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Hoffnungslos lag, unter Qualen aus San Remo in die Heimat gebracht, Kaiser Friedrich in entsetzlichem Sterben. Er kämpfte um sein Leben nicht mehr. Er litt es heroisch zu Ende.
Die öffentliche Meinung Deutschlands war zerrissen durch den Streit der ärztlichen Gutachten, die das Schicksal des Kranken noch durch chirurgischen Eingriff hatten wenden wollen, indes der Arzt des kaiserlichen Vertrauens bis hart an den sichtbaren Zusammenbruch des Herrschers jeden Eingriff als unnötig abgewehrt hatte. Die Wahrheit über den Kaiser – wenn sie es war – wurde nur geflüstert im Reiche, das noch voll Trauer lag über den Heimgang Wilhelms I., unruhig im ganzen Wandel der Zeiten, in denen das Alte müde hinsank, die Gegenwart sich nicht erheben konnte und alles einer Zukunft anvertraut schien, die keiner zu erkennen vermochte.
Am Steuer des Staatsschiffes stand freilich noch Fürst Bismarck. Aber nicht allen mehr war der Reichskanzler der unantastbare, unfehlbare Reichserzengel. Unbekannte Strömungen, fremdartige, nie beachtete Gewalten begannen Daseinsanspruch und Heimatrecht auch auf deutschem Boden zu begehren. Neben den Bürger stellte sich, seit der Fürstreichskanzler dem geheimen Wahlrecht freie Bahn gewährt hatte, noch nicht mit aufbegehrender Forderung, indes mit ungewohnten, bisher nicht erlebten, oft aufreizenden Worten als neue Macht die Sozialdemokratie.
Daß Kaiser Wilhelms I. Reich, durch strahlende Waffensiege aufgerichtet und von ihnen überglänzt, an die Gedankenwelt und Staatsauffassung des Kaisers gebunden, solange er lebte, dennoch vor großer, innerer Wandlung oder Erneuerung stand: dies wußte, hoffte, fürchtete in Deutschland jede Partei und jeder Bürger, wie der Arbeiter.
Der alte Kaiser hatte als junger Soldat Belle Alliance erlebt. Metternichs ferne Staatskunst war ihm kein überlieferter, nur historisch überkommener, im späten Hinsehen erstaunlicher Begriff. Sie war ihm noch das unmittelbare Erlebnis eines von ihr bisweilen mitgenommenen Zuschauers gewesen. Er hatte dann die Revolution überwunden, die erst stärker gewesen war, als der Prinz von Preußen. Im märchenhaften Aufstieg, den nur der Beifall und Begeisterungsrausch, nie die Selbstbetonung der Menge begleitete, hatte nichts bei Kaiser Wilhelm I. die Umrisse auch nur berühren können, die der Monarch sich im Innersten trotz aller Zugeständnisse an das preußische und deutsche Volk, trotz der Verfassung, die einmal gegeben war, trotz Kanzlermacht und neuer Ministerverantwortlichkeit über Herrschertum, Herrscherpflicht und Herrscherrecht festgezeichnet hatte. Der Fünfzehnjährige hatte in den Freiheitskriegen mit der Heiligen Alliance gefochten. Noch den Patriarchen bewegte sie, bevor er in die Ewigkeit einging. Fast ein Jahrhundert hatte nachzuholen, wer den Patriarchen ablöste.
Aber nunmehr brachte die Hoffnung, daß der neue Kaiser nichts am Hergebrachten ändern werde – da Sterben und Tod ihm offenbar die Zeit dazu nicht ließen – viel Unruhe bei den einen. Sie rechneten, daß der Enkel die Richtung des Großvaters aufnehmen werde. Aber noch waren sie nicht gewiß. Mit Herausforderung stieß solche Hoffnung an die Furcht von Freisinn und Fortschritt, die um den längst gefeierten, für sich beanspruchten Führer in eine neue Staatswelt, in eine neue kaiserlich beschirmte Freiheit bangten. Was kommen mußte, wenn Kaiser und Kaiserin Friedrich auf dem Throne blieben, zählte sich jeder in seinem Sinne an den Fingern ab. Aber nichts war entschieden. Kaiser Friedrich war verloren. Gleichwohl unternahm er plötzlich von Charlottenburg eine Ausfahrt in das Berliner Schloß. Er hielt plötzlich auch befohlene Parade über die drei Regimenter der Kronprinzenbrigade ab, die der Prinz selbst ihm vorzuführen hatte. Wer die Kaiserin in der Öffentlichkeit oder in größerem Kreise traf, sah sie nur lächeln. Die Wahrheit über den Kaiser – wenn sie es war – wurde heimlich als Unheil nur geraunt im Reiche. Im Charlottenburger Schlosse indes, zuletzt im Potsdamer »Neuen Palais«, spielte ihr Schlußstück in kerkerhafter von der Kaiserin Friedrich eisern bestimmter Einsamkeit.
