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Diejenigen Übelstände der Zivilisation, die von der größten Anzahl Menschen und zugleich am tiefsten und dauerndsten empfunden werden, sind die wirthschaftlichen. Es gibt genug Individuen, die sich nie mit übersinnlichen Fragen beschäftigen, denen Gott ebenso gleichgiltig ist wie die Materie, die Enzyklika ebenso uninteressant wie die Deszendenz-Theorie und bei denen der Glaube oder das Wissen gleich oberflächlich bleibt. Auch die Politik läßt Viele kühl und größer vielleicht als man gewöhnlich annimmt ist die Menge der Leute, die sich nicht darum scheeren, ob sie im Namen eines persönlichen Herrschers oder einer unpersönlichen Republik regiert werden, so lange der Staat ihnen unverändert blos in der Form des Polizeibeamten, des Steuerboten und des Drill-Unteroffiziers sichtbar wird. Dagegen gibt es den Kulturmenschen nicht, der nicht täglich vor die Frage des Erwerbs und Verbrauchs gestellt wäre. Die Erscheinungen des Wirthschaftslebens drängen sich auch der stumpfsten Beobachtung und der verschlossensten Intelligenz auf. Wer überhaupt bei Bewußtsein ist, der empfindet Bedürfnisse, murrt über die Schwierigkeit oder empört sich gegen die Unmöglichkeit ihrer Befriedigung, sieht mit Bitterkeit das Mißverhältniß zwischen seiner Arbeitsanstrengung und den Genüssen, die er sich um deren Preis verschaffen kann und vergleicht seinen eigenen Antheil an den Gaben der Natur und künstlichen Gütern mit dem der anderen. Hungrig wird man alle paar Stunden, müde ist man am Abend eines jeden Arbeitstages, jedesmal, so oft man einen durch Glanz und gefällige Form ins Auge fallenden Gegenstand sieht, hat man infolge des natürlichen Instinkts der Geltendmachung der eigenen Individualität durch auszeichnende, schmückende oder sonst den Blick anziehende Anhängsel die Begier, sich denselben anzueignen und so wird man durch Leibeszustände fortwährend darauf geführt, sein Verhältniß zur allgemeinen wirthschaftlichen Bewegung, zur Hervorbringung und Benutzung der Güter, zu überdenken. Es gibt denn auch nichts, was die Massen so leidenschaftlich erregen könnte wie dieser Gegenstand. Im Mittelalter setzte man Millionen in Bewegung, indem man ihnen von Religion sprach. Am Ausgang des vorigen Jahrhunderts und noch bis in die Mitte des unsrigen entflammten sich die Völker für ihre idealen Bedürfnisse der Aufklärung und politischen Freiheit. Das Ende des neunzehnten Jahrhunderts erfüllt der Ruf nach Brod für die große Mehrheit. Dieser Ruf ist der einzige Inhalt der Politik, die manchmal versucht, durch allerlei packende Zwischenspiele, namentlich durch Hetzerei gegen einander oder gegen einzelne Gesellschaftsklassen, durch Kriege, Kolonisation, Ausstellungen, dynastische Komödien, parlamentarische Schwätzereien und sogenannte Reformen die Völker von dem sie ganz ausfüllenden Gedanken abzulenken, jedoch immer wieder durch den Druck der öffentlichen Meinung genöthigt ist, zu der einzigen großen Weltsorge, zur Erwerbsfrage, zurückzukehren. Kreuzzüge sind heute nicht mehr für die Befreiung eines heiligen Grabes, nur noch für Eroberung des goldenen Vließes, Wohlstand genannt, denkbar und man macht Revolutionen nicht mehr um papierener Verfassungen und demokratischer Schlagworte willen, sondern um weniger hart zu roboten und reichlicher zu essen.
Zu keiner Zeit sind die Gegensätze zwischen Reich und Arm so schroff und gewaltsam gewesen wie gegenwärtig. Diejenigen Nationalökonomen, welche ihre wissenschaftlichen Werke mit dem Axiom beginnen, daß der Pauperismus so alt sei wie die Menschen selbst, spielen leichtfertig oder betrügerisch mit Worten. Es gibt eine absolute und eine relative Armuth. Absolute Armuth ist der Zustand, in welchem ein Mensch seine wirklichen Bedürfnisse, d. h. diejenigen, die durch seine organischen Lebensakte entstehen, gar nicht oder nur unvollständig befriedigen kann, wo er also keine genügende Nahrung findet oder dieselbe nur mit solcher Anstrengung erlangt, daß ihm die Ruhe und der Schlaf zu karg zugemessen sind, deren sein Organismus bedarf, wenn er nicht verkümmern und vorzeitig zu Grunde gehen soll. Relative Armuth bedeutet dagegen das Unvermögen, solche Bedürfnisse zu befriedigen, die man sich künstlich angewöhnt hat, die keine nothwendigen Bedingungen der Lebens- und Gesundheitserhaltung sind und die dem Individuum großentheils nur durch Vergleichung seiner eigenen Lebenshaltung mit der der Anderen zu Empfindung und Bewußtsein gelangen. Der Arbeiter fühlt sich arm, wenn er nicht rauchen und Branntwein trinken, die Krämerin, wenn sie sich nicht in Seide kleiden und mit überflüssigem Hausrath umgeben, der Mann der liberalen Professionen, wenn er sich nicht durch Anhäufung eines Kapitals der quälenden Sorge um die Zukunft seiner Kinder oder um seine eigenen alten Tage entledigen kann. Diese Armuth ist offenbar nicht allein relativ, insofern z. B. die Krämerin dem Arbeiter reich scheint und der Professor eine Lebensweise luxuriös fände, die dem in Gewohnheiten der raffinirten Üppigkeit aufgewachsenen Aristokraten dürftig schiene, sie ist auch subjektiv, insofern sie blos in der Einbildung des betreffenden Individuums besteht und keineswegs eine objektiv feststellbare Nichterfüllung nothwendiger Daseinsbedingungen und dadurch eine Verkümmerung des Organismus nach sich zieht. Es ist mit einem Worte keine physiologische Armuth und schon der alte Diogenes hat gezeigt, daß diese allein die Grenze der subjektiven Glücksempfindung bezeichnet, daß man sich dagegen sehr wohl befinden kann, so lange man die Nothdurft des Leibes reichlich und leicht befriedigt.
Vom Standpunkte eines Kulturmenschen des neunzehnten Jahrhunderts angesehen, der ein Sklave aller Gewohnheiten und Bedürfnisse des zivilisirten Lebens ist, scheint die große Mehrheit der Menschen allerdings immer relativ arm gewesen zu sein, so weit man in die Vergangenheit blickt, und um so ärmer, je weiter man sich von der Gegenwart entfernt. Die Kleider der Menschen waren gröber und wurden seltener erneuert, ihre Wohnung war schlechter, ihre Nahrung einfacher, ihr Geräth spärlicher, sie hatten weniger Baargeld und geringeren Überfluß an Tand. Diese relative Armuth ist aber wenig rührend. Nur eine hirnlose Zierpuppe wird es tragisch finden, daß etwa eine Eskimofrau sich gegen die Kälte durch einen sackähnlichen Anzug aus Seehundsfell statt durch verwickelte und ebenso theure wie geschmacklose Konstruktionen aus Seide schützen muß, und ich bezweifle, daß der sentimentale Wunsch des guten Königs Heinrich IV., jeder Bauer möge allsonntäglich sein Huhn im Kochtopf haben, wirkliche Bauern jemals gerührt und begeistert hat, so lange sie sich mit Rindfleisch sattessen gekonnt. Allein die absolute, die physiologische Armuth tritt nur im Gefolge einer hohen und ungesunden Zivilisation als dauernde Erscheinung auf. Sie ist im Naturzustande des Menschen und selbst noch bei einem niedrigem Grade der Gesittung sogar undenkbar. Es ist der erste und vornehmste Lebensakt eines jeden organischen Wesens, von der Monade bis zum Elephanten, von der Bakterie bis zur Eiche, sich ausreichende Nahrung zu suchen. Findet sie es nicht, so geht es eben zu Grunde. Freiwillig aber bequemt es sich dem anhaltenden Mangel derselben nicht an. Das ist ein biologisches Gesetz, was den Menschen ebenso beherrscht wie alle übrigen Lebewesen. Der primitive Mensch findet sich mit der Noth nicht unterwürfig ab, sondern bekämpft und besiegt sie oder wird sehr rasch von ihr besiegt. Ist er Jäger und zieht sich das Wild von seinen Jagdgründen zurück, so sucht er neue Jagdgründe auf. Sitzt er als Ackerbauer auf unergiebiger Scholle, so genügt die erste Kunde von fruchtbareren Gefilden, daß er sich aufmache, um diese zu besiedeln. Stellen sich andere Menschen zwischen ihn und seine Nahrung, so greift er zur Waffe und schlägt todt oder wird todtgeschlagen. Der Überfluß ist dann der Preis der Stärke und des Muthes. So braust der Strom der Völkerwanderung aus undankbaren Erdgegenden in die Länder, welche von der Sonne gesegnet sind, der Heroismus eines Geiserich und Attila, eines Dschengis-Chan und Wilhelm von der Normandie hat seinen Ursprung im Magen und auf den blutigsten und glorreichsten Schlachtfeldern, von welchen die Poeten singen und die Geschichte spricht, wird durch die eisernen Würfel die Frage des Mittagstisches entschieden. Mit einem Worte: der primitive Mensch duldet die wirkliche Armuth, d. h. den Hunger, nicht. Er greift gegen das schleichende Elend unverzüglich zu den Waffen und erobert sich den Überfluß oder stirbt unter dem Beile des Feindes, ehe ihn die Entbehrung langsam aufgerieben hat. Auch mit einer Zivilisation, die noch nicht über den Standpunkt der Physiokratie hinauslangte, ist absolute Armuth unvereinbar. So lange ein Volk nur Ackerbau, Viehzucht und Hausindustrie kennt, mag es an Edelmetall und Luxusgegenständen arm sein, aber es fehlt keinem seiner Mitglieder an Lebensmitteln. Erst wenn der Mensch den Zusammenhang mit der nährenden Mutter Erde verliert, erst wenn er sich von der treuen Furche des Ackers losreißt und von der Natur nicht mehr erreicht werden kann, die ihm Brod und Früchte, die Milch und das Kalb der Kuh, Wildpret und Fische darbietet, erst wenn er sich hinter Stadtmauern hockt, seinen Antheil am Boden, Wald und Flusse aufgibt und nicht mehr mit eigenen Händen aus den Vorrathskammern des Thier- und Pflanzenreichs seinen Bedarf an Speise und Trank schöpfen kann, sondern auf den Austausch der Erzeugnisse seines Gewerbefleißes gegen die von Anderen monopolisirten Naturprodukte angewiesen ist, erst dann beginnt mit der Möglichkeit für eine kleine Minderheit, große Reichthümer aufzuhäufen, für eine zahlreiche Klasse die Möglichkeit absoluter Armuth, physiologischen Elendes. Eine Nation, die aus freien Bauern besteht, ist niemals arm. Das kann sie erst werden, wenn der Bauer in Leibeigenschaft gezwungen wird und ein Herr ihm den Ertrag seines Ackers wegnimmt, oder ihn durch anderweitige Verwendung und Vergeudung seiner Arbeitskraft an der Bestellung seiner Hufe hindert und wenn die Städte sich vervielfältigen und einen großen Theil der Nation an sich ziehen. Die hohe Zivilisation endlich verurtheilt eine täglich ansehnlicher werdende Menge der Volksgenossen zur absoluten Armuth, indem sie die Vergrößerung der Städte auf Kosten der Landbevölkerung, die Entwickelung der Großindustrie auf Kosten der Thier- und Pflanzen-Produktion begünstigt und ein zahlreiches Proletariat schafft, das keinen Zoll breit eigenen Bodens besitzt, aus den natürlichen Daseinsbedingungen des Menschen herausgeschleudert ist und an dem Tage verhungern muß, an welchem es seine Werfte, Fabrik oder Werkstatt gesperrt findet.
Auf diesen Standpunkt sind die Länder Westeuropas gelangt, die gerade für die reichsten und zivilisirtesten gelten. Ihre Bevölkerung zerfällt in eine kleine Minorität, welche in einem anstößigen und geräuschvollen Luxus lebt und zum Theil von einem wahren Vergeudungswahnsinn ergriffen scheint, und einer großen Masse, die entweder nur mit härtester Mühe ihr Leben fristet oder trotz aller Anstrengung zu keinem menschenwürdigen Dasein gelangen kann. Jene Minderheit wird täglich reicher, der Abstand zwischen ihrer Lebenshaltung und derjenigen des Volksdurchschnitts täglich weiter, ihr Ansehen und Einfluß im Gemeinwesen täglich gewaltiger. Wenn man von der nie dagewesenen tollen Verschwendung zeitgenössischer Millionäre und Milliardäre spricht, so nehmen gewisse Kultur-Historiker überlegene Mienen an und zitiren mit mitleidigem Lächeln über solche Unwissenheit irgend einen lateinischen Schmöker, der beweisen soll, daß es heute noch lange nicht so arg getrieben wird wie im Rom der Kaiserzeit und selbst wie im Mittelalter, und daß das Mißverhältniß zwischen den Überreichen und Bettelarmen innerhalb derselben Nation früher weit größer war als gegenwärtig. Das ist aber nur aftergelehrter Schwindel. Vermögen wie die eines Vanderbilt, Baron Hirsch, Rothschild, Krupp u. s. w., Vermögen von 400 Millionen Mark und darüber hat es im Mittelalter nicht gegeben. Im Alterthum mag einmal der Günstling eines Despoten oder ein Satrap oder Prokonsul, nachdem er eine Provinz oder einen Welttheil gründlich ausgeraubt hatte, einen ebenso ungeheuren Besitz aufgehäuft haben, aber dieser Reichthum hatte keine Dauer. Er war wie die Schätze, von denen die Märchen erzählen. Man besaß ihn heute und hatte ihn morgen verloren. Sein Besitzer träumte einen kurzen Traum, aus dem ihn der Stahl eines Mörders, die Verfolgung seines Herrschers, eine brutale Beschlagnahme seines Vermögens weckte. Daß so ungeheurer Reichthum von Vater auf Sohn auch nur durch drei Generationen sich vererbt, daß sein Besitzer sich seiner in ruhigem und unangefochtenem Genusse erfreut habe, dafür findet sich in der ganzen Geschichte der römischen Kaiserzeit und der orientalischen Reiche kein einziges Beispiel. Und jedenfalls sind die Millionäre und Milliardäre früher unvergleichlich seltener gewesen als heute, wo man die Zahl der Privatleute, die mehr als fünf Millionen Mark besitzen, in England allein auf etwa achthundert bis tausend schätzt und die Zahl derjenigen, deren Vermögen über eine Million beträgt, in ganz Europa – die übrigen Welttheile gar nicht mit gerechnet – hunderttausend mindestens erreicht, wahrscheinlich sogar bedeutend übersteigt. Andererseits gab es zu keiner Zeit eine solche Menge völlig besitzloser Individuen, Armer im Sinne meiner oben gegebenen Definition, Menschen, die des Morgens nicht wissen, was sie am Tage essen und wo sie des Abends schlafen werden. Der Sklave im Alterthum, der Leibeigene im Mittelalter war freilich völlig besitzlos, da er selbst Eigenthum, Sache war, aber für seine einfachsten Bedürfnisse war gesorgt, er hatte von seinem Herrn Nahrung und Obdach. Im Mittelalter waren nur die unehrlichen Leute, Landstreicher, Gaukler, Zigeuner, fahrendes Volk aller Art, völlig enterbt. Sie nannten nichts auf Erden ihr Eigen, für sie war nirgends ein Tisch gedeckt, die herrschende Rechtsanschauung verweigerte ihnen selbst die theoretische Berechtigung, die Gaben der Natur als auch für sie vorhanden zu betrachten. Sie halfen sich aber durch Bettel, Diebstahl und Raub aus dem Elend heraus, in das die damalige Gesellschaft sie grundsätzlich einkerkerte, und wenn auch Galgen und Rad häufiger ihre Todesursache waren als Altersschwäche, so gelangten sie doch meistens satt und fröhlich bis an den Fuß des Hochgerichts. Das heutige Proletariat der Großstädte hat keine Ahnen in der Geschichte. Es ist ein Kind unserer Zeit. Der moderne Proletarier ist elender als der Sklave des Alterthums, denn er wird von keinem Herrn ernährt und wenn er vor jenem die Freiheit voraus hat, so müssen wir zugeben, daß dieselbe vornehmlich die Freiheit, Hungers zu sterben, ist. Er hat es nicht einmal so gut wie der unehrliche Mann des Mittelalters, denn er besitzt nicht die frische Unabhängigkeit dieses ausgestoßenen Landfahrers, er lehnt sich nur selten gegen die Gesellschaft auf und hat nicht das Auskunftsmittel, sich durch Diebstahl oder Raub das anzueignen, was ihm die bestehende Besitzordnung versagt. Der Reiche ist also reicher, der Arme ärmer, als er je in geschichtlicher Zeit gewesen. Dasselbe gilt vom Übermuth der Reichen. Man schwatzt uns fortwährend die Ohren voll mit den Gastmählern des Lucullus, von deren Abfällen sich noch heute anekdotenkramende Historiker und Archäologen nähren. Es soll aber noch bewiesen werden, daß das alte Rom je ein Fest gesehen hat, welches 400,000 Mark gekostet hat, wie der Ball eines New-Yorker Krösus, von dem die Zeitungen kürzlich berichtet haben! Ein Privatmann, der seinen Gästen Nachtigallenzungen-Pasteten vorsetzte oder einer griechischen Hetäre einige hunderttausend Sesterzen schenkte, erregte in Rom solches Aufsehen, daß alle Satiriker und Chronisten der Mit- und Nachwelt seinen Namen wiederholen. Heute spricht Niemand von den Tausenden und Tausenden, die 200,000 Mark für ein Service aus altem Sèvres oder 600,000 Mark für ein Rennpferd bezahlen oder einer käuflichen Dirne die Verschwendung einer Million in einem Jahre gestatten. Der orgienhafte Luxus des Alterthums und Mittelalters war eine äußerst seltene Einzelerscheinung, die gerade um ihrer Seltenheit willen auffiel. Jener Luxus hatte überdies die Scham, sich innerhalb eines engen Gesellschaftskreises zu verbergen. Die enterbte Masse bekam nichts von ihm zu sehen. Heute schließt sich der Übermuth der Reichen nicht in die Fest- und Speisesäle der Privathäuser ein, sondern wuchert mit Vorliebe auf die Straße hinaus. Die Stätten, wo sich ihre anstößige Üppigkeit entfaltet, sind die Promenaden der Großstädte, die Theater und Konzertsäle, die Wettrennplätze, die Kurorte. Ihre Gespanne fahren überall, wo sie barfüßige Hungerleider mit Koth bespritzen, ihre Brillanten scheinen ihr volles Feuer nur dort zu entwickeln, wo sie Proletarieraugen blenden können. Ihre Verschwendung nimmt gerne die Journalistik zur Zuschauerin und sucht sich durch die Zeitung der Kenntniß von Kreisen aufzudrängen, die keine Gelegenheit haben, mit eigenen Sinnen das ewige Gelage, die lebelange Fastnacht der Reichen zu beobachten. Dadurch wird dem modernen Proletarier ein Element der Vergleichung geboten, das dem antiken Dürftigen fehlte. Die Vergeudungen der Millionäre, deren Zeuge er ist, werden zum genauen Maßstab seines eigenen Elendes, das ihm dadurch mit mathematischer Klarheit in seiner ganzen Breite und Tiefe zum Bewußtsein gelangt. Nun ist aber die Armuth nur dann ein Übel, wenn sie subjektiv als solches empfunden wird; darum verschärfen die Millionäre durch die unklug herausfordernde Unverhohlenheit ihrer Prasserei das Leiden der Proletarier; das vor Aller Blicken offen gegebene Schauspiel ihres Lebens von Müßiggang und Genuß erweckt nothwendig die Unzufriedenheit und den Neid der letzteren und dieses moralische Gift frißt stärker an ihrem Gemüthe als die materiellen Entbehrungen.
Diese materiellen Entbehrungen dürfen aber darum auch nicht unterschätzt werden. Die große Masse der Besitzlosen in den Kulturländern fristet ihr nacktes Dasein unter Bedingungen, wie sie keinem einzigen freien Thiere der Wildniß bereitet sind. Die Wohnung des Proletariers der Großstädte ist ungleich schmutziger und ungesunder als die Lagerstätte der großen Raubthiere, ein Dachs- oder Fuchsbau. Gegen die Kälte ist er unvollkommener geschützt als diese. Seine Nahrung ist gerade nur ausreichend, um ihn nicht gleich verhungern zu lassen, obwohl auch tatsächlicher Hungertod in den Weltstädten ein tägliches Vorkommniß ist. Die Nationalökonomen haben zur Tröstung des unruhigen Gewissens der Besitzenden eine Phrase erfunden, die sie pomphaft das »eiserne Lohngesetz« nennen. Nach diesem Gesetze soll der Tagelohn mindestens so viel betragen, als an dem betreffenden Orte zur Erhaltung des Lebens eben nothwendig ist. Das hieße mit anderen Worten, daß der Arbeiter sicher sein kann, wenn schon keinen Überfluß, so doch wenigstens Befriedigung seiner Nothdurft zu erwerben. Das wäre ja sehr schön, wenn es sich so verhielte. Dann könnte sich ja der Reiche früh und Abend vorsagen, daß Alles aufs Beste bestellt sei in dieser besten aller Welten und Niemand das Recht habe durch Stöhnen oder Fluchen seine Verdauung und Nachtruhe zu stören. Das Unglück ist nur, daß das berühmte eiserne Lohngesetz ein jesuitisches Spiel mit Worten ist. Es findet zunächst auf diejenigen keine Anwendung, die sich überhaupt keine Arbeit verschaffen können. Und während der Zeit, wo er wirklich arbeitet, kann der Proletarier nirgends in Westeuropa so viel erwerben, daß er für die Zeit der Arbeitslosigkeit etwas erübrigt. Er ist also während eines Theils des Jahres auf Bettel oder langsame organische Verkümmerung durch Entbehrung angewiesen. Das eiserne Lohngesetz hat aber auch für das Ausmaß des Tagelohns der wirklich Beschäftigten keine Geltung. Was ist das Minimum dessen, was das Individuum zur Fristung seines Daseins braucht? Offenbar so viel, daß das Individuum damit seinen Organismus in gutem Stand erhalten, sich voll entwickeln und die natürlichen Grenzen seines Lebens erreichen kann. Sowie es sich mehr anstrengt, als seinem Organismus zuträglich ist, oder nicht so viel Nahrung, Wärme und Schlaf hat, wie sein Organismus erfordert, wenn er auf der vollen Höhe seines Typus bleiben soll, verfällt das Individuum dem physiologischen Elend. Überarbeitung ist als Ursache organischer Verkümmerung gleichwerthig mit Unternährung, diese aber ist gleichbedeutend mit langsamem Verhungern. Wenn das »eiserne Lohngesetz« wirklich wäre, was es zu sein vorgibt, so müßte der Tagelöhner durch seine Arbeit mindestens seinen Organismus zu der Beschaffenheit bringen und in derselben erhalten können, die zu erlangen ihm infolge seiner natürlichen Anlage möglich ist. Das kann aber der Tagelöhner erfahrungsgemäß nirgends in Europa. Der optimistische Nationalökonom weist triumphirend auf sein eisernes Lohngesetz hin, wenn er sieht, daß der Tagelöhner nicht gleich am Ende eines jeden Arbeitstages verhungernd niederfällt, sondern sich den Magen mit Kartoffeln füllt, seine Pfeife raucht, seinen Schnaps trinkt und sich selbst einredet, daß er nun satt und behaglich sei. Da kommt aber die Statistik und zeigt, daß die durchschnittliche Lebensdauer des Tagelöhners um ein Drittel, in manchen Fällen sogar um die Hälfte kürzer sei als die der wohlhabenden Individuen derselben Nation, die unter den gleichen klimatischen Bedingungen und auf dem gleichen Boden leben. Wer raubt den Proletariern die Lebensjahre, auf die sie als Söhne einer gegebenen Race und als Bewohner eines gegebenen Erdstrichs natürlichen Anspruch hätten? Wer anders als der Hunger, das Elend, die Entbehrung, die langsam ihre Gesundheit untergraben und ihren Organismus schwächen! Der Tagelohn reicht also höchstens aus, um den Proletarier vor dem schleunigen Verhungern und Erfrieren, nicht aber, um ihn vor dem vorzeitigen Zugrundegehen durch ungenügende Ernährung, Bekleidung und Ruhe zu bewahren, und die Krankheits- und Sterblichkeitsausweise der Arbeiterbevölkerung brandmarken das »eiserne Lohngesetz« als eine schamlose Lüge.
Das Bild der wirthschaftlichen Organisation der Gesellschaft wäre nicht vollständig, wenn ich neben dem übermüthigen Millionär und dem zu Krankheit und frühem Tode verurtheilten Proletarier nicht noch eine andere Klasse von Besitzlosen zeigen würde, die in der bestehenden Wirtschaftsordnung nur unwesentlich minder stiefmütterlich bedacht sind als der Industriesklave der Großstädte. Es sind dies die Gebildeten, die, von Hause aus vermögenslos, durch geistige Arbeit ihren Lebensunterhalt zu gewinnen haben. Das Angebot überwiegt auf diesem Arbeitsgebiete allenthalben in schreckenerregendem Maße den Bedarf. Die sogenannten liberalen Carrièren sind überall so überfüllt, daß diejenigen, welche sie verfolgen, einander erdrücken und der Kampf ums Dasein in denselben die grausamsten und häßlichsten Formen annimmt. Diese Unglücklichen, die eine öffentliche oder private Anstellung, ein Lehramt, den Erfolg als Künstler, Schriftsteller, Advokaten, Ärzte, Ingenieure u. s. w. erstreben, sind wegen ihrer höhern geistigen Entwicklung einer größeren Intensität der Empfindung ihres Elends fähig; ihr intimerer Verkehr mit Wohlhabenden stellt das Bild des Reichthums fortwährend gegensätzlich neben das ihrer Armuth und erhält in ihnen das Bewußtsein der letzteren weit mehr wach; vom gesellschaftlichen Vorurtheil ist ihnen eine Lebenshaltung auferlegt, die, ohne hygienisch werthvoller zu sein, ihnen dennoch ungleich größere Opfer aufbürdet als dem Proletarier die seinige, und der Wohlstand ist in ihrer Laufbahn der Preis von Demüthigungen, Charakter-Erdrückungen und Entäußerungen des eigenen Ichs, die gut angelegten Naturen noch schmerzlicher sind als materielle Entbehrungen. Weil diese Individuen subjektiv stärker leiden, ertragen sie auch den Zwang der wirthschaftlichen Ordnung ungeduldiger als die Proletarier. Der Besitzende nennt diejenigen unter ihnen, die ohne Erfolg gerungen haben, Deklassierte und heuchelt, sie zu verachten. Die Deklassirten sind aber die todesmuthigen Vorstreiter des Heeres, das die trotzige Veste des Gesellschaftsbaues belagert und sie früher oder später dem Boden gleichmachen wird.
Analysiren wir die einzelnen Elemente des im Vorstehenden gezeichneten Bildes nun etwas eingehender. Wir haben da den ohne Arbeit im Überfluß schwelgenden Reichen, den zur organischen Verkümmerung verurtheilten Proletarier und den durch eine mörderische Konkurrenz erdrückten geistigen Arbeiter gesehen. Leuchten wir zunächst der reichen Minderheit ins Gesicht.
Welches sind die Quellen des Reichthums dieser Minderheit? Dieselbe hat ihr Vermögen entweder geerbt und beschränkt sich darauf, es zu erhalten, oder sie hat es vermehrt oder selbst geschaffen. Von der Vererbung wird später ausführlicher die Rede sein. Hier sei nur bemerkt, daß der Mensch das einzige Lebewesen ist, welches die natürliche Fürsorge für die Nachkommen, eine der Kundgebungen des Gattungs-Erhaltungstriebes und die nothwendige Ergänzung des Fortpflanzungsaktes, so übertreibt, daß es nicht nur die nächste Generation bis zur erreichten Vollentwickelung, sondern noch die fernsten Geschlechtsfolgen während ihrer ganzen Lebensdauer der Notwendigkeit, für sich selbst zu sorgen, entheben will. Die Vermehrung der ererbten großen Vermögen geschieht in den meisten Fällen ohne das geringste Dazuthun des Besitzers und ist namentlich nicht die Folge seiner Arbeit. Die großen und alten Vermögen bestehen hauptsächlich in unbeweglichem Besitze, in Landgütern und Stadthäusern. Der Boden- und Häuserwerth nun steigt überall von Jahr zu Jahr und das Einkommen aus diesen Vermögensquellen wächst in dem Maße, in welchem die Zivilisation zunimmt. Die Hervorbringungen des Gewerbefleißes werden billiger, die Lebensmittel beständig theurer und das Obdach wird in den unaufhörlich anwachsenden Städten immer beschränkter und kostspieliger. Einzelne Nationalökonomen leugnen das Theurerwerden der Nahrungsmittel. Sie können aber für ihre Ansicht nur sophistische Beweise anführen. Gewiß, in den Zeiten des schwierigeren Verkehrs waren Hungersnöthe häufiger und Mißwachs konnte an einzelnen Orten Getreidepreise von einer Höhe veranlassen, die heute undenkbar wäre. Die Plötzlichkeit und Weite der Preisschwankungen in der Vergangenheit hat aufgehört, aber die durchschnittliche Höhe der Getreide- und Fleischpreise steigt fortwährend und dieser Anstieg wird durch die unvorsichtige Ausbeutung ungeheurer Strecken jungfräulichen Bodens in Amerika und Australien nicht aufgehalten, nur etwas verlangsamt. An dem wohl nahe bevorstehenden Tage, da der Raubbau auch die neuen Kontinente erschöpft haben und der Pflug keine herrenlosen Länder mehr zu erobern finden wird, muß der Werth der Lebensmittel maßlos wachsen, während bei den fortwährenden Vervollkommnungen der Maschinen und der immer großartigeren Ausnutzung der außermenschlichen Naturkräfte ein Aufhören des Sinkens der Preise aller Industrieerzeugnisse nicht abzusehen ist. Diese doppelte Strömung im Wirthschaftsleben, die Neigung der Lebensmittelpreise, zu steigen, die der Industrieproduktenpreise, zu sinken, macht den Industriearbeiter immer ärmer, den Grundbesitzer immer reicher. Jener muß immer mehr arbeiten, eine immer größere Menge Waaren hervorbringen, um sich die zu seiner Erhaltung nöthigen Naturerzeugnisse zu verschaffen, dieser kann die Hervorbringungen seines Bodens von Jahr zu Jahr gegen eine größere Menge von Industriegegenständen vertauschen. Dem Proletarier wird die Sättigung immer schwerer, dem Grundbesitzer die Vergeudung der Arbeitsprodukte des ersteren immer leichter und die Zahl der Poletarier, die für den Luxus des Grundbesitzers arbeiten, die also seine Sklaven sind, hört nicht auf, größer zu werden. Nicht sein Verdienst macht also den Erben des Landes und der Stadthäuser immer reicher, sondern die fehlerhafte Organisation des wirthschaftlichen Zustandes der Gesellschaft, die den Boden, das natürliche Arbeitswerkzeug der Menschheit, in die Hände Einzelner legt und den seines Antheils an der Erde beraubten Proletarier in den Großstädten anhäuft.
Neue Vermögen werden durch Handel, Spekulation oder Großindustrie geschaffen. Die Fülle, in welchen ein Einzelner durch die Mitwirkung des Zufalls große Reichthümer erlangt, indem er zum Beispiel Goldminen, Diamantengruben oder Petroleumquellen entdeckt und sie Dank den herrschenden Eigenthumsbegriffen für sich behalten und zu seinem eigenen Vortheil ausbeuten kann, dürfen wir vernachlässigen, weil sie allzu seltene Ausnahmen sind. Immerhin haben diese Ausnahmen übrigens einen theoretischen Werth als Beweise gegen die Richtigkeit einer andern sogenannten wissenschaftlichen These der Volkswirthschaftslehre, der These, daß Kapital in allen Fällen aufgesparte Arbeit sei. Welche Arbeit repräsentirt etwa ein Diamant von der Größe des Koh-i-Noor, den ein Abenteurer in Südafrika auf dem Boden findet und um mehrere Millionen verkauft? Ein Professor der Nationalökonomie ist um die Antwort nicht verlegen: der Edelstein ist allerdings ein Lohn der Arbeit; nämlich der Arbeit, daß der Finder sich gebückt und ihn aufgelesen hat. Die kodifizirte Wissenschaft nimmt eine solche Erklärung mit wolgefälligem Kopfnicken auf und proklamirt die Theorie als gerettet. Der gesunde Menschenverstand aber treibt mit Fußtritten diese Pseudo-Wissenschaft von sich, die von Dummköpfen für Dummköpfe erfunden ist und den Zweck hat, die Ungerechtigkeiten des Wirthschaftslebens mit windigen Floskeln zu beschönigen und zu entschuldigen.
Der legitime Handel, das heißt derjenige, der den Verkehr zwischen dem Erzeuger und Verbraucher der Boden- und Gewerbe-Hervorbringungen vermittelt und sich seine Dazwischenkunft durch eine Steuer bezahlen läßt, die er dem letzten Käufer in Gestalt eines mehr oder minder ansehnlichen Preiszuschlags auferlegt, führt in unseren Tagen nur ausnahmsweise zur Ansammlung großer Reichthümer. Es gibt zu viele Leute, die nicht mehr wollen, als nur ihr Leben fristen oder sich einen mäßigen Überfluß verschaffen, und die Wettbewerbung um den Auftrag des Konsumenten ist eine zu große, um dem Kaufmann einen besonders hohen Gewinn zu gestatten. Die allgemeine Tendenz des großen und kleinen Handelsverkehrs ist die, alle überflüssigen Vermittler zu unterdrücken, den Verbraucher möglichst direkt mit dem Erzeuger in Verbindung zu setzen und den Zuschlag des in vielen Fällen doch nicht völlig entbehrlichen Vermittlers zu den die Herstellungskosten im weitesten Sinne darstellenden Preisen der Güter auf einen Betrag herabzudrücken, der dem Vermittler gerade nur noch die Deckung seiner Kosten und die Erhaltung seines Lebens gestattet. Größer und dann allerdings räuberisch groß kann der Gewinn des Kaufmanns werden, wenn es ihm gelingt, die freie Konkurrenz zu lähmen oder doch abzuschwächen. Wer Waaren unter schwierigen Verhältnissen oder Gefahren, in Innerafrika oder bei wilden Völkerschaften Asiens, erwirbt, der wird sie mit sehr großem Gewinn verkaufen können, weil die Zahl derjenigen, welche bereit sind, ihr Leben oder ihre Gesundheit für die Möglichkeit der Erwerbung von Reichthümern einzusetzen, denn doch eine geringe ist und man ihm eine Weile das Feld ziemlich ausschließlich überlassen wird. Lange dauert die konkurrenzlose Ausbeutung einer solchen Handelsbeziehung freilich nicht, da deren Gefahren in dem Maße abnehmen, in welchem sie älter und bekannter wird und die Erschließung von Ländern, welche bisher unzugänglich waren, sie unter die Herrschaft des Gesetzes der allgemeinen Wettbewerbung stellt. In zwanzig, in dreißig Jahren wird voraussichtlich diese Quelle großer Reichthümer vollkommen versiegt sein. Man wird nach Innerafrika, Zentralasien und China ebenso leicht und gefahrlos gelangen wie nach irgend einem europäischen oder amerikanischen Lande, die Händler werden dort mit dem Einkaufspreise so weit hinauf- und mit dem Verkaufspreise so weit heruntergehen, als es ihnen ohne Verlust möglich sein wird, und beim Handel mit Elephantenzähnen am Congo oder mit Baumwolle in China wird man auch nur seinen Lebensunterhalt finden wie beim wenig abenteuerlichen Schnupftabaksverkauf in Leitmeritz. Unverhältnismäßig große Gewinne können ferner gemacht werden, wenn es einem einzelnen Kaufmann oder einer geschlossenen Verbindung von Kaufleuten gelingt, einen nothwendigen Gebrauchsartikel zu monopolisiren, so daß der Käufer ihn nur aus ihren Händen erhalten kann und keine andere Wahl hat, als auf den Artikel zu verzichten oder für denselben den Preis zu bezahlen, den die verschworenen Raubgenossen für ihn fordern. Dieses Verfahren liegt aber nicht mehr im Gebiete des legitimen Handels, sondern bildet eine Gewaltthätigkeit, welche gewisse Gesetzgebungen (z. B. die französische) als Verbrechen ansehen und bestrafen, und führt uns zur zweiten Quelle großer Vermögen, zur Spekulation.
Die Spekulation ist eine der unleidlichsten Krankheitserscheinungen im wirthschaftlichen Organismus. Die tiefsinnigen Weisen, die finden, daß Alles, was ist, vortrefflich ist, haben auch die Spekulation zu vertheidigen gesucht, sie berechtigt und nothwendig genannt, ja sich geradezu für sie begeistert. Ich werde diesen unvorsichtigen Panegyrikern gleich zeigen, für welchen Grundsatz sie da eingetreten find. Der Spekulant spielt im Wirtschaftsleben die Rolle eines Schmarotzers. Er produzirt nichts, er leistet nicht einmal wie der Kaufmann die fraglichen Dienste eines Vermittlers und beschrankt sich darauf, den wirklich Arbeitenden den größten Theil ihres Erwerbes mit List oder Gewalt abzunehmen. Der Spekulant ist ein Wegelagerer, der den Produzenten ihre Erzeugnisse gegen geringe Entlohnung förmlich raubt und die Konsumenten zwingt, sie ihm weit theurer abzukaufen. Die Waffe, mit der er Produzenten und Konsumenten wie ein Buschklepper überfällt, ist doppelläufig und heißt »Hausse und Baisse«. Er bedient sich seines Mordgewehrs auf folgende Weise: Wenn sein Beutezug die Plünderung des Produzenten zum Ziele hat, so verkauft er eines Tages Waaren, die er nicht besitzt, um einen billigern als den Marktpreis und verspricht, sie dem Käufer später, nach vierzehn Tagen, nach einem Monate, nach drei Monaten, abzuliefern. Der Käufer deckt seinen Bedarf natürlich lieber beim Spekulanten als beim Produzenten, weil der erstere geringere Preise fordert. Der Produzent steht nun mit seiner Waare da und hat nur zwei Wege vor sich: entweder er ist reich genug, um ohne Drangsal auf die Verwerthung seiner Erzeugnisse warten zu können, dann wird sich der Spekulant dieselben am Tage, da er sie abzuliefern versprochen hat, allerdings nicht so billig verschaffen können, wie er gehofft hat, er wird vielmehr gezwungen sein, die vom Produzenten geforderten Preise zu bewilligen, und aus dem Räuber wird ein Beraubter werden; oder der Produzent ist auf den sofortigen Verkauf seiner Waare angewiesen – und das ist der weitaus häufigere Fall –, dann muß er sich bequemen, mit seinen Preisen so weit herunterzugehen, bis er endlich Käufer findet; er muß jedenfalls den Spekulanten unterbieten und sein Käufer wird nothwendig der Spekulant selbst sein, denn der Verbraucher hat seinen Bedarf bereits beim Spekulanten gedeckt; dieser wird also die billig verkaufte Waare am Lieferungstage noch billiger erhalten. Der Produzent geht dabei vielleicht zu Grunde, der Spekulant aber hat sich aus dessen Flanke sein Pfund Fleisch herausgeschnitten. Ist die Razzia im Gegentheil gegen den Konsumenten gerichtet, so kauft der Spekulant alle Waare, deren er habhaft werden kann, zu dem vom Produzenten geforderten Preise; er kann das ohne Anstrengung thun, denn das Geschäft kostet ihn keinen Heller; er bezahlt seinen Einkauf nicht baar, sondern mit einem Versprechen; er braucht den Preis erst nach Wochen und Monaten zu berichtigen; ohne einen eigenen Besitz, ohne einen Pfennig ausgelegt zu haben, ist also der Spekulant Eigenthümer der Waare geworden und wenn der Konsument sich dieselbe verschaffen will, so muß er sie beim Spekulanten und zu dem von diesem geforderten Preise erstehen. Der Spekulant nimmt mit der einen Hand das Geld, das ihm der Konsument reicht, läßt davon einen möglichst ansehnlichen Theil in seine eigene Tasche fallen und gibt den Rest mit der andern Hand dem Produzenten hin. Auf diese Weise wird der Spekulant ohne Arbeit, ohne Nutzen für die Gesammtheit reich und mächtig; das Kapital erweist ihm die höchste Gunst, indem es ihm unbegrenzten Kredit einräumt; wenn ein armer Teufel von Arbeiter sich selbstständig machen will, so hat er alle Mühe, die kleine Summe geliehen zu erhalten, deren er zur Anschaffung seines Werkzeugs und Rohstoffs und zur Fristung seines Lebens bis zum Verkaufe seiner ersten Hervorbringungen bedarf; wenn dagegen ein Müßiggänger mit eiserner Stirne, der beschlossen hat, von der Arbeit der Anderen zu leben, spekulative Käufe oder Verkäufe ausführen will, so stellen sich ihm Produzenten und Konsumenten zur Verfügung, ohne sich einen Augenblick lang bitten zu lassen; man sagt sich, daß man ja keinerlei Gefahr laufe, daß der bewilligte Kredit blos theoretisch existire; der Produzent gibt nicht die Waare aus der Hand, sondern nur die Zusicherung, sie an einem bestimmten Tage zu einem bestimmten Preise abzuliefern, natürlich unter der Bedingung, daß der Preis auch baar bezahlt werde; der Konsument seinerseits erlegt nicht den Kaufpreis, sondern ertheilt nur das Versprechen, ihn an dem Tage zu bezahlen, an welchem ihm die Waare übergeben wird. Dieser theoretische Kredit genügt aber, um dem Spekulanten aus Nichts die skandalösesten Reichthümer zu erschaffen.
Jeder Arbeiter, jeder ohne Ausnahme ist dem Spekulanten tributär. Alle unsere Bedürfnisse sind vorausgesehen, alle Gebrauchsgegenstände werden von der Spekulation auf Kredit vorgekauft und uns gegen baar nach Möglichkeit verteuert zurückverkauft. Wir können keinen Bissen Brod essen, unser Haupt unter keinem Obdach ausruhen, keinen Sparpfennig in einem Werthpapier anlegen, ohne dem Getreide-, dem Grund- und Haus-, dem Börse-Spekulanten seine Brandschatzung zu zahlen. Die Steuer, welche wir dem Staate leisten, ist drückend genug, doch nicht entfernt so drückend wie die, welche uns die Spekulation unerbittlich auferlegt. Man hat es gewagt, die Börse als eine notwendige und nützliche Einrichtung zu vertheidigen. Erstickt der Anwalt nicht an der Ungeheuerlichkeit seiner Behauptungen? Was, die Börse soll nützlich und nothwendig sein? Hat sie sich denn jemals innerhalb der Schranken ihrer theoretischen Aufgabe gehalten? Ist sie jemals blos der Markt gewesen, wo der bona fide Käufer dem bona fide Verkäufer begegnet, wo ehrliche Nachfrage und ehrliches Angebot einander ausgleichen? Das Bild, das die Börse mit einem Giftbaum vergleicht, ist schwach und namentlich unvollständig, denn es versinnlicht nur eine Seite des Börsentreibens, dessen Wirkung auf die moralischen Begriffe des Volkes. Die Börse ist eine Räuberhöhle, in welcher die modernen Erben der mittelalterlichen Raubritter hausen und den Vorübergehenden die Gurgel abschneiden. Wie die Raubritter bilden die Börsenspekulanten eine Art Aristokratie, welche sich von der Masse des Volks reich ernähren läßt; wie die Raubritter nehmen sie für sich das Recht in Anspruch, den Kaufmann und Handwerker zu zehnten; glücklicher als die Raubritter, riskiren sie jedoch nicht, hoch oder kurz gehenkt zu werden, wenn sie einmal ein Stärkerer bei der Beutelschneiderei ertappt. Man tröstet sich manchmal damit, daß die Spekulation in Augenblicken der Krise mit einem Schlage Alles verliert, was sie in Jahren ungehinderten Raubes zusammengerafft hat. Das ist aber ein schöner Wahn, mit dem sich die Pastorenmoral zu beruhigen sucht, welche gern am Ende des Verbrechens die Strafe als Schlußpunkt sieht. Selbst wenn eine Krise den Spekulanten zwingt, seinen Raub von sich zu geben, so kann sie doch nichts daran ändern, daß er bis dahin, vielleicht viele Jahre lang, auf Kosten der arbeitenden Glieder des Gemeinwesens ein empörend üppiges Dasein geführt hat. Der Spekulant verliert dann vielleicht sein Vermögen, aber den Champagner, den er in Strömen hat fließen lassen, die Trüffeln, die er verschlungen, die Goldhaufen, die er am grünen Tische verspielt, die Stunden, die er bei seiner Maitresse verbracht hat, die nimmt ihm keine Macht der Welt. Übrigens ist aber eine Krise nur einzelnen Spekulanten, nicht aber der Spekulation im Allgemeinen verhängnißvoll. Im Gegentheil, die Krisen sind die großen Erntefeste der Spekulation, die Gelegenheiten zur Massen-Abschlachtung der ganzen erwerbenden und sparenden Menge eines Volks oder Welttheils. Da thut das Großkapital seinen Rachen auf und verschlingt nicht blos den Wohlstand des anlagesuchenden Publikums, sondern auch den unsittlichen Erwerb des kleineren Raubzeugs der Börse, das es sonst gutmüthig um sich spielen läßt wie der Löwe die Maus. Große Baissen werden vom Großkapital herbeigeführt und ausgenützt. Es kauft dann Alles auf, was Werth und Zukunft hat, und verkauft es bald darauf, sowie das Ungewitter vorübergezogen und der Himmel wieder heiter geworden ist, mit ungeheurem Nutzen an dieselben Leute zurück, welche das Papier früher zu Spottpreisen abgegeben haben, um es bei einer neuen Krise wieder sehr billig zu erstehen und dieses grausame Spiel zu erneuen, so oft einige Jahre friedlichen Erwerbes die periodisch geleerten Spartruhen der Produzirenden wieder gefüllt haben. Finanzkrisen sind einfach die regelmäßigen Kolbenstöße, mit welchen das Großkapital den gesammten Erwerbsüberschuß eines Volks in seine eigenen Sammelbecken pumpt.
Die Vertheidiger der Spekulation sagen: Der Spekulant hat im Wirthschaftsdrama eine berechtigte Rolle, sein Gewinn ist der Lohn größeren Scharfblicks, weiserer Voraussicht, rascherer Beurtheilung einer Lage und kühneren Wagens. Das Argument gefällt mir; halten wir es fest. Weil also der Spekulant über Mittel, sich zu unterrichten, verfügt, die dem großen Publikum unzugänglich sind, weil er vor Verlusten weniger Angst hat als der redliche Sparer und allerlei Möglichkeiten schlauer abschätzt als dieser, so hat er das Recht, dem Arbeitenden seinen Erwerb wegzunehmen und im Müßiggang Reichthümer aufzuhäufen. Dieses Recht beruht demnach darauf, daß er bessere Waffen hat – seine Information, größeren Muth – das Geld anderer aufs Spiel zu setzen, und überlegene Kraft – des Urtheils und Verstandes. Nun will ich einmal annehmen, daß Proletarier noch bessere Waffen haben – Repetirgewehre oder Dynamitbomben, noch größeren Muth – den, ihr Leben in die Schanze zu schlagen, und noch überlegenere Kraft – der Muskeln und Knochen. In diesem Falle müssen die Vertheidiger der Spekulation den Proletariern also das Recht zugestehen, ihrerseits den Spekulanten ihr Geld wegzunehmen, oder die Theorie, mit welcher man die Berechtigung der Spekulation nachzuweisen sucht, ist eine Lüge.
Die dritte Quelle großer Reichthümer ist die Großindustrie. In dieser beutet ein Besitzer, oder Nutznießer von Kapital die Tagelöhner aus, die ihm ihre Arbeitskraft vermiethen. Der Unterschied zwischen dem wirklichen Werthe dieser Arbeitskraft, wie er im Preise ihrer Erzeugnisse ausgedrückt ist, und dem Lohne, der für dieselbe gezahlt wird, bildet den Gewinn des Unternehmers, der in den meisten Fällen ein unverhältnißmäßiger, wucherischer ist. Dieser Gewinn wird oft als der Lohn der geistigen Arbeit des Unternehmers angesprochen. Allein darauf ist zu erwidern, daß die geistige Arbeit, welche die technische und kaufmännische Leitung einer großen Fabrik erfordert, keinen Vergleich mit der aushält, welche in wissenschaftlicher Forschung oder literarischer Produktion verbraucht wird, und höchstens mit der eines höhern Staatsbeamten oder Gutsverwalters in eine Linie gestellt werden kann, also mit der von Personen, deren Leistungen die bestehende wirtschaftliche Ordnung nicht entfernt so hoch bewerthet wie das Jahreseinkommen eines großen Fabrikanten. Als bloße Kapitalsverzinsung kann der Unternehmergewinn ebenfalls nicht angesehen werden; denn kein Fabrikant bemißt den Preis seiner Erzeugnisse nur gerade so hoch, daß ihm nach Abzug der Herstellungskosten, zu denen ich auch die Entlohnung seiner eigenen geistigen Arbeit rechnen will, die vier- bis sechsprozentige Rente bleibt, welche das Kapital heute bei risikofreier Anlage auch dem Müßiggänger abwirft; diesen Preis bestimmt vielmehr die Rücksicht einerseits auf die Wettbewerbung der übrigen Fabrikanten, andererseits auf das größere oder geringere Angebot der Arbeitskraft. Der Fabrikant trachtet zunächst, dem Arbeiter möglichst wenig zu zahlen, und dann, dem Käufer möglichst viel abzunehmen. Wenn ihm der Andrang von Arbeitern gestattet, solche um einen Spottpreis zu miethen, und die Abwesenheit von Konkurrenz oder sonstige Umstände ihm ermöglichen, das Fabrikat sehr theuer zu verkaufen, so bedenkt er sich auch keinen Augenblick lang, einen Gewinn zu nehmen, der nicht vier bis sechs, sondern hundert oder noch mehr Prozent des Kapitals ausmachen kann. Die Vertheidiger der kapitalistischen Ausbeutung des Arbeiters sagen, die Vertheilung des Unternehmergewinns an die Arbeiter würde wohl den Fabrikanten arm, aber die Arbeiter nicht reich machen und ihren Tagelohn nur unwesentlich, oft blos um einige Pfennige täglich, erhöhen. Ein edles, ein sittliches Argument fürwahr! Nicht auf die Höhe des Betrages, um den der Arbeiter geschätzt wird, kommt es an, sondern auf die Thatsache, daß er zu Gunsten eines Kapitalisten überhaupt geschätzt wird. Es ist möglich, daß der Tagelöhner täglich nur um einige Pfennige mehr verdienen würde, wenn er die ganze Frucht seiner Arbeit für sich behalten könnte. Aber mit welchem Rechte verhält man ihn, auch nur den allerkleinsten Theil seines Erwerbs an einen Unternehmer zu verschenken, der ohnehin bereits die Zinsen seines Kapitals und den überreichen Lohn seiner problematischen Geistesarbeit dahin hat? Man denke sich nur einmal, daß ein Gesetz bestimmte, jeder Bewohner des deutschen Reichs habe jährlich einen Pfennig an irgend einen Schmidt oder Meyer, nicht als Dank für Verdienste um das Gemeinwesen, nicht als Lohn für irgend eine Leistung, sondern als einfaches Geschenk, zu zahlen! Der so Begünstigte erhielte dadurch eine Jahresrente von fast einer halben Million Mark; jeder einzelne Steuernde aber würde seinen Beitrag gar nicht empfinden. Ein Pfennig! das ist so wenig, daß man darüber kein Wort zu verlieren braucht. Und doch würde, ein solches Gesetz von der ganzen Nation mit einem Schrei der Entrüstung beantwortet werden und jeder Bürger sich gegen dessen rohe Willkür und Ungerechtigkeit empören. Allein das wirtschaftliche Gesetz, welches einem Theil der Nation, dem ärmsten, den Proletariern, eine Steuer, nicht von einem Pfennig, sondern im bescheidensten Falle von 30 bis 40, oft von 2 bis 300 Mark jährlich zu Gunsten dieses selben Schmidt oder Meyer auferlegt, finden die, welche ihm nicht unmittelbar unterworfen sind, ganz natürlich. Die Ungerechtigkeit ist in beiden Fällen genau dieselbe. Man fühlt aber die, welche am Proletarier begangen wird, wenig oder gar nicht, weil sie seit Jahrhunderten besteht, weil man sich an sie gewöhnt hat, vielleicht auch, weil sie nicht in der paradoxalen Form auftritt, die eine Wahrheit annehmen muß, um in verschlossene Geister einzudringen.
Wir haben also gesehen, daß großer Reichthum in allen Fällen nur durch die Aneignung der Frucht fremder, nie durch eigene Arbeit erworben wird. Mit eigener Arbeit kann man meist nur sein Leben fristen, manchmal etwas für die Zeit des Alters oder der Krankheit erübrigen, selten mäßigen Wohlstand erlangen. Einzelne Ärzte, Advokaten, Schriftsteller, Maler und darstellende Künstler vermögen allerdings ihre direkten, persönlichen Leistungen so hoch zu verwerthen, daß sie Jahreseinkünfte bis zu einer Million Mark beziehen und am Ende ihres Lebens ohne Hilfe der Spekulation, ohne illegitimen Gewinn ein Vermögen von zwanzig Millionen aufgehäuft haben können. Aber solche Persönlichkeiten leben gleichzeitig in der ganzen zivilisirten Welt wahrscheinlich nie mehr als zweihundert, vielleicht nicht einmal hundert. Und auch ihr Reichthum hat, wenn man genauer zusieht, eigentlich bereits einen parasitären Charakter, welcher einzig und allein dem des Schriftstellers nicht anhaftet. Wenn ein solcher eine Million verdient, weil er im Stande war, ein Buch zu schreiben, das in einer oder zwei Millionen Exemplaren abgesetzt wurde, so stellt diese Million einen Lohn der Geistesarbeit dar, den die ganze Menschheit freiwillig und gern bezahlt hat. Wenn aber ein Maler ein Bild um eine halbe Million verkauft, ein Chirurg für eine Operation 50,000 Mark erhält, einem Advokaten für eine Vertheidigung dieselbe Summe bezahlt wird oder eine Sängerin für eine Vorstellung 20,000 Mark bekommt, so drücken diese Beträge nicht einen von der Masse legitim befundenen und unbedenklich bewilligten Lohn individueller Leistungen aus, sondern sind der arithmetische Beweis der Thatsache, daß es in der Kulturwelt eine Minderheit von Millionären gibt, denen, weil sie ihren Reichthum nicht mit eigener Arbeit erworben haben, jeder Maßstab für den Werth einer Leistung fehlt, die jede Laune ohne Rücksicht auf die Kosten befriedigen und seltene Produktionen, wie ein gewisses Bild, den Gesang einer bestimmten Künstlerin, die Thätigkeit dieses einen Arztes oder Advokaten und keines andern, einander um jeden Preis streitig machen. Sieht man jedoch von den Wenigen ab, die in den freien Berufsarten ganz ausnahmsweise erfolgreich sind, so bleibt keine einzige Ausnahme von der Regel bestehen, daß die großen Vermögen von der Ausbeutung der Nebenmenschen herrühren und schlechterdings keinen anderen Ursprung haben. Wenn der ererbte Landbesitz des Grundeigenthümers große Werthzunahme erfährt, so ist es, weil die Zahl der vom Grund und Boden losgerissenen Arbeiter wächst, die Industrie an Ausdehnung gewinnt, die Großstädte überwuchern, die hauptsächlich auf das Gewerbe gerichtete Arbeit der zivilisirten Gesellschaft den Preis der Nahrungsmittel in demselben Maße steigert, in welchem sie den der Industrieprodukte herabdrückt, mit einem Worte, weil andere Individuen arbeiten, nicht, weil der Grundbesitzer selbst thätig ist. Wenn der Spekulant Millionen anhäuft, so erwirbt er sie durch Mißbrauch einer überlegenen Kraft, heiße diese nun Klugheit oder Informationen oder Verbindungen, mit welcher er den Arbeitenden und Sparenden ihr Vermögen abpreßt, wie der Brigant dem Reisenden seinen Geldbeutel mit dem Tromblon. Wenn der Industrie-Unternehmer zum Krösus wird, so geschieht dies durch die methodische Ausbeutung der Arbeiter, die wie ebenso viele Hausthiere für ihre Leistungen Futter und Stall – beides möglichst nothdürftig – erhalten, während der ganze Werth ihrer Hervorbringungen ihrem Herrn in die Tasche fließt. In diesem Sinne ist der übertriebene und darum unwahre Ausspruch Proudhons, daß Eigenthum Diebstahl sei, richtig zu stellen. Dieses Wort kann man nur dann richtig nennen, wenn man sich auf den sophistischen Standpunkt stellt, daß Alles Seiende für sich selbst vorhanden ist und aus der Thatsache seines Daseins sein Recht, sich selbst anzugehören, schöpft. Bei einer solchen Anschauung stiehlt man allerdings den Grashalm, den man rupft, die Luft, die man athmet, den Fisch, den man angelt; aber dann stiehlt auch die Schwalbe, wenn sie eine Fliege schluckt, und der Engerling, wenn er sich in eine Baumwurzel einfrißt, dann ist überhaupt die Natur von den Erzdieben bevölkert, dann stiehlt überhaupt Alles, was lebt, das heißt von außen Stoffe, die ihm nicht gehören, in sich aufnimmt und sie organisch verarbeitet, und ein Platinblock, der nicht einmal aus der Luft etwas Sauerstoff anwendet, um sich zu oxydiren, wäre das einzige Beispiel von Ehrlichkeit auf unserer Erdkugel. Nein, Eigenthum, das vom Erwerb, das heißt vom Austausch eines bestimmten Maßes Arbeit gegen ein entsprechendes Maß von Gütern, herrührt, ist nicht Diebstahl. Wohl aber ist Großkapital, das heißt die Anhäufung von Gütern in einer Hand, die ein Individuum auch bei höchster Bewerthung seiner Arbeit in einem Menschenleben nie mit eigener Produktion erwerben kann, immer ein an anderen Arbeitenden begangener Raub.
Die Minderheit von Räubern, für welche das ganze Gemeinwesen arbeitet, hat sich mächtig organisirt. Sie hat vor Allem die Gesetzgebung, die seit Jahrhunderten in ihrer Hand ist, ganz und gar ihrem Interesse dienstbar gemacht. Bei jedem Gesetze der zivilisirten Staaten möchte man mit Molière ausrufen: »Vous êtes orfèvre, Monsieur Josse!« »Sie sind ein reicher Mann, Herr Gesetzgeber, oder hoffen es zu werden und erklären Alles für ein Verbrechen, was Sie hindern könnte Ihren Reichthum zu genießen und zu mißbrauchen.« Alles, was ein Mensch anders als mit offenbarer Faustgewalt an sich raffen kann, ist sein und bleibt sein. Und selbst wenn die Genealogie eines Vermögens zu buchstäblichem Raub oder Diebstahl (Eroberung, Einsteckung von Kirchengütern, politischer Vermögenskonfiskation) führt, so wird auch das Verbrechen zu einem unantastbaren Besitztitel, sofern man nur das Eigenthum durch so und so viel Jahre festzuhalten vermocht hat. Das Staatsgesetz, das den Gendarmen in Bewegung setzt, genügt dem Millionär nicht. Er macht auch den Aberglauben zu seinem Bundesgenossen und verlangt von der Religion ein Schloß für seine Geldspinde, indem er in den Katechismus einen Satz einschmuggelt, der das Eigenthum für heilig, den Neid nach dem Besitze des Nachbars für eine mit Höllenfeuer strafbare Sünde erklärt. Er fälscht sogar die Moral, auf daß sie seine selbstsüchtigen Zwecke fördere, indem er der für ihn arbeitenden und von ihm ausgebeuteten Mehrheit ohne das geringste Lächeln weismachte, Arbeit sei eine Tugend und der Mensch blos zu dem Zwecke da, möglichst viel zu arbeiten. Wie kommt es, daß die besten und ehrlichsten Geister diesen Unsinn jahrtausendelang geglaubt haben? Arbeit soll eine Tugend sein? Kraft welches natürlichen Gesetzes? Kein Organismus in der weiten Lebewelt arbeitet, um zu arbeiten, sondern stets nur zum Zweck der Selbst- und Gattungserhaltung und gerade nur so viel, wie dieser Doppelzweck erfordert. Man macht wohl geltend, daß Organe nur durch Arbeit gesund bleiben und sich entwickeln, jedoch verkümmern, wenn sie feiern. Die Vertheidiger der großkapitalistischen Moral, die dieses Argument aus der Physiologie holen, verschweigen aber, daß Organe durch übermäßige Arbeit noch viel rascher zerstört werden als durch gar keine. Ruhe, behaglicher Müßiggang ist dem Menschen wie allen anderen Thieren unendlich natürlicher, angenehmer und wünschenswerther als Arbeit und Anstrengung. Diese ist nur eine peinliche Nothwendigkeit, durch die Erhaltung des Lebens bedingt. Der Erfinder des Märchens vom biblischen Paradiese hat dies in seiner Naivetät ganz klar empfunden, indem er seine ersten Menschen im Zustande der ursprünglichen Seligkeit ohne alle Bemühung dahinleben läßt, und die Arbeit, die den Schweiß von der Stirne rinnen macht, als härteste Strafe für das Verbrechen des Sündenfalls hinstellt. Die natürliche, zoologische Moral würde die Ruhe als höchstes Verdienst erklären und dem Menschen nur so viel Arbeit als wünschenswerth und rühmlich erscheinen lassen, wie zur Fristung seines Daseins unerläßlich ist. Dabei würden aber die Ausbeuter ihre Rechnung nicht finden, deren Interesse erfordert, daß die Masse mehr arbeite, als für sie nöthig ist, und mehr hervorbringe, als ihr eigener Verbrauch erheischt, weil sie sich eben des Überschusses der Produktion bemächtigen wollen, und darum haben sie die natürliche Moral unterdrückt und eine andere erfunden, durch ihre Philosophen begründen, ihre Prediger preisen, ihre Dichter besingen lassen, nach welcher Müßiggang aller Laster Anfang und Arbeit eine Tugend, die vornehmste aller Tugenden sein soll.
Freilich widersprechen die Ausbeuter sich selbst auf das unvorsichtigste. Sie vermeiden es zunächst sorgfältig, sich ihrem eigenen Moralkodex zu unterwerfen und beweisen damit, wie wenig ernst sie ihn nehmen. Der Müßiggang ist nur bei den Armen ein Laster. Bei ihnen ist er ein Attribut höheren Menschenthums und das Erkennungszeichen ihres vornehmeren Ranges. Und die Arbeit, die ihre zweiseitige Moral für eine Tugend erklärt, ist gleichzeitig in ihrer Anschauung eine Schande und bedingt eine gesellschaftliche Inferiorität. Der Millionär klopft dem Arbeiter auf die Achsel, schließt ihn aber aus seinem Verkehr aus. Die Gesellschaft, welche sich die Kapitalisten-Moral und -Denkungsweise angeeignet hat, rühmt den Fleiß mit ausgesuchten Lobsprüchen, weist aber dem Fleißigen den untersten Rang an. Sie küßt die behandschuhte Hand und spuckt auf die schwielige. Den Millionär sieht sie wie einen Halbgott, den Tagelöhner wie einen Paria an. Warum? Aus zwei Gründen. Erstens wegen des Nachwirkens mittelalterlicher Vorstellungen, zweitens weil Handarbeit in unserer Kultur mit Unbildung gleichbedeutend ist.
Im Mittelalter war Müßiggang das Vorrecht des Adels, das heißt der höhern Race von Eroberern, Arbeit die Zwangsleistung des Volks, das heißt der niedrigen Race von Besiegten und Unterjochten. Dadurch, daß man arbeitete, bekannte man sich als Sohn der Leute, die auf dem Schlachtfelde den Beweis geringerer Mannhaftigkeit und Tüchtigkeit geliefert hatten, und der freie Herr, der seinen Lebensunterhalt von einem Lehngute oder seinem Schwerte verlangen durfte, sah auf den mit produktiver Arbeit Beschäftigten mit der Geringschätzung hinab, die der Weiße für den Buschmann oder Papua empfindet und die im Selbstgefühl anthropologischer Überlegenheit begründet ist. Heute haben Müßiggang und Arbeit aufgehört, Racenmerkmale zu sein. Die Millionäre sind nicht mehr die Nachkommen des Erobererstammes, die Proletarier nicht mehr die Söhne des unterjochten Volkes. Allein wie in so vielen anderen Fällen hat auch in diesem das geschichtliche Vorurtheil die Verhältnisse überdauert, aus denen es entsprang, und der Reiche, der sich vom Armen erhalten und ihn für sich arbeiten läßt, sieht in diesem noch in unseren Tagen wie vor Jahrhunderten der Edelmann in seinem Hörigen nur eine Art Hausthier und durchaus keinen ihm ebenbürtigen Vollmenschen.
Handarbeit ist ferner in unserer Kultur mit Unbildung gleichbedeutend. In der That: die ganze Organisation der Gesellschaft macht dem Besitzlosen höhere Bildung unzugänglich. Der Sohn des Armen kann kaum eine Volksschule, geschweige denn das Gymnasium und die Universität besuchen, weil er auf Erwerb angewiesen ist, sowie er für seine Kräfte überhaupt einen Miether finden kann. Man bewundere einmal an diesem Beispiele die Zweckmäßigkeit der bestehenden Einrichtungen; die kostspieligen Unterrichtsanstalten werden vom Staate, das heißt von den Steuerzahlern, also von den Arbeitern, den Proletariern so gut wie von den Millionären, erhalten, kommen aber nur denen zugute, die mindestens so viel besitzen, daß sie bis zu ihrem 18. oder 23. Lebensjahr ohne Erwerbsthätigkeit leben können. Der Proletarier, der seinem eigenen Sohne keine höhere Bildung angedeihen lassen kann, weil er zu arm dazu ist, muß dennoch den Sohn des Reichen auf seine Kosten studiren lassen, indem er mit die Steuern zahlt, aus denen Mittel- und Hochschulen erhalten werden. Die Engländer, die Amerikaner sind noch bis zu einem gewissen Punkte logisch. Ihre höheren Unterrichtsanstalten, wenn sie schon nicht der Gesammtheit zugänglich sind, werden wenigstens auch nicht zu einer Last für die Gesammtheit, sondern sind Privatunternehmungen oder leben von Stiftungen. In den Kontinentalstaaten aber wird, getreu dem in ihnen herrschenden System der Ausbeutung des Volks zum Nutzen einer kleinen Minderheit, das höhere Unterrichtswesen vom Budget, das heißt von den Steuerleistungen aller genährt, obwol seine Wohlthaten blos einer geringen Anzahl Privilegirter, noch lange nicht einem Prozent der Bevölkerung, zugewendet werden. Und wer sind die Bevorzugten, für die der Staat aus den Steuerbeiträgen der Gesammtheit Gymnasien, Realschulen, Fakultäten mit einem Aufwande von vielen Millionen erhält? Sind es die Fähigsten einer Generation? Sorgt der Staat dafür, daß in die Hörsäle seiner Lehranstalten nur Solche Einlaß finden, bei denen der Unterricht der theuer bezahlten Professoren fruchtbringend angelegt ist? Sichert er sich eine Bürgschaft, daß sich nicht Strohköpfe der Plätze auf den Schulbänken bemächtigen, die blos für Intelligenzen da sein sollten? Nein. Der Staat, der seinen hohem Unterricht nicht für Alle, sondern nur für sehr Wenige hat, trifft seine Auswahl nicht mit Rücksicht auf die geistige Berechtigung der Schüler zu reicherer Ausbildung, sondern mit Rücksicht auf ihre Vermögenslage. Der talentloseste Klotz kann sich auf Gymnasien und Fakultäten breit machen und die ihm gereichte geistige Nahrung ohne Nutzen für das Gemeinwesen absorbiren, wenn er nur wolhabend genug ist, um die Kosten des Studiums zu bestreiten, der begabteste Jüngling dagegen bleibt vom höhern Unterricht ausgeschlossen, wenn es ihm an den nöthigen Mitteln fehlt, zum großen Schaden der Gesammtheit, die dadurch vielleicht einen Goethe, Kant oder Gauß verliert.
So verketten sich die gesellschaftlichen und ökonomischen Mißstände zu einem circulus vitiosus, aus dem es keinen Ausweg gibt: der Arbeiter ist verachtet, weil er ungebildet ist, er kann sich aber nicht bilden, weil Bildung Geld kostet, das er nicht hat. Die Reichen haben sich nicht nur alle materiellen, sondern auch alle geistigen Genüsse mit Ausschluß der Armen vorbehalten; die erhabensten Güter der Zivilisation: Geisteskultur, Poesie, Kunst, sind tatsächlich nur für sie vorhanden und Bildung ist mit eines der vornehmsten und drückendsten ihrer Privilegien. Wenn sich ein Sohn der unteren Klassen durch Entbehrungen oder Erniedrigungen, durch Bettel oder übermenschliche Anstrengung dennoch die höhere Schulbildung angeeignet, Universitätsdiplome errungen hat, so kehrt er nicht etwa zur Arbeit seiner Väter zurück, so hat er nicht das Bestreben, das Vorurtheil, welches den Männern der Handarbeit den untersten Rang in der Gesellschaft anweist, zu brechen, indem er das Beispiel eines Handarbeiters zeigt, der auf derselben Stufe geistiger Kultur steht wie der tintenklecksende Beamte oder stubenhockende Professor, sondern er beeilt sich, dieses Vorurtheil zu bestärken, indem er auch die Handarbeit verachtet, eine Stelle in den Reihen der Privilegien beansprucht und sich wie die übrigen Mitglieder der höheren Klassen vom arbeitenden Volke ernähren lassen will. Es gibt Handwerke, in denen man bei einiger Geschicklichkeit ohne Mühe 3000 Mark jährlich verdienen kann; andererseits gewähren neun Zehntel aller Anstellungen im Staats- und Gemeinde-, Eisenbahn- und Handelsdienste bei ungleich größerer individueller Abhängigkeit nicht über 2400 Mark Jahresgehalt. Der Studirte zieht dennoch unbedenklich die 2400 Mark mit Bureausklaverei den 3000 Mark mit Freiheit vor, denn als Beamter gehört er zu den gesellschaftlich Privilegirten, zur geschlossenen Bruderschaft der Bildungs-Philister, als Arbeiter aber steht er außerhalb der gesellschaftlich in Betracht kommenden Kasten und wird als ein Barbar betrachtet, der nicht in derselben Geistesatmosphäre athmet wie der Gebildete. Das würde an dem Tage anders werden, an dem ein Studirter sich an die Hobelbank stellen wollte, an dem man einem Mann im Schurzfell mit dem Horaz in der Hand begegnen würde und an dem der Schmied oder Schuster gewordene Abiturient nach gethaner Arbeit in einem ästhetischen Theekränzchen ganz so mitschwatzen könnte wie der Referendarius, oder Kanzlei-Akzessist. Denn die ehrliche Arbeit an sich hat die gleiche Würde, ob sie die Erzeugung von Überröcken oder die Herstellung von Eisenbahnen bezweckt, und, gleiche Geistesbildung vorausgesetzt, hat am Feierabend der Ingenieur nicht den geringsten Anspruch auf Vorrecht vor dem Schneider. Der Studirte thut aber nichts zur Herbeiführung solcher vernünftigen Verhältnisse; er läßt die Blouse die Uniform des Kafferthums bleiben und ehe er sich in dieser sattessen würde, darbt er lieber im schäbigen Überrocke. Daraus ergibt sich eine der drohendsten Formen der sozialen Frage: die Überfülltheit aller freien Berufsarten. Der Studirte hält sich für zu gut – und muß sich bei den herrschenden Anschauungen für zu gut halten –, um in die tiefste Schicht der Gesellschaft, in den Stand der Handarbeiter, niederzutauchen, und verlangt von der Gesellschaft, daß sie ihn wie einen Herrn ernähre. Die Gesellschaft hat aber nur einen begrenzten Bedarf für die Gattung Arbeit, welche der Studirte heute leistet und so ist in den alten Kulturländern wohl die Hälfte aller Studirten dazu verurtheilt, ihr Lebelang zu hoffen und zu gieren und nichts zu erlangen, um den beschränkten Bissen zu kämpfen und dabei zu verhungern, vor der Tafel der schmausenden oberen Zehntausend zu stehen und sich den Schmachtriemen eng zu schnallen. Menschenfreunde jenes Schlags, die Krieg und Pest für einen Segen erklären, weil sie Raum schaffen und den Überlebenden bessere Daseinsbedingungen gewähren, haben denn auch die Bildung für ein Übel angesehen und die Vermehrung der Mittel- und Hochschulen als ein Attentat gegen das Volksglück bezeichnet, weil dadurch nur noch mehr Deklassirte, Unzufriedene, künftige Barrikadenkämpfer und Petroleure großgezogen werden. Sie haben beim heutigen Stand der Dinge nicht Unrecht. So lange sich der Studirte durch Handarbeit erniedrigt fühlt, weil der Arbeiter verachtet ist, so lange er in seinem Diplom eine Anweisung auf Versorgung durch die Gesellschaft sieht und sich durch seine Bildung zum Schmarotzerdasein der Reichen berechtigt glaubt, wird ihn die letztere in fünf Fällen unter zehn weit unglücklicher machen, als er es ohne sie im Handwerker- oder selbst Tagelöhner-Dasein je hätte sein können. Dem ist nur dadurch abzuhelfen, daß man der Bildung ihre natürliche Rolle wiedergibt. Sie muß Selbstzweck werden. Man muß zur Anschauung gelangen, daß die Bildung an sich ein ausreichender Lohn der Anstrengung, um sie zu erlangen, ist, daß man kein Recht hat, für diese Anstrengung noch einen anderen Lohn zu erwarten, und daß die Bildung der Pflicht produktiver Arbeit nicht enthebt. Der Gebildete hat ein reicheres und volleres Bewußtsein seines Ichs, er erfaßt tiefer die Erscheinungen der Welt und des Lebens, ihm sind künstlerische Schönheiten und geistige Genüsse zugänglich und sein Dasein ist ein ungleich weiteres und intensiveres als das des Unwissenden. Es ist undankbar, von der Bildung außer dieser unschätzbaren Bereicherung des innern Lebens auch noch das Brod zu verlangen, das zu liefern Pflicht der Hände ist. Wenn aber seinerseits der Gebildete die unmittelbare Güterproduktion nicht verschmähen sollte, so müßte andererseits die Gesellschaft die Bildung allen Bildungsfähigen dem Maße ihrer Fähigkeit entsprechend zugänglich machen. Der Schulzwang ist dazu nur ein schwacher Anfang. Wie will man arme Eltern verhalten, ihre Kinder bis zum zehnten oder zwölften Jahre zur Schule zu schicken, wenn sie nicht im Stande sind, die Kinder zu ernähren und zu bekleiden, und dieselben arbeiten lassen müssen, damit sie zu ihrer Erhaltung beitragen? Und ist es berechtigt, ist es logisch, daß der Staat sagt: »Du mußt Schreiben und Lesen lernen, darüber hinaus aber darfst du nicht gehen!« Warum hört der Schulzwang bei der Elementarschule auf? Warum erstreckt er sich nicht auf den höheren Unterricht? Entweder ist Unwissenheit ein nicht blos dem Individuum, sondern auch der Gesammtheit gefährliches Gebrechen, oder sie ist kein solches. Ist sie keines, dann wozu die Kinder auch nur zum Elementarunterricht zwingen? Ist sie eines, warum es nicht durch ausgedehntere Bildung möglichst vollständig heilen? Ist die Kenntniß der Naturgesetze nicht ebenso werthvoll wie die des Einmaleins? Braucht der künftige Wähler, der die Geschicke seines Vaterlandes mitbestimmen wird, keine Bewandertheit in der Geschichte, Politik und Nationalökonomie? Kann er aus der ihm beigebrachten Kunst des Lesens den vollen Nutzen ziehen, wenn man ihn nicht bis zum Verständniß der poetischen und prosaischen Meisterwerke seiner Literatur führt? Das setzt mindestens Mittelschulbildung voraus. Warum dann den Schulzwang nicht auch auf die Mittelschule ausdehnen? Das Hinderniß ist ein materielles. Der arme Mann, der schon so große Noth hat, sein Kind auch nur bis zum Verlassen der Volksschule zu erhalten, könnte unmöglich die Last der Versorgung desselben bis zu einem vorgerückteren Alter, etwa bis zum achtzehnten oder zwanzigsten Lebensjahre, tragen. Er ist gezwungen, die Arbeitskraft des Kindes so früh wie möglich zu verwerthen. Damit die Mittelschulbildung ebenso allgemein werde wie die Volksschulbildung, müßte entweder die Arbeit der Schuljugend so organisirt werden wie in gewissen Bildungsanstalten der Vereinigten Staaten, wo die Zöglinge neben dem Studium Ackerbau und Handwerke mit genügendem Erfolge betreiben, um sich vom Ertrag ihrer Arbeit, allerdings unterstützt durch menschenfreundliche Stiftungen, ernähren zu können, oder, was weit logischer und besser wäre, das Gemeinwesen müßte nicht blos für den Unterricht, sondern auch für die volle materielle Erhaltung der studirenden Jugend sorgen. »Das wäre der helle Kommunismus!« rufen wohl die entsetzten Anhänger jenes organisirten Egoismus, den man die bestehende Wirthschaftsordnung nennt. Ich könnte ihnen den Gefallen thun, das grausame Wort zu vermeiden, zu sagen: Nein, das wäre nicht der Kommunismus, sondern die Solidarität. Ich verschmähe es aber, mit dem Gedanken Versteckens zu spielen. Nun denn: ja, das wäre ein Endchen Kommunismus! Aber stecken wir denn nicht ohnehin in vollem Kommunismus? Ist es nicht Kommunismus, daß der Staat für die ganze Kindergeneration vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahre unentgeltlichen Schulunterricht besorgt? Ist die so gereichte Geistesnahrung nicht auch eine Nahrung? Kostet sie nicht auch Geld? Ist es nicht die Gesammtheit, die dieses Geld aufbringt? Und die Armee? Beruht sie nicht auf reinem Kommunismus? Erhält nicht die Gesammtheit eine ganze Generation von Jünglingen zwischen dem 20. und 23. Lebensjahre und zwar vollständig, nicht bloß mit geistiger, sondern auch mit leiblicher Nahrung, mit Wohnung und Kleidung? Weshalb sollte es schwerer oder unvernünftiger sein, eine Million Kinder während der vollen Schulzeit bis zur Universität, als eine halbe Million Jünglinge während der Militärdienstzeit auf Gemeinkosten zu erhalten? Die Kosten? Sie wären nicht größer als die der Armee-Erhaltung. Und die Heranbildung einer Armee ist für die Sicherheit und das Gedeihen einer Nation nicht wichtiger als die höhere Schulung der heranwachsenden Generation. Und übrigens: Weshalb sollte man nicht beide Zwecke verbinden? Weshalb nicht die ganze männliche Jugend bis zum siebenzehnten oder achtzehnten Jahre wie jetzt das Heer auf Staatskosten kleiden und ernähren und ihr neben dem Volks- und Mittelschulunterrichte gleichzeitig die militärische Ausbildung geben? Die nationale Arbeit würde die ökonomisch werthvolleren Arme 20- bis 23jähriger Arbeiter gegen die minder kostspieligen Arme von Knaben einlösen und der Gewinn, welcher der Gesammtheit daraus erwüchse, würde genügen, den Betrag zu decken, um den eine Schülerarmee mehr kosten würde als die gegenwärtige Armee zu dreijähriger Unproduktivität verurteilter vollentwickelter Arbeitskräfte.
Damit ein solches System vollständig sei, setzt es noch eine Einrichtung voraus. Nicht jede Intelligenz ist geeignet, höhere und höchste Bildung in sich aufzunehmen. Wenn der Staat die ganze Schuljugend erhält und dadurch die Bildung auch dem Sohne des Ärmsten zugänglich macht, so muß er dafür sorgen, daß seine Wohlthat nur solchen zukomme, die ihrer würdig sind und denen sie zum Nutzen wird. Am Ende eines jeden Schuljahres müßte eine mit jeder Stufe strengere Wettprüfung vorgenommen werden und nur die als Sieger aus ihr hervorgehen, hätten das Recht, in die höheren Lehranstalten vorzurücken. So würde der Unbegabte die Schule mit dem leichten, aber für seine Tragkraft gerade ausreichenden Gepäcke der Elementarkenntnisse, der mäßig Begabte sie mit einigem oder dem ganzen Mittelschulwissen verlassen und nur der Hochbegabte zu den obersten Lehranstalten, zu den Fakultäten und wissenschaftlichen, technischen oder Kunst-Fachschulen zugelassen werden. So ist es zu erreichen, daß höhere Bildung Gemeingut des ganzen Volkes wird und nicht länger das Vorrecht der Reichen bleibt; die Blouse des Handarbeiters ist dann nicht mehr mit Rohheit gleichbedeutend und der Studirte vergibt sich nichts, wenn er seinen Lebensunterhalt von der unmittelbaren Gütererzeugung verlangt; die Überfüllung der freien Berufsarten mit anmaßenden und unberechtigten Mittelmäßigkeiten ist verhütet; das wirkliche Talent, das gezwungen war, in einem Dutzend Wettprüfungen immer schwerere Proben seiner vollen Begabung zu liefern, findet nach der letzten Prüfung in seinem Diplom eine absolute Garantie ehrenvollen Erwerbs, die Deklassirten verschwinden, das Elend im Überrock hört auf und eine der gefährlichsten Wunden am Gesellschaftskörper ist geheilt.
Neben der Minderheit reicher Müßiggänger, die von der Arbeit der Fleißigen leben, und der Gruppe der Unnöthigen, die aus dem Besitze irgend eines Diploms das Recht ableiten zu dürfen glauben, gleich den Millionären zu schmarotzen, haben wir in unserem Bilde der wirtschaftlichen Zustände den besitzlosen, von der natürlich nährenden Scholle losgerissenen Industriearbeiter gesehen. Welch eine tragische Gestalt mitten in unserer gerühmten Zivilisation, dieser Proletarier, welch eine furchtbare Kritik unserer Kultur! Man zitirt oft die Zeilen, in denen La Bruyère den leibeigenen französischen Bauer seiner Zeit schildert: »eine Art finstern scheuen Thieres, ausgemergelt, in Höhlen wohnend, auf allen Vieren Gras fressend, mit Lumpen bedeckt, bei der Annäherung eines Menschen erschrocken fliehend, und doch mit einem menschlichen Gesichte versehen, und doch ein Mensch«. Die Schilderung gilt vom Tagelöhner unserer Tage. Elend genährt, hauptsächlich auf Kartoffeln und Fleischabfälle in Wurstform angewiesen, mit Fusel vergiftet von dem er den Selbstbetrug eines lügnerischen Kraft- und Sattheits-Gefühls verlangt, schlecht gekleidet, in eine besondere Tracht gehüllt, die ihn schon von Weitem als den Armen, den Enterbten bezeichnet, aus Mangel an Zeit und Geld zur körperlichen Unreinlichkeit verurtheilt, steckt er in den finstersten, schmutzigsten Winkeln der Großstädte. Er hat nicht nur keinen Antheil an den besseren Nahrungsmitteln, welche die Erde hervorbringt, auch Licht und Luft, die doch in unbeschränkter Menge für alle Lebewesen da zu sein scheinen, sind ihm aufs kargste zugemessen oder ganz vorenthalten. Seine ungenügende Nahrung und sein übermäßiger Kraftverbrauch erschöpfen ihn so, daß seine Kinder rhachitisch werden und er selbst einem frühen Tode anheimfällt, dem oft genug langes Siechthum vorangeht. Seine ungesunde Wohnung macht ihn und seine Nachkommenschaft unrettbar zur Beute der Skrophulose und Tuberkulose. Er ist eine Art verlorenen Postens, den jede Seuche zu allererst niedermetzelt. Er ist schlechter daran als der Sklave des Alterthums, denn ganz so gedrückt, ganz so abhängig vom Herrn und Vogt, wie dieser, kann er für den Verlust seiner Freiheit nicht einmal auf die beständige Hausthier-Versorgung mit Stall und Futter rechnen und hat überdies vor seinem antiken Leidensgenossen das fressende neuzeitliche Bewußtsein seiner Menschenwürde und seiner natürlichen Rechte voraus. Er ist aber auch übler daran als der Wilde, der in den Urwäldern Amerikas oder Grasebenen Australiens umherschweift, denn gleich diesem ganz allein auf seine eigene Kraft angewiesen, gleich diesem Tag für Tag aus der Hand in den Mund lebend und vom Hunger heimgesucht, wenn er einige Stunden lang nichts erbeutet hat, ist er überdies des hohen Genusses beraubt, den die volle Auslebung aller Leibes- und Geisteskräfte im Kampfe mit natürlichen Hindernissen, Thieren und Menschen gewährt, und muß er von seinem ohnehin weitaus unzulänglichen Arbeitsertrag auch noch einen ansehnlichen Theil an das Gemeinwesen abgeben, das ihm als Gegenleistung Ketten und Hiebe bietet. Die Zivilisation, die ihm Befreiung und Wohlbefinden versprochen, hat ihm allein nicht Wort gehalten. Er ist von ihren höchsten Gütern ausgeschlossen. Die moderne Hygiene, die das Heim des Wohlhabenden so behaglich gestaltet, ist in seine Schlupfwinkel nicht eingedrungen; in der vierten Wagenklasse der Eisenbahnen reist er unbequemer als einst zu Fuße oder in einem Plachenwagen, den eine Schindmähre zog; die Errungenschaften der Forschungen gelangen nicht bis zu seinem Verständniß; die Hervorbringungen der schönsten Künste, die dichterischen Meisterwerke seiner Sprache bereiten ihm keinen Genuß, weil er nicht erzogen ist, sie zu begreifen; selbst die Maschine, die ihm zum Segen werden sollte, hat seine Sklaverei eher erschwert als erleichtert. Es ist gewiß ein großer Schritt zur Beglückung der Menschheit, daß man die Naturkräfte zur Verrichtung aller brutalen Arbeit einspannen kann; denn das Wesentliche und Hohe am Menschen ist nicht seine Muskulatur, sondern sein Gehirn; als Kraftquelle steht er hinter dem Rind und Maulesel, und wenn man von ihm blos mechanische Arbeit verlangt, so erniedrigt man ihn zum Range des Saumthiers. Allein die Maschine ist bisher nicht der Heiland, der Erlöser und Befreier des Arbeiters geworden, sondern hat ihn im Gegentheil zu ihrem eigenen Diener gemacht, weil seine Enterbung von Grund und Boden und die sich daraus ergebende Unmöglichkeit, der Natur seinen Bedarf an ihren Erzeugnissen unmittelbar abzuringen, ihn nach wie vor auf die bloße Verwerthung seiner Muskelkraft in der Industrie anweist und zum schwächern, unvollkommenern, demüthigen Konkurrenten der Maschine hinabdrückt. Die Solidarität des Menschengeschlechts empfindet er nur insofern, als sie ihm viele Pflichten auferlegt, während sie ihm kaum irgend ein Recht einräumt. Wenn er seine Arbeitskraft nicht verwerthen kann oder durch Krankheit oder Altersschwäche an nützlicher Thätigkeit verhindert ist, so übernimmt es die Gesellschaft wohl, für ihn zu sorgen; sie schenkt ihm Almosen, wenn er bettelt, sie legt ihn auf ein Spittelbett, wenn er fiebert, sie steckt ihn – manchmal – in ein Armenhaus, wenn er vor Bejahrtheit nicht weiter kann; aber mit wie unwirschen, mürrischen Mienen erfüllt sie diese Pflichten! Sie reicht ihrem unwillkommenen Kostgänger mehr Demüthigungen als Bissen und während sie auf der einen Seite mit Ächzen und Krächzen seinen Hunger stillt und seine Blöße bedeckt, erklärt sie es auf der andern Seite für die größte Schande, diese Wohlthaten aus ihrer Hand anzunehmen, und hat für den Unglücklichen, der ihre Milde in Anspruch nimmt, die tiefste Verachtung. Für seine Tage der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und des Alters selbst zu sorgen ist dem Proletarier unmöglich. Wie sollte er, der nicht das Nöthigste verdient, noch erübrigen? Für seinen Arbeitstag einen Preis zu fordern, der ihm mehr gewähren würde als die Befriedigung seiner allerdringendsten Bedürfnisse, daran kann er nicht denken, denn die Zahl der Enterbten ist zu groß und die Enterbung der Massen macht noch immer Fortschritte und es werden sich nothwendig Wettbewerber finden, die sich für ihre Arbeit mit einem Lohn begnügen, der sie eben nur davor bewahrt, gleich Hungers zu sterben. An diesem Verhältniß kann der Proletarier aus eigener Kraft schlechterdings nichts ändern. Es hilft ihm nichts, noch so fleißig zu sein; mit der größten Anspannung seiner Kräfte wird er nie über die strikte Befriedigung seiner unmittelbarsten Bedürfnisse hinausgelangen, ganz abgesehen davon, daß selbst das niedrigste Ausmaß des Tagelohns bereits die äußerste Ausnützung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters zur Voraussetzung hat. Im Gegentheil: je mehr der Proletarier arbeitet, um so mehr verschlimmert er seine Lage. Das scheint paradox und ist doch durchaus wahr. Produzirt der Proletarier mehr, so wird sein Erzeugniß billiger und seine Entlohnung bleibt dieselbe, wenn sie nicht geringer wird; so verdirbt er sich durch angestrengte Thätigkeit selbst seinen Markt und entwerthet nur seine Arbeitskraft. Diese Erscheinung würde nicht eintreten, wenn die Produktion der Großindustrie durch die Nachfrage bestimmt würde. Dann könnte eine Überproduktion nie vorkommen, der Preis der Güter würde nicht durch ihre Menge gedrückt und der Arbeiter erhielte für mehr Arbeit auch höhern Lohn. Der Kapitalismus fälscht aber dieses natürliche Spiel der wirthschaftlichen Kräfte. Ein Unternehmer legt eine Fabrik an und läßt Waaren herstellen, nicht weil er die Überzeugung erlangt hat, daß für die letzteren unbefriedigter Bedarf vorhanden ist, sondern weil er Kapital besitzt, für dasselbe Verzinsung sucht und einen Nachbar kennt, der mit seiner Fabrik Reichthümer erworben hat. So tritt individuelle Laune oder Unverstand an die Stelle der Wirthschaftsgesetze und der Markt wird mit einem Überschuß von Gütern überschwemmt, weil ein Einzelner in der Jagd nach Millionen eine falsche Fährte verfolgt. Der Irrthum rächt sich freilich; der Unternehmer drückt die Preise, bis sie nicht mehr lohnend sind, und geht zu Grunde; alle übrigen Fabrikanten desselben Artikels werden mit ihm zu Boden gerissen; über einen ganzen Produktionszweig bricht eine Landes- oder Weltkrise herein. Das eigentliche Opfer ist aber doch der Proletarier, der, bis der Unternehmer sein Kapital erschöpft hat und nicht mehr weiter kann, gegen immer geringern Lohn immer mehr hat arbeiten müssen und am Schluß des ungleichen Kampfes zwischen Nachfrage und Angebot, der mit der Besiegung des letztern endet, auf kürzere oder längere Zeit sogar völlig brodlos wird. Das ist die Rolle des Proletariers und Unternehmers in der Großindustrie: der erstere ermöglicht dem letztern die Anhäufung mächtiger Kapitalien; die Kapitalien suchen Verwerthung und glauben sie in der Anlage neuer Fabriken zu finden; dadurch entsteht Überproduktion und scharfe Konkurrenz mit ihrem Gefolge von Preiserniedrigung und Lohnherabsetzung und zuletzt tritt die Krise ein, die den Arbeitern ihren Erwerb raubt. So macht der Industriesklave seinen Herrn reich, dafür wird ihm sein Brod zuerst geschmälert und zuletzt entzogen. Gibt es eine schönere Illustration der Gerechtigkeit des bestehenden Wirthschaftszustandes?
Die erste Frage, die sich bei der Betrachtung dieses Bildes aufdrängt, ist die: Muß die ökonomische Lage sein, wie sie ist? Stehen wir vor einem unabänderlichen Naturgesetze oder vor den Folgen menschlicher Thorheit und Beschränktheit? Warum schwelgt eine Minderheit im Genüsse aller Güter, an deren Erzeugung sie nicht theilnimmt? Warum ist eine nach Millionen zählende Menschenklasse zum Hungern und Darben verurtheilt? Hier stoßen wir auf den wichtigsten Punkt des Problems, das gelöst werden soll. Es handelt sich darum, zu wissen, ob die Dürftigen hungern, weil die Erde für sie keine Nahrung in genügender Menge hervorbringt, oder ob sie hungern, weil die Nahrung, obwol vorhanden, nicht an sie gelangt. Nun denn, die letztere Alternative können wir unbedingt ausschließen. Wenn Nahrungsmittel in reichlicher Menge und guter Beschaffenheit für Alle vorhanden wären, so müßte der Theil, der auf den Armen entfällt, den er sich aber nicht verschaffen kann, unverbraucht übrigbleiben. Die Erfahrung lehrt, daß nichts derartiges geschieht. Ein jedes Jahr verbraucht seine ganze Ernte an Körnerfrüchten und sonstigen Nährpflanzen aller Art; wenn die neue Ernte eingeheimst wird, ist die vorjährige fast immer bereits völlig erschöpft, ohne daß darum die ganze Menschheit im abgelaufenen Jahre täglich satt geworden wäre; man hat noch nie gehört, daß Getreide dem Wurmfraß überlassen wurde, weil keine Verwendung dafür zu finden war, und Fleisch ist noch nie aus Mangel an Käufern verfault. Gewiß, die Reichen vergeuden mehr Güter, als sie brauchen und als auf sie entfallen würden, wenn nur die Ansprüche ihres Organismus maßgebend wären; aber unter diesen Gütern nehmen die wesentlichsten, die Nahrungsmittel, die kleinste Stelle ein; der Millionär verpraßt Menschenarbeit für seine Launen, seinen Übermuth oder seine Eitelkeit, er wirft Kleider weg, die noch nicht entfernt ausgedient haben; er läßt Häuser von unnöthiger Ausdehnung bauen und füllt sie mit überflüssigem Geräth; er entzieht Menschen der nützlichen Produktion und erhält sie im lasterhaften Müssiggang von Lakaien und Gesellschafterinnen oder in der Scheinthätigteit von Kutschern, Leibjägern u. s. w.; Nahrungsmittel jedoch verbraucht er, die liederlichste Wirtschaft vorausgesetzt, höchstens viermal so viel, als zur Befriedigung seiner organischen Bedürfnisse nöthig wäre. Setzen wir voraus, daß es in der zivilisirten Welt eine Million solcher Verschwender gibt; mit ihren Familienmitgliedern würden sie fünf Millionen Individuen ausmachen; diese fünf Millionen würden Nahrungsmittel für zwanzig Millionen, also außer ihrem eigenen natürlichen Antheil den von fünfzehn Millionen anderer Menschen verbrauchen. Damit würde erst erklärt sein, daß 15 Millionen gar nichts, oder 30 Millionen blos halb so viel, als sie unbedingt brauchen, für sich auftreiben können. Man kann aber die Zahl der Nothleidenden und Entbehrenden in Europa allein mit Sicherheit auf das Doppelte, auf 60 Millionen veranschlagen. Es bleibt also nichts übrig als die andere Annahme: daß nämlich die Erde keine genügende Nahrung für Alle hervorbringt und daß darum ein Theil der Menschheit ohne Gnade zum physiologischen Elend verurtheilt ist.
Ist das eine Folge natürlicher Verhältnisse? Erzeugt die Erde nicht mehr Nahrungsmittel, weil sie dazu unvermögend ist? Nein. Sie gibt keine Nahrung, weil man sie nicht von ihr verlangt. Als die kapitalistische Moral vor das Problem des Mißverhältnisses zwischen den hungrigen Mündern und den zu ihrer Sättigung vorhandenen Nährstoffen gestellt wurde, da zerbrach sie sich nicht lange den Kopf über die Lösung, sondern fand alsbald einen biedern Malthus, der unbefangen sagte: »Die Erde vermag die Menge der Menschen nicht mehr zu ernähren? Nun denn, so muß man einfach diese Menge vermindern.« Und er predigte die geschlechtliche Enthaltsamkeit, aber nur für die Armen. Um ein weniges hätte er vorgeschlagen, daß man jedes Individuum, das nicht mit Renten geboren ist, kastrire und die Menschheit nach dem idealen Muster der Ameisen- oder Bienengesellschaft reformire, in der einige wenige Individuen das Privilegium der Fortpflanzung besitzen, während die große Masse geschlechtslos ist und nur für die vollentwickelten Individuen zu arbeiten das Recht hat. In einer solchen Gesellschaftsordnung würde zum Glücke der Millionäre in der That gar nichts fehlen. Den Satz umzukehren, zu sagen: »Die Menge der Nahrungsmittel reicht für die Menschen nicht mehr aus? Nun denn, so muß man sie eben vermehren!« das ist dem frommen Malthus und seinen Nachbetern nicht eingefallen; und doch sollte man denken, daß dieses Heilmittel der wirthschaftlichen Nöthe nahe genug liegt. Oder sollte es wirklich einen Menschen im Besitze seines gesunden Verstandes geben, der zu behaupten wagen würde, daß es unmöglich sei, die Nahrungsmittel-Production der Erde zu vermehren? Einem solchen Kauz hätte man bald genug mit einigen Zahlen heimgeleuchtet. Europa ernährt auf 9,710,340 Quadratkilometern 316 Millionen Bewohner; das heißt, es ernährt sie höchst unvollkommen, denn es bezieht aus Indien, dem Kapland, Algerien, Nordamerika und dem australischen Festlande Getreide und Fleisch in großen Mengen, ohne selbst von seinen Nahrungsmitteln etwas anderes als höchstens Wein abzugeben, und läßt trotz diesen Lebensmittel-Anleihen bei allen übrigen Welttheilen einen großen Theil seiner Bevölkerung darben. Europa erweist sich also im Ganzen betrachtet scheinbar unfähig, auf einem Quadratkilometer 32 Menschen ausreichend zu ernähren. Nun erhält aber Belgien auf 29,455 Kilometer 5,536,000 Einwohner; in diesem Lande ist also ein Quadratkilometer völlig ausreichend, 200 Menschen zu ernähren, mehr als sechsmal die Durchschnittszahl, die wir für ganz Europa gefunden haben. Würde der Boden ganz Europas so bearbeitet wie der Belgiens, so könnte es statt seiner 316 Millionen darbender Menschen 1950 Millionen ernähren, weit mehr als die ganze Menschheit heute beträgt oder wenn es bloß seine 316 Millionen enthielte, so müßten für jeden einzelnen von diesen sechsmal so viel Lebensmittel vorhanden sein, als er bei reichlichstem Ausmaß verbrauchen kann. Ein Einwand ist hier vorauszusehen: Belgien genügt eben seinem Bedarf nicht und muß Lebensmittel einführen. Gut. Nehmen wir an, daß Belgien ein volles Viertel seines Lebensmittelbedarfs im Auslande kauft. Es ernährt dann noch immer 150 Menschen auf einem Quadratkilometer, was für ganz Europa 1458 Millionen ergäbe, noch immer mehr als die ganze Menschheit zählt. Nehmen wir ein anderes Beispiel. China (ohne die Nebenländer) mißt 4,024,890 Quadratkilometer, auf denen 405 Millionen Menschen wohnen. Der Quadratkilometer nährt also über 100 Menschen, und zwar vollständig, denn China, weit entfernt Lebensmittel einzuführen, verkauft noch große Mengen Reis, Konserven, Thee u. s. w. Auch ist in China nach dem übereinstimmenden Zeugnisse aller Reisenden Hunger und Elend nur in Jahren des Mißwachses bekannt, was sich aus den unentwickelten Verkehrsverhältnissen erklärt und nicht einem Nahrungsdefizit des ganzen Reiches zugeschrieben werden darf. Also wenn Europa auch nur so bewirthschaftet wäre wie China, so könnte es noch immer gegen 1000 Millionen Menschen ernähren statt seiner 316, die sich da so schlecht befinden, daß ihrer jährlich viele Hunderttausende nach den übrigen Welttheilen auswandern.
Warum stellt man nun an den Boden keine größeren Anforderungen, da doch die Erfahrung lehrt, daß er ihnen durchaus entsprechen kann? Warum bemüht man sich nicht, so viel Nahrung hervorzubringen, daß alle Menschen im Überflusse schwimmen könnten? Aus einem einzigen Grunde; weil der Kapitalismus zu einer einseitigen und unnatürlichen Entwicklung unserer Kultur geführt hat. Alle Zivilisation drängt zur Industrie und zum Handel und lenkt von der Nahrungsmittel-Erzeugung ab. Der Physiokratismus, welcher lehrt, daß der einzige wahre Reichthum eines Landes seine Bodenprodukte seien, wird seit einem Jahrhundert von der offiziellen nationalökonomischen Wissenschaft, die sich zum Hofnarren der egoistischen und kapitalistischen Wirtschaftsordnung erniedrigt hat, als ein naiver Irrthum verlacht. Wie der einzelne Sohn des Feldes seine Scholle, die Freiheit der ländlichen Natur, den Überfluß an Licht und Luft verläßt, um sich mit einer Art selbstmörderischen Triebes in die tödtlichen Gefängnisse der Fabrik, der großstädtischen Arbeitsviertel zu stürzen, so reißt sich auch die Kulturmenschheit in ihrer Gesammtheit immer mehr vom nährenden Acker los und drängt sich in das Pferch der Großindustrie, wo sie erstickt und verhungert. Das ganze Genie der Menschheit, all ihre Erfindungskraft, ihr ganzes Sinnen und Forschen, ihre Ausdauer im Nachspüren und Versuchen ist der Industrie zugewendet. Die Ergebnisse sehen wir; es sind immer wunderbarere Maschinen, immer vollkommenere Arbeitsmethoden, immer größere Gütererzeugung. Mit der Nahrungsmittel-Produktion aber beschäftigt sich von hundert Erfindungsgenies vielleicht nicht eins. Würde dieser Produktion nur halb so viel Forschung und Findigkeit gewidmet wie der gewerblichen, physiologisches Elend wäre auf Erden einfach undenkbar. Gerade dieser wichtigste Zweig menschlicher Thätigkeit ist aber in einer Weise vernachlässigt, daß man darüber die Hände zusammenschlagen möchte. Wir sind hochzivilisirte Wesen auf gewerblichem Gebiete und mitternachtfinstere Barbaren im Ackerbau. Wir bilden uns mit Recht etwas darauf ein, daß wir in der Fabrikation mit staunenerregendem Scharfsinn die scheinbar völlig unverwerthbaren Abfälle auch noch ausnutzen und verbrauchen können; dabei überlassen wir wenigstens die Hälfte aller Abfälle der menschlichen Ernährung, den Inhalt der städtischen Abzugskanäle, unbenutzt in die Flüsse ablaufen, die wir dadurch noch obendrein vergiften, und in die See, die uns in Gestalt von Fischen und Schalthieren nicht ein Tausendstel dessen wiedergibt, was sie von uns empfängt. Diese Vergeudung von Millionen Tonnen der werthvollsten Rückstände ist zugleich himmelschreiend und doch auch komisch, wenn man sie mit der Ängstlichkeit vergleicht, mit der man jedes Tröpfchen Schwefelsäure in der Chemikalien-Fabrikation zu Rathe zieht, und mit der mitleidverdienenden Hast, mit der ein Erfinder ein Patent nimmt, wenn es ihm gelungen ist, ein Verfahren zu ersinnen, das die Verwerthung irgend eines Fabrikskehrichts gestattet. Wir rühmen uns, die Naturkräfte unterjocht zu haben, und lassen ruhig Millionen Quadratkilometer Wüsten bestehen, obwol wir theoretisch wissen, daß es schlechterdings kein Gebiet gibt, das nothwendig Wüste sein muß, und daß jeder Boden, und wenn er aus eisernen Schuhnägeln oder kleingeschlagenen Pflastersteinen bestände, durch Wärme und Wasser, die herbeizuschaffen nur am Pole – vielleicht! – über menschliche Kräfte geht, fruchtbar gemacht wird. Wir zeigen mit Stolz auf Kohlen- und Kupferbergwerke, die mehrere tausend Fuß tief unter die Erde und unter die See gewühlt sind, und schämen uns nicht angesichts nackter Bergwände, denen der Mensch, derselbe Mensch, der sich in jene Gruben eingebohrt hat, angeblich nichts abgewinnen kann. Wir beherrschen den Blitz des Himmels und wissen dem Weltmeer, das drei Viertel unseres ganzen Erdballs einnimmt, von seinen unerschöpflichen Nahrungsschätzen kaum ein Atom abzugewinnen. Wie darf es in einer Zeit, die solche mechanische Wunder wie unsere Werkzeugsmaschinen und Präzisionsinstrumente spielend hervorbringt, noch mitten in Europa Sümpfe, fischarme Flüsse, Triften, Brachäcker geben? Wie kann eine Generation nach Gauß in der Rechenkunst noch so schwach sein, daß man sich nicht an den Fingern abzählt, um wie viel theurer es ist, den Bedarf der Menschen an Eiweißstoffen mit Vieh zu decken, das zu seiner Erhaltung unsere fruchtbare Erde in Anspruch nimmt, als mit Fischen, die uns das sonst zu nichts anderem zu gebrauchende Meer fertig bietet, oder mit Geflügel, das keine weiten Wiesen braucht und von unseren Abfällen reichlich leben kann?
Doch ich will mich nicht weiter in Einzelheiten verlieren. Die Thatsache scheint mir genügend erwiesen, daß die Bodenbearbeitung das Stiefkind der Kultur ist. Sie macht kaum einen Schritt nach vorwärts, wenn die Industrie deren hundert macht. Alles, was man seit Jahrhunderten zur reichlicheren Ernährung der Menschheit gefunden hat, ist die Einführung der Kartoffel in Europa, die dem Proletarier ermöglicht, sich einzubilden, daß er satt sei, wenn sein Körper in Wirklichkeit aus Mangel an Nährstoffen langsam verhungert, und die dem Kapitalisten gestattet, den Tagelohn seines Industriesklaven auf das geringste Maß herabzudrücken. Obstgärten, Gemüseäcker, Pilzkeller zeigen, welche Nahrungsfülle das geringste Bodenstückchen zu liefern vermag: die Erfahrung lehrt, daß Menschenarbeit überhaupt nicht lohnender verwerthet werden kann, als wenn sie der Erde gewidmet wird; wenn man das Feld mit Schaufel und Grabscheit statt mit dem summarischen Pflug bearbeitete, so würde wahrscheinlich ein sacktuchgroßer Fleck Erde zur Erhaltung eines Menschen ausreichen; wir leiden aber an Nahrungsmangel, die Lebensmittel werden immer theurer und der Industriearbeiter muß immer länger tagwerken, um sich zu sättigen. Die Natur zeigt dem Menschen, daß er nicht ohne den Acker leben kann, daß er des Feldes bedarf wie der Fisch des Wassers; der Mensch sieht, daß er zu Grunde geht, wenn er sich von der Scholle losreißt, daß nur der Bauer sich ununterbrochen fortpflanzt, gesund und stark bleibt, während die Stadt ihren Bewohnern das Mark ausdörrt, sie siech und unfruchtbar macht, sie unrettbar nach zwei oder drei Generationen ausrottet, so daß alle Städte in hundert Jahren Kirchhöfe ohne ein einziges lebendes Menschenwesen wären, wenn die Todten nicht durch Einwanderung von den Feldern her ersetzt würden; er besteht aber darauf, den Acker zu verlassen und in die Stadt zu wandern, sich vom Leben loszureißen und den Tod zu umarmen.
Da kommt nun wieder der Professor der Nationalökonomie und belehrt uns mit unerschütterlicher Miene, daß das Maß der Entwickelung des Großgewerbes eines Landes zugleich das Maß seiner Zivilisation sei und daß eine reichentfaltete Industrie einer Nation zum Segen gereiche, indem sie die Güter billig und dadurch auch den Ärmsten zugänglich mache. Das ist eine der verbreitetsten und am häufigsten wiederholten kapitalistischen Lügen. Die Pest über die Billigkeit der Industrieerzeugnisse! Sie erweist niemand eine Wohlthat, oder nur dem Unternehmer und Zwischenhändler. Wie die Billigkeit erzielt wird, das haben wir gesehen: durch kapitalistische Konkurrenz, deren Kosten der Arbeiter trägt; durch gewissenlose, verbrecherische Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft. Der Tagelöhner muß zehn, zwölf, vielleicht vierzehn Stunden täglich an seine Maschine gekettet sein, damit das Baumwollzeug so billig werde, wie es ist. Er gelangt eigentlich gar nicht mehr dazu, sich leben zu fühlen. Er verbringt sein Dasein innerhalb kahler Fabriksmauern mit einer Reihenfolge ewig identischer automatischer Bewegungen. Er ist das einzige Lebewesen im Weltall, das während eines so großen Theils seiner Lebenszeit widernatürliche Arbeit verrichten muß, um seinen Organismus zu erhalten. Gewiß, um den Preis solcher Menschenarbeit wird die Waare billig. Aber zunächst wird sie auch schlechter. Unsere ganze Industrieentwickelung führt zum Ersatz besseren Rohstoffs durch geringeren und zur möglichsten Verminderung seiner Menge im fertigen Artikel. Warum? Weil der Rohstoff, namentlich so weit er organischer Natur ist, also aus dem Thier- und Pflanzenreiche herstammt, nur um den vollen Gegenwerth an menschlicher Arbeit zu erhalten, also kostspielig ist. Die Erde läßt sich nicht betrügen; sie gibt Baumwolle und Flachs, Holz und Leim nur dann, wenn sie das Äquivalent an Arbeit und Dünger unverkürzt empfangen hat; nicht einmal die Kuh, das Schaf kann man hintergehen; sie bringen Wolle und Felle, Hörner und Klauen blos im Verhältniß zu ihrer Nahrung hervor. Nur der Mensch ist dümmer als die Erde und einfältiger als Schaf und Kuh und gibt seine Muskel- und Nervenkraft um weniger als den vollen Werth hin. Der Unternehmer hat also alles Interesse daran, mit dem theuren Rohstoff zu sparen und mit der billigen Menschenarbeit freigebig zu sein. Er fälscht und vermindert daher jenen oder gibt den Waaren durch mühsame oder verwickelte Arbeitsmethoden, das heißt durch reichlichen Verbrauch von Menschenarbeit, ein gutes Ansehen. Im fertigen Stücke Baumwollzeug, das der englische Fabrikant auf den Markt bringt, steckt möglichst wenig Baumwollfaser und möglichst viel Menschenkraft. Dieses Zeug ist billig, weil der Fabrikant seine menschlichen Sklaven nicht so zu entlohnen braucht wie die Erde, die ihm die Baumwollfaser liefert. Es ist aber gar nicht nöthig, daß die Waaren so billig seien. Ihre Billigkeit reizt zu verschwenderischem Verbrauch. Auch der Arme erneuert in der heutigen Kultur Kleider und Hausrath öfter, als unbedingt erforderlich ist, und legt Gebrauchsgegenstände ab, die noch dienen könnten, die in Wirklichkeit noch dienen, wie es der große Handel mit alten Kleidern u. s. w. aus Europa nach überseeischen Ländern beweist. Bei aller Billigkeit der Dinge hat der Europäer, wenn das Jahr herum ist, für sie doch so viel ausgegeben, als wenn sie viel theurer wären, da er sie in diesem Falle einfach länger benutzt hätte. Da haben wir also das praktische Ergebniß dieser berühmten Billigkeit, des Stolzes unseres Wirthschaftslebens. Für den Konsumenten bedeutet sie keine Erleichterung und keine Ersparung, weil sich mit ihr gleichlaufend die tyrannische Gewohnheit der Gütervergeudung entwickelt. Für den Produzenten aber ist sie ein Fluch, denn sie vermindert immer mehr den Preis seiner Arbeit und zwingt ihn zu immer größerer Anstrengung. Da nun jedes nicht zur müßiggängerischen Minderheit gehörige Individuum zugleich Produzent für den einen und Konsument für die übrigen Artikel ist, so kommt bei der ganzen gerühmten Entwickelung der Großindustrie nichts heraus als eine immer heißere, immer wildere Hetzjagd, in welcher jeder Einzelne zugleich Wild und Jäger ist, sich die Seele aus dem Leibe rennt und am Ende mit heraushängender Zunge und ohne Athem zusammenbricht. Längere, härtere Arbeit des Gütererzeugers, wahnwitzige, sündhafte Güterverschwendung – das ist das unmittelbare Ergebniß der auf Massenproduktion und Billigkeit gerichteten Industrie-Entwickelung. Nehmen wir einmal an, alle Industrie-Erzeugnisse würden bei unverändertem Lebensmittelpreise genau viermal so theuer werden, als sie heute sind, was denkbar wäre, wenn die Entwickelung der Landwirthschaft die der Industrie ein- und überholen würde. Wo wäre das Übel? Ich sehe keines, wohl aber ungeheuere Vortheile. Jeder Einzelne würde seine Kleider nur einmal statt viermal im Jahre und seinen Hausrath nur alle zwanzig statt alle fünf Jahre erneuern. Der Industriearbeiter bekäme für seine Arbeit viermal höhern Lohn; das heißt, wenn er heute zwölf Stunden arbeiten muß, um seine Lebensbedürfnisse befriedigen zu können, so würde er dann dasselbe Resultat mit dreistündiger Arbeit erreichen. Ziffermäßig würde Alles beim Alten bleiben; die Ausgaben des einzelnen Konsumenten hätten keine Änderung zu erleiden. Aber ein ungeheures Resultat wäre erreicht: der Arbeiter wäre vom Galeerensklaven zum freien Manne geworden. Ihm wäre jener höchste Luxus, von dem er heute völlig ausgeschlossen ist, zugänglich gemacht: die Muße. Das bedeutet, daß er an den höheren Freuden des Kulturdaseins teilnehmen, daß er Museen und Theater besuchen, lesend plaudern, träumen könnte, daß er aufhören würde, eine dumme Maschine zu sein, und neben den anderen Menschen seinen Menschenrang einnehmen dürfte. Man muß den Arbeitern zurufen: Ihr seid vom Wirbelschlunde eines furchtbaren circulus vitiosus erfaßt. Macht euch los oder ihr geht zu Grunde. Je mehr ihr heute arbeitet, um so billiger werden eure Produkte, um so toller wird der Konsum, um so mehr müßt ihr morgen arbeiten, um euer nacktes Leben herauszuschlagen. Feiert! Geht müßig! Vermindert eure Arbeit auf die Hälfte, auf ein Viertel. Euer Erwerb wird derselbe sein, wenn jeder nur verbraucht, so viel er muß, und nur arbeitet, so viel er soll.
Die Professoren der Nationalökonomie sind anderer Meinung. Ihnen graut vor dem Müßiggange der Menschen und sie sehen alles Heil in der äußersten Ausnutzung der Arbeitskraft. Ihre Lehre läßt sich in zwei Geboten zusammenfassen: Verbraucht möglichst viel, gleichviel ob der Verbrauch durch ein wirkliches Bedürfniß gerechtfertigt ist oder nicht, erzeugt möglichst viel, gleichgiltig, ob das Erzeugniß nöthig ist oder nicht. Diese weisen Männer machen keinen Unterschied zwischen dem Feuerwerk, das bestimmt ist, zum albernen Augenaufreißen müßiger Dummköpfe in einer Minute verpufft zu werden, und der Werkzeugmaschine, welche jahrelang nützliche Betten und Schränke erzeugt. Jenes Feuerwerk kostet 50.000 Mark; es repräsentirt außer dem Rohstoff die einjährige Arbeit von fünfzig Arbeitern, die fortwährend in Lebensgefahr waren. Diese Werkzeugmaschine kostet 10,000 Mark. Der Nationalökonom stellt gleichmüthig seine Berechnung an und dozirt: das Feuerwerk sei genau fünfmal so viel werth wie die Maschine; die Arbeiter seien in beiden Fällen gleich zweckmäßig verwendet worden; die Hervorbringung des Feuerwerks habe das Land in demselben Maße bereichert wie die Hervorbringung von fünf Arbeitsmaschinen; und wenn es möglich wäre, eine Million Arbeiter mit der Erzeugung von Feuerwerkskörpern zu beschäftigen, jährlich um eine Milliarde dieser Güter hervorzubringen und abzusetzen, so könnte man dem Lande zur Blüthe dieser interessanten Industrie und den Arbeitern zu ihrem Fleiße und ihrer Leistungsfähigkeit Glück wünschen.
Formell ist dieser Gedankengang tadellos. Essentiell ist er ein scholastischer Sophismus schlimmster Art. Gewiß, wenn man für eine Rakete irgendwo so viel Geld bekommen kann wie für ein Huhn, so ist eine Rakete genau so viel werth wie ein Huhn und wer eine Rakete anfertigt, hat den Nationalreichthum um denselben Betrag vermehrt, wie wer ein Huhn großzieht. Und doch ist es eine Lüge. Nein, es ist der Menschheit nicht gleichgiltig, ob Raketen oder Hühner erzeugt werden. Nein, der Alpenführer hat für sie nicht dieselbe Bedeutung wie der Heizer der Mähmaschine, obwohl sie den erstern vielleicht höher entlohnt als den letztern. Ich weiß wohl, daß man mit diesen Unterscheidungen dahin gelangt, allen Luxus-Industrien den Prozeß zu machen. Ich schwanke denn auch nicht, es auszusprechen, daß kein Mensch das Recht hat, Befriedigung seiner Launen zu fordern, so lange noch wirkliche Bedürfnisse anderer unbefriedigt sind, einen Arbeiter zu der als Exempel gewählten Feuerwerks-Erzeugung anzustellen, so lange andere hungern, weil dieser Arbeiter dem Ackerbau entzogen ist, oder einen Fabriks-Tagelöhner zu vierzehnstündiger Sklavenarbeit zu verurtheilen, damit der Sammt billig genug hergestellt werde, daß er sich in diesen Stoff kleiden könne, der seinem Schönheitsgefühl angenehmer ist als glattes Zeug. Das große wirthschaftliche Interesse der Menschheit ist nicht, Güter zu erzeugen, für die ein Preis erzielt werden kann, sondern mit ihrer Arbeit zunächst ihre wirklichen organischen Bedürfnisse zu befriedigen. Wirklicher Bedürfnisse gibt es nur zwei: die Ernährung und die Fortpflanzung. Jene bezweckt die Erhaltung des Individuums, diese die Erhaltung der Gattung. Scheinbar könnte man sogar diese beiden Bedürfnisse auf ein einziges zurückführen und die Erfüllung des Fortpflanzungs-Bedürfnisses aus der Reihe des unbedingt Notwendigen streichen. Aber nur scheinbar. Der Gattungserhaltungsdrang ist um so viel stärker als der individuelle Selbsterhaltungsdrang, um wie viel die Lebenskraft und Lebensfülle der Gattung mächtiger ist als die des Individuums. Man hat es noch nie erlebt, daß eine genügend große Menschenzahl, etwa ein ganzer Volksstamm, während einer genügend langen Zeit an der Befriedigung des Gattungserhaltungs-Bedürfnisses vollständig verhindert gewesen wäre. Würde sich ein solcher Fall ereignen, käme es zu einer allgemeinen nationalen Geschlechtsnoth, man würde Leidenschaften und Handlungen sehen, gegen welche die gräßlichsten Szenen von Hungersnoth zu Kinderstuben-Scherzen herabsinken würden. Die beiden großen organischen Bedürfnisse muß also der Mensch befriedigen, alles übrige hat untergeordnete Bedeutung. Ein Individuum, das satt ist, nicht friert, ein Obdach gegen Wind und Regen über sich und einen Genossen des entgegengesetzten Geschlechts um sich hat, kann nicht nur zufrieden, sondern absolut glücklich und wunschlos sein. Ein Individuum, das hungert, kann schlechterdings nicht glücklich und zufrieden sein und wenn es im vatikanischen Museum bei einem Orchesterkonzerte in Goldbrokatkleidern lustwandelte. Das ist so klar, daß es platt ist. Es ist der Prosaauszug aus der Fabel vom Huhn, welches eine Perle findet und sich beklagt, daß sie kein Hirsekörnlein ist. Und doch geht dieser Truism über den Gedankenkreis der offiziellen Nationalökonomie und es ist noch keinem Professor dieser hehren Wissenschaft eingefallen, seine Lehrsätze an der schlichten Weisheit des Lafontaineschen Fabelbuchs zu erproben. Auf die wirthschaftliche Entwickelung der Kulturmenschheit angewendet, bedeutet die Fabel vom Huhne und der Perle einfach: »Weniger Manchester Baumwollzeug und Sheffielder Messer und mehr Brod und Fleisch!«
Was die Theorie bisher zu thun unterlassen hat, das wird sich die Praxis bald genug angelegen sein lassen: nämlich die Verkehrtheit der heute für unanfechtbar angesehenen Lehrsätze der kapitalistischen Nationalökonomie nachzuweisen. Schon heute wird überall unvernünftig viel gearbeitet und weit über den Bedarf produzirt. Fast jedes Kulturland sucht Waaren auszuführen und muß Lebensmittel einführen. Die Märkte für die ersteren beginnen zu fehlen. Man kann ja ohne Übertreibung sagen, daß die Großindustrie der Hauptvölker Europas fast nur noch für Innerafrika zu arbeiten sucht. Das kann nur schlimmer, nicht besser werden. Die Länder, die noch nicht industriell entwickelt sind, werden es allmälig werden. Man wird die Arbeitsmethoden noch mehr verbessern, die Maschinen noch vermehren, noch vervollkommnen. Und dann? Dann wird jedes Land seinen eigenen Bedarf befriedigen und einen Überschuß hervorbringen, den es dem Nachbar wird anhängen wollen, der aber dafür keine Verwendung haben wird. Der letzte nackte Neger vom oberen Congo wird schon seine fünfzig Yards Baumwolle und seine Flinte haben, der letzte Papua bereits in Stiefeln und Papierhemden gehen. Der Europäer wird dahin gebracht sein, jede Woche einen neuen Anzug zu kaufen und sich beim Zeitungslesen sein Blatt von einer Maschine umwenden zu lassen. Das wird das goldene Zeitalter der Nationalökonomen sein, die für Produktion ohne Grenzen, Konsum ohne Maß und Industrieentwickelung ohne Ziel schwärmen. Und in diesem goldenen Zeitalter, wo ganze Länder mit Fabrikschlöten wie jetzt mit Bäumen bestanden sein werden, werden die Völker sich mit chemischen Surrogaten statt mit Brod und Fleisch nähren, achtzehn Stunden am Tage arbeiten und sterben, ohne zu wissen, daß sie gelebt haben. Vielleicht wird man aber nicht bis zum Anbruch dieses goldenen Zeitalters warten müssen, um in weiten Kreisen die Erkenntniß aufgehen zu sehen, daß der übertriebene, einseitige Industrialismus ein Massenselbstmord der Menschheit und Alles, was die Nationalökonomie zu seinen Gunsten anführt, Lug und Betrug ist. Zu der Einsicht ist man schon gekommen, daß ein Land, welches Getreide ausführt, welches seinen Boden erschöpft und demselben die ihm entzogenen Stoffe nicht in irgend einer Form wiedergibt, verarmt und wenn es jährlich ungezählte Tonnen Goldes einnähme. Man wird schließlich auch zur Einsicht kommen, daß auch die Ausfuhr von Arbeitskraft, von Muskel und Nerv, in Gestalt von Industriewaaren, ein Volk auf die Dauer arm macht und wenn es noch so viel Geld für die letzteren bekommt. Der europäische Fabrikarbeiter ist schon heute der Sklave des Schwarzen von Mittelafrika; er stillt seinen Hunger mit Kartoffeln und Schnaps, verbringt ein Leben ohne lichten Augenblick im Maschinenraum und stirbt an Tuberkulose, damit ein Wilder noch behaglicher leben könne, als er es ohnehin schon thut. Die fieberhafte Arbeit, die nicht auf die Gewinnung von Nahrungsmitteln, sondern auf die industrielle Überproduktion gerichtet ist, schafft zuletzt eine Nation geldreicher Hungerleider. Die Welt mag dann das Schauspiel eines Landes erleben, wo in jeder Hütte ein Piano neuester Konstruktion steht, die in immer funkelnagelneue Stoffe gekleidete Bevölkerung aber den Rhachitismus in den Knochen, kein Blut in den Adern und Schwindsucht in der Lunge hat.
Das Gefühl der Unleidlichkeit der bestehenden Wirthschafts-Zustände ist ein allgemeines. Der enterbte Proletarier, dessen Denken durch den täglichen Hunger immer wieder in diesen Stoffkreis zurückgeführt wird, erkennt, daß er mit der Arbeit seiner Hände Reichthümer schafft, und fordert seinen Antheil an denselben. Er begeht aber dabei das Unrecht, seine Forderung mit allerlei Theorien zu begründen, die vor der Kritik nicht bestehen. Es gibt nur ein einziges wahres und natürliches Argument, worauf er sich berufen könnte und das unwiderleglich wäre: das Argument, daß er die Kraft besitzt, sich der Güter, die er hervorbringt, zu bemächtigen, daß die Minderheit der Reichen unvermögend ist, diese Aneignung zu verhindern, und daß er darum das Recht hat, zu behalten, was er schafft, und zu nehmen, was er braucht. Auf diesem einzigen Argument beruht der ganze heutige Gesellschaftsbau. Dasselbe hat aus schwächeren Individuen und Völkern Sklaven der stärkeren, aus klugen und rücksichtslosen Menschen Millionäre, aus dem Kapital den unumschränkten Herrn der Welt gemacht. Die Minorität der Müßiggänger und Ausbeuter stützt sich täglich auf dieses Argument, um die Ansprüche der Arbeitenden und Ausgebeuteten zurückzuweisen. Nur der Proletarier, dessen Geist trotz allem Radikalismus in den kapitalistischen Rechts- und Moralanschauungen befangen ist, zögert, sich dieses unwiderleglichen, aus der natürlichen Neuordnung gezogenen Arguments zu bedienen, und zieht es vor, den Beweis für die Berechtigung seiner Ansprüche rechts und links in allerlei Hirngespinsten zu suchen, unter denen der Kommunismus das weitest verbreitete und meist geglaubte ist. Er begibt sich damit thörichter Weise auf ein Gebiet, auf dem er unterliegen muß. Dem Kapitalismus ist es spielend leicht gemacht, das Unsinnige dieser Theorie nachzuweisen. In der That, der Kommunismus, wie ihn alle sozialistischen Schulen verstehen und predigen, ist die thörichte Ausgeburt einer Phantasie, die sich ohne Rücksicht auf die Weltwirklichkeit und Menschennatur blauen Träumereien hingibt. Eigentliche Gütergemeinschaft hat nie in der Welt bestanden. Die in geschichtlichen Zeiten vorhanden gewesene, in Überlebseln da und dort noch heute zur Beobachtung gelangende Verfassung des Eigenthums, welche man bei oberflächlicher Betrachtung für Kommunismus halten könnte, hat durchaus die Vorstellung individuellen, aus der Masse des Vorhandenen ausgeschiedenen, streng begrenzten Besitzes zur Voraussetzung. Wenn innerhalb einer kleineren Anzahl von Individuen aus Gründen gemeinsamer Abstammung oder anderen Ursachen eine so vollkommene Zusammengehörigkeit und Solidarität besteht, daß eine Familie, oder eine Gemeinde, oder gar ein ganzer Stamm sich gleichsam nur als ein einziges zusammengesetztes Wesen höherer Ordnung empfindet, dann ist es denkbar, daß dieses Kollektiv-Individuum einen untheilbaren Kollektiv-Besitz hat, den der Einzelne nicht zum eigenen Vortheil und zum Nachtheil der Übrigen an sich reißen darf. Daß solcher Kollektiv-Besitz, wie er im russischen Mir, in den kroatisch-slavonischen Hausgemeinschaften u. s. w. noch mitten in unseren europäischen Eigentumsverhältnissen überlebt, mit Kommunismus, das heißt grundsätzlicher Weltgütergemeinschaft, nicht das geringste gemein hat, ist leicht zu erproben. Es versuche nur ein Dritter, ein nicht in den Kreis der solidarisch Besitzenden Aufgenommener, sich eines Stückes des Gemein-Eigenthums zu bemächtigen! Der Eindringling wird sofort den Stamm, die Gemeinde, den Mir u. s. w. gegen sich in Waffen sehen. Die Gemein-Eigenthümer haben so sehr das Gefühl persönlichen Besitzes, daß sie den Eingriff in ihre Kollektiv-Rechte mit nicht geringerer Lebhaftigkeit empfinden, als es der individuelle Voll-Eigenthümer nur immer vermag, wenn ihm an den Beutel gegangen wird. Und selbst dieser Kollektiv-Besitz, der kein prinzipieller Kommunismus, sondern nur eine primitivere Form des persönlichen Eigenthums ist, kann nur so lange bestehen, als alle Betheiligten ihre Zusammengehörigkeit tief und unmittelbar empfinden und als ihre Beschäftigung eine durchaus gleichartige ist, so daß die Leistungen der Einzelnen leicht mit einander verglichen werden können und über den Werth dieser Leistungen und über die Höhe der Entlohnung, auf welche dieselben Anspruch gewähren, kein Zweifel aufkommen kann. Sowie aber Theilung der Arbeit eintritt und die Produktion eine mannigfache wird, sowie infolge dessen sich die Nothwendigkeit ergibt, ein Werthverhältniß zwischen sehr verschiedenartigen, obwohl gleich brauchbaren Leistungen zu bestimmen und festzustellen, in welchem Maße jede der höchst ungleichen Arbeiten auf Lohn Anspruch hat, hört die Möglichkeit des Fortbestandes eines kollektiven Besitzes auf und das Eigenthum individualisirt sich im Handumdrehen.
Nicht im Kommunismus ist also die Lösung der wirthschaftlichen Probleme zu suchen; denn er ist nur bei den sehr niedrig stehenden Kollektiv-Organismen ein natürlicher Zustand, kann jedoch auf eine so hoch entwickelte Form animalischen Lebens, wie es die menschliche Gesellschaft ist, keine Anwendung finden. Nicht nur für den Menschen, sondern auch für weitaus die meisten Thiere ist individueller Besitz der natürliche Zustand. Die Quelle des Dranges nach solchem Besitze ist die Nothwendigkeit der Befriedigung individueller Bedürfnisse. Jedes Thier nährt sich, viele bedürfen eines künstlich bereiteten Obdachs oder natürlichen Unterschlupfs. Seine Nahrung nun und sein Nest oder Lager, die es sich selbst verschafft oder bereitet hat, empfindet das Thier als sein Eigenthum. Es fühlt, daß diese Dinge sein und keines Andern sind, und es gestattet nicht ohne Versuch der Abwehr, daß sie ihm von einem andern Individuum genommen werden. Eine Lebensweise, die Voraussicht und Sorge für die Zukunft nöthig macht, führt zur Erweiterung des Eigenthumsgefühls und zur Entwickelung des Dranges nach Erwerb eigenen Besitzes. Ein Raubthier, das blos von frischem Fleische lebt, grenzt aus der Gesammtmenge des Vorhandenen blos so viel als sein Eigenthum ab, wie für eine einzige Mahlzeit nöthig ist. Ein Pflanzenfresser dagegen, der in einer Region lebt, wo es einen Winter gibt, während dessen nichts wächst, nimmt aus der gemeinsamen Vorrathskammer der Natur weit mehr an sich, als zur Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse nöthig ist, er rafft in der Regel sogar weit mehr zusammen, als er in der Folge verbrauchen kann, er verringert dadurch ohne organische Notwendigkeit die Nahrungsmenge der Übrigen, er wird zum Kapitalisten und rücksichtslosen Egoisten. So häufen Eichhörnchen, Hamster, Feldmaus u. s. w. ansehnliche Mengen von Früchten und Pflanzensamen aller Art für den Winter auf, die sie im Frühling, wenn sie ihren Bedarf wieder in Feld und Wald decken können, meist nicht verbraucht haben. Sie legen also nicht blos individuelles Eigenthum an, sie erwerben nicht blos Vermögen, sie sind sogar reich in dem Sinne, daß sie mehr besitzen, als für ihre Bedürfnisse erforderlich ist. Der Mensch gehört in die Kategorie der Thiere, die auf Voraussicht angewiesen sind. Der Erwerb individuellen Eigenthums, dessen Vermehrung über das augenblickliche Bedürfniß hinaus, dessen Vertheidigung gegen etwaige Versuche Anderer, sich desselben zu bemächtigen, sind ihm also natürliche Lebensakte, Instinkte, die aus dem Grundtrieb der Selbsterhaltung abgeleitet sind, die nicht ausgerottet werden können und unter dem härtesten Zwang einer entgegenstehenden Gesetzgebung immer wieder mit Elementargewalt durchbrechen würden.
Allein wenn individuelles Eigenthum natürlich und darum schlechterdings nicht zu unterdrücken ist, so gibt es dafür eine mißbräuchliche Erweiterung des Rechtes auf persönlichen Besitz, gegen die sich die Vernunft allerdings auflehnt und die mit natürlichen Gründen nicht zu vertheidigen ist, und das ist die Vererbung. Wohl drängt der Trieb der Gattungserhaltung alle Lebewesen, für ihre Nachkommenschaft zu sorgen und ihr möglichst günstige Daseinsbedingungen zu schaffen. Allein diese Fürsorge erstreckt sich nie weiter als bis zum Augenblicke, wo die junge Brut genügend entwickelt ist, um ganz so für sich selbst sorgen zu können, wie es die Alten gethan haben. Im Pflanzensamen ist nur so viel Stärkemehl, im Ei nur so viel Eiweiß angehäuft, als der Keim zur Ernährung in seinem frühesten Lebensstadium völliger Hilflosigkeit nöthig hat. Das Säugethier gibt dem Jungen seine Milch nur so lange, als dieses nicht selbst weiden oder jagen kann, und der nesthockende Vogel hört auf, seinen Kleinen die Atzung zuzutragen, wenn sie ihren ersten vollständigen Ausflug unternommen haben. Nur der Mensch will seine Nachkommenschaft auf ungezählte Generationen hinaus mit Stärkemehl und Eiweiß, mit Muttermilch und Atzung versehen; nur der Mensch will seine Kinder und deren Abkömmlinge bis in die fernste Zukunft in dem embryonalen Zustande erhalten, in welchem die Brut sich von den Zeugern ernähren läßt und nicht selbst für die Erhaltung ihres Daseins kämpft und sich müht. Der Ahn hat Vermögen erworben, er will es seiner Familie hinterlassen, um sie womöglich für immer der Arbeit eigenen Erwerbs zu entheben. Das ist eine Auflehnung gegen alle Naturgesetze. Es ist eine schwere Störung der Weltordnung, welche das ganze organische Leben beherrscht und die bestimmt, daß jedes Lebewesen sich selbst seinen Platz am großen Tische der Natur erzwingen oder untergehen muß. Von dieser Störung rühren alle Übelstände des wirthschaftlichen Lebens her und während sie über ungeheure Massen von Individuen den Fluch der Noth und Verkümmerung verhängt, rächt sie sich doch auch gleichzeitig an ihren Urhebern. Es hilft nichts, daß die Reichen mit unbewußt verbrecherischem Egoismus ihre angehäuften Güter dem Gemeinwesen entziehen, um ihren Kindern und Kindeskindern für immer ein Wohlleben im Müßiggange zu sichern; ihre Absicht erreichen sie doch nie. Die Erfahrung lehrt, daß es ohne Erwerbsthätigkeit keinen Reichthum auf viele Generationen hinaus gibt. Ererbtes Vermögen bleibt nie bei einer Familie und selbst Rothschilds Millionen können seine Nachkommen in der sechsten oder achten Geschlechtsfolge nicht vor Elend schützen, wenn diese nicht jene Eigenschaften besitzen, die es ihnen auch ohne Erbmillionen ermöglichen würden, sich einen guten Platz unter der Sonne zu erobern. Es waltet da ein unerbittliches Gesetz, welches die durch die unnatürliche Thatsache der Güter-Vererbung gesetzte Störung im Wirthschaftsleben der Gesellschaft auszugleichen strebt. Ein Individuum, das sich niemals in der Nothwendigkeit befunden hat, seinen primitivsten organischen Instinkt, den der Erwerbung seiner Lebensmittel, zu üben, verliert auch sehr bald die Fähigkeit, seinen Besitz zu erhalten und gegen die Gier der demselben nachstellenden Besitzlosen zu vertheidigen. Nur wenn alle Nachkommen einer Familie absolut mittelmäßige Naturen sind, sich von allen öffentlichen und privaten Kämpfen fernhalten, in vollständiger Dunkelheit und sozusagen von aller Welt vergessen ein gleichmäßiges Pflanzendasein leben, können sie hoffen, den ererbten Besitz ungeschmälert zu erhalten. Sowie aber diese Familie ein einziges Individuum hervorbringt, das einigermaßen mit Phantasie begabt ist, in irgend einer Richtung über die kahlste schematische Norm hinausragt, Leidenschaften oder Ehrgeiz hat, glänzen oder nur sich leben fühlen will, ist die Verminderung oder der Verlust des Erbvermögens unvermeidlich, weil der reger lebende Sprößling der reichen Familie durchaus unfähig ist, auch nur einen Pfennig von dem, was er zur Befriedigung irgend einer Laune gegeben hat, wieder zu ersetzen. Es ist mit dem Vermögen wie mit einem Organismus. Dieser muß lebensthätig sein, wenn er bestehen soll; sowie die Lebensvorgänge in seinen Zellen aufhören, fällt er der Fäulniß anheim und wird von den mikro- und makroskopischen Wesen, die, auf Beute lauernd, die ganze Natur erfüllen, verschlungen. Ganz so kann man sagen, daß ein Vermögen, in welchem nicht ein reger wirtschaftlicher Lebensprozeß den Kreislauf und Stoffwechsel unterhält, gleichsam stirbt, und von den gierigen Fäulnißorganismen: Schmarotzern, Betrügern, Schwindlern, Speculanten aufgefressen wird. Man kann die Leiche eines Vermögens wie die eines Lebewesens künstlich vor dem Zerfall und der Zerstörung bewahren; letztere durch antiseptische Mittel, erstere durch Ausnahmsgesetze, welche die Konservirungsflüssigkeit der Erbvermögen darstellen, nämlich durch ihre Errichtung zu Fideikommissen. Das Fideikommiß ist eine Erfindung, welche einen kuriosen Beweis dafür liefert, daß die reichen Egoisten stets eine dunkle Ahnung von der Unnatürlichkeit des Erbrechtes hatten. Der Erblasser fühlt, daß er einen Frevel an der Menschheit begeht und daß die Natur sich an seinen Nachkommen für die Verachtung ihrer Gesetze rächen wird, und er sucht einen letzten Damm gegen ihren Ansturm aufzuwerfen; er sieht voraus, daß seine Kinder nicht genug starke Arme haben werden, um ihr Erbvermögen selbst festzuhalten, und er bemüht sich, dasselbe durch unlösbare Taue an ihren Leib festzubinden. Aber selbst das Fideikommiß, diese Karbolsäure todter Vermögen, verliert auf die Dauer seine anhaltende Kraft und schützt den Reichthum nicht vor der Zersetzung und die Familie nicht vor dem wirthschaftlichen Untergange.
Die Vererbung muß also abgeschafft werden; das ist das einzig natürliche und darum auch einzig mögliche Heilmittel aller wirthschaftlichen Gebreste des Gesellschaftskörpers. Auf den ersten Anblick erscheint eine solche Maßregel äußerst radikal, kaum weniger als etwa die einfache Konfiskation alles individuellen Besitzes; wenn man aber genauer zusieht, so ist sie nur die logische Weiterentwickelung vorhandener Erscheinungen, die niemand beunruhigen. Gerade in den Ländern, wo man an der feudalen Organisation der Gesellschaft am zähesten festhält, besteht das Recht der Primogenitur; das heißt die Enterbung, die ich als allgemeine Maßregel für alle Nachkommen ohne Ausnahme fordere, wird systematisch an allen Kindern bis auf das erstgeborne geübt; der konservativste Peer von England verwirklicht also einen Gedanken, der manchen Lesern vielleicht eben noch äußerst revolutionär geschienen hat. Wenn man nun nichts Unrechtes und namentlich nichts Unmögliches darin sieht, daß die nachgeborenen Kinder eines englischen Edelmannes vom proportionellen Genuß des väterlichen Vermögens ausgeschlossen sind, weshalb sollte es unrecht oder unmöglich sein, alle Kinder aller Besitzenden ebenso zu behandeln? Es ist wahr, der Peer, der seine jüngeren Kinder enterbt, gibt ihnen doch ein anderes Gut, die Erziehung, die sie befähigt, eine Figur in der Welt zu machen. Aber wenn alles Erworbene nach dem Tode des Erwerbers an die Gesammtheit heimfällt, so kann der Staat der ganzen Jugend des Volkes die ihren Fähigkeiten entsprechende Erziehung und Bildung geben und der enterbte Sohn des Reichen hat dann mindestens dieselben Vortheile, deren sich heute der enterbte jüngere Sohn des Peers erfreut. Der Peer thut aber für seine Kinder, denen er kein Vermögen hinterläßt, noch etwas anderes: er benutzt seine Familien- und Standesverbindungen dazu, um sie mit Stellen in der Staats-, Gemeinde- oder Privatverwaltung zu versorgen, die mehr oder weniger den Charakter von Pfründen haben. Was ist das anderes als die Organisation der Solidarität, die dem Einzelnen fast noch größere Sicherheiten des Daseins gewährt als ein unabhängiges Vermögen? Allerdings ist diese Solidarität eine enge, selbstsüchtige; es ist die einer Kaste und sie hat die Ausbeutung der Mehrheit zu Gunsten einiger Schmarotzer zum Zwecke. Man denke sich nun die Bande einer solchen Solidarität um ein ganzes Gemeinwesen geschlungen und nicht auf Parasitismus, sondern auf nützliche Produktion gerichtet; man denke sich einen Staat, der seiner ganzen Jugend die Erziehung und – wenn die Eltern dazu unvermögend sind – den Unterhalt bis zum erwerbsfähigen Alter gewährt und ihr, wenn sie in dieses Alter tritt, die Werkzeuge selbstständiger Arbeit bietet; ist in einem solchen solidarischen Gemeinwesen nicht jedes Individuum besser versorgt, als heute der jüngere Sohn eines englischen Peers und ist dann die Einziehung des väterlichen Vermögens durch den Staat noch eine Ungerechtigkeit gegen die Kinder?
Die praktische Durchführung dieses Gedankens würde in der ersten Zeit gewiß mancherlei Schwierigkeiten begegnen, das leugne ich keinen Augenblick lang. Die Eltern würden versuchen, durch Schenkung unter Lebenden das Heimfallsgesetz auszuspielen, und es würde dem Staate nicht leicht werden, diesen Betrug zu verhüten, der dann doch einen Theil des väterlichen Vermögens auf die Kinder übergehen lassen würde. Aber das ist eine Fehlerquelle, die für das System von sehr geringer Bedeutung ist. Unter der Herrschaft des letztern würde sich die menschliche Anschauungsweise rasch genug gründlich ändern; die Eltern würden erkennen, daß in dem reorganisirten Gemeinwesen Vermögenslosigkeit für ein Kind nicht Noth und Elend bedeutet, und der Drang, die Nachkommen als Rentner in die Welt eintreten zu lassen, würde bedeutend schwächer werden. Die Kontrole des Besitzes und der Übertragung von Werthpapieren, in denen doch wohl der größte Theil des beweglichen Vermögens angelegt sein wird, ist nicht unmöglich, nicht einmal schwierig, Hausrath und einzelne Werthgegenstände, Kunstwerke u. s. w., könnte man als Andenken an die Eltern ohnehin von der Konfiskation durch den Staat ausnehmen und für den unbeweglichen Besitz wäre die Möglichkeit einer Umgehung des Heimfallsgesetzes ausgeschlossen. Das ist aber der wichtigste, ja der einzig wesentliche Punkt des Systems. Das ganze Land mit allen Gebäuden, Fabriken, Verkehrsanlagen u. s. w., die darauf stehen, muß unveräußerliches Eigenthum der Gesammtheit werden und nach einem Menschenalter immer wieder in seiner Gänze an sie zurückfallen. Wer sich darum bewirbt, soll vom Staate Grundbesitz oder Fabriken auf Lebenszeit erhalten und dafür einen jährlichen Pacht bezahlen, der einer angemessenen Verzinsung des leicht feststellbaren Kapitalwerths der Besitzung entspricht. Das ist wieder nicht etwa eine unerhörte revolutionäre Neuerung, sondern einfach die weitere Ausgestaltung von Verhältnissen, wie sie an vielen Orten, namentlich in England und Italien, schon bestehen. In diesen Ländern gibt es Großgrundbesitzer, die ihren Boden nicht selbst bearbeiten, sondern durch Pächter bewirthschaften lassen. Nichts verhindert die Gesellschaft, alle Bodenbearbeiter und Fabrikanten in das Verhältniß der englischen Farmer zu bringen und nur noch einen Großgrundbesitzer zuzulassen: den Staat. Bei dieser Organisation ist es dem Einzelnen möglich, persönliche Reichthümer zu erwerben, wenn diese auch schwerlich zu so ungeheurer Höhe anwachsen können wie die Vermögen der Ausbeuter und Schmarotzer in der heutigen Wirtschaftsordnung. Der Begabte, der Fleißige findet in üppigerem Leben den Lohn seiner größeren Tüchtigkeit, der Mittelmäßige oder Trägere muß sich mit knapperem Auskommen begnügen, der Arbeitsscheue allein findet sich zur Entbehrung, ja zum Untergange verurtheilt. Der Ansammlung sehr großen Grundbesitzes in der Hand eines einzigen Pächters ist dadurch vorgebaut, daß der Unternehmer nur sehr schwer Arbeiter finden wird; denn, da derjenige, welcher arbeiten will, eigenes Land vom Staat erhalten kann, so hat er keine Ursache, sich an einen anderen zu verdingen und sich von einer Mittelsperson, einem Unternehmer abhängig zu machen. Die Entwickelung des Systems führt nothwendig dahin, daß bald der Einzelne nur so viel Land verlangen wird, als er selbst – allenfalls mit Hilfe seiner Familie – bearbeiten kann. Auch die unnatürliche Entwickelung der Industrie auf Kosten der Nahrungsproduktion wird dadurch verhütet. Denn da der Einzelne ebenso leicht unabhängiger Farmer wie Fabrikarbeiter werden kann, so wendet er sich der Industrie nur dann zu, wenn sie ihm ein angenehmeres und reichlicheres Dasein gewährt als der Ackerbau, und der Andrang einander unterbietender, sich mit dem geringsten Maße von Lebensgütern und Genüssen begnügender Arbeitsucher zu den Fabrikräumen ist undenkbar. Wahre Schwierigkeiten können sich erst ergeben, wenn der Staat übervölkert und der Boden knapp wird. Dann wird es zur Unmöglichkeit, allen Bewerbungen um Ackerland oder Gewerbe-Anlagen zu entsprechen, und ein Theil der heranwachsenden Jugend muß sich zur Auswanderung entschließen. Sehr intensive Bodenkultur kann jedoch, wie ich oben gezeigt habe, diese Nothwendigkeit in eine sehr ferne Zukunft hinausverlegen.
Dieses System ist ohne Zweifel auch eine Art Kommunismus. Wer sich jedoch durch dieses Wort ins Bockshorn jagen läßt, der sei daran erinnert, daß wir ohnehin in vollem Kommunismus leben, nur nicht in einem aktiven, sondern in einem passiven. Wir haben keine Gemeinschaft der Güter, aber eine Gemeinschaft der Schulden. Kein Reaktionär erschrickt darüber, daß jeder Staatsbürger durch die bloße Thatsache der Zugehörigkeit zum Staate Schuldner einer Summe ist, die sich in Frankreich zum Beispiel auf nahezu 600 Franken für den Kopf beläuft. Warum sollte es ihn erschrecken, wenn durch eine gründliche Umwälzung der Staatsbürger vom Schuldner zum Besitzer eines entsprechenden Vermögensantheils würde, wenn der Staat nicht blos allgemeine Schulden, sondern auch allgemeines Vermögen hätte und seinen Angehörigen nicht immer nur Steuern abnehmen, sondern auch Güter mittheilen würde, wie er es ja einer kleinen Anzahl von Individuen auch heute schon thut? Denn der Staat besitzt ohnehin bereits Eigenthum aller Art, Paläste, Wälder, Farmen, Schiffe, und die Thatsache, daß das Vorhandensein nicht individuellen, allen Bürgern zugleich untheilbar gehörenden Besitzes praktischer Kommunismus ist, kommt den meisten Leuten nur darum nicht klar zum Bewußtsein, weil die noch immer bestehenden mittelalterlichen Staatseinrichtungen die Vorstellung begünstigen, daß das allgemeine Vermögen ein individuelles Vermögen sei, das Eigenthum des Fürsten oder sonstigen Staatsoberhauptes. Die Staatsschuld, das Staatseigenthum, die Steuern sind nicht die einzigen Formen, unter welchen der Kommunismus unter uns besteht. Gewisse Arten des Kredits sind ebenfalls nichts anderes als der blanke Kommunismus. Wenn ein Einzelner einem andern Einzelnen aus seiner Tasche Geld leiht oder eine Anweisung auf sein persönliches Vermögen zur Verfügung stellt, die von Dritten wie Baargeld angesehen wird, so ist das ein Austausch individuellen Besitzes; allein wenn eine Bank, die unