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Kaiser und Könige

Kaiser Wilhelm stattete seine Antrittsbesuche ab. Nicht nur Politik und Repräsentationspflicht bestimmten ihren weiten Rahmen. Zum erstenmal reiste der Kaiser in voller Unabhängigkeit, mit selbstbefehlender Freiheit, mit lange zurückgedrängter, endlich freigelassener Lust an anderen Städten, Ländern und Höfen. Prinz Wilhelm hatte von selbst überhaupt nicht entscheiden können, ob und für wie lange Zeit er seine Garnison verlassen durfte. Seine Schatulle war knapp gehalten. Zuwendungen an den Sohn kannte der Vater nicht. Der Prinz hing, wie Kronprinz Friedrich, vom Haupte des Hauses, fast immer also vom Großvater ab. Kaiser Wilhelm I. aber war in allen Dingen und Augenblicken sparsam, auch wenn er den Enkel liebte. Er sah es lieber, daß der Prinz seinen geordneten Dienst tat, als daß er auf Reisen ging, die der Großvater nicht für nötig hielt.

Aber jetzt war Prinz Wilhelm selbst der Herr geworden. Auch waren Art, Einrichtung, Programm der Reisen anders. Ihr Zweck und Aufwand drehte sich nur um ihn. Zurückgedrängt, ausgeschaltet, wie er bisher gewesen war, gab er sich willig, fast durstig den neuen Möglichkeiten hin. Dem Vermächtnis des Großvaters hatte er, soweit er es vorerst vermochte, in Peterhof zu dienen versucht. Er hatte seine Jacht »Hohenzollern« auf der Rückfahrt Stockholm und Kopenhagen anlaufen lassen. Von Stockholm, vom schwedischen Königshaus war er entzückt, vom Kopenhagener Hof nicht ganz so begeistert weitergereist. Den Wiener Hof, dem er sich am nächsten verpflichtet sah, den König von Italien, der mit den Herrschern der beiden Großmächte im Dreibunde vereint war, wollte er nunmehr in besonders feierlicher Art begrüßen.

Der Kaiser reiste über Stuttgart und München. Er wollte den König von Württemberg, den Prinzregenten von Bayern, die wichtigsten Bundesfürsten ehren. Schon vorher hatte er den König Albert von Sachsen besucht. Einst war der Prinz, wenn er nicht mit besonderem Auftrag fuhr, kaum sonderlich beachtet worden. Jetzt läuteten alle Glocken. Überall sah er Jubel. Seine Hymne erklang. Ehrenkompagnien verharrten in regloser Front, Ehrenpforten wiesen ihm den Weg. In den Straßen standen Spaliere, Truppen defilierten. Noch hatte er nicht die Zeit, sich die Einzelheiten aller Änderungen nachzurechnen. Er genoß die Erlebnisse, die Menschen, die Bilder. Wo immer er eintraf: die wichtigsten Männer, die ersten Diener des Staates kamen, um sich vor dem Fürsten zu neigen. Fürsten selbst huldigten ihm. Er bot alles auf, um alle wirklich zu gewinnen. Er schonte sich nicht. Seine Frische wirkte ausgezeichnet. Er zeigte sie überall. Ganz Europa durchzog er so im Fluge.

 

Nach Wien begleitete ihn wiederum Graf Herbert Bismarck. Der Staatssekretär hatte abermals die ihm von seinem Vater, dem Fürstenreichskanzler, vorgeschriebenen Gespräche zu führen. Er tat es, ohne Verpflichtungen für irgendeine Seite zu fordern oder zu geben. Vor Kaiser Franz Joseph zerstreute er alle Besorgnisse, die der Monarch wegen einer möglichen Trübung der Beziehungen Deutschlands zu England hatte. Offenbar fürchtete Kaiser Franz Joseph Einwirkungen, die zum englischen Königshaus noch immer von der Kaiserin Friedrich hinüberspielen konnten. Der Staatssekretär nannte »das Flittergold des sogenannten englischen Königtums une quantité négligeable«. Das wirkliche Verhältnis der beiden Reiche zueinander würde durch keine Überhebung dieses Königtums berührt. Wenn der Staatssekretär Königin Victorias Einfluß auf die Haltung Englands und seiner Staatsmänner auch erheblich unterschätzte, so ließ sich doch Kaiser Franz Joseph beruhigen. Der Staatssekretär versuchte dann eine Milderung der Gegensätze anzubahnen, die zwischen Österreich-Ungarn und Rußland auf dem Balkan bestanden. Zwar wollte Kaiser Franz Joseph dort von einer Teilung oder Scheidung der Machtsphären nichts wissen, die Graf Bismarck befürwortete und schon dem russischen Botschafter Grafen Schuwalow in Berlin angedeutet hatte. Rußland sollte sich dem bulgarischen Fürstentum, Österreich-Ungarn dem Königreich Serbien zuwenden. Aber wenn Kaiser Franz Joseph den Vorschlag auch ablehnte, so hörte der Staatssekretär doch aus dem Munde des Monarchen viel Beruhigendes, das sich bei nächster Gelegenheit am Zarenhofe nützlich verwenden ließ. Es stimmte nicht, daß Österreich-Ungarn dem Prinzen Ferdinand von Koburg in Bulgarien seine Unterstützung lieh. Im Gegenteil: die Monarchie »hielt sich zurück«. Von einer Katholisierung auf dem Balkan, die den Schutzherrn der orthodoxen Kirche verstimmte, konnte schon gar keine Rede sein. Die Kirche Roms erlebte nur Enttäuschungen. Unruhig schien Kaiser Franz Joseph Rumäniens wegen, weil nach seiner Meinung der von ihm wenig geschätzte König Karol im Abwirtschaften sei – abermals für Österreich-Ungarn eine Gefahr russischen Vordringens in neuer »Dépendance«. Aber im ganzen zeigte die Beurteilung der Lage des Kontinents im Augenblick nichts Kritisches. Fürst Bismarck übergab ohne eine Randbemerkung Graf Herberts Bericht dem Auswärtigen Amt ins Archiv.

 

Mit mehr Wärme, als Kaiser Franz Joseph bei ähnlichen Anlässen zu zeigen pflegte, hatte er Kaiser Wilhelm selbst begrüßt. Es schien, als wollte die gewinnende, vor dem fast sechzigjährigen Bundesgenossen ehrerbietige Art des deutschen Kaisers auch die letzten Nachklänge verwischen, die vom Kriegsjahr 1866 in dem Habsburger vielleicht noch geblieben sein mochten. Mit der Generation, die Franz Joseph die Bitternis von Königgrätz gebracht, hatte Kaiser Wilhelm II. nichts mehr zu tun. Er wollte auch hier neue Zukunft schaffen. Die Herzlichkeit, die der Gastgeber sichtlich zu betonen strebte, obgleich der Gast die von Kaiser Franz Joseph auch bei gehobener Gelegenheit ausstrahlende Kühle nicht vollständig besiegen konnte, löste der ganze, überwältigende, altspanische Prunk ab, den der junge Kaiser zum erstenmal entfaltet sah. Im Lustschloß Hetzendorf, in das ihn vor anderthalb Jahrzehnten die Kronprinzessin Friedrich mitgenommen hatte, war damals noch nicht der Aufmarsch von Garden und Trabanten, die jetzt in unerhörter Pracht vor dem Kaiser starr wie Statuen standen. Vor ihnen verblaßten die Garden des Zaren und die Trabanten am Hofe der Königin Victoria. In Orchideenhainen saß der Hof zu Tisch in Wien. Den ausgeschütteten Reichtum bestaunte der junge Kaiser fast mit Beklommenheit. Das Hofzeremoniell hatte Formen, die aus Jahrhunderten erhalten waren. Der Prinz von Wales hatte dem Neffen erzählt, wie er in der Hofburg bei seiner Ankunft sich plötzlich einer größeren Zahl vornehmer, glattrasierter Herren im Frack, in Escarpins und Schnallenschuhen gegenübersah, vor denen der Prinz sich achtungsvoll verneigte. Aber sie waren nicht das Korps der Diplomaten gewesen, wie Prinz Eduard gemeint hatte, nur einige von Kaiser Franz Josephs Hoflakaien hatten dagestanden. Sie waren immer noch die Hoheit selbst. Sie trugen die gleiche, feierliche, erhabene und tödlich niederdrückende Stimmung, die von Kaiser Franz Joseph herab über seinen Obersthofmeister bis zu ihnen jeden Gast umwehte.

Der erste Tag, den Kaiser Wilhelm in Wien verbrachte, gehörte ihm selbst. Kaiser Franz Joseph hatte mit feinem Takt gewünscht – so sollte es diesmal und immer in Zukunft gehalten werden –, daß Kaiser Wilhelm am ersten Tage seines Besuches jeden ungestört in der deutschen Botschaft sollte sehen und sprechen können, nach dem ihn verlangte. Dort pflegte der Gast von da an seine großen Diners in Wien zu geben: im Botschaftspalais schwirrte der festliche Saal vom Lärm der hundert Eingeladenen, von ungezwungener Unterhaltung, wie sie der junge Kaiser liebte. Da er einmal das Zeichen geben wollte, das zu Tische rief, teilten sich plötzlich die Flügeltüren – Kaiser Franz Joseph erschien unangesagt. Der Lärm der hundert Eingeladenen verstummte jäh. Die Unterhaltung brach sogleich völlig ab. Stumm löffelte Kaiser Wilhelm seine Suppe, stumm seine Gäste. Minuten vertropften langsam und im Eisesschweigen endlos. Das Stummsein lastete immer schwerer: da fuhr endlich an Kaiser Franz Josephs Seite Pauline Fürstin Metternich hoch:

»Also Majestät: das halte ich nicht länger aus … Erlauben Majestät, daß ich ein paar lustige Geschichten erzähl'!«

Nie war Ähnliches vor Franz Joseph gewagt worden. Gefürchtet waren sogar seine »intimen« Familiendiners, die immer stumm blieben wie Grabkammern. Eine Grabkammer war jetzt auch der Festsaal der deutschen Botschaft. Aber Franz Joseph lächelte:

»Aber sehr gern, Durchlaucht … Warum denn nicht?«

Die Fürstin Metternich, noch in der Zeit ihrer übermütig aufschäumenden Laune, begann zu erzählen. Franz Joseph lächelte, Franz Joseph lachte und lachte immer mehr. Das Lachen aller erschütterte zuletzt den ganzen Saal. Weder Kaiser Wilhelm noch ein anderer hatte Franz Joseph vorher je so gesehen. Am nächsten Morgen in der Hofburg standen freilich wieder die Trabanten da, die Lakaien, die aussahen wie die Botschafter. Kaiser Franz Joseph empfing den verbündeten Souverän: mit mehr Wärme, als er bei ähnlichen Anlässen zu zeigen pflegte, ohne daß der Gast die von ihm ausstrahlende Kühle vollständig besiegen konnte – –

Aber mit dem vollen, lebendigen, bezaubernden Reiz von Wesen und Erscheinung traf Kaiser Wilhelm noch die Kaiserin Elisabeth, der er stolz einst in Hetzendorf als kleiner Prinz, schon damals hingerissen von ihrer strahlenden, unvergleichlichen Schönheit, die Schleppe getragen hatte. Kaiserin Elisabeth fügte sich noch immer nicht ganz willig in Franz Josephs formenkalten Hof, ihre Freude war groß, wenn Hergebrachtes und Zeremoniell nicht immer genau nach peinlich ausgedachten Obersthofmeisterwünschen gingen. Sie hatte ihr eigenes Urteil über das in der Monarchie herrschende System, sie haßte die Politik des Ministerpräsidenten Grafen Taaffe, sein ganzes Regieren mit verschleppten Entscheidungen, sein Programm der »Versöhnung der Nationen«, das nur ein Ausspielen der österreichischen Stämme gegeneinander war. Vor allem aber lehnte sie sich gegen das damals neue, von dem Ministerpräsidenten nicht einmal mit Überzeugung betriebene Großziehen tschechischer Einflüsse auf. Sie traf sich in ihrem Hasse, so sehr Graf Taaffe auch bei ihrem Gemahl in Gunst und Gnade stand, mit dem Fürsten Bismarck, der den Staatsmann verabscheute »wie die Pest«. Um Taaffes willen endete der erste Wiener Besuch auch nicht ganz ohne Verstimmung. Bei der Beratung der üblichen Ordensverleihungen war die Auszeichnung mit dem ›Schwarzen Adlerorden‹ für den ungarischen Premier Koloman Tisza, zugleich für Graf Taaffe vorgeschlagen worden. Dem Range nach konnten beide Minister den Orden erhalten. Er wurde in der Regel an besonders wichtige, verdiente Premiers und an Außenminister von Großmächten verliehen. Mit Koloman Tiszas Auszeichnung war Graf Herbert Bismarck einverstanden. Bei Graf Taaffe widersprach er, wie es manchmal seine Art war, mit einem einzigen Wort:

»Nein!«

Er dachte über Taaffe wie sein Vater. Überhaupt hatte er eine alte, aber dauernde Abneigung gegen Österreich, die er zurückhielt, nur wenn er mußte. Daß die Auszeichnung des ungarischen Premiers, das Übergehen des österreichischen Ministerpräsidenten eine sichtbare Beleidigung bedeutete, bestürzte ihn nicht. Er blieb bei der Verweigerung, trotz des Entsetzens aller in der vor der Abreise schnell zusammengestellten Ordenskommission, die unter dem Vorsitz des Kaisers beriet.

»Mein Vater hat gesagt: er kriegt ihn nicht«, beharrte der Graf. »Und er kriegt ihn nicht« – –

Der Kaiser widersprach nicht. Die Möglichkeit, jemand zu verletzen, vielleicht sogar dem befreundeten Monarchen ein verwundertes Gefühl zu schaffen, war ihm unbehaglich. Aber er wollte Fürst Bismarcks Entscheidung decken, denn der Fürst mußte seine Gründe haben, wenn er sich offen gegen Taaffe stellte. Kaiser Franz Joseph zeigte seine Verstimmung dem Staatssekretär allerdings deutlich. Herbert Bismarck nahm die Ungnade hin. Dem Geheimrat von Holstein im Auswärtigen Amte in Berlin schrieb er: »daß er nicht genug die sympathischen Eindrücke hervorheben könne, die er während seines Wiener Aufenthaltes empfangen habe«. Er zog es vor, nur von der Huld der Kaiserin Elisabeth zu erzählen. Sie hatte den Staatssekretär nach großem Diner zu sich herangerufen.

»Mein verehrter Herr Graf,« hatte sie ihm versichert, »wie freue ich mich, daß Ihr Kaiser den Mut gehabt hat, diesem infamen Kerl, dem Taaffe, den Orden nicht zu geben« – –

Seinen Gast ließ Kaiser Franz Joseph nichts merken. Er wußte auch, wer eigentlich Taaffe hatte treffen wollen. Franz Joseph hatte eine unnachahmliche Art, Dinge zu übersehen, die er nicht ändern konnte. Auch wenn er sie nie vergaß. Wie er mit dem jungen Kaiser stehen würde, wenn er die Anfänge seiner Herrschaft überwunden, mußte die Zukunft lehren. Er verabschiedete sich von seinem Gaste, wie es die Form für Herrscherbegegnungen und die Betonung der Bundesfreundschaft vorschrieben.

Kaiser Wilhelm reiste nach Italien weiter. Nicht nur König Humbert, auch den Papst wollte er sehen.

 

Wirkliche Freundschaftsbeziehungen, die den König von Italien durch viele Jahre mit dem Kronprinzen Friedrich verbunden hatten, bereiteten Kaiser Wilhelms römischen Aufenthalt vor. Persönliche Erbschaften nicht allein: ganz Italien rüstete schon Wochen vor der Ankunft des Kaisers mit südlichem Überschwang zu den Festen, die das Königshaus, die Regierung, die Stadt Rom »dem neuen Cäsar« geben wollten. Als er endlich einzog, hallte die Piazza von den Evvivaschreien des Volks. Bankette lösten einander ab. Die Truppen zogen in großer Revue an dem Kaiser in Centocelle vorbei. Auf dem Capitol gab die Stadt ein rauschendes Fest, das zugleich durch den Senatorenpalast, durch alle Paläste wogte: mit hölzernen Brücken im Stil der Palazzi hatte man den ganzen Schauplatz zur Einheit verbunden. Den Palatin ließ die Stadt in strahlenden Lichtern erglänzen. Die Menge feierte in den Straßen, die mit Fahnen, Teppichen, Kränzen in kreischenden Farben den Kaiser anriefen. So sehr der Süden den Lärm, die Grellheit, die Übertreibung der Gefühle liebte: auf solch' stürmischen Empfang hatte ›der neue Cäsar‹ nicht gerechnet.

