Max Nordau
Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit
Max Nordau

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Schlussharmonie

Wir haben nun gesehen, wie Alles, was uns umgibt, Lüge und Heuchelei ist; wie wir eine tiefe unsittliche Komödie spielen, wenn wir in die Kirche und den Königspalast, den Parlamentssaal und die Amtsstube des Standesbeamten treten; wie sich unsere Vernunft und Erkenntniß, unser Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit gegen alle staatlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen, gegen alle bestehenden Formen des Gesellschafts- und Geschlechtslebens empören: wir sind lange in trostloser Dunkelheit zwischen unheimlichen Ruinen und lächerlichen Theaterdekorationen gewandert; es ist Zeit, daß uns endlich wenigstens der entfernte Anblick von Licht und einem wohnlichen rastverheißenden Obdach stärke und ermuthige.

Der Widerspruch zwischen der neuen Weltanschauung und den alten Institutionen wüthet in der Seele eines jeden Kulturmenschen und jeder wünscht sehnlichst, dem innern Tumult zu entfliehen. Man glaubt nun vielfach, daß es zwei Methoden gebe, den verlorenen Frieden des Geistes wiederzufinden und daß man die Wahl habe, sich der einen oder der andern zu bedienen. Entschlossene Umkehr hieße die eine, entschlossener Fortschritt die andere. Entweder man gebe den Formen, die ihren Inhalt verloren haben, diesen Inhalt wieder, oder man reiße sie vollständig nieder und räume sie aus dem Wege. Man lehre also das Volk von Neuem glauben; man locke oder jage es in die Kirche zurück; man stärke die Gewalt des Königs; man erhöhe das Ansehen des Priesters; man streiche das Andenken der Revolution aus der Erinnerung der Völker; man verbrenne die Bücher des freien Gedankens und bei dieser Gelegenheit auch ein wenig die freien Denker; man zertrümmere die Lehrstühle und baue Kanzeln; man bete, faste, singe Psalmen und gehorche der Obrigkeit; man vergnüge sich an Kirchenfesten; man zerstreue sich mit dem Leben der Heiligen; man erbaue sich an Wundergeschichten; der Reiche gebe dem Armen genügend Almosen und wenn das den Armen nicht vollkommen sättigt, so gedulde er sich bis zum Himmelreich, wo er täglich Braten und Wein haben wird; so ist wieder Glück auf Erden, wer etwas ist oder hat, der genießt in Ruhe das Seinige, wer nichts hat, und nichts ist, dem bleibt die Hoffnung auf ein besseres Jenseits, und dem Unzufriedenen steht es frei, nach einer wüsten Insel auszuwandern, sofern er nämlich noch eine solche in irgend einem Meer finden kann. Oder man fege den ganzen Plunder mittelalterlicher Einrichtung weg; man behandle die Pfarrer und Pastoren und Rabbiner auch äußerlich wie Medizinmänner, wenn man sie innerlich dafür ansieht; man komplimentire die Könige zu ihren Palästen hinaus, wenn man sie für Gliederpuppen oder Usurpatoren hält; man schaffe alle Gesetze ab, die vor der naturwissenschaftlichen Kritik nicht bestehen können und lasse in allen Beziehungen der Menschen zu einander die Vernunft und Logik allein herrschen. Das sind die beiden Methoden und die Anhänger der ersten bekämpfen die der anderen und ihr verzweifeltes Ringen bildet den einzigen Inhalt des politischen und geistigen Lebens der Zeit.

Nun denn: der Ausgangspunkt dieses Streites zweier Parteien, deren jede der Menschheit den inneren Frieden wiedergeben zu können behauptet, ist ein Irrthum. Es gibt keine zwei Methoden, es gibt nur eine. Die Umkehr ist unmöglich, der Stillstand ist es auch. Man kann nur vorwärts gehen und je rascher man geht, um so früher gelangt man ans Ziel, wo man ausruhen kann. Es mag ja sein, daß die Anwälte der Vergangenheit ebenfalls das Glück der Menschen bezwecken, es wäre ja denkbar, daß alle Welt sich subjektiv woler befände, wenn man sie auf den geistigen Standpunkt des Mittelalters oder Alterthums zurückversetzen könnte; aber was hilft den Reaktionären dieses Zugeständniß, da ihr System doch schlechterdings keiner Verwirklichung fähig ist? Es liegt nicht im Bereiche der Menschenkraft, den Menschengeist zu bestimmen, daß er errungene Wahrheiten wieder aufgebe. Das ist eine Frage der natürlichen Entwickelung und des organischen Wachsthums. Das Kind ist in seiner Unbewußtheit und Unverantwortlichkeit ja auch glücklicher als der Erwachsene; es ist schöner, anmuthiger, lebensfreudiger; man mag sich als Mann, als Greis nach den Wonnen der Kindheit zurücksehnen, aber sind sie einmal vorüber, so sind sie es auf ewig und keine Willensanstrengung bringt sie wieder. Todtschlagen kann man einen Erwachsenen; ihn wieder zum schönen, anmuthigen, glücklichen Kinde machen nicht. Ebensowenig ist es möglich, den Menschen von heute zum Menschen von vor tausend oder zweitausend Jahren zu machen. Alle Erkenntniß, alle Aufklärung ist der Menschheit im Laufe einer natürlichen Entwickelung und als Ergebniß der ihr innewohnenden lebendigen Kräfte gekommen. Dem Wirken dieser Elementarkräfte entgegentreten wollen ist ein so aussichtsloses Beginnen, wie die Erde verhindern wollen, daß sie kreise. Die Dinge liegen nicht so, daß die wissenschaftlichen Wahrheiten zufällig gefunden werden, doch auch hätten nicht gefunden werden können; sie sind eine Begleiterscheinung der Reife; sie werden gefunden, wenn die Kultur der Menschheit ein bestimmtes Alter erlangt hat. Man kann ihre Entdeckung und Verallgemeinerung vielleicht verzögern, man kann diese vielleicht beschleunigen, obwol das letztere weit unwahrscheinlicher ist als das erstere; aber man kann sie nun und nimmer vollständig verhindern. Das ist so klar, daß man gar nicht begreift, wie man in die Lage kommen kann, es beweisen oder selbst nur ausdrücklich versichern zu müssen. Was würde man mit einem Menschen anfangen, der auf offenem Markte erklärte, er wolle machen, daß die Menschen mit jedem neuen Lebensjahre, das sie erfüllen, um ein Jahr jünger werden? Man würde ihn muthmaßlich in ein Narrenhaus sperren. Und doch kann man ungestraft eine ganz ähnliche Behauptung zum Inhalte eines Regierungsprogramms machen und viele Hörer bleiben ernst, wenn ein Staatsmann empfiehlt, zu den alten theologisch-feudalen Anschauungen zurückzukehren und dadurch die Zeitkrankheiten zu heilen. Heißt das denn nicht auch, der Menschheit vorschlagen, daß sie sich aus dem reifen Alter zur glücklichen Kindheit zurückentwickele und mit jedem Jahr um ein Jahr jünger werde?