Kaiserin Friedrich war in den neunundneunzig Tagen der Herrschaft Kaiser Friedrichs, in ihrer Kraft und Machtsucht, in ihrer Gequältheit und Todesangst, in ihrer ganzen hereinbrechenden Enttäuschung die überragende, alles beherrschende und durch ihr Todesleid ehrfurchtgebietende Gestalt. Zwei Jahre waren es bis jetzt, bis wenige Schritte vor dem Ende eines unfaßbaren Grauens, daß sie um das Leben des Gatten, um die Träume der Kronerbin kämpfte. Der blonde, hünenhafte Prinz, an dessen unerwarteter, eindrucksstarker Männlichkeit mit maßlosem Staunen in den Tuilerien noch die Blicke der Kaiserin Eugenie gehangen hatten, war zwar die Wahl innerster Neigung der heiteren Princess-Royal Victoria von England gewesen, die einst so gern gelacht hatte. Alle Welt hatte dann in der neuen Heimat gesehen, daß sie den erwählten Prinzen wirklich vergötterte. Ihr Glück hatte sie immer und überall im Glanze der leuchtenden Augen gezeigt. Aber auch schon die Princess-Royal hatte gewußt, hatte damit gerechnet und als Bestimmung verlangt, daß sie die Kaiserkrone tragen sollte. Auf ihre eigene, stolze, von britischen Vorfahren vererbte, von britischen Überlieferungen selbstbewußt umwehte Art hatte sie diese Krone tragen wollen. Voll des Wissens, das die enge und gründliche Mitarbeit im Schreibzimmer ihres königlichen Vaters, des Prince-Consort Albert, ihr verschafft hatte, und mit der ganzen Klugheit und gebieterischen, kaum einen Widerspruch anerkennenden Leidenschaftlichkeit ihrer Mutter Königin Victoria, die ihren Willen nur unendlich viel sicherer und unbelauschter als die Tochter in die Überlegenheit und Weisheit einer weithin sichtbaren Geste oder eines Entschlusses umzubändigen verstand. Daß ihr Kronprinzenlos ihr ungewöhnliche Wartezeit beschied, ertrug sie ungeduldig. Herrisch war ihr Ehrgeiz, westliche, ihr selbstverständliche Freiheit, die ganzen Überzeugungen englischer Herrscherdemokratie – in ihrer alten Heimat schon unangetastete Vergangenheit und zugleich Gegenwart wie Zukunft – dem neuen Volke zu schenken, für das sie zu leben, zu schaffen sich vorgenommen hatte.
Aber überall stieß sich ihr Wille an dem Gegensatz von Ersehntem und Vorhandenem. Sie liebte die grünen, hellen englischen Rasen und schritt, wenn sie sie suchte, durch märkischen Sand. Sie dachte an die britischen Viscounts und Lords zurück, in deren behaglichen, gepflegten Schlössern sie ihre Jugend verlebt, und sie fand Junker, wenn sie jetzt unter dem ihr nahen Adel suchte. Die Sitten im neuen Lande waren nicht nur anders, sie waren rauh. Sie hatte immer die Duldsamkeit, die Selbstverständlichkeit und Gleichheit menschlicher Rechte geliebt und gefordert, sie fand nur Enge, Abhängigkeit und Altes, das sich trotzig gegen alles wehrte. An einen Staatsmann, an einen Helfer zum Aufbau hatte sie gedacht, vielleicht wie Gladstone oder wie Disraeli: vor ihr stand Fürst Bismarck, eine breite und drohende Gestalt, in seinen Kürassierstiefeln das Symbol all des Gehaßten, leidenschaftlich wie sie, feindselig wie sie, nur mächtiger. Nichts hatte die endlose Kronprinzenzeit ihr gestattet, nichts an Einfluß auf den alten Kaiser, nichts an den Regierungsgeschäften, nie war um ihren Rat, nie nach dem Wort des Kronprinzen selbst gefragt worden, den sie mit ihren eigenen Überzeugungen fast schon erfüllt zu haben glaubte. Der herrische Ehrgeiz war allmählich Verbitterung geworden, in Briefen flüchtete sie nach England. Einmal aber – so hatte sie immer noch gehofft – schlug die Stunde der Macht, Sie wußte, daß es auch in der volkstümlich freundlichen, von warmer Menschlichkeit durchzogenen Weltanschauung des Kronprinzen immer wieder Grenzen gab, die der in preußischer Königsüberlieferung herangewachsene, in seiner monarchischen Sendung empfindliche Hohenzoller nie überschreiten ließ. Dennoch wußte sie, daß er fast stets zu führen war, die schöne, leidenschaftliche Frau wußte vor allem, wie er zu führen war. So fern die Stunde der Macht auch sein mochte, sie mußte kommen. Auch wenn der Kanzler den Haß gegen die Engländerin kaum mehr versteckte. Auch wenn er es wagte, ihre Briefe und Königin Viktorias Antworten öffnen zu lassen. Auch wenn Königin und Kronprinzessin endlich, der sicheren Beförderung wegen, durch ihre Kammerfrauen einander schrieben. Am Ende der Demütigungen, die der Hochmut nach außen nicht zugab, erhob sich doch die erste Stufe des Throns, vor der diese ganze alte, überlebte, von Vorurteilen durchstäubte Zeit, ihre Bannerträger und vielleicht ihre Kanzler fielen.
Verstört schreckte sie erst aus allen Plänen, aus allen mit dem Gatten oft durchgesprochenen Zukunftsgedanken im Januar 1887 auf. Der Kronprinz war unerwartet auf unheimliche Art erkrankt. Unnatürliche Heiserkeit hatte seine Stimme erfaßt. Sie wich nicht, wie sehr sich die Gelehrten auch um ihn mühten. Die deutschen Ärzte sagten sogleich das Unheil, die Bösartigkeit des Leidens an, sie verneinten Lebensgefahr, wenn eine Kehlkopfoperation das Karzinom ausrottete. Mit der Heiserkeit müßte der Kronprinz sich abfinden, aber nichts weiter würde als Folge bleiben. Erstarrt hörte Kronprinzessin Friedrich das Verdikt, stimmte endlich zu und – bäumte sich, indes die Vorbereitungen zur Operation schon getroffen wurden, wieder auf. Fast drei Jahrzehnte in der neuen Heimat, selbst voll Achtung vor deutscher Wissenschaft, rief sie mit ihrem Hilfeschrei noch einmal England an, stets ihre Zuflucht in innerster Not und für jeden Rat, den sie in der Fremde erbat. Ehe der Kronprinz sich wirklich unter das Messer beugte, sollte auf jeden Fall ein englischer Arzt gehört werden. Verwundert fragte Königin Victoria zurück:
»Wozu denn einen Engländer? Da ihr doch so gute deutsche Ärzte habt?«
Königin Victorias Leibarzt Reid stellte fest, da er den Namen des Erwählten hörte:
»Mein Gott, wir haben ja hier in England keine Ahnung von Mackenzie gehabt!«
Der Kronprinzessin hatte ihn einer der deutschen Ärzte als Autorität bezeichnet. Da neue Hoffnung aus Mackenzies Worten flammte, da er für guten Ausgang sich verbürgte, da er die Bösartigkeit der Krankheit überhaupt und sicher bestritt, verschrieb sie sich nur seiner Kunst.