Er umwarb auch den italienischen Bundesgenossen. Er sprach von Italiens Zukunft. Von der Einheit der Nation. Er trank nicht nur auf des Königs Wohl, er erhob sein Glas auch auf »die tapfere italienische Armee«. Fünf Jahre waren es her, daß der Dreibund bestand. Kaiser Franz Joseph hatte italienischen Boden nicht betreten. Er fürchtete, den Papst zu verletzen, wenn er zuerst den König besuchte. Den König, wenn er zuerst in den Vatikan fuhr. So kam er überhaupt nicht. Kaiser Friedrich III., »der Dulder«, hatte sein Leid auf italienischem Boden getragen. Wilhelm II. kam nach Italien, ein Vierteljahr, nachdem er den Thron bestiegen hatte. Von den Italienern, von ihrer Bestimmung, von der Größe und dem Wert der Nation sprach er, wie sie es überhaupt noch nicht gehört hatten. Zum erstenmal gab er ihnen Großmachtsempfinden. Sie jubelten, berauscht von ihrer soeben entdeckten, ihnen noch unbekannten Größe, dem neuen, mächtigen Freunde wie die Kinder zu.

Dem Kaiser war auch hier der Eindruck, das Erobern der Stimmung wichtiger als Reden über Politik. An dem alten Francesco Crispi lockte ihn weit mehr die Persönlichkeit als alle Sonderfragen, die aus dem Dreibundsvertrage sich ergaben. Sie waren ohnehin alle festgelegt. Crispi war ein Kahlkopf mit großen, unter buschigen Brauen stark leuchtenden Augen, mit einem versonnenen, charaktervollen Gesicht, darin eine kräftige Nase und ein mächtiger, weißer Schnurrbart saßen, die Enden tief nach abwärts gekehrt. Der Kaiser kannte ihn als wirklichen Anhänger des Dreibunds. Er wußte, daß er Bismarck aufrichtig befreundet war. Er ehrte die feurige Überzeugung, mit der der italienische Staatsmann stets für die Gedanken westeuropäischer Demokratie, für wahren Konstitutionalismus und für ein Königtum englischer Färbung eintrat. In ihrem langen Gespräch über das Wesen moderner Staatsformen fiel dem Kaiser schließlich der Inhalt einer Depesche ein, die ihm unmittelbar vor dem Eintreten Crispis überreicht worden war. Der Mikado hatte sich entschlossen, den Japanern freiwillig eine Konstitution zu geben. Ein Parlament sollte nach Tokio einberufen werden. Dem demokratischen Staatsmanne wollte Kaiser Wilhelm eine besondere Freude bereiten. Er zog die Depesche aus der Tasche und las sie vor. Als Crispi schwieg, besann er sich der ihm berichteten, sonderbaren Angewohnheit, daß Crispi, indes er einem Vorlesenden zuhörte und ihm sogar in die Augen sah, seine Gedanken inzwischen weitab wandern zu lassen pflegte. Es dauerte meist eine ganze Weile, ehe der versunkene Staatsmann antwortete. Jetzt aber schwieg Crispi noch immer, er saß regungslos, seine Blicke hatten den Kaiser erst angesehen, dann streiften sie an ihm vorbei ins Weite. Offenbar hatte er wirklich nicht zugehört. Endlich hob der Kaiser noch einmal die Depesche. Er setzte an, um den Wortlaut zu wiederholen, aber Crispi brach – er hatte dennoch zugehört – mit unbewegter Miene plötzlich aus:

»Que cet homme est bête« – –

Auf weitere Begründung ließ er sich nicht ein. Aber gerade von Crispi hätte der Kaiser jede andere Antwort erwartet. Nur der alte Gegensatz von Übung und Theorie konnte den Widerspruch erklären. Allerdings hatte auch er mancherlei Pläne fortschrittlichster Färbung und galt dennoch vielen als ein Herrscher absolutistischen Bekenntnisses. Crispi ging. Von seinen freiheitlichen Überzeugungen wich er trotz seiner Meinung über den Mikado auch weiterhin keinen Schritt.

 

Den Besuch im Vatikan hatte Kaiser Wilhelm sorgsam schon in Berlin vorbereitet. Mit seinem Oheim, dem Kardinal Hohenlohe, hatte er sich über die Richtlinien geeinigt, die er einhalten wollte. Vor allem aber hatte er Kardinal Kopp, dessen Verdienste um die Beilegung des Kulturkampfes weder von ihm, noch vom Vatikan vergessen waren, vor der Abreise zu sich gebeten. Der Kardinal kannte Leo XIII., sein Wesen, seine Politik genau. Auch waren ihm die Menschen, die Kräfte und Gegenkräfte, die ganze Atmosphäre nicht fremd, die im Vatikan den Papst umgab. Aus dem Wissen, der Gewandtheit und der aufrichtigen Verständigungsbereitschaft des Kardinals in jeder Streitfrage hatte schon Fürst Bismarck vielen Nutzen gezogen. Dem Kaiser gab er jeden gewünschten Rat.

»Sprechen Sie mit dem Papste unter vier Augen, Majestät! Ganz offen und ehrlich, damit er die Wahrheit hört. Das passiert ihm nicht allzu oft!«

Leo XIII. erhoffe sich viel vom Ausgang der Wahlen in Frankreich. Er rechne mit großem Siege für die Kirche.

»Nach unseren Nachrichten«, behauptete der Kardinal, »wird das nicht der Fall sein. Aber der Papst weiß es nicht. Er ist nicht unterrichtet. Weder Kardinal Lavigerie, noch Kardinal Richard scheinen ihn richtig orientiert zu haben. Klären Euere Majestät ihn auf!«

Leo XIII. machte auf den Kaiser vom ersten Augenblicke an den tiefsten Eindruck. An der kleinen, zierlichen Figur war alles vergeistigt: das Gesicht, die Hände, die ganze Haltung. Er war sehr mager, die großen, sprühenden Augen beherrschten alles. Ihrer Überlegenheit, ihrer durchdringenden Kraft, ihrem Willen zum Befehlen entzog sich niemand, der vor ihm stand. In fürstlicher Umgebung, vom Glanze königlicher, schwerer Pracht umflossen, wirkte er statuarisch trotz seiner Zierlichkeit, ebenbürtig nicht nur den größten Vorfahren auf dem Heiligen Stuhl, ebenbürtig allen aus der Reihe großer Herrscher, deren Namen die Geschichte bewahrt. Sehr lebhaft, sehr herzlich zugleich, begrüßte er den Kaiser. Wirklich schien er nur von dem einen Gegenstande erfüllt, der ihn gerade bewegte.

»C'est une grande victoire, que nous aurons en France … Rampolla hat mir gemeldet … Auch Kardinal Richard … Wir werden einen großen Triumph erleben!«

Der Papst rief die Sätze fast leidenschaftlich aus. Seine Augen blitzten vor Genugtuung. Dem Kaiser fiel es schwer, die Vorfreude des Sieges zu durchkreuzen. Aber für den Heiligen Vater, soviel wußte er, wurde es kein Sieg. Er wollte sich an den Rat Kardinal Kopps halten.

»Euere Heiligkeit, ich glaube, die Informationen sind nicht ganz richtig. Die Lage in Frankreich wird recht bedenklich sein« – –

»Oh, non, non, non – – Ich habe meine Nachrichten!«

»Euere Heiligkeit, unsere Orientierung ist sehr genau. Die Aussichten für den Sieg in der nicht kirchenfreundlichen Republik sind recht ungünstig« – –

Der Papst schüttelte heftig den Kopf. Er sprach sehr schnell. Alles an ihm war Feuer und stürmender Einsatz.

»Non, non, non … Die älteste Tochter der Kirche! Vous verrez!«

Jetzt glitt er auf andere Dinge über, da der Kaiser nicht zu überzeugen schien, er selbst sich die Überzeugung aber gerettet hatte. Absichtlich kam er auf den Kulturkampf in Deutschland zurück. Er wollte die letzten Nachklänge von Verstimmungen verschwinden lassen. Er rühmte die Verdienste des Kardinals Kopp. Eine Stunde war verronnen. Plötzlich wurde Prinz Heinrich von Preußen gemeldet. Ihn hatte der Camerlengo des Papstes erst ansagen wollen, wenn der Papst die Unterredung mit Kaiser Wilhelm beendet hätte. In dem Vorraum hatte Graf Herbert Bismarck sich barsch entrüstet:

»Ein Prinz von Preußen wartet nicht im Vorzimmer des Papstes« – –

Der Staatssekretär hatte den Lärm so weit getrieben, daß der Camerlengo nachgab und Prinz Heinrich beim Papste eintreten ließ. So endete die Aussprache von Papst und Kaiser schneller als beide vielleicht gewollt hatten. Der Heilige Vater verabschiedete sich von Kaiser Wilhelm. In jedem Wort, in jeder Geste ein Souverän.

