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Vielfach schillerte die Persönlichkeit Kaiser Wilhelms II. Keiner erkannte den Prinzen wieder von dem Augenblick an, da seine Hände die Macht des Herrschers ergriffen hatten. Er war in der Regel schweigsam gewesen, vor Eltern und Freunden, vor Kanzler und Höflingen, bisweilen war er mit einer Gebärde aufgefahren, die wie Trotz oder wie ein Drohen wirkte, und dann hatte er sich völlig wieder in Dienst und Arbeit zurückgezogen, fanatisch nur in sein Soldatentum vertieft. Der in Enge und Stille gehaltene Prinz wurde die Bewegung selbst, als die Krone sein war. Alles wollte er nachholen, alles im Fluge erobern, um sein Reich zu erhöhen. Die Potsdamer Zurückgezogenheit schlug in Trubel um.
Der neue Kaiser empfing an Menschen, soviel er konnte. Nicht alle freilich, die er empfangen sollte. Einen fremden Botschafter auf der Durchreise lehnte er gegen alles Herkommen ab, weil anderes im Augenblick ihn mehr beschäftigte. Bisweilen meldete er sich zu Besuch an, weil er einen Bevorzugten ehren wollte, dann sagte er seine Ankunft, weil ihm ein militärischer Alarm plötzlich wichtiger war, in letzter Minute wieder ab, obgleich der Gastgeber sein Schloß um der Ehrung willen völlig neu hatte einrichten lassen. In seinen Entschlüssen erschien er überhastet, denn oft warf er im nächsten Augenblick um, was er soeben erst angeordnet hatte. Die meisten überraschte er, wenn er kam, denn er gab ihnen nicht die Zeit zur Vorbereitung. So wirkte er oft völlig anders, als er erwartet wurde. Wer ihm voll Furcht entgegensah, war häufig bestrickt von überraschender Liebenswürdigkeit. Wenn die Stadtväter der Reichshauptstadt zu ihm kamen, um ihm das Geschenk eines Brunnens anzuzeigen, empfing er sie kalt, ungnädig und mit deutlichem Verweis, weil er es aus Irrtum als ihr Schuldkonto ansah, daß die freisinnigen Blätter der Stadt über kaiserliche Familienangelegenheiten Dinge schrieben, die ihn verletzten. Wenn er unter seine Offiziere trat, so war die Ehrung durch des Kriegsherrn Anwesenheit ungewöhnlich. Sie standen in festgewurzelter Front vor dem Kaiser. Er aber war als Kamerad gekommen und selbst ihre Ausgelassenheiten wollte er mitmachen.
Vor allen Menschen war er rasch, er liebte die offenen Worte. Im engeren Kreise war er im Vertrauen unvorsichtig. Seine Gäste auf der Jacht ›Hohenzollern‹ versammelte er abends gern um sich. Zu ihnen sprach er frei von hundert Dingen. Er liebte die Lustigkeit, selbst den Lärm. Es war dann so, als hätte der Kaiser sich fortbegeben. Denn er war der Monarch nur, wenn er Truppen besichtigte, wenn Staatsgeschäfte, Minister und Generale um ihn waren, wenn er Entschlüsse zu fassen und Entscheidungen zu fällen hatte. Abends auf der ›Hohenzollern‹ oder bei ähnlichem Anlaß war er dreißigjährig unter Kameraden. Er fühlte sich als Gastgeber, wollte alle um sich unterhalten, erzählte Anekdoten, die vor keiner Derbheit zurückschreckten. Nur erotischen Dingen wich er aus, nicht die leiseste Anspielung vertrug er. Er schnitt dann dem Erzähler das Wort durch, begann selbst von neuem, seinen Gästen alles mögliche vorzutragen. Allerdings wunderte er sich eine Weile später nicht wenig, daß seine Worte weitergegeben wurden. Jeden in seinem Kreis hielt er für verläßlich, alle Generale für verschwiegen. Aber auch die Generale erzählten, was sie von dem jungen Kaiser gehört hatten:
»Heute hat der Kaiser das gesagt« – –
»Gestern hat der Kaiser das gesagt« – –
Entstellt und anders ausgelegt, richteten die wandernden Aussprüche Unheil oder wenigstens Verstimmung an. Einem bayrischen General meldete bestürzt ein katholischer Geistlicher solch ein rasch hingeworfenes Wort, das die Feindschaft des Kaisers gegen alle Katholiken zweifelsfrei bewies:
»Die Katholiken sind die reinsten Heiden! Sie beten ihre Heiligen an!«
Was im Scherz gefallen, was als Scherz nicht verstanden war, wurde im Ernst weiter berichtet. Selbst Kommandierende Generale brachen die ihnen nicht ausdrücklich auferlegte, aber vom Kaiser als selbstverständlich vorausgesetzte Schweigepflicht. Erstaunt fragte eines Tages der Prinzregent Luitpold von Bayern bei seiner Berliner Gesandtschaft an, wieso denn vertrauliche Dinge schon am Tage nach der Besprechung allgemein bekannt würden, noch ehe er selbst sie wüßte. Der Kaiser erfuhr von dem Weitersprechen nichts. Er hatte einen sorglosen Abend verbracht.