Selbst die Heiserkeit in der Stimme des Kranken werde schwinden. Laut werde er wieder ein Armeekorps anreden, Konferenzen und Kritiken abhalten können: die Kronprinzessin entschied gegen den Eingriff.
Zugleich begannen die letzten Martyrreisen. Der Kronprinz suchte Heilung auf der Insel Wight, in Schottland, im Pustertal, erschöpft und abgehetzt in San Remo. Gespenstisch zerbrach hier die Stimme ganz. Noch war er ein Recke von Gestalt, siegfriedhaft die Erscheinung, dennoch unheimlich im Eindruck, denn der Riese war stumm geworden, nur die Augen sprachen.
In San Remo warf endlich auch Mackenzie die eigene Diagnose um. Unvermittelt gab er zu: der Kranke litt unheilbar an Krebs. Er selbst fand die Krankheit plötzlich schwer verschlimmert. Er selbst verlangte nunmehr nach Sachverständigen, die herangezogen werden sollten. Tatsächlich sprach der Wiener Laryngologe Schrötter das Urteil: noch achtzehn Monate hätte der Kronprinz zu leben – sprach das Urteil vor dem Kranken selbst, dem es nicht vorenthalten werden durfte. Die einzig mögliche Operation wäre zweifelhaft. Der Kronprinz selbst müßte über ihre Durchführung entscheiden. Mit überirdischer Kraft, am größten durch solche Gabe, stützte ihn bei der Eröffnung die Kronprinzessin. Der Kranke lehnte die Operation ab.
»Somit«, schrieb er in sein Tagebuch, »werde ich wohl mein Haus bestellen müssen« – –
Er hatte mit allem Irdischen abgerechnet. Für die Kronprinzessin schlug dennoch, vier Monate später, die Stunde der Macht. Der alte Kaiser war in Berlin gestorben, sein müdes, abgebrauchtes, von schwerem Inhalt fortgetragenes Leben war langsam verlöscht, wie eine abgebrannte Lampe. Anders, als einst die lachende Princess-Royal, anders als die angefehdete, wurzelfremde, vielverletzte, aber vergeltungssichere Kronprinzessin sich's ausgemalt hatte, war die Erhöhung gekommen. Aber die Stunde war da und eine Zeitspanne der neuen Kaiserin gegeben. Das hoffnungslose Geheimnis der Villa Zirio hatte sie nach außen hin bisher gewahrt. Zu Hause raunten zwar die Menschen. Aber sie wußten nichts. Jetzt führte die Trägerin der Macht der Zug des Gezeichneten nach Deutschland. Sie kannte genau die Ankunftzeit am letzten Ziel. Aber auch wenn es nur eine Stunde war: sie war die Herrscherin. Die Gewalt, die sie endlich in ihre Hände gelegt sah, sollte ihr ganz gehören. Durch sie allein sollte der neue Kaiser das kurze Regieren üben. Unerbittlich mit eisiger Härte bestimmte sie die Abgeschlossenheit des Sterbegemachs. Niemand hatte Zutritt, den sie selbst nicht vor den Kranken führte, der längst nur mehr aus niedergeschriebenen Zetteln sprach. Selbst dem Prinzen Wilhelm von Preußen, dem neuen Thronerben, war der Anblick des Vaters verwehrt.
»Warum kommst Du denn nicht öfter?« schrieb ihm einmal der Kaiser nieder.
»Ich werde ja immer abgewiesen. Es heißt immer, Du schläfst, oder sonst etwas« – –
Die Kaiserin hörte es regungslos. Sie blieb wie immer: zu Eis erstarrt, unnahbar in allen diesen Tagen. Wenn Doktor Mackenzie bei Kaiser Friedrich hantierte, spähten seine Reporter ins Krankenzimmer. Die Kaiserin ließ es zu. Erst Prinz Wilhelm hatte ihnen die Tür zugeschlagen, da er mit dem Vater sprach. Aber Kronprinz Wilhelm, vor allem er, sollte ferngehalten werden von jeder Aussprache mit dem Kaiser. Denn ihn, gerade ihn haßte sie.
Sie hatte den ältesten Sohn vielleicht nur in dem Augenblick geliebt, da sie in der Stunde seiner Geburt aus der Narkose erwachte und das Latein der Ärzte durchkreuzte, das sie verstand. Sie hatten, um die Mutter zu retten, das Kind preisgeben wollen.
»Um keinen Preis,« hatte sie aufgeschrien, »lieber soll ich zugrunde gehen« – –
Aber die Kunst der Ärzte war schon damals nicht glücklich gewesen im Hause der Kronprinzessin Friedrich. Ohne den Mut, die Vorschriften jener Etikette zu durchbrechen, die auch in der Stunde der Niederkunft keine englische Prinzessin den Blicken der Ärzte preisgeben durfte, waren sie in ihrer Hilfsbereitschaft im kritischen Augenblick behindert. Der Prinz trug eine Verletzung am linken Arm davon. Und auch die junge, in ihrem Frauentum erst voll erblühte Mutter verwand körperlich die Niederkunft nie ganz. Überdies war die Verletzung des Prinzen nicht gleich bemerkt, nicht gleich behandelt worden. Die Kronprinzessin, für nichts so sehr entflammt, wie für Schönheit, Harmonie und Einklang alles Ästhetischen, war von da ab hart, von feindseliger Bitterkeit, wann immer sie an den Eintritt des Prinzen in die Welt zurückdachte.
