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Alles im »Auswärtigen Amte« in der Berliner Wilhelmstraße war abgestimmt auf Fürst Bismarcks Wesen, Willen und unanfechtbare Entscheidung. Er hatte den Bau des Reichs gezimmert. Die Staatsmänner Europas waren einst auf dem Berliner Kongresse um ihn versammelt. Nie hatte es Ähnliches in Preußen gegeben. Jeder spürte das Gewicht seiner Stimme im Meinungsaustausch der Mächte. Jeder wußte, daß der alte Kaiser, auch wenn er mit seinem Selbstgefühl hatte kämpfen müssen, die Überlegenheit des Kanzlers zuletzt doch stets anerkannt und Kaiser Friedrich ihr nie widersprochen hatte. Seit zwei Jahrzehnten war jeder im »Auswärtigen Amte« gewohnt, dem Fürsten Bismarck zu dienen als unbedingtem, oberstem Herrn.
Streng war die Zucht, das ganze Amt eine einzige rastlos arbeitende Einheit, deren Hierarchie für den Kanzler nicht bestand. Vom Vortragenden Rat bis zum Legationssekretär, vom Attaché bis zum letzten Diener hatte der große Apparat seine Arbeit nicht nur ohne jede Unterbrechung zu leisten. Er hatte mit jedem einzelnen Mitarbeiter auch zu jeder Stunde, ob Tag oder Nacht, zur Verfügung zu stehen. Niemand durfte das Haus verlassen, ohne anzugeben, wohin er ging. Die Sicherheit war da, daß Referenten und Räte von jedem Gesellschaftsabend, aus jedem Theater in wenigen Minuten zurückgeholt werden konnten. Für niemand galt die Ausrede, daß persönliche Dinge ihn unauffindbar gemacht hätten. Der Kanzler erweckte und erhielt in allen das Gefühl, daß sie »zu jeder Stunde im Feuer wären«. Angelegenheiten, die eilig waren, liefen in wenigen Stunden durch das ganze Haus. Angelegenheiten, die selbst über einen Tag und eine Nacht nicht erledigt waren, gab es nicht. Eilige Materien – sie hießen »Cito-Sachen« – liefen in roten Mappen. Aber es war schon eine Gewohnheit seit Jahren, daß alle Fragen »cito« behandelt wurden, gleichgültig ob sie in den roten Mappen oder zwischen den weniger schreienden grauen Deckeln herumgetragen wurden. Niemand hatte das Gefühl, daß er bureaukratische Arbeit tat. Das ganze Haus wußte, glaubte oder bildete sich ein, daß es Weltgeschichte machte.
Der Kanzler selbst war fast unsichtbar. Er hatte die ganze Tastatur seines Apparats im Handgriff, aber die einzelnen Hebel und Knöpfe drückte er selten. Einem der letzten der ihm zugeteilten Räte – dies waren Rottenburg, der Chef der Reichskanzlei, Graf Rantzau und Bauer – pflegte er bis abends zu diktieren. Er kam nicht ins Amt. Alles wurde in seine Wohnung, ins Reichskanzlerpalais geschickt. Abends wanderten die roten Mappen zu ihm, am nächsten Morgen waren sie im »Auswärtigen Amt« zurück. Mit den einzelnen Abteilungen verkehrte er nicht selbst. Der Staatssekretär Graf Herbert Bismarck stellte die Verbindung her. So schuf der Kanzler zwischen sich und seinen Beamten den Abstand. Bisweilen arbeitete er an besonders schwierigem Konzept, dessen Form ihm nicht genau genug abgewogen war, persönlich mit den Stilisten. Sie umstanden dann seinen Tisch durch viele Stunden. Sie wußten, daß das Konzept zur Reinschrift weitergegeben werden konnte, wenn der Kanzler seine Paraphe auf das Schriftstück gesetzt hatte: »B«. Es kam selten vor, daß solch ein paraphierter