»Kaiser Wilhelm II.«, bekannte der Generalstabsarzt Doktor Leuthold, der Leibarzt des Monarchen, dem österreichisch-ungarischen Botschafter Grafen Széchényi, »Kaiser Wilhelm II., den ich täglich zu sprechen die Gelegenheit habe und dessen herrliche Geistes- und Herzensgaben ich so hoch bewundere, war zu lange in Potsdam gewesen und kennt die Welt zu wenig und beurteilt alles noch etwas vom Standpunkt des früheren Husarenobersten. Ich fürchte sehr, daß mein allergnädigster Herr noch so manche Enttäuschung haben und manche traurige Erfahrung machen werde, bis sein Urteil ein unbefangenes und gereiftes werden wird. Auch in seinem persönlichen Umgange kann sich der Kaiser noch nicht in seine neue Stellung finden. So ging es z. B. auf dem Schiff, besonders des Abends, gar bunt zu, und man hatte ordentlich Mühe, den andern Tag wieder den richtigen Ton zu finden.«
Aber mit der gleichen Sorglosigkeit erzählte der Kaiser auch am nächsten Abend weiter darauf los. Er war zufrieden, wenn alles um ihn herum sich unterhielt, wenn alles vor Lachen sich ausschüttete, wenn er es war, der wirkliche Unterhaltung schenken konnte. Fast immer sprach er ganz allein. Allmählich merkte er es gar nicht. Niemand wagte ihn zu unterbrechen. Wenn er heiter war, wurde das dröhnende Lachen ein pflichtschuldiger Chor. Selten begann ein ganz Mutiger von selbst zu erzählen. Keiner stellte je eine Frage, ob Minister, ob General oder Leutnant –
Wenn er ausfuhr oder ausritt, jubelte das Volk ihm zu. Die Zurufe kamen aus allen Straßen. Immer lungerten Neugierige um das Schloß. Selbst den alten Kaiser hatte man, wenn er sich in der Stadt zeigte, nur manchmal, nur bei ganz besonderem Anlaß in den Straßen laut begrüßt. Wilhelms II. offenkundige Beliebtheit schrieben die fremden Botschafter und alle, denen sie wichtig oder ein Anlaß zum Ärger war, auf die Wirkung von Jugend und Frische. Wer immer mit ihm durch Amt oder gesellschaftliche Stellung in Berührung kam, zerbrach sich über den deutschen Kaiser den Kopf. Er drückte oft sein Mißfallen wie ein scheltender Hauptmann aus. Er konnte von vollendeter Ritterlichkeit sein. Er konnte dem Angesprochenen mitten im Wort den Rücken drehen und ordnete Zwischenfälle mit einem leisen, erlesenen Zartgefühl, das keiner in solchem Grade von ihm erwartete und viele nicht verstanden. Rücksichtslosigkeit wechselte mit feinstem Takt. Der Kaiser hatte wirklich Launen. Er brachte Unruhe in Beamtenschaft und Staat. In seinem Willen, das Offizierskorps zu verjüngen, war er oft ungerecht. Wo er sah, daß einzelne oder Gruppen bestimmte Dinge von ihm erwarteten, tat er bisweilen mit Absicht das Gegenteil, obgleich die Wünsche der Erwartenden berechtigt waren. Aber das Innerste in ihm, das sich nicht wandelte, war inmitten von Launen, Überschwangsfehlern und allen möglichen Schwächen der Wille zum Guten und zur Fortentwicklung.
Merkwürdig an dem Kaiser war, daß er trotz aller Untaten, die von ihm berichtet wurden, dennoch jeden entzückte, der ihn wirklich kennen lernte. Trotz des Mangels an Takt, über den die seufzende Hofgesellschaft und alle Welt klagte, wenn er in seinen Scherzen zu weit ging, wenn er einem zu dicken General gutmütig auf den Bauch klopfte, wenn er über eine zu lange, groteske Nase lachte, wenn er im Zorn ganz dicht an einen Erschrockenen herantrat, wenn er seine Worte hemmungslos vor ihm losdrohen ließ und seine Augen flackernden Glanz bekamen, indes er dem Wortlosen die geballte Faust dicht vor das Gesicht hielt: trotz des wirklich Unangenehmen, das er hatte, bestrickte er dennoch im nahen Verkehr alle, die ihn ernsthaft sprachen. Nur der Wirkung seiner Persönlichkeit war es zuzuschreiben, daß die leisen Verstimmungen, die sich über Kaiserin Friedrich, dann über Bismarcks Briefwechsel mit Lord Salisbury zwischen England und Deutschland entwickelt hatten, sich tatsächlich allmählich mit und nach seinem ersten Besuch in Osborne wieder zu verflüchtigen begannen. Seine Lebhaftigkeit, sein Geist, seine Jugendlichkeit zogen, wenn ihm daran lag – und fast immer lag ihm daran –, jedermann in seinen Bann. Er eroberte nicht nur die alte Königin Victoria. Sie fand ihn vernünftig, liebenswürdig und bereit, auf alle Themen einzugehen. Wenn sie den Rat und die Meinung des Kaisers hören wollte, wählte sie seit den Tagen von Osborne den vertraulichen Weg, in kurzen anfragenden Billets ihn um seine Meinung zu bitten. Aber der Kaiser sprach nicht nur mit der Königin von England, mit Kaisern, Prinzen und Kardinälen. Auf alle wirkte er: kein Stand und kein selbständiger Geist entzog sich ihm. Gelehrte und Schriftsteller standen vor seinen schnellen Gedanken, vor seiner eilenden Logik in höchster Achtung. Schon sein Blick fesselte. Auf den geistvollen, in kritischer Betrachtung geschulten Zionistenführer Theodor Herzl machte er in Konstantinopel bei erster Begegnung einen klaren und starken Eindruck:
»Der Kaiser hatte mich beim Eintritt mit seinen großen meerblauen Augen mächtig angeblickt. Er hat wirklich kaiserliche Augen. Solche Augen habe ich nie gesehen. Es liegt eine merkwürdige, kühne, suchende Seele darin.«
Aber Kaiser Wilhelm hatte nicht nur eine einzige Seele. Vielfache Splitterung gliederte, vielfache Strömungen durchliefen die an sich komplizierte Grundteilung seines Wesens. Es war nicht der Kaiser allein, der in ihm und neben ihm lebte. Viele Wesen waren da. Aber wer immer in seiner Seele wohnte, atmete ein starkes Sonderdasein und rang mit ihm.
Mystische und romantische Züge trug Kaiser Wilhelms Antlitz. Neben dem Idealisten schritt der Realist einher. Der junge Kaiser grübelte über den Symbolen alter Völker, die die Wissenschaft noch kaum enträtselt hatte, und suchte daraus Gleichnisse für ewiges Werden und Vergehen und Wiederauferstehen. Das Wesen der Freimaurerei, die geheimnisvollen, unterirdischen Kräfte ihrer Logen, die ihm Zerstörerkräfte waren, ließen ihm keine Ruhe. Eingefangen war er in die Gralswunderwelt Richard Wagners, der er Vorbilder für Ritter und Helden, Sinnbilder aller Tugenden entlieh, gleich den meisten der Zeit, die nur bei Richard Wagner die Treue als Erbgut der Nibelungen, die Vergeltung bei Hagen und alle Ethik in Walhall sahen. Bayreuther Pathos hatte auch ihn ergriffen. Wagners grell strahlende Leitmotive, sein dekorativer Sinn für gesteigerte Leidenschaften, übergroße Charaktere und übersinnliche Mächte, die getragene Weihrauchatmosphäre auf jedem Schauplatz, der Glanz von Lohengrins Rüstung und der Ruhm von Siegfrieds Schwert bestimmten und steigerten auch ihm die Haltung, romantisch und mit dem Willen zum Malerischen und Szenischen, darauf er sich wie zwischen heißen Bühnenlichtern sah. An den mystisch leicht Entflammten drängten sich natürlich Übersinnlichkeitsdeuter und Prediger der Mystik. Von seinen vielgeschauten, spiritistischen Wundern und Gesichten erzählte ihm sein rasch vertrauter Freund Philipp Graf Eulenburg, mit mancherlei Hoffnungen auf inneres Mitgehen des Kaisers. Er hatte den Grafen noch als Prinz Wilhelm in Reichenhall kennengelernt. Den ihm von München zugeteilten Legationssekretär, der ihm in jedem Wort und jeder Geste der märkische Grandseigneur schien, hatte der Kaiser immer näher an sich angeschlossen. Graf Eulenburg schrieb Verse und Musik und sang sie mit wirklich künstlerischem Empfinden. Dem Vortrag alter Balladen gab er versponnenen Reiz. Von fernen Landschaften wußte er lebendig zu erzählen und sie mit ihren Farben vor dem Zuhörer erstehen zu lassen. Von Kunstgeschichte verstand er viel. Über Menschen und Politik sprach er mit Geist und immer mit weicher, ausgleichender Milde. Schon war er geraume Zeit um den Prinzen und Kaiser: niemals hatte er etwas für sich erbeten. Er umwarb den Kaiser mit Darstellungen. Aber vorsichtig überschritt er niemals sichere Grenzen. Bisher hatte der Kaiser nur Offiziere um sich gesehen. Wesen und Inhalt waren ihm an dem Gefährten neu. Viel sprach dafür, daß das Übersinnliche des Grafen auch auf den Mystiker im Kaiser überspringen könnte. Aber der Kaiser fragte nur:
»Was haben Dir denn Deine Medien vermittelt?«
Graf Eulenburg hatte ein geheimnisvolles, fast entrücktes Lächeln, wenn er von seinen Erlebnissen sprach.
»Wundervolle Landschaften! Frauen in herrlichen Gewändern! Blumen, viele Blumen!«
Trocken erwiderte der Kaiser:
»Das gibt es ja auch alles auf der Erde! Dazu brauche ich keine Medien und keine spiritistischen Bemühungen. Das kann ich alles auch arrangieren. Es ist nichts Überirdisches dabei« –
Er glaubte an die Wunder des Grafen nicht. Sein Bekenntnis war wirkliches, gläubiges Christentum, und die Lehren des Spiritisten Du Prel, damals viel in Mode und dem Grafen eine Bibel, vertrugen sich mit seinem Glauben nicht. Der Mystiker und Romantiker wurde oft, nicht nur in den Gesprächen mit dem Grafen Eulenburg, ohne Übergang von dem Realisten abgelöst. Kein Idealismus, kein Mystizismus schloß aus, daß er die Dinge dieser Erde sah, wie sie wirklich bestanden. Er war von seiner Dienstzeit her gewohnt, zwischen hundert Lederballen herumzukriechen und sie durchzuprüfen, wenn neue Sättel gearbeitet werden sollten. Fabrikanten und Lieferanten rechnete er haarscharf Lederbeschaffenheit und Preise nach. Mit Handwerkern und Kaufleuten mußte man ihre Sprache reden, damit man ihre Forderungen und ihre Sorgen verstand.
Immer war er anders, als die Vorstellung von ihm erwarten ließ. Den Obersten Kriegsherrn löste unerwartet der Kaufmann ab. Plötzlich war der Kaiser auch Archäologe, Bibelforscher oder Mitsprecher im Torpedobau. Auf jedem Stoffgebiet hatte er irgendwann einmal gearbeitet, und ein beispielloses Gedächtnis gab wie auf einen Hebeldruck wieder, was er vor Jahren gehört oder gelesen hatte. Es konnte dann sein, daß sein Wissen plötzlich abbrach. Überdruß, Nachklänge aus der Hinzpeterzeit, die ihm von dem Professor beigebrachte Studiermethode hatten sein Fortgehen bis an das Ende des Gegenstandes verhindert. Oft merkte er die Lücken seines Wissens selbst. Sie waren ihm unbehaglich. Er war König von Preußen und stellte fest, daß er die Geschichte seines Hauses nur durch vereinzelte Erzählungen seines Vaters oder Hinzpeters, die Geschichte Deutschlands nur bis zum Frieden von Cambrai kannte und beherrschte. Er wußte wenig vom Zeitalter der Reformation, die Zusammenhänge des Dreißigjährigen Krieges waren ihm fremd: weder sein Erzieher Hinzpeter, noch die Gymnasiallehrer in Kassel hatten ihm je davon gesprochen. Jetzt begann er in Büchern herumzusuchen. Zwischen Ministerempfängen und Audienzen hatte der Generaladjutant von Wittich, eine Leuchte auf dem Gebiete der Kriegsgeschichte, ihm die Feldzüge Napoleons I. vorzutragen. Der General trat ein als diensttuender Offizier. Er stand vor einem wissbegierigen, ernsthaften Schüler.