Dann hatte sie Prinz Wilhelm in Wahrheit nie selbst erzogen, hatte immer nur umerziehen lassen, wobei ihr Strenge und Zucht schon in den ersten Kinderjahren unerläßlich schienen. Sie war aus der hellen Heiterkeit froher Kindheit und Jugend gekommen, aber nichts davon hatte Prinz Wilhelms erstes Jahrzehnt, nichts seine Knabenjahre oder die Jünglingszeit überglänzt. Nur selten war es geschehen, daß auch der Vater, sonst gütig zu aller Welt, dem Sohn ein mildes oder lachendes Wort zuwarf. Er tat es im Alleinsein mit dem Sohn, er verstummte und tat es nie, wenn die Mutter den Raum betrat, darin Prinz Wilhelm war. Sie hatte die Richtlinien vollkommen gebilligt, mit denen der Gymnasiallehrer Doktor Georg Ernst Hinzpeter den Zehnjährigen zur Erziehung übernahm, ein dogmatischer Spartaner aus Bielefeld, der das Lachen in der Knabenzeit für so überflüssig erachtete, wie die Kronprinzessin den Jubel aus Prinz Wilhelms Kinderstube verbannt hatte. Schwer war die Entscheidung, wer an der Erziehung ihres Sohnes am meisten sich versündigte. Durch Befehl und Unnachgiebigkeit dachte die Mutter, zu Kraft und Reife nach ihrem Willen zu entfalten, was in dem schwächebehafteten Kinde von größerer Scheu, von größerer Scham, von stärkerem Stolz und empfindlicherer Zartheit war, als bei irgendeinem anderen, gesunden Knaben. Der zurückhaltende Vater griff nicht ein. Er nahm die unverhüllbare Abneigung der Mutter hin, mit leiser Trauer, dennoch ohne Widerspruch. Der Gymnasialprofessor aber, der überzeugte Ideale starkknochig mit sich umtrug, versuchte ethisch ausgebaute, zeitmodisch mißverstandene, unmenschlich angewandte Erziehungsfortschritte an einem Zögling auszuprüfen, den er als Vorbild von Prinzenerziehung einst vor die Welt zu stellen gedachte.
Hinzpeter wußte nicht, daß Kindheit und kindliche Arbeit, knabenhafte Anstrengung ohne jedes Lob nur einen grauen, trostlosen Himmel ohne Sonne bedeuteten. Humorlos, wie er war, streng gegen sich selbst, ein trockener Idealist, der sich sofort in einen Pedanten wandelte, wenn er seine Ideale zu ordnen anfing, verkündete er zweierlei Sittlichkeitsforderung: Pflichterfüllung und Entsagung. Nichts war von Schwung in seinem Gesicht, nichts von Begeisterungsbereitschaft in seinen scharfgeschnittenen Zügen, die Strenge und Unfehlbarkeit als Dogmen ansagten. Auf weiten einsamen Spaziergängen regte er Prinz Wilhelm zu freien Vorträgen und zur Kunst selbständiger Erfindung an. Dennoch hat selten ein Lehrer phantasieloser ein phantasievolles Kind gerührt. Er verstand es nicht, den Hang des Prinzen zum Phantastischen im richtigen Augenblick zum rechten Ziel zu führen, die Phantasie schnitt er durch, wenn er selbst nicht mehr verstehen konnte. Jede der Nüchternheit abgekehrte, dem Glanz zustrebende Regung unterdrückte er. Ihm schien es reichlich Psychologie, die man schließlich treiben mußte, wenn er Prinz Wilhelm und seinen Bruder Heinrich im Berliner Tiergarten anwies, die Gesichter der Spaziergänger zu betrachten und ihren Charakter daraus zu enträtseln. Vor den klassischen Meistern stellte er in den Museen historische Tabellen auf. Vor den Plastikern erneuerte er das Studium des Geschichtsforschers. Kein Wort fiel über Zeit, Technik, Inhalt, Wollen der Meister.
Daheim packte sich der Prinz von morgens um sieben Uhr bis abends in die zehnte Stunde den Kopf mit Latein, Griechisch, mit Englisch und Französisch, mit Mathematik und Physik, mit Geographie und Geschichte voll. Zwischendurch stimmte der Doktor freudig zu, wenn Prinz Wilhelm von knapper Ruhezeit auch etwas ans »Meditieren« über religiöse Themen verwandte. Aber selten blieb ihm der Genuß an einem Thema über die ersten Lernstunden. Noch ehe er dem Kern sich näherte, waren ihm durch Ernüchterung der Materie, durch eigensinnig zehnmal wiederholte Kritik, durch Tadel und Zerzerrungswut von diesem Schulmeister längst Thema und Genuß verdorben. Er warf das Thema fort. Alles war zerpflückt, bescheidenster Schönheit beraubt. Der Prinz sehnte sich erschöpft nach anderem. Seine Gedanken zogen davon. Stoff, Arbeitsprogramm, Aufsicht über die Arbeit waren überreich in der Hinzpeterzeit. Aber Hinzpeter selbst verstörte dem Prinzen alles. In sieben Jahren der Zucht hatte er an tausend Stoffen, auf allen Gebieten ihm das Mitgehen bis zum Schlusse vergällt. Er sprach sich frei von Schuld, wenn aus dem Prinzen doch kein Vorbild werden sollte. Er war, als der Befreite zum Studium nach Bonn fortging, mit den Ergebnissen des Unterrichts zufrieden. Dennoch versäumte dieser Erzieher, ohne sich selbst den Einwurf zu stellen, womit denn eigentlich sein Zögling all die angefüllten Jahre verbracht, bei Gelegenheit nicht die vertrauliche Erklärung: »sein Schüler habe niemals das Arbeiten gelernt«. Kaum jemals ahnte Hinzpeter, daß seine ganze Lehrmethode, indes er nur tadelte und verwarf, zuletzt Verbitterung erzwingen mußte, wie sehr der Prinz auch an dem Lehrer hing. Daß die unablässig vorgetragene Unzulänglichkeit nur seelisch schweren Druck erzeugte, der schließlich stärker wurde, als jeder selbstgewollte Ansporn. Hinzpeter hatte ein pedantisch warmes Herz für Menschentum, für Arbeiterschwere, für sozialen Weltausbau. Aber dem unverwöhnten Jungen köstliches, von einer zärtlichen Tante überschicktes Obst fortnehmen, damit er sich im Anblick des Geschenkten läutere, ohne davon zu kosten, kleine Gäste zu Leckerbissen einladen, die allen ohne Maß bestimmt waren, nur dem kleinen Gastgeber nicht, keine Freude sich ansagen lassen, Unerwartetes an Freude sofort vernichten und finster daneben stehen, das Lehrpensum nie als erfüllt, noch weniger als gut erfüllt ansehen – all das war das neuspartanische, hinzpetersche Rezept, von der Mutter gebilligt, vom Vater anerkannt, mit dem unbewußten Hochmut der Unfehlbarkeit geübt, die hier eine Kindheit zerbrach.
Wenn doch ab und zu Sonne aufblinkte in Prinz Wilhelms Jugend, so geschah dies nur ganz von fernher. Zärtlich gab sich die englische Großmutter, wenn sie von ihm sprach, sooft sie zu ihm sprach. Gütig die Großeltern, wenn sie ihn kommen ließen. Doch waren die Sonnenlichter gezählt und fast immer waren sie gefährlich. Selbst der Kronprinz war verstimmt, wenn Königin Victoria den Enkel, den sie offenbar zu lieben schien, einfach zum Tee behielt. Und was ihn an Gunst des alten Kaiserpaares beglückte, las er – der als vorlaut galt, bloß weil er antwortete, auch wenn man ihn gefragt, der sich nach Ansicht aller vordrängte, auch wenn man ihn geholt hatte – als Unmut auf dem Gesicht der Mutter.
In dem Antlitz des Kronprinzen Wilhelm vermochte freilich niemand zu lesen, da er durch die Sterbenszeit des Vaters schritt. Die Erziehungsversuche Doktor Hinzpeters lagen weit zurück. Wenig wußte die Öffentlichkeit von ihm, nur Undeutliches erst seit kurzer Zeit. Er hatte den Weg fast aller künftigen Thronerben beschritten, befehligte erst sein Regiment, später seine Brigade, hatte bisher in bescheidenem Hofhalt in Potsdam gelebt, in junger Ehe mit Prinzessin Augusta Viktoria von Schleswig-Holstein. Vom alten Kaiser war er mit höfischen Reisen betraut worden, zur Königin Victoria von England, zum Zaren Alexander III. nach Petersburg. Einmal hatte die Öffentlichkeit aufgehorcht: als sein Name im Zusammenhang mit den wohltätigen Bestrebungen einer geplanten »Berliner Stadtmission« fiel. Der Generalquartiermeister Graf Waldersee, der anerkannte Freund des Prinzen, hatte sie mit dem politisch allzu betonten, in Rassefragen und Glaubensdingen weniger duldsamen Hofprediger Stöcker aufrichten und zu christlichsozialer Schulung des Volkes über das ganze Reich verbreiten wollen. Dann hatten die Bestrebungen sich wieder verlaufen. An der Spitze seiner Soldaten wirkte Prinz Wilhelm frisch, die Schwäche des linken Armes hatte er so sehr überwunden, daß sie kaum noch auffiel. Seine Stimme hatte den Ton des Offiziers. Sein Wesen war undurchsichtig, schien oft verhalten, manchmal scharf. Er allein wußte, daß er voll Trauer, voll Erbitterung und Enttäuschung war.
Überall stand, selbst wenn er Kindheit und Lernzeit ganz und gar vergessen wollte, Verstimmung an Verstimmung auch in der schweren Spanne seit zwei oder anderthalb Jahren, die nunmehr in die große, kaiserliche Todestragödie enden mußte. Überall und immer im elterlichen Hause hatte er Anstoß erregt. Wenn der alte Fürstreichskanzler gewollt hatte, daß er sich im Auswärtigen Amt, rein soldatischer Umgebung und nur soldatischer Gedankenwelt entzogen, mit den Geschäften der Politikführung allmählich vertraut mache, so hatte der Vater auf verletzende Art aus Portofino zurückgeantwortet:
»Angesichts der mangelnden Reife sowie der Unerfahrenheit meines ältesten Sohnes, verbunden mit seinem Hang zur Überhebung wie zur Überschätzung, muß ich es geradezu für gefährlich bezeichnen, ihn jetzt schon mit auswärtigen Fragen in Berührung zu bringen,«
Immer hatte es, ob er auch seine Arbeitskräfte weder schonte, noch schonen wollte, ob er Ehrgeiz bewies oder Zurückhaltung übte, nichts als Verdammnis und Vorwurf gegeben. Da er zum erstenmal zu politischer Sendung berufen wurde, da er sich gegen die Betrauung mit der Reise zum Zaren gewehrt hatte aus Furcht vor dem Zuhause, hatte es schwerstes Ärgernis über solche, von ihm vermutlich selbst herbeigeführte Verwendung gegeben. Als Doktor Mackenzie Alarm aus San Remo schlug, war der Prinz, von Angst um den Vater befallen, an dem er in Heimlichkeit zärtlich und unglücklich hing, zum Großvater geeilt, um durch wirkliche Autoritäten zu retten, was sich vielleicht doch noch retten ließ. Abermals war es Aufdringlichkeit und Anmaßung gewesen, die ihn nach San Remo getrieben hatten. Nicht leugnen ließ sich, daß in vieler Rücksicht Prinz Wilhelms Auffassung von Staat und Volk und Herrschertum im Gegensatz zum Weltbild seiner Mutter stand. Sie hatte nie vergessen, daß sie eine englische Prinzessin war, er selbst vergaß es nie, daß er ein Prinz von Preußen war. Ihm war Fürst Bismarck stets der gewaltige, von unerhörten Taten umleuchtete Paladin. Was er geschaffen, war für ihn unantastbar und jeden Schutzes wert. Aber im Traumland neuer deutscher Königsdemokratie, die seine Mutter verwirklichen wollte – um jeden Preis, mit ehernem Willen, denn diesen Willen zum Liberalismus vertrat sie als Despotin – war der gleiche Fürst Bismarck der gutgehaßte, böse Geist, dem anzuhängen sich der eigene Sohn nicht scheute. Aussprache zwischen Mutter und Sohn hätte vielleicht ergeben, daß der Sohn den Fortschritt nicht minder liebte als sie, daß er sie im Wollen zum Fortschritt vielleicht sogar übertraf, nur daß er Überlieferungen, nach seiner Überzeugung Erdgewachsenes nicht umstoßen oder doch Rechte und Historisches schonen wollte. Aber der Aussprache entzog sich die Fürstin. Nur einmal riß ihr Leid oder das Allertiefste, das ihr als Leid erschien, die Dämme nieder. Auch aus San Remo hatte sie den Sohn, den unaufhörlichen Eindringling, wegschicken wollen. Er sollte ruhig und gleich, als er kam, nach Rom weiterreisen, wohin er nach der Mutter Meinung auf dem Wege war. Nur zufällige Begegnung mit dem Vater, der ihn von der Treppe herab sah, der ihn mit geisterhaftem Flüstern ansprach und dann mit stummem Weinen an sich drückte, hatte die Erlaubnis zum Bleiben erwirkt. Danach schien plötzlich mildere Stimmung zwischen Mutter und Sohn aufzukeimen. Die Kronprinzessin selbst schickte den Prinzen zu dem aus Wien herbeigeeilten Professor Schrötter, damit er sich mit ihm berate. Und hemmungslos brach sie auf einem Spaziergang unmittelbar darauf in maßloser Erregung aus:
»Wenn ich daran denke, daß alle Pläne, die ich mit Papa geschmiedet habe, zusammenbrechen werden, weil mir die Macht entrissen werden wird – – ich komme nicht mehr zur Macht – –«
Mit aller Kraft hatte bei solchem nie erwarteten Ausbruch der Prinz sich zusammengerafft, um selbst die Fassung nicht zu verlieren. Reporter, die Tag und Nacht die Villa Zirio umschlichen, jeder Bewegung und jedem Gaste folgten, waren auch jetzt hinter Mutter und Sohn. Die Kronprinzessin zitterte vor Erregung, schwer und in sichtbarem Versagen der Nerven stützte sie sich, hing sie an dem Arm des Sohnes. Nie hatte sie mit solcher Deutlichkeit von ihrem unbesiegbaren Argwohn gesprochen, daß der eigene Sohn den todkranken Vater im Staatsstreich vom Throne stoßen, sie selbst aber völlig entrechtet halten werde – Gedankengänge, die sie sonst nur von fern hatte anklingen lassen, die der Prinz aber kannte, da sie ihm in versteckten Andeutungen zugeflüstert wurden. Er selbst hatte alles getan, bei jedem Anlaß und in offener Antwort, wenn etwa törichte Worte darüber zu ihm kamen, daß der Kaiser nicht regierungsfähig sein werde, weil er nicht sprechen, keinen Kronrat abhalten und den Truppen nicht befehlen könne. Dem Generalquartiermeister Graf Waldersee hatte er schon einmal erklärt:
»Verfassungsmäßig ist es einerlei, ob der Kaiser spricht oder nicht. Er kann seine Befehle schreiben.« Er wußte nicht, daß der Graf das Gegenteil davon in sein Tagebuch niederschrieb und weitererzählte. Die aufgeregte Kronprinzessin begann Prinz Wilhelm zu beschwichtigen. Einmal wollte er ihr volle beruhigende Klarheit geben:
»Aber Mama …« redete er auf sie ein, immer noch englisch, wie sie das Gespräch auf der menschenbelebten, offenen Straße begonnen hatten, »liebe Mama … das ist ja alles durch die Verfassung geregelt. Der König von Preußen kann überhaupt nicht abgesetzt werden. Er kann auch schriftlich seine Befehle geben … nur wenn er geisteskrank ist, wird ein Regent für ihn bestimmt.«
Aber nur langsam hatte die Kronprinzessin sich gefaßt. Sekundenlang schien es, als wäre eine Brücke zwischen beiden möglich. Indes die Unnahbarkeit, die Eiseskälte war wieder da, als sie den Prinzen wiedersah.
Dann spielten noch, mitten in die Charlottenburger Krankheitstage, die unglückseligen Heiratspläne, die Kaiserin Friedrich für ihre Tochter Victoria begünstigte. Der Kanzler hatte sich, noch als der alte Kaiser lebte, gegen die Heirat der preußischen Prinzessin mit dem Fürsten Alexander von Battenberg aufgelehnt. Der junge Fürst war von den Bulgaren auf den Thron gerufen worden. Er hatte ihn angenommen gegen den Willen des Zaren. Den russischen Kaiser mußte die Heirat verletzen, auch wenn Fürst Alexander seinen Thron – eben des Zaren wegen – nunmehr wieder preisgegeben hatte. Von Bismarck war die Heirat verurteilt worden. Der alte Kaiser hatte sich gefügt, Prinz Wilhelm stand zu Bismarck. Dann war Königin Victoria noch einmal zu Kaiser Friedrich zu Besuch gekommen: sie gab dem Enkel und Bismarck recht. Verletzt waren Kaiser und Kaiserin. Alles, was Prinz Wilhelm dachte, was er sprach, was er anrührte, wofür er einstand: alles war schlecht – alles Verstimmung für ihn im Haus der Eltern.