Nein, nein; das ist nicht ernst und es handelt sich doch da um hohe Fragen, die nur ernst behandelt werden dürfen. Angenommen, die Menschheit war glücklicher, als sie in tiefster Unwissenheit, innerhalb eines engen, von groben Irrthümern und albernem Aberglauben erfüllten geistigen Gesichtskreises ein dumpfes Pflanzerleben führte; dieses Glück der Kindheit ist dahin und es zurückzuwünschen ein müßiges und thörichtes Beginnen. In der Vergangenheit liegt also nicht das erreichbare Heil der Menschheit. Die Gegenwart ist unleidlich. Sie muß daher ihre ganze Hoffnung auf die Zukunft stellen. Was die Gegenwart unleidlich macht, das ist, wie wir gesehen haben, der innere Zwiespalt, der jeden Menschengeist der Kulturwelt unsäglich schmerzhaft zerreißt; das ist der Gegensatz zwischen unserem Denken und Handeln, zwischen unserem Empfinden und Verkünden, es ist die unaufhörliche Verhöhnung allen Inhalts durch alle Form, die unablässige Ableugnung aller Form durch allen Inhalt. Die Notwendigkeit, zwei Existenzen zu führen, eine äußerliche und eine innerliche, die einander verspotten, parodiren und in ewigem Hader mit einander liegen, führt zu einer Ausgabe moralischer Kraft, die über Menschenvermögen geht und ein Wehegefühl der Erschöpfung zurückläßt. Das Fehlen der Wahrheit in unserem Leben macht uns bettelarm. Weil wir der Stimme, die infolge der Konstruktion unseres Denkapparats bei Allem, was wir thun, »warum« frägt, keine vernünftige Antwort geben können, macht sie uns ungeduldig und elend, und das um so mehr, als es uns unmöglich ist, ihr Schweigen aufzuerlegen. Das laute Zanken unserer Überzeugung mit unserer werkthätigen Heuchelei verfolgt uns beständig und raubt uns die Ruhe und den Frieden. Das ist unsere Lage. Sie schließt die Möglichkeit der Glücksempfindung vollständig aus. Denn diese hat innere Einheitlichkeit, das heißt Abwesenheit von Kampf und lauter Streitrede, Frieden und Stille in der Seele zur ersten Voraussetzung. Es liegt ein tiefer menschlicher Sinn darin, daß die Inder sich das Glück in Gestalt der Nirwana denken. Nirwana ist die absolute Ruhe. Es ist die wonnige Entspannung des Geistes, die eintritt, wenn derselbe keinen Wunsch und keine Sehnsucht mehr hat, wenn er außerhalb seiner selbst keinen fremden Punkt mehr wahrnimmt, der ihn anzieht oder abstößt und ihn zur schmerzlichen Arbeit einer Flucht- oder Annäherungsbewegung anregt. Es ist ein Zustand der Seligkeit, den sich der in ewigen Gedankenwirbeln umgetriebene Kulturmensch gar nicht mehr vorstellen kann. Er ist nur in zwei Verhältnissen erreichbar: im Verhältnisse der absoluten Unwissenheit, wenn es dem Geiste noch an Organen fehlt, die außerhalb desselben bestehenden Anziehungs- und Abstoßungspunkte wahrzunehmen oder in dem des absoluten Wissens, wenn der Geist so weit und hoch entwickelt ist, daß er Alles, was ist, in sich schließt, so daß außerhalb seiner gar nichts mehr existirt, was ihn zu einer Bewegung anregen, in ihm einen Wunsch, eine Sehnsucht, eine Sorge erwecken könnte. Der letztere Zustand ist dem Menschen ein wohl unerreichbares Ideal; er wird schwerlich jemals dahin gelangen, alle Wahrheit zu besitzen, die verwickelten Erscheinungen auf ihre einfachen Gesetze zurückzuführen und der absolut Wissende zu sein, vor dessen Anschauung die Mannigfaltigkeit der Weltphänomene sich als nothwendig, vernünftig und einheitlich darstellt. Doch auch über den andern Zustand ist er längst hinausgewachsen; er ist nicht mehr unwissend; er sieht schon die Erscheinungen, die außerhalb seiner sich ereignen; er sucht schon die Wahrheit, sehnt sich nach der Erkenntniß und ist in fieberhafter, athemloser Bewegung nach einem Ziele, das ihn anzieht und wo er Ruhe zu finden hofft. Das Schlechteste, was der Mensch in dieser Lage thun kann, ist, seinem Bewegungsdrange zu widerstehen und seine Kraft im Kampfe gegen die mächtige Anziehung seines natürlichen Entwickelungsziels statt im Fluge zu diesem Ziele hin zu verbrauchen. Dieser Kampf ist nicht nur unvernünftig, weil aussichtslos, sondern auch ungleich ermüdender und schmerzhafter als das Nachgeben. Darum ist der heute so weit verbreitete Opportunismus, der die gründlichen Lösungen scheut, die zur Wahrheit aufstrebende Menschheit in der Lüge festhalten will und im Ansturm der neuen Weltanschauung gegen die alten Formen die letzteren vertheidigt, ohne den ersteren Unrecht zu geben, zugleich der grausamste Feind des Menschengeschlechts und die vollkommenste Unsittlichkeit.

Das, was der Menschheit zunächst noththut, das ist, daß sie sich die Möglichkeit schaffe, nach ihrer Erkenntniß zu leben. Die alten Formen müssen verschwinden; sie müssen neuen Platz machen, welche die Vernunft befriedigen; das Individuum muß von seiner innern Zerrissenheit geheilt, es muß wieder wahr und ehrlich werden. Wohl erreicht der Mensch auch damit noch nicht das volle Glück der Nirwana, der Ruhe ohne Anstrengung, der Zufriedenheit ohne Wunsch: denn dieses absolute Glück ist durch das organische Leben ausgeschlossen. Organisches Leben ist gleichbedeutend mit Entwickelung. Diese aber ist der Drang nach Erreichung eines Ziels, bei dem der Organismus noch nicht angelangt ist. Entwickelung ist also Streben nach noch nicht Erreichtem, folglich Unbefriedigtheit von bereits Erreichtem, Unbefriedigtheit aber ist mit absoluter Glücksempfindung unvereinbar. Das einzelne Individuum muß diese Unbefriedigtheit um so stärker empfinden, als es ein Bruchstück eines großen Ganzen, der Gattung, ist und mit seiner Entwicklung weniger für sich als für das Ganze arbeitet. Die Folgen seiner Vervollkommnungsarbeit kommen nicht ihm, sondern den Erben zu Gute; jede Geschlechtsfolge strebt für die nächste, jeder fragmentarische Einzelorganismus für die Gesammtheit, das Individuum kann darum nie zum Gefühle des Abschlusses, der Vollendung, der Verwirklichung seines eigenen Ideals, des Belohntseins für seine Mühe gelangen. Dieses Gefühl, wenn es überhaupt denkbar ist, kann nur von der Gattung, die ein Ganzes ist, aber nie vom Individuum, dem unabgeschlossenen Theile, empfunden werden und wird nur vielleicht einst, in einem idealen Entwickelungsstadium der Menschheit, als eine allgemeine, die Gattung charakterisirende Weltstimmung vorhanden sein, die sich in jedem individuellen Bewußtsein als heiterer Grundton und helle Grundfarbe des ganzen Seelenlebens wiederspiegeln wird. Allein, wenn das absolute Glück nicht im Bereiche des Menschenlebens liegt, wenn der organische Vorgang der Entwickelung dasselbe ausschließt, so kann das Individuum doch wenigstens seinem Entwickelungsdrange folgen und fühlen, daß es sich in der Richtung zu seinem Ziele, dem Ideale, bewegt. Das Gefühl, sich dem Entwickelungsziele zu nähern, ist schon ein Vorgeschmack des Gefühls, dieses Ziel erreicht zu haben und im Stande, das nicht zu erlangende absolute Glück zu ersetzen. So ist ein Mensch, der mit äußerster Ungeduld danach verlangt, an einem bestimmten Orte anzukommen, schon ruhig und zufrieden, wenn er sieht, daß er in einem Eisenbahnzuge sitzt, der ihn mit gleichmäßiger Geschwindigkeit seinem Reiseziele näher bringt.

So viel aber ist zu erreichen. Man braucht nur dem Fortschrittsdrange der Kulturvölker kein künstliches Hinderniß in den Weg zu legen und ihre Entwickelung nicht durch die Erhaltung und Verteidigung der sie einengenden und erstickenden geschichtlichen Institutionen, denen sie entwachsen sind, mühseliger und schmerzhafter zu machen. Vor der Zerstörung zu bewahren sind diese doch nicht; früher oder später werden sie doch gesprengt werden und so wäre es eine Wohlthat, das zum Untergang Bestimmte gleich wegzuräumen und die unbehagliche Periode der Niederreißung, während welcher man von formlosen Trümmern umgeben ist, durch Koth und Staub watet, über Blöcke stolpert und von fallendem Gebälk bedroht wird, nach Möglichkeit abzukürzen. Wir stehen ohnehin mitten in dieser Demolitionsepoche und erleiden all ihr Ungemach. Vielleicht wird noch eine, vielleicht werden noch mehrere Generationen zum trostlosen Aufenthalt auf einer wüsten Baustätte und zu geistiger Obdachslosigkeit verurtheilt sein. Was aber dann folgt, das wird sicherlich Bequemlichkeit und Behagen sein. Wir sind geopfert; uns werden sich die prächtigen Säle des neuen Palastes, an dessen Ausführung wir arbeiten, nicht aufthun; allein die kommenden Geschlechter werden sich in ihnen ergehen, stolz, ruhig und heiter, wie ihre Vorfahren auf Erden es nie gewesen sind.