Es war, als trüge er immer sechs oder sieben Menschen und noch mehr Fachleute in sich. Sie führten alle ein gesondertes Dasein. Niemand wußte vorher, wen von den Sieben er mitgebracht hatte. Wenn er sprach, berechnete er die Wirkung genau und sicher. Tatsächlich war er auch ein Redner von seltener, gefährlicher Kraft. Immer war ihm ernst um die Sache, die der Redner vortrug. Ausstrahlungen des Wortes begriff er im Augenblick. Fast niemals bereitete er, ehe er sprach, den Wortlaut vor. Was dann in berühmten und berüchtigten Sätzen um den Erdball flog, war in der Sekunde geboren und in ihr gehämmert.
Seine ganze Art hatte starke, rhetorische Einschläge. Aber im Verein mit seinem unzweifelhaften theatralischen Bedürfnis spielte er dennoch die Menschen nicht, die er in sich trug und zeigte. Er lebte sie. Königin Victoria hatte ihn zum Admiral der Flotte gemacht. Er selbst sah nicht nur den Rock: er fühlte sich, mit der ganzen Einbildungskraft, die in ihm wohnte und schaffen und sich betätigen wollte, England näher. Als er wenige Monate nach dem Besuche in Osborne nach Griechenland fuhr und die bei Salamis ankernde britische Mittelmeerflotte besuchte, als das besuchte Schiff ihm zu Ehren sofort die Admiralsflagge hißte, war es mehr als nur Höflichkeit, die der britische Admiral ihm erweisen wollte. Der fremde Flottenführer schüttete ihm sein Herz aus. Die Mittelmeerflotte verkam. Der französischen Flotte sei sie allein durch Vernachlässigung bald nicht mehr gewachsen. Natürlich war es merkwürdig, daß der fremde Admiral den fremden Herrscher bat, für ihn in England zu sprechen. Natürlich war es merkwürdig, daß der fremde Herrscher es tat. Ebenso natürlich war Lord Salisburys Antwort, daß Admiräle immer den Wunsch hätten, mehr und mehr Schiffe zu haben. Aber Kaiser Wilhelm fühlte in der ganzen Angelegenheit nur das eine: daß er Admiral der britischen Flotte war. Er lebte in seiner Würde, zugleich in ihren Pflichten. Also sprach er für die fremde Flotte.
Viele Wesen, viele unbewußte Vorbilder und drängende Gestalten lebten und wirkten in Kaiser Wilhelm. Sie alle beugten sich vor einem einzigen Symbol: vor dem Monarchen. Hier war die Grundteilung seiner Persönlichkeit.