Er wohnte jetzt im Berliner Schloß. Eine Kabinettsorder Kaiser Friedrichs hatte ihm befohlen, in kaiserlicher Stellvertretung die nötigen Unterschriften zu vollziehen. Er unterschrieb Patente, Beamtenernennungen, die Offiziersbeförderungen. Von wirklichen Beschlüssen, von wichtiger Erwägung oder Beratung erfuhr er nichts. Wenn der kaiserliche General von Winterfeld ihm nicht Aufschluß gab über die Arbeiten einer Kommission, die der neue Kaiser eingesetzt hatte, um die veralteten Exerzierbestimmungen der Armee zu erneuern, so erfuhr er auch von militärischen Dingen nichts. Er hatte Unterschriften zu geben, die der Adjutant brachte und holte. Er biß die Zähne zusammen und übte heimlich mit seinen Regimentskommandeuren die Brauchbarkeit der neuen Exerziervorschriften, soweit er sie wußte. Dennoch hatte um seine Machtlosigkeit herum sich etwas verändert. Über allen Geistern, zerstreut und wortkarg wie immer, mit seinen Gedanken bei Strategie und Denkschriften, war Feldmarschall Graf Moltke der gleiche wie zu allen Tagen, wenn der Prinz ihn sah. Auch der General von Albedyll, Kaiser Wilhelms I. treuer Vertrauter, trug kaum anderes Wesen zur Schau als sonst. Mit ihm hatte sich zwar der Prinz einmal recht kräftig zerzankt, weil der General das Verbot des prinzlichen Regimentskommandeurs verfehlt fand, das seinen Offizieren den Besuch eines nicht ganz einwandfreien Klubs untersagte. In Stunden der Nachtwache für den alten Kaiser, als er auf der letzten Heimreise von Gastein in Salzburg zusammenbrach, hatten sie die Verstimmung längst wieder begraben. Aber wer sonst beim Prinzen sich meldete, bückte sich seit Wochen merklich tiefer. Zutragendes drängte sich liebedienerisch heran. Ratschläge wurden untertänigst unterbreitet, die nicht erbeten waren. In der ganzen Bitterkeit dieser Zeit ging der Prinz lediglich militärischer Arbeit nach. Er übte mit seinen Regimentern täglich auf dem Tempelhofer Feld. Ritt an der Spitze seiner Soldaten bis ans Brandenburger Tor, ließ die Bataillone vorbeimarschieren, ein Schauspiel für die Menge, ließ die alten, historischen, von ihm befohlenen Märsche, anstatt der Operettenmusik wie bisher, den Takt dazu ansagen, dann ritt er ins Schloß. Die Unterschriften warteten. Ihn ließ es kühl, daß ihn allmählich als allzu militärisch immer häufiger ein Teil der Presse angriff, daß jedesmal die Kaiserin Friedrich, wenn Doktor Mackenzie ihr die Angriffe gebracht hatte, in spitzer Bissigkeit von »marktschreierischer Militärtätigkeit« sprach. Er hieß selbst seine eigenen Offiziere schweigen, als sie Abhilfe gegen die Angriffe erbaten. Die Stimmung werde verebben. Den Berlinern, die in Scharen mit den Regimentern zogen, wolle er die Freude nicht nehmen. Aber die Stimmung verebbte nicht. Endlich glaubte selbst Graf Waldersee, der Generalquartiermeister, zu der Angelegenheit nicht mehr schweigen zu dürfen. Er erbat sich bei Kronprinz Wilhelm Audienz. Sie wurde sofort gewährt, denn er war zu aller Zeit gern gesehen. Langsam erging sich der Generalquartiermeister erst in Versicherungen:
»Wie alle Offiziere in Berlin, ob hoch oder niedrig, sich an Seiner Kaiserlichen Hoheit militärischem Eifer erfreuten und aus ihm für die Zukunft Zuversicht und Hoffnung schöpften. Allerdings gäbe es andere Kreise, zumal diejenigen, welche ihre Hoffnungen auf eine liberale Ära unter Seiner Kaiserlichen Hoheit Eltern gesetzt hatten, in der sie berufen seien, eine Rolle zu spielen, welche Seiner Kaiserlichen Hoheit feindlich gesinnt seien. Die Artikel, in welchen von der Linkspresse gegen Seine Kaiserliche Hoheit geschrieben würde, stammten aus diesen Kreisen, deren Verbindung mit Charlottenburg ja evident sei, wenn sie nicht gar von dort inspiriert würden.«
Der Generalquartiermeister machte eine Pause. Der Kronprinz schwieg. Der Graf sprach weiter:
»Man sei eben in allen loyalen Zivil- und Militärkreisen äußerst verstimmt über das ›Frauenregiment‹, das von Charlottenburg aus über Preußen-Deutschland indirekt durch den kranken Kaiser ausgeübt werde, ein Vorgang, der noch niemals in Preußen stattgefunden hätte. Daher blickten aller Augen voll Hoffnung auf Seine Kaiserliche Hoheit, daß er nicht dulden werde, daß dies Frauenregiment Schaden anrichte. Kaiser Friedrich habe nur noch kurz zu leben, also werde dies ›Regime‹ nicht von langer Dauer sein. Trotzdem könne doch manches zerstört werden. Daher solle Seine Kaiserliche Hoheit die Pressegemeinheiten nicht tragisch nehmen oder sich darüber aufregen, aber Seine Kaiserliche Hoheit brauche auch die Befehle aus Charlottenburg seitens Seiner Majestät des Kaisers an Seine Kaiserliche Hoheit nicht auszuführen – angesichts der Kenntnis über die wahre Quelle, welche sie inspiriert habe –, sondern sie ruhig unausgeführt lassen und beiseite legen. Wenn Seine Kaiserliche Hoheit erst daran sei, könne Er ja tun und lassen, was Seine Kaiserliche Hoheit wolle, und müsse sich nicht vorher unnötig binden lassen.«