Der Kaiser sprach noch mit dem Kardinal Rampolla. Er hatte nicht des Papstes freie, hoheitsvolle Weite. Seine Zurückhaltung war sichtbar, seine Blicke hatten etwas Lauerndes. Dem Kardinal hatte der Kaiser ein kostbares Pectorale mitgebracht, Rampolla nahm es mit etwas gepreßtem Lächeln. Fürst Bismarck hatte sich für das Kreuz entschieden, denn er wußte, daß der Kardinal, ein wenig eitel auf sein imposantes Wirken, den Schwarzen Adlerorden lieber getragen hätte, auf den er als Kardinalstaatssekretär Anspruch zu haben glaubte. Fürst Bismarck quittierte Rampolla jetzt unliebsame Erinnerungen und Widerstände aus der Kulturkampfzeit. Der Kaiser konnte aus dem Kreuz keinen Orden machen. Er dachte auch nicht daran.

Die Ereignisse in Frankreich gaben Kardinal Kopp und dem Kaiser, nicht dem Heiligen Vater recht. Es war kein Sieg der Kirche, den die Wahlen brachten. Es war schwere Niederlage. Rampolla rief die Kardinäle zusammen. Er selbst, alle Kardinäle hatten den Papst in falschem Glauben, falschem Hoffen bestärkt. Endlich meinte Rampolla:

»Dem Heiligen Vater muß es gesagt werden« – –

Er meldete sich zum Vortrag.

»Sie bringen mir gute Nachrichten, Eminenz?« begann sofort der Papst. »Wie steht's?«

Der Kardinalstaatssekretär konnte seine Verlegenheit nur schwer verbergen. Endlich entschloß er sich:

»Euerer Heiligkeit muß ich leider melden, daß unsere Erwartungen nicht erfüllt und« …

Der Papst horchte auf.

»Nicht erfüllt? Was ist?«

»Wir haben in Frankreich eine schwere Niederlage erlitten.«

Es gab eine Pause. Rampolla schwieg. Der Papst blieb stumm. Aber plötzlich brauste er empor, mit seiner ganzen Leidenschaftlichkeit, mit dem ungehemmten Zorn des absoluten Königs gegen erfolglose Diener. Er schlug mit der Faust auf den Tisch:

»Also habt Ihr mich mit falschen Nachrichten versehen! Der deutsche Kaiser ist der einzige, der mir reinen Wein einschenkt« – –

Der Sturm im Vatikan glättete sich erst nach Tagen. Monsignore Montel gab den Bericht mit allen Einzelheiten an den Kaiser. Aber Rom, König Humbert und der Papst lagen schon weit hinter ihm.

Kaiser Wilhelm war im Berliner Schlosse wieder eingetroffen. Er hatte seine ersten Manöver angesetzt. Die gute Wirkung, die sein Besuch beim Wiener Hofe zurückgelassen hatte, sprach sich in der Teilnahme des Feldmarschalls Erzherzog Albrecht, des Siegers von Custozza, an den Manövern aus. Den bedeutenden Feldherrn, der immer noch, fast erblindet in hohem Alter, seinen Studien an eigens für ihn hergestellten, im Hochrelief gearbeiteten Generalstabskarten mit tastenden Fingern nachging, den Höchstkommandierenden der verbündeten Armee, der mit verhängtem Zügel das Manövergelände tollkühn in allen Richtungen durchsprengte, die sein Adjutant immerzu ihm ansagen mußte, den alten Preußenfeind, der Königgrätz und den Friedensschluß von 1866 nie verwand, behandelte der Kaiser mit jeder möglichen Auszeichnung. Der scharfe Verstand des Erzherzogs begriff, daß das Alte endgültig begraben war. Daß eine völlig neue Zeit dastand mit neuem Führer. Sie hatte viel Glanz. Der Erzherzog sprach von seinen Eindrücken mit höflicher Achtung. Vielleicht blendete die neue Zeit auch nur – –

Denn erste, unruhige Schatten überflogen sie.


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