.)