Der Kronprinz hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört. Der General hatte das besondere Vertrauen des alten Kaisers gehabt. Feldmarschall Graf Moltke bezeichnete ihn als seinen tüchtigsten Nachfolger. Ihm selbst schien er bisher der verläßlichste Freund. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Kronprinz sich zurechtfand. Graf Waldersee wartete und schwieg jetzt ganz. Unter den ersten Antwortsätzen des Prinzen erblaßte er:
»Vor kurzem«, erwiderte der Prinz, »hätte er an der Spitze seiner Brigade mit seinen Offizieren und Grenadieren und Füsilieren auf ihre Fahnen seinem Vater den Fahneneid geschworen. Den werde er, komme, was da wolle – halten! Das impliziere selbstverständlich strikte Ausführung jedes Befehls S. M. des Kaisers aus Charlottenburg. Und sollte ein solcher etwa lauten: ›General Graf Waldersee ist wegen versuchter Verleitung des Brigadekommandeurs der 2. Gardeinfanteriebrigade zum Ungehorsam gegen seinen Kaiser und Bruch seines Fahneneides vor den Sandhaufen zu stellen und zu erschießen‹, dann würde er den Befehl – mit Freuden – voll und ganz ausführen.«
Der Kronprinz wandte dem General den Rücken zu. Die Audienz war zu Ende. Graf Waldersee ging ohne weiteres Wort. Erschüttert blieb der Prinz zurück. Er mußte nicht romantisch sein, um auf Treu und Glauben zu bauen. Er mußte nicht erst in wahrer, der Vorsehung und ihrem Gebot zuinnerst zugewandter Gläubigkeit davor zurückschrecken, daß ungehaltener Eid ihm eine Todsünde bedeutete. Aber Offizier war Offizier. Alles zerbrach, so wie der Eid vor dem Kriegsherrn ein Ding der Auslegung würde. Wenn ein General mit Vorschlägen kam, gleich dem Grafen Waldersee, mußten Verwirrung und Unzuverlässigkeit bei anderen noch größer sein.
Den Freund und Ratgeber gab er verloren. Er lebte in einer grauen Welt. Wenn er ehrlich war: jetzt ersehnte er ein Ende. Er war der Prinz, der nichts gelernt. Er war der Prinz, der nichts gekonnt. Der alles schlecht machte. Der dennoch nach Volkstümlichkeit mit aufreizenden Mitteln haschte. Der in Unfrieden mit seinen Eltern lebte. Er war rücksichtslos. Er war herzlos. Sicherlich hatte er auch seine Fehler. Aber daß er alle vor den Kopf stieß, daß er nur Fehler haben sollte, schien ihm schließlich selbst merkwürdig. Er hätte gern erwiesen, daß doch das meiste an ihm anders war. Aber wenn er auch ganz vergessen wollte, was ihm angehängt schien, ganz überwinden, was vor allem in diesen Wochen spielte, so brach doch auch schon die erste Säule, auf die er in naher Zukunft sich hatte stützen wollen. Das Leid war groß. Kaum einer wußte, wie er wirklich war. Noch größer als das Leid wuchs seine Einsamkeit.
Düster schritten die Tage fort. Der kranke Kaiser war in das Neue Palais nach Potsdam gebracht worden. Alles lief dort verdeckt, alles abgeblendet, kaum ein Regierungsakt erfolgte. Nur der Minister des Innern von Puttkamer wurde plötzlich verabschiedet und durch entscheidenden Einfluß des Ministers Friedberg bei der Kaiserin ein Gesetz über die Verlängerung der Legislaturperiode unterzeichnet, über einen weiter als bisher gespannten Zeitraum, für den die Volksvertreter in Hinkunft gewählt werden sollten. Die Macht der Regierung erfuhr damit eine Einschränkung. Die Volksvertreter sprachen von da an länger und darum eindringlicher in der Gesetzgebung mit. Es schien, daß Kaiserin Friedrich mit der Entfernung des Ministers von Puttkamer, der sich gegen das neue Gesetz gewehrt den Verfechter eines Systems gefällt hatte, das sie haßte, stürzen und vernichten wollte. Aber der Reichskanzler selbst hatte den Minister fortgeschickt. Er war zwar gleichfalls gegen die Herausgabe des Gesetzes. Aber vielleicht war die Verständigung mit der Kaiserin für ihn leichter, wenn er von sich aus ein Opfer, für sie eine Genugtuung brachte.
Dann war das Ende am 15. Juni 1888 da. Die Offiziere im neuen Palais änderten völlig den Ton. Sie kannten nur mehr einen »jungen Herrn«. Husaren sprengten im Galopp an und umstellten das Schloß. »Der junge Herr« wußte, daß er wieder Schlimmes tat. Aber es war der letzte Akt einer Vergangenheit, gegen die er endlich aufstand, um sich zu wehren. Mackenzies englische Hilfsärzte hatten die ganze Zeit über Akten und Mappen und Taschen unauffällig, dennoch bemerkt aus dem Schlosse getragen. Die Husaren kamen zu spät. Zwar verließ niemand mehr das Schloß. Aber die meisten Dokumente Kaiser Friedrichs waren schon fortgeschafft. Am Totenbett stand, majestätisch und hochaufgerichtet, wortlos in ihrem Gram um Gatten und Zukunft, um alle Lebensziele, die ihr an diesem Tage gestorben waren, die Kaiserin-Witwe.
Kaiser Wilhelm II. war der Träger der Macht.