Scharf trennte er von der Person die Sendung. Er selbst ordnete sich dem Kaiser unter, der durch Gottesgnadentum seine Macht, seine Pflichten, seine Verantwortung erhalten hatte. Er sah den Monarchen, der er selbst war, losgetrennt von seinem täglichen Dasein, als ein anderes, unkörperliches Ich, als eine fremde, durch Gottes Beschluß auf ferne Höhen gestellte Macht. Sie war ihm das gleiche feierliche Symbol, das sie allen anderen in Staat und Geschichte sein sollte. Er lebte und atmete wie andere Menschen auch. Er erschöpfte sich in vielen Temperamenten und Arbeitskreisen. Aber er erwog und prüfte, er beschloß und befahl nur als Kaiser. Der Monarch war unantastbar, stand über Partei und Volk, seine Interessen waren von unirdischer Art. Wenn er eine Botschaft unterzeichnete, wenn er Minister berief oder seine Generäle um sich versammelte, wenn er fremde Herrscher aufsuchte, war es nicht einer Mutter Sohn, der dies tat – nicht ein von Leidenschaften und Wünschen gleich anderen bewegter Erdgeborener, er unterschrieb als Kaiser, berief und handelte als Gottes Kanzler. Er mochte viele Wünsche haben. Aber der Kaiser mußte sie auch billigen. Monarchische Einsprüche waren in ihm wie oberste Befehle. Von sich hielt er zweifellos viel. Trotz unterdrückter Jugend. Vielleicht gerade darum. Denn seine Fähigkeiten hatte er nicht zeigen dürfen. Nicht einmal zu Ende gebildet hatte sich seine Begabung. Aber »der Kaiser« war doch noch mehr, als der fähigste Prinz oder als ein Träger werbendster, liebenswertester, selbst genialer Eigenschaften. Nicht um seiner selbst willen, aber weil der Kaiser der Inbegriff, der Sprecher und das Gleichnis eines großen Volkes war, weil ihm die Überlieferung solche Würde als Schicksalslast von Gott auferlegt hatte: darum mußte er anders angesehen werden, als andere Menschen. Wovor alle sich neigten, dies war die Auserlesenheit und Hoheit der ihm bestimmten Aufgaben, die nur einem einzigen unter vielen Millionen zufielen. »Seine Majestät«: die Sendung war angeredet mit solchem Wort. Von persönlichen und menschlichen Dingen war sie unabhängig. Prinz Wilhelms Verhältnis zu Kaiser Friedrich III. war nicht sehr glücklich gewesen. Er selbst sehr unglücklich. Aber im Aufblick zum Herrscher war ihm dies schon damals einerlei: der Vater war der Kaiser. Der Prinz hatte jeden Schmerz und jede Kränkung hinzunehmen. Vor »Seiner Majestät« hatte er sich stumm gebeugt –
Im eigenen Denken trennte Wilhelm II. Eigendasein und Sendung noch strenger, als bei öffentlichem Auftreten. Er sprach von sich in der dritten Person. Er vermochte von eigenen Plänen, von eigenen Beschlüssen so zu erzählen, daß der Kaiser als eine von allen, auch von ihm losgelöste, mit höchster Autorität ausgestattete Persönlichkeit erschien. Er sprach von sich, wie der Offizier vom Generalissimus. Mit der ehrerbietigen Verneigung der Priester im Vatikan, wenn Seine Heiligkeit vorbeigetragen wurde. Auf den Umschlag eines Schreibens, das er fortschickte, verzeichnete er den Randvermerk: »Von Seiner Majestät«. Es mochte sein, daß seine Nächsten, der Hof und viele andere noch, wenn die Kenntnis von solch mystischer Wesenstrennung weiterdrang, darüber die Köpfe schüttelten. Leichter als für den Kaiser, den religiös empfundenen, psychologischen Zwiespalt auszutragen, war es für den Betrachter, über ihn zu lächeln. Der Kaiser war geistig nicht so schmal bemessen, daß er die Möglichkeit grotesker Wirkung nicht erkannt hätte. Aber überzeugt, im Bewußtsein der sittlichen Forderung, die er mit der Exkarnation des Monarchen aussprechen, durch die Heraushebung der monarchischen Person aus sich selbst kristallisieren wollte, kehrte er den Grundsatz um: vom Lächerlichen zum Erhabenen ist nur ein Schritt. Vor jedem Staatsakt, vor jedem Schriftzug wollte er daran erinnert sein, daß er Unpersönliches in Ausübung kaiserlichen Amtes tat. Er rief sich zu, daß er als Kaiser eine Würde trug, die er in jedem Augenblick zu achten hatte, da er regierte. Zwischenspiele des Temperaments stießen den Grundsatz nicht um, nach dem er zu streben hatte. Er war nicht nur Kaiser. Er war auch Mensch. Den Menschen verletzte Ungehorsam selten. Aber Seine Majestät zog zur Rechenschaft und bestrafte oder verzieh, wenn ein Befehl des Kaisers nicht beachtet war. Fast war es so, daß er in vollem Ernst, unsichtbar die Ehrenbezeugung leistete, wenn der Kaiser – also er selbst – an sich vorüberkam. Er tat es ohne Ironie. Er tat es kühl und sachlich. Denn der Deutsche Kaiser, von Gott bestimmter Schirmherr von fünfzig Millionen Deutschen, Kronerbe aus einem Geschlecht von Königen, war wirklich eine Majestät. Der vieltausendjährige, durch die Geschichte getragene, an ihm wiederholte, tiefe Konflikt, daß ein einziges, einheitliches Wesen körperliche und religiöse Sendung trug, war trotzdem schwer und unruhvoll in ihm. Was die anderen belächelten, war ihm Dienst vor Gott. Ihn kümmerte nicht, daß andere auch über Religion lächelten. Dennoch war es nicht allein religiöses Empfinden, das seine Haltung gegenüber dem Kaiserbegriff bestimmte. In der Scheidung zwischen Monarchen und Menschen war die Möglichkeit des Beobachters. Er belauschte sich, er achtete auf den Kaiser. Er trug die Verantwortung für den Hohen, der selbst wieder vor letztem Richterstuhle höchste Verantwortung trug.
Die Umwelt aber sah in der Majestät nur die im Staate entscheidende Macht. Der Kaiser stürzte die Menschen und er erhob sie. Wo er eintrat, erstarben die Menschen in Ehrfurcht. Die Kaiserin sprach von ihm und mit ihm in leisen, abgedämpften Worten. Auch sie erkannte bedingungslos die Majestät an, gegen die sie jeden Einspruch, jedes Urteil als unschicklich und unerlaubt empfand. Die Generale und Höflinge wagten die Lippen nicht zu öffnen, wenn es vor dem Kaiser eine Meinung galt. Fanden sie dennoch ein Wort, so fiel es zu beispielloser Schmeichelei. Manchmal hörte der Kaiser – verwöhnt hatte man ihn damit nie – die Hymnen an. Bisweilen drehte er sich mit unverhehltem Ekel ab. Die Umwelt fand, daß er den Byzantinismus liebte, wenn er den Kniefall annahm. Daß er an Größenwahn litt, wenn er den Sprecher stehen ließ. An seinem Hofe suchte er Persönlichkeiten; er fand nur stumme, im Fortgehen klatschende Diener. Sie saßen geblendet bei seinen Festen und Banketten, die der Oberhofmeister Graf Eulenburg mit erlesenem, am preußischen Hofe noch nicht erlebten Geschmack einrichtete. Sie waren seine Gäste, sie tranken seinen Champagner, dem er selbst sehr mäßig zusprach. Auf der Treppe schon, im Hinuntergehen, spotteten sie seiner Art und der lose aufgereihten kleinen Tische, die von flackernden Lichtern in echter Stimmung überweht waren. Wo er selbst hinkam, sah er nur gebeugte Rücken. Alles knickste. Merkwürdig mußte es ihm bald sein, daß jeder vor ihm, den noch als Prinzen kaum alle von Angesicht gekannt hatten, zu stammeln begann, sowie der Kaiser ihn ansprach. Daß Abgesandte, die er empfing, den Faden ihrer Rede verloren und in der Verwirrung ihn als Exzellenz anredeten. Merkwürdig war, wenn er zuletzt sich nicht einbildete, ein Halbgott zu sein.
Indes suchte gerade er wirkliche Menschen und wirkliche Köpfe, denn geistig stets bewegt, wie er war, begehrte er Anregung ohne Unterlaß. Er vertrug jeden Einwand und jede Kritik: wenn man sie ihm allein, unter vier Augen, mit der achtungsvollen Haltung vortrug, die der Majestät gebührte. Unter geistig hervorragenden Männern war und blieb er bedeutend. Er reiste nicht nur aus politischem Zweck und aus dem Bedürfnis an fremden Farben. Er wollte Menschen und Geistern begegnen, wie einst Gladstone in Venedig, der von Griechenland und Homer erzählt hatte, wie Disraeli oder Crispi, denn zu Hause fand er niemand, nicht einmal einen Rampolla und höchstens einen Eulenburg oder Waldersee. Die Schärfe seiner Auffassung offenbarte sich blitzschnell. Er übersprang bei jedem Thema Zusammenhänge, die selbstverständlich waren, und sein Zuhörer blieb zurück. So sprach er endlich seine Gedankengänge allein vor sich hin, als lange Monologe, die seine Generale, seine Hofmarschälle und auch gedrechselte Diplomaten voll des uralten Perrückenstaubs aus ihren Akten nicht verstanden. Sie sahen nicht, daß hier wirklich große, geistvolle und schöpferische Ansätze waren, daß Launen und Rücksichtslosigkeiten, aus der Stimmung eines Augenblicks geboren, an solcher Tatsache nichts änderten. Vom jungen Sonnenkönig hatte er wirklich viel: den Hang zur Pracht, den funkelnden, in Spielen brillierenden Geist, den Willen zur Macht, das Selbstbewußtsein und die Neigung zur Selbstherrlichkeit. Aber kein Richelieu war da, auch kein Mazarin. Niemand stand auf, niemand zeigte dem Ungestümen den Weg, der zur Klarheit, zur vollen Reife und dann zur Größe führen konnte. Ein einziger hatte den Geist, das Wissen und die Weisheit aus Erlebnissen, die Überlegenheit und die Möglichkeit zur Gestaltung der großen kaiserlichen Gaben: der Reichskanzler Fürst Bismarck – –
»Eine der bemerkenswertesten und interessantesten Erscheinungen, die zur Zeit dem Beobachter entgegentreten, ist die große und weitgehende Vorsicht des Reichskanzlers in seinem Auftreten gegenüber dem Kaiser. Schon im Monat Dezember des letztverflossenen Jahres konnte ich wahrnehmen, wie sehr Fürst Bismarck es sich zur Aufgabe gemacht hatte, in seinen Beziehungen zu seinem Monarchen eine große Reserve eintreten zu lassen und alles zu vermeiden, was geeignet wäre, dem Kaiser den Druck seiner durch natürliche Veranlagung, durch ein selten dagewesenes Glück und durch welthistorische Ereignisse übermächtig gewordenen Individualität fühlbar zu machen. Im Hause Bismarck wurde damals die Parole ausgegeben: ›Es handle sich hauptsächlich darum, daß der junge Kaiser auf eigenen Füßen zu stehen und die Führung seines Regentenlebens selbständig und unbeeinflußt zu bewirken lerne.‹ – Diese Formel, die vielleicht in einer etwas demonstrativen Weise zum Ausdruck kam, war mindestens zur Hälfte nichts anderes als die euphemistische Umschreibung jener anderen, die da lautet: ›Der neue Kaiser ist eine so starke und so selbstbewußte Individualität, daß er niemandes – am allerwenigsten des Reichskanzlers – Druck ununterbrochen zu ertragen vermöchte.‹ – Trat diese Zurückhaltung des mächtigsten deutschen Staatsmannes schon am Schlusse des vergangenen Jahres deutlich in die Erscheinung, so lehrt die Geschichte der seither eingetretenen politischen Entwicklung mit Bestimmtheit, daß der Reichskanzler die Beschränkung seines Wollens und Handelns als notwendiges Element eines ersprießlichen Zusammenwirkens mit seinem kaiserlichen Herrn nicht nur sorgfältig aufrecht erhält, sondern auch vermehrt und verstärkt.«
Nicht nur Graf Wolkenstein stellt die Zurückhaltung des Kanzlers fest. Graf Szèchènyi ergänzt den Petersburger Botschafter:
»Der Reichskanzler, heißt es, wäre nicht mehr der Alte seit einiger Zeit. So hart, unerschütterlich und unversöhnlich er früher gewesen, so mild, weich und nachsichtig sei er jetzt. Man kennt sich daher nicht mehr recht aus. Ehedem konnte derjenige, der ihm nahestand, das ›Warum‹ jeder Sache sich sagen, heute jedoch sei alles unklar und unerklärlich in den hiesigen Zuständen.«
Der Reichskanzler schritt an dem jungen Kaiser vorbei. Da er eine Einwirkung und Steigerung des Edlen in ihm, eine Umleitung und Abbiegung der Ungleichheiten nicht versuchen konnte oder wollte, vermochte niemand sie zu unternehmen. Der Kaiser blieb allein mit seinem Wollen und Können, mit seinen Schwächen und Monologen, die ihm fortbauende Gedanken, den anderen nur Sprachgeräusch waren. Der Reichskanzler blieb mild. Daß er alterte, notierte längst nicht nur Graf Waldersee. Vom Kanzler kam keine Befreiung des »jungen Herrn« von Schlacken und jugendlicher Unvernunft. Was Bismarck allein noch sah, war die Gefahr, die ihm die Macht vielleicht entriß, war der Apparat, durch den er sie vielleicht noch hielt. Er lebte nicht mit den Gedanken, nicht mit der Zukunft des jungen Kaisers, dessen Aufstieg in geordneter Entwicklung seinen eigenen Glanz nur erhöhen, nicht schmälern konnte. Er lebte zwischen Vergangenheit und Auswärtigem Amt. Der Reichskanzler »alterte« nicht nur. Der Fürst war alt geworden.