Denn was der Menschheit bevorsteht, das ist Erhebung und nicht Erniedrigung, ihre Entwickelung macht sie besser und edler, nicht schlechter und gemeiner, wie ihre Verleumder behaupten, durch die reine, durchsichtige Atmosphäre der naturwissenschaftlichen Weltanschauung sieht sie ihr Entwickelungsideal klarer und strahlender als durch die dicken Wolken und Nebel des transzendentalen Aberglaubens. Das muß man denen antworten, die ehrlich der Meinung sind, daß ohne Religion keine Moral und kein Idealismus, ohne den despotischen Staat, das selbstische Eigenthum und die liebensfeindliche Ehe keine Gesittung bestehen kann. Den Betrügern, die, ohne davon überzeugt zu sein, dasselbe proklamiren, blos weil es in ihrem persönlichen Interesse liegt, die bestehende Ordnung zu vertheidigen, schuldet man überhaupt keine Argumentation. Die gutmüthigen, aber kurzsichtigen Menschenfreunde dagegen, denen die Zukunft Angst macht, weil sie Rohheit und Zügellosigkeit, ja die Rückkehr zum Thierzustande in ihrem Gefolge zu sehen glauben, können sich beruhigen. Die Menschheit ohne Gott, ohne Herrscherwillkür und ohne Egoismus wird unendlich sittlicher sein als die, welche »zu Gott betet und ihr Pulver trocken hält«. Die Aufklärung lehrt den Menschen Wahrheiten, welche seinen durch lügenhafte Schmeicheleien verwöhnten Ohren zu allererst allerdings unangenehm klingen mögen. Sie lehrt ihn: »Du bist ein Einzelthier in einer Thiergattung, Menschheit genannt. Die regieren genau dieselben natürlichen Gesetze wie alle anderen Lebewesen. Dein Platz in der Natur ist der, den du dir durch passende Benutzung aller in deinem Organismus vorhandenen Kräfte erobern kannst. Die Gattung ist eine höhere Einheit, von der du ein Theil, ein Gesammtorganismus, von der du eine Zelle bist. Du lebst das große Leben der Menschheit mit, ihre Lebenskraft bringt dich hervor und erhält dich bis zu deinem Tode, ihr Aufstieg nimmt dich mit in die Höhe, ihre Genugthuungen sind deine Freuden.« Das kitzelt die Eigenliebe der Menschen weniger, als wenn ein Medizinmann ihm sagt: »Du bist der besondere Liebling eines allmächtigen Weltherrschers, Gott genannt, du hast eine bevorzugte Stellung im Weltall und kannst dir noch ferner Privilegien verschaffen, wenn du mir Zehnten zahlst und meinen Befehlen gehorchst.« Aber wenn er einmal reif genug ist, das kindische Vergnügen an leeren Schmeicheleien als unstatthafte Schwäche zu erkennen, und wenn er die Doktrin der Aufklärung und die der Theologie eindringlicher erwägt, so findet er unschwer, daß die erstere die schönere und die tröstlichere ist. Sie schneidet ihn vom Himmel ab, aber wie tief und innig läßt sie ihn dafür in der Mutter Erde wurzeln! Sie nimmt ihm die Beziehungen zu einem Gotte, zu Heiligen, Engeln und anderen nie gesehenen Fabelwesen, aber sie gibt ihm dafür die ganze Menschheit zur Familie, sie schenkt ihm tausend Millionen Blutsverwandter, die ihm Liebe, Schutz und Hilfe schulden und von deren Zusammengehörigkeit mit ihm alle seine Sinne ihn überzeugen. Sie bekämpft seinen hoffärtigen Anspruch auf ewiges Leben, aber sie beugt seiner Verzweiflung über seine Endlichkeit vor, indem sie ihn lehrt, sich als eine unwichtige Episode im allein wesentlichen Vorgange des All-Lebens zu bescheiden, und indem sie ihm die Möglichkeit einer unabsehbaren Fortdauer seines individuellen Daseins in daraus hervorgegangenen Nachkommen zeigt. Sie zerstört die bestehende, auf Religion gegründete Moral, das ist gewiß; aber diese Moral ist eine willkürliche, oberflächliche und geradezu unsittliche; sie erklärt nicht, weshalb sie diese Handlungen gute und jene schlechte nennt; als Grund, weshalb man das Gute thun soll, gibt sie an, daß man sich dafür einen Platz im Paradiese sichere, und als Grund, weshalb man das Schlechte lassen soll, daß man dafür in der Hölle brenne; und damit man nicht in Versuchung gerathe, zu betrügen, im Geheimen schlecht und offen gut zu sein, macht sie weis, man sei immer beobachtet und immer überwacht. Das ist also die religiöse Moral: ihre Triebkräfte sind Eigennutz und Angst vor Leibesstrafen; die Hoffnung auf paradiesische Vortheile oder die Furcht vor dem Schwefelfeuer des Teufels. Es ist eine Moral für Egoisten und Feiglinge, namentlich aber für Kinder, denen man mit der Drohung der Ruthe und der Verheißung von Gerstenzucker beikommen kann. An die Stelle dieser Moral, welche an die erbärmlichsten Triebe im Menschen appellirt, setzt die Aufklärung einen allgemeinen Grundsatz, die Solidarität der Menschheit, aus welcher sich eine neue ungleich tiefere, erhabenere und natürlichere Moral ergibt. Diese gebietet: »Thue Alles, was das Wohl der Menschheit fördert; unterlasse Alles, was der Menschheit Schaden oder Schmerz zufügt.« Sie hat auf jede Frage eine vernünftige Antwort »Was ist gut?« Die Theologie sagt: »Das, was Gott wolgefällt,« ein Bescheid, der durchaus keinen faßbaren Sinn hat, es sei denn, man glaubte, daß Gott seine Ansichten geoffenbart hat. Die Solidaritätsmoral sagt: »Gut ist, was, wenn es verallgemeinert wäre, der Gattung günstigere Daseinsbedingungen schaffen würde.« »Was ist schlecht?« Die Theologie leiert wieder: »Das, was Gott verboten hat.« Die Solidaritätsmoral antwortet: »Schlecht ist, was, wenn es verallgemeinert wäre, das Leben der Gattung gefährden oder erschweren würde.« »Warum soll ich das Gute thun und das Schlechte lassen?« Die Theologie sagt: »Weil es Gott so will.« Die Solidaritatsmoral: »Weil du nicht anders kannst. Die Gattung hat, so lange sie Lebenskraft besitzt, auch Selbsterhaltungstrieb; dieser giebt ihr ein, das, was ihr schädlich ist, zu vermeiden, was ihr förderlich ist, zu thun. Dieser Trieb wurzelt im Unbewußten, läutert sich aber bis zum Bewußtsein empor. Wenn einst die Lebenskraft der Gattung erschöpft sein wird, dann wird sich auch ihr Selbsterhaltungstrieb abstumpfen. Dann werden die Begriffe von Gut und Schlecht allmälig verloren gehen, es wird in der That keine Moral mehr geben und das Verschwinden der Moral wird die unmittelbare Todesursache der altersschwach gewordenen Menschheit sein. Sie wird dann förmlich einen Selbstmord begehen.« »Welcher Lohn, welche Strafe steht mir für meine Handlungen bevor?« Die Theologie kommt mit ihrem Himmel- und Höllengefasel; die Solidaritätsmoral sagt einfach: »Da du ein Theil der Menschheit bist, so ist ihr Gedeihen dein Gedeihen und ihr Leiden dein Leiden. Thust du also das, was ihr gut ist, so erweisest du dir ein Gutes; thust du aber das, was ihr schlecht ist, so fügst du dir ein Schlechtes zu. Die blühende Menschheit ist dein Paradies, die verkümmernde deine Hölle. Und da der Selbsterhaltungstrieb der Gattung die Quelle deiner Handlungen ist, so wirst du instinktiv das Gute thun und das Schlechte lassen, so lange du in normaler Verfassung bist. Du wirst gegen die natürliche Moral erst dann sündigen, wenn du der krankhaften Entartung verfallen bist, welche auch das Individuum zur Selbstverstümmelung und zum Selbstmord treibt.«