Akt trotzdem, auf nachträgliche Anweisung des Fürsten hin, das Amt nicht verlassen sollte. Er wurde mit dem Vermerk »cessat« wieder zurückgelegt. Musterhaft war die Ordnung in den Akten, auf deren Vorlegung zu warten der Kanzler wenig Geduld hatte. Genau wurde der Eingang, ebenso der Ausgang jedes Schriftstückes vermerkt. Dennoch kam es vor, daß ein Kanzlerkonzept die Paraphe des Kanzlers trug, also abgesandt werden sollte, daß es keinen Vermerk des Fürsten aufwies, das Schriftstück nachträglich wieder zurückzustellen und daß der Akt – ohne daß die Räte eine Erklärung dafür hätten geben können – den Adressaten gleichwohl nie erreichte. Es war zweifellos, daß der Fürst bestimmte Absicht mit solcher Handhabung verband, daß er selbst sie vorbedacht lenkte und autokratisch durchführte, ohne daß er irgendwen in sein Vertrauen zog. Große, wichtige, geheime Staatsdinge erledigte er so, daß sie über seinen Sohn nicht hinausdrangen. Auf Botschafterberichte, die aus allen Hauptstädten der Welt kamen, schrieb Bismarck eigenmächtig, wenn er es für gut befand, den Befehlsvermerk:
»Dem Kaiser nicht vorlegen« – –
»Nicht für den Kaiser« – –
»Für den Kaiser umarbeiten« – –
Die stilisierenden Räte und die Sekretäre, die für die Reinschrift sorgten, die Archivare, die den Botschafterbericht später in die Schränke bargen, sie alle, durch deren Hände das Dokument lief, lernten aus vier Worten, wer der Herr in dem Hause war, in dem sie dienten. Wer Deutschlands Schicksal bestimmte. Wer allein Kenntnis von allem hatte, das in Europa vorging. Wer ihr eigenes Emporkommen oder ihr Untertauchen unter die Karrierelosen verfügte. Wer angab, was sie sagen durften, worüber sie zu schweigen hatten. Daß Fürst Bismarck selbst dem alten Kaiser in aller Strenge verboten hatte, auch nur ein Wort über den Rückversicherungsvertrag mit Rußland dem Kaiser Franz Joseph zu sagen, wußten sie nicht. Aber daß Kaiser Wilhelm II. im »Auswärtigen Amt« nichts zu sagen und nichts zu befehlen hatte, dies lasen und erkannten sie.
Ihre Vorträge im Amte nahm der Staatssekretär entgegen. Graf Herbert frühstückte täglich mit dem Kanzler, nahm Anfragen, für die auch die rote Mappe zu langsam war, mit hinüber in das Kanzlerpalais und brachte Bismarcks Antwort schon am Nachmittage wieder. Gegen sie gab es keinen Einspruch. Ein anderer Willen, als der des Kanzlers galt als undenkbar in Fürst Bismarcks Regiment. Alles schien Ordnung, alles schien Klarheit in den hochpolitischen Dingen des Auswärtigen Amtes, wenn nicht der Fürst selbst ihnen undurchdringliches Dunkel und strengste Abgeschlossenheit vorschrieb. Dennoch täuschte er sich über wichtige Einzelheiten seines Apparates. Unterströmungen, die auf ihn einwirkten, spürte er nicht oder verkannte sie. Vom Staatssekretär abwärts sah er nur Geheimräte »mit abstehende Rockschößen«, die stürzten, wenn der Kanzler rief. Er wußte, daß er des Apparates ausschließlicher Gebieter war. Aber nicht, daß der Vortragende Rat Fritz von Holstein den Apparat selbst so fest in seine Hände zu nehmen begann, daß es im kritischen Augenblick sogar dem Fürsten Bismarck gegenüber zweifelhaft werden konnte, wer ihn in Wahrheit beherrschte und mit verläßlicher Sicherheit spielen ließ.
Der Reichskanzler hatte vor Jahren Baron Holsteins Laufbahn eingeleitet und geebnet. Ohne das Wesen des Freiherrn ganz zu durchschauen, nannte er ihn doch immer in unbestimmter Witterung »den Mann mit den Hyänenaugen«:
»In zweiter und dritter Stelle äußerst nützlich, aber gefährlich an entscheidender Stelle« – –
Freilich vergaß Fürst Bismarck, hinzuzufügen, daß er selbst nicht ohne Anteil an Baron Holsteins innerer Entwicklung war und daß er selbst, da er ihm die Wege zu glänzender Zukunft eröffnet hatte, seine Karriere zu gleicher Zeit zerbrach. Er hatte den jungen Legationssekretär mit nach Versailles genommen. Er hatte ihn noch während des Krieges dem Generalgouvernement in Frankreich zugeteilt. Immer mehr zog er ihn seither in seinen vertraulichen Kreis und zu vertraulichen Aufgaben heran. Als der Kanzler in der Mitte der siebziger Jahre daran dachte, den Grafen Harry Arnim zu beseitigen, der als erster deutscher Nachkriegsbotschafter in Paris Bismarcks französische Politik zu durchkreuzen wagte, wurde dem Freiherrn die besondere Mission der Vorbereitung übertragen. Kaiser Wilhelm I., vielen Angehörigen der weitverzweigten Familie der Grafen von Arnim wohlgeneigt, weigerte sich in dankbarer Erinnerung mancher Dienste, die dem Lande schon Vorfahren des Hauses geleistet hatten, gegen die Abberufung des Botschafters. Er wollte Sicherheiten dafür, unwiderlegbare und schriftliche, daß der Graf von Arnim gegen des Kanzlers Aufträge monarchische Kreise in Frankreich begünstigte, daß er mit ihnen in enger Verbindung war und das Bestehen der neuen Republik, statt sie nach den Wünschen des Kanzlers zu festigen, wo er konnte, immer kräftiger untergraben half.
»Bringen Sie mir Beweise« – –
Der Fürst ließ Baron Holstein kommen. Er erwählte ihn, die Beweise für den Kaiser zu erbringen. Der Legationssekretär sollte der deutschen Botschaft in Paris zugeteilt werden und sich dort über Graf Arnims Verbindungen und Tätigkeit unterrichten. Baron Holstein verkannte die Eigenart der Sendung nicht:
»Durchlaucht, das riecht nach Spionage« – –
Wenn der Legationssekretär so wollte, konnte man die heikle Aufgabe auch so nennen. Aber Fürst Bismarck setzte dem Zögernden auseinander, daß sie, wie jede andere Sache auch, zwei Seiten habe. Vielleicht war es gar nicht wahr, daß der Botschafter in Frankreich unerlaubte Eigenpolitik trieb. Bisher hatte der Fürst eben nur ungenaue Andeutungen dafür, mehr das Gefühl als die Gewißheit. Es handelte sich also auch darum, die Gegenbeweise der zu ihm gedrungenen Gerüchte zu beschaffen. Sie würden dann nur für den Botschafter sprechen. Der Baron stand vor dem mächtigen Fürsten Bismarck, in dessen Hand auch seine Zukunft lag. Ohne Zweifel leistete er dem Kanzler wichtigen Dienst. Überdies zerstreute der Fürst selbst seine Bedenken. Baron Holstein fuhr nach Paris.
Im Hause der deutschen Botschaft wurde er dort das unbehagliche Empfinden nicht los, daß trotz der Auffassung des Kanzlers und trotz der Beruhigungsversuche des Fürsten irgend etwas an seiner Arbeit nicht ganz einwandfrei war. Er zog es vor, sich im Palais der Botschaft, der er zugeteilt war, überhaupt nicht sehen zu lassen. Er arbeitete zu Hause. Die Akten, deren er bedurfte, ließ er sich bringen. Die Nachweise für Fürst Bismarcks Verdacht beschaffte er. Mit seinen Berichten schickte er Abschriften an den Kanzler nach Berlin, die den Grafen von Arnim belasteten und zugleich verrieten. Der Botschafter wurde abberufen und nach Konstantinopel versetzt. Baron Holstein kehrte nach Berlin zurück.
Er hatte für seine Arbeit und Leistung die Anerkennung des Kanzlers. Aber von dem Tage seiner Rückkehr an grüßte ihn kein Bekannter mehr, wenn er seinen Klub betrat. Jeder sah nur mehr den Spion: niemand reichte ihm die Hand. In den Adelsklub kam der Baron dreimal, viermal wieder, – es blieb dabei: die vielen Grafen von Arnim, ihre Vettern und Freunde waren mächtiger, als selbst Bismarcks wohlwollende Förderung seines Schützlings. Dem Spion wich man nicht nur aus, man drängte ihn schweigsam aus dem Klub. Er wußte, daß er sich schießen mußte, wenn er Rechenschaft von einem Beleidiger forderte. Nicht einmal, zweimal, dreimal schießen: der ganze Klub hielt seine Pistolen bereit. Dem Baron war Feigheit nicht nachzusagen. Er hatte in Washington ein Duell mit schweren Bedingungen um einer Dame willen ruhig ausgetragen. Galante Neigungen, rasche »Attachen« ohne Rücksicht auf Schwierigkeiten oder Nebenbuhler, brachten ihn leicht in Liebesgefahren, die er nicht scheute. Aber hier war es nicht einmal nur der ganze Klub, der gegen einen Verräter aufstand: jede Gesellschaft drohte mit der Wiederholung von Skandal und Ächtung. Plötzlich sah er: im Auswärtigen Amt ging sein Weg vielleicht nach oben, – alle anderen Wege waren ihm versperrt.
Er liebte die Frauen. Er vergaß die Umwelt und fast den Anstand, wenn er in erotischen Bannkreis kam. Er war ein Lebemann geworden in der Mitte der Fünfzig, der viel auf Gepflegtheit, auf seinen sorgsam gestutzten Vollbart und auf seinen blanken Zylinder hielt. Mit allen Persönlichkeiten Europas war er in Berührung gekommen, alle kannte er, ihre Eigenarten, ihre Schwächen. Er schilderte sie mit schneller, boshaft belustigter Zunge. Alles, was er vorbrachte, hatte Geist, stets erzählte er fließend und gut. Von vielfachen Genüssen verwöhnt, wählte er den Augenblick der Genüsse als Kenner. Er liebte die »primeurs«, im Monate April die ersten Erdbeeren oder die ersten Spargel. Alles an ihm war geschaffen, das Leben auszukosten. Aber jetzt war es so, daß das Leben ihn aus glänzendem Salon in den Vorraum hinausgeschleudert hatte. Er ging nicht mehr in den Klub. Er ging in keine Gesellschaft mehr. Er fand es überflüssig, daß der Schneider ihm einen Frack machte. Er zog sich völlig zurück. Er nahm eine einfache Wohnung. Bei sich empfing er niemand. Er hatte keinen Diener. Dem Lebemann und Genießer besorgte eine alte Frau die Wirtschaft. Zweierlei Trost hielt ihn: Fürst Bismarck und die Arbeit im Auswärtigen Amt.
Er wurde Vortragender Rat und war längst ein Sonderling. In aller Welt war er bisher umhergereist, seit seiner Ächtung ging er, wenn er Erholung nötig hatte, nur mehr ins Gebirge. Der Herr im dunklen Anzug verwandelte sich dort in einen Pilger. Er trieb sich, halb verschollen, zwischen Wäldern und Bergdörfern herum. Aber in seinem Arbeitszimmer im Auswärtigen Amte erstand ihm eine neue Welt. Durch die Hände des Vortragenden Rates lief jedes Schriftstück und jedes Dokument: Botschafterakten, Konsularberichte, Personalbogen und Ministeranfragen. Er kam zu früher Morgenstunde, alle Sendungen von Post und Kurieren wurden von ihm eröffnet, gelesen, geordnet, zur Weitergabe bereitgemacht oder für sein Privatschubfach zurechtgelegt. Er war völlig über jede Materie, über jede Frage unterrichtet, wenn die Mitarbeiter im Amte – Stunden nach ihm – das Haus erst betraten. Niemand konnte an Arbeitskraft mit ihm wetteifern. Wenn die Korridore und Zimmerfluchten des Amtes in tiefstem Dunkel wieder ausgestorben lagen, saß der Baron noch immer an seinem Arbeitstisch. Als letzter – nachts zu irgendeiner Zeit: niemals vor elf Uhr – ging endlich auch er.
Allmählich gewöhnte er sich an, auf irgendein Schriftstück, das er der Vorlegung nicht für wert hielt, unmittelbar zu antworten. Allmählich wurde der persönliche Verkehr durch Briefe, Depeschen und mündliche Aufträge groß und zu allumspannender Aufsicht. Wenn der Kanzler nicht duldete, daß ein Vortrag im Auswärtigen Amte jemand anderem gehalten wurde als dem Staatssekretär, so duldete Baron Holstein nicht, daß jemand den Staatssekretär aufsuchte, ohne daß er zuvor bei ihm sich gemeldet hatte. Seine Liebenswürdigkeit, die natürlich wirkte, all seinen sprühenden Geist hatte er in die ihm einzig verbliebene Welt des Arbeitszimmers mitgenommen. Hier war er nicht der Pilger aus den Bergen, vielmehr der Mann von Welt, der er immer zu bleiben erträumt hatte. Fürst Bismarcks Haus war das einzige, das ihm noch offen stand. Der Kanzler zog ihn nach dem Pariser Zwischenfall und seinen Folgen noch näher an sich und glaubte vielleicht halb schuldbewußt, ihm die Genugtuung häuslichen Verkehrs bei sich gewähren zu müssen. Aber die Folgen des Zwischenfalls löschte er in dem Baron damit nicht aus. In jedem Auftrag witterte er Gefahren, in jedem Vorschlag sah er Fallen. Da alle Welt ihm feind war, wollte er gegen alle in Zukunft auf der Hut sein. Ihn selbst hatte die Gesellschaft geächtet, weil er Unkorrektes begangen hatte. Aber niemand wußte besser als er, der dieser Gesellschaft angehört hatte, daß es nur wenige in ihr gab, denen nicht gleichfalls irgendeine Unkorrektheit anhing. Man beachtete sie nur nicht. Oder verbarg sie mit großem Geschick. Der Baron im weltabgeschiedenen Arbeitszimmer, darin so viele Fäden aus aller Welt zusammenliefen, begann ein Register anzulegen. Von jedem wußte er längst etwas, von jedem ließ sich mit der Zeit etwas erfahren. Er hatte endlich ein Register für Homosexuelle. Ein Verzeichnis für Ehebruch. Ein Konto der Verschuldeten, der Spieler, der Trinker, der Sadisten, der Bankerotteure. Er konnte, wen er wollte, mit einem einzigen, unerwarteten Schlage hinstrecken. Er vermochte seine Rache zu kühlen, wenn einer ihn verletzt hatte. Er konnte einen andern aus dem Wege schaffen, wenn er seinen Wunsch und Willen nicht bedingungslos ausführte. Mit der Zeit spielte er auf seinem Register, aus seinem Register als ein Meister.
Verletzt sah er sich täglich und im Amtsverkehr nach Ablauf bestimmter Zeit durch jedermann. Wenn er nicht in seinem Arbeitszimmer, nicht in der Wohnung mit der Wirtschafterin saß, frühstückte er stets in dem gleichen, von den Gourmets der Zeit bevorzugten, stadtbekannten Restaurant. Auch dort traf man ihn nur in abgedichtetem Zimmer allein oder mit jenem Mitarbeiter, dem er seine Gunst gerade zugewandt hatte. Ein Lächeln, das der Baron in bestimmtem Augenblick nicht erwartet hatte, das vielleicht nur er sah, ohne daß das Lächeln in Wirklichkeit dagewesen war, ein Wort oder eine Geste, die ihm mißfiel, zerschnitt die Gunst. Er wechselte die Bevorzugten zu Zeiten, da sie von einer Wendung oder Änderung in seinem Inneren noch nichts ahnen konnten. An Absonderlichkeiten waren alle, die mit dem Baron zu tun hatten, längst gewöhnt. Von dem Botschafter Radolin wußte er, daß er das Vertrauen des alten Kaisers und Kaiser Friedrichs besaß, daß zugleich aber der junge Prinz Wilhelm ihn häufig traf. Fürst Radolin war ein Staatsmann von Gewicht, mächtig an Verbindungen, gefährlich durch seine Stellung bei Hofe. Über vieles wollte Baron Holstein sich mit ihm aussprechen. Überflüssig war, daß irgendwer davon erfuhr. Mit dem Botschafter des Deutschen Reiches verabredete er vertraulich eine Zusammenkunft um Mitternacht auf dem Berliner Zietenplatz. Er litt an Verfolgungswahn. Vielleicht war er irrsinnig.
Jedenfalls war er es dann in tadellosen, gespenstisch nur leicht angewehten Formen. Er konnte an einem Abend in Fürst Bismarcks Hause eine Dame der Gesellschaft so umwerben, daß er sie fast kompromittierte, bis die Fürstin lächelnd einschritt. Er traf die Umworbene am nächsten Morgen, hatte alle Geständnisse vergessen, behielt den Hut auf dem Kopfe und schritt wortlos vorbei. Vor seinem Arbeitszimmer standen zwei Diener im Frack, die den Zugang hüteten. Die Bevorzugten des Barons hatten von ihm »le droit de la porte«, wie er die Freiheit des Kommens zu jeder Zeit ohne Anmeldung nannte. Immer gab es drei oder vier Mitarbeiter im Auswärtigen Amte, denen er diese Auszeichnung gewährte. Namentlich junge, begabte Diplomaten und Sekretäre holte er plötzlich aus ihren Arbeitsverstecken hervor. Er tat viel für sie. Mittellose unterstützte er heimlich. Er hatte als Sohn eines mäßig begüterten Offiziers ein kleines Vermögen. Nach und nach gab er es im Wohltun aus. Aber er sprach nicht davon. Von Zeit zu Zeit versuchte er, wenn die verschenkten Beträge bedenkliche Verwirrung in seine Geldbestände brachten, durch kleine Börsenspekulationen die Verminderung auszugleichen. Die Hoffnung war gering, denn nie gestattete er seinem Bankier, ihn mit mehr als zehn Aktien festzulegen. Seinem Register für dunkle Punkte an der ihn umgebenden Menschheit entsprach sein Verzeichnis für besonders Begabte. Es konnte sein, daß er einem völlig unvorbereiteten, ahnungslosen jungen Diplomaten die Anfrage in den Urlaub telegraphierte, ob er als Gesandter nach Kopenhagen oder nach dem Haag gehen wollte. Der Überraschte dachte an einen schlechten Scherz seiner Kameraden, er kannte Baron Holstein gar nicht oder hatte nie mit ihm gesprochen. Der Vortragende Rat hatte einmal einen Bericht des Diplomaten gelesen, Ansätze waren ihm aufgefallen: den Berichterstatter, den er vorgemerkt hatte, holte er eines Tages ohne Ansage hervor. Er wurde sein neuer Vertrauter. Ehe er sich auf seinen unerwarteten Posten begab, vermittelte ihm der Baron »die fünf goldenen Regeln der Diplomatie«. Vor allem die wichtigste sollte er nie vergessen:
»Alles, was Dummes geschehen ist, auf sich nehmen.
Alles, was geschickt und erfolgreich ausgeht, dem Auswärtigen Amte zuschieben.«
Der über Nacht Emporgehobene saß noch nicht ganz richtig auf seinem neuen Platze, als Baron Holstein ihn auch schon wieder zurückholte. Offenbar konnte er ihn nicht entbehren. Sie arbeiteten nunmehr Tür an Tür. Natürlich hatte auch der Günstling »le droit de la porte«. Der Baron ließ ihn seine geheimsten Pläne, seine ganze diplomatische Technik und alle seine Rezepte wissen. Sein ganzes Unglück schüttete er vor ihm aus: Bismarcks Drängen – die ganze Peinlichkeit mit dem Grafen Arnim – die Ächtung – alles. Eines Tages stürzten die zwei befrackten Diener vor der Türe des Barons auf ihn zu.
»Der Herr Baron empfangen heute nicht« – –
»Ach so,« erwiderte der trotz seines Rechts auf die offene Tür Zurückgehaltene, »wahrscheinlich diktiert er« – –
»Vielleicht« … erklärten die Diener. »Vielleicht diktiert der Herr Baron auch.«
Später kam der Bevorzugte und Vertraute wieder.
»Der Herr Baron empfangen auch Sie nicht. Wir sollten es nur nicht gleich sagen. Der Herr Baron wollen Sie nicht sehen.«
Er sah ihn wirklich nie wieder. Er hatte zwei Jahre neben ihm gearbeitet, durch dünne Wand von ihm getrennt. Über Nacht war er ausgeschaltet, ohne daß er die Gründe dafür auch nur ahnte, ohne, daß er sie auch nur auf Umwegen erfuhr, abgeschafft durch zwei Diener im Frack vor der Tür. Der Baron aber hatte erfahren, daß sein Günstling zweimal in einer Woche mit dem Grafen Herbert Bismarck gefrühstückt hatte. Tag für Tag hatte er ihn zu erlesensten »primeurs« und langen Gesprächen mitgenommen in das abgedichtete Zimmer des alten, stadtbekannten Restaurants. Er durfte die Delikatessen selbst bezahlen, auch wenn er heimlich darüber seufzte, denn so bedürftig war er nicht, daß der Baron seine Mildtätigkeit auch ihm erweisen mußte. Aber die Auszeichnung für den jungen Diplomaten war groß und ungewöhnlich gewesen. Mißtrauen packte den Baron. Der Verfolgungswahn kam wieder. Zwar grüßte er ihn noch, aber er sprach ihn nie wieder. Den jungen Grafen Pourtalès – auch er kam ahnungslos eines Tages mit seinem »droit de la porte« – wiesen die beiden im Frack mit demselben Gleichmut fort:
»Herr Geheimrat ist nicht zu sprechen.« –
Aber den Grafen grüßte der Baron auch nicht mehr.
Mit dem Sohne des Reichskanzlers stand Baron Holstein anscheinend gut. Sie trafen einander täglich. Der Baron sah den Grafen Herbert Bismarck des Abends im Hause des Vaters. Sie sprachen sich mit den Vornamen an. Dennoch empfahl Baron Holstein dem österreichisch-ungarischen Botschafter, der Besonderes vom Kaiser wollte, sich lieber an den Hofmarschall von Liebenau zu wenden, als im Amtswege an den Staatssekretär. Er wußte, daß der Hofmarschall als Vertrauter des Kanzlers und seines Sohnes galt, trotz seines Dienstes in der nächsten Umgebung des Kaisers: dem Botschafter empfahl er, den Staatssekretär von der ganzen Sache nichts wissen zu lassen. Am besten hielt er sich in Zukunft überhaupt an den Hofmarschall. Der Baron intrigierte. Er spann sein Netz dreifach. Der Hofmarschall war nicht ganz aufrichtig gegenüber dem Kaiser. Er ging mit seinem Wissen oder den Heimlichkeiten, die er dafür ausgab, hinüber zum Kanzler und zum Grafen Herbert. Was er dort erfuhr, trug er zu Holstein. Der Baron wußte über alle drei, was die drei selbst nicht wußten. Er brachte alle durcheinander, wenn er wollte. Er hielt sie voneinander fern, wenn dies ihm besser schien. Er spielte – unsichtbar und unerkannt – alle gegen alle aus. Inzwischen war er zweifellos auf der Suche nach einem dunklen Punkt für den Hofmarschall von Liebenau.
In Wahrheit also stand er mit Graf Herbert Bismarck schlecht. Auch mit der Fürstin, die ihm mit gewisser Betonung viele Freundlichkeit erwies. Auch mit dem Reichskanzler, dem er seine Stellung dankte. Es war nicht nur das Zwischenspiel mit Graf Arnim, das er nicht vergessen konnte. Die Empfindung gewissen gesellschaftlichen Ersatzes durch den engeren Verkehr mit dem Reichskanzler verdarben allmählich die Söhne Herbert und Bill. Ihr Verhältnis war herzlich, fröhlich und voll Freundschaft in ihren Knabenjahren gewesen. Als sie heranwuchsen, wurde der Baron in ihren Augen mehr ein entbehrlich gewordener Hofmeister, den sie zu kommandieren begannen. Sie zeigten ihm den Unterschied von Abkunft, Macht und Geltung. Sie ließen endlich jede Rücksicht vor ihm fallen. Sie sprangen mit seiner Zeit um. Sie neckten ihn. Den Mißtrauischen quälten sie mit Andeutungen. Wenn er in Bismarcks Hause arbeitete, stürmten sie mit Poltern in sein Zimmer und begannen vor ihm und seiner Arbeit ein Scheibenschießen mit Zimmerpistolen und Flaubertgewehren. Der Baron trug seine Verstimmung eine ganze Weile mit sich herum. Dann begann er, der kein anderes Haus mehr hatte, sich auch von den Bismarcks zurückzuziehen. Es ging nicht, daß er den Fürsten nicht mehr grüßte. Er konnte dies auch bei dem Staatssekretär nicht wagen. Aber er begann, ihn auszuschalten. Er baute heimlich an Wegen und Stegen, die zu den Quellen der Macht führten, ohne daß der Staatssekretär oder die obersten Träger der Macht darum wußten. Er hatte seine Mittelspersonen immer bereit. Der Tag mußte kommen, da er den formellen Absagebrief fortsenden konnte, der dem Grafen klar und nüchtern die Freundschaft kündigte. Den Brief stilisierte er mit ausgesuchten Wendungen.
Der Reichskanzler unterschätzte den Freiherrn von Holstein. Er war nicht nur »gefährlich an entscheidender Stelle«: immer war der Vortragende Rat gefährlich, ob er handelte, ob er schwieg, ob er lächelte oder verdüstert erschien. Ob er belanglose Personalfragen erledigte, ob er Botschaftern Weisungen gab, von denen der Kanzler und der Staatssekretär nichts wußten, oder ob er Meldungen beseitigte, weil ihm dies besser paßte. Noch war die Zeit nicht gekommen, da sein Ehrgeiz und seine Macht gleich groß waren. Noch war die Sehnsucht unerfüllt: allein die Geschicke des Reiches, zugleich das Schicksal Europas zu lenken, wenn dies über Deutschland ging, – denn noch mußte er vorsichtig sein. Noch standen verhaßte Mächtigere über ihm. Noch war ein einziger Gegner da, zu stark an Geisteskraft, als daß man gefahrlos mit ihm hätte spielen können, wie mit den anderen – –
Langsam nahm er von dem Apparat des Kanzlers Besitz. Er erfüllte ihn mit seinem Geist. Er machte sein eigenes Instrument daraus. Mit dem Fürsten Bismarck ging es bald zu Ende. Dauerte es allzu lange, so konnte irgendwer nachhelfen. Bei der nächsten Gelegenheit, die sicher war, wollte der Vortragende Rat dem Kanzler die Gefolgschaft aufsagen. Nicht bloß Bismarcks Macht war dann beseitigt, so daß er selbst frei schalten konnte. Auch ein alter Schuldschein war eingelöst.
Baron Holstein beschloß schon jetzt, in naher Zukunft für Kaiser Wilhelm zu sein.