Das ist der kurze Katechismus der natürlichen Moral, deren Quelle die Solidarität der Gattung ist. Die natürliche Moral ist die einzige, welche die Menschheit immer wirklich empfunden hat; alle anderen Moralprinzipien waren und sind äußerliche Heuchelei, Selbstbetrug und Betrug Anderer. Sie ist ausgedrückt in Rabbi Hillels: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst,« in des Evangeliums Gebote, auch dem Feinde zu vergeben und ihn zu lieben, in Kants kategorischem Imperativ. Wer immer nach einer sichern Grundlage der Moral gesucht hat, der Religionsstifter oder der Philosoph, ist zuletzt auf dieses ewige, felsenfeste Prinzip der Solidarität gestoßen; denn es bildet einen fundamentalen Bestandteil des menschlichen Bewußtseins, es ist eine der organischen Triebkräfte seines Handelns. Nur die Religionen, welche das Solidaritätsprinzip zu ihrem Hauptdogma machten, konnten eine allgemeine Verbreitung finden und dauern. Dann war es aber auch nur dieses unverwüstliche Prinzip, welches die übrigen Dogmen trug, wie das leichte Gas, welches den Luftballon aufsteigen macht, alle schwereren Bestandtheile des letzteren mit sich in der Höhe erhält. Wenn man die theologische Moral durch die natürliche, das Christenthum durch die Solidarität ersetzt, so vollzieht man nur ein Werk der Reinigung und Vereinfachung; man behält das, was die Religion aus dem ewigen Sammelbecken menschlicher Umtriebe geschöpft und sich angeeignet hat und man verwirft die abgenutzten Hüllen und Verkleidungen, welche den wahren Kern derselben umgeben.

Aber nicht blos die Quelle aller Moral, sondern auch die aller Einrichtungen muß die Solidarität werden. In den bestehenden Formen kommt der Egoismus zum Ausdruck, die Formen, welche ihre Stelle einzunehmen berufen sind, wird der Altruismus vorzeichnen. Die Selbstsucht erweckt den Wunsch, Andere zu beherrschen, sie führt zum Despotismus, sie macht Könige, Eroberer, eigennützige Minister und Parteiführer, die Gattungsliebe gibt den Wunsch ein, der Gesammtheit zu dienen, sie führt zur Selbstverwaltung, zur Selbstbestimmung, zu einer Gesetzgebung, die blos von der Rücksicht auf das Gemeinwesen inspirirt ist. Die Selbstsucht ist die Ursache der schlimmsten Ungerechtigkeiten in der Gütervertheilung, die Solidarität gleicht diese Ungerechtigkeiten so weit aus, daß Bildung und tägliches Brod jedem Bildungsfähigen und Arbeitswilligen gesichert sind. Der Kampf ums Dasein wird so lange währen wie das Leben selbst und er wird immer die Ursache aller Entwicklung und Vervollkommnung sein; aber er wird mildere Formen annehmen und sich zu seinem heutigen Wüthen so verhalten wie die Kriegführung gebildeter Nationen zum Würgen von Menschenfressern. Auf die Zivilisation von heute, deren Kennzeichen Pessimismus, Lüge und Selbstsucht sind, sehe ich eine Zivilisation der Wahrheit, der Nächstenliebe, des Frohmuths folgen. Die Menschheit, die heute ein abstrakter Begriff ist, wird dann eine Thatsache sein. Glücklich die spätergeborenen Geschlechter, denen es beschieden sein wird, umspielt von der reinen Luft der Zukunft, übergossen von ihrem hellern Sonnenschein, in diesem Bruderbunde zu leben, wahr, wissend, frei und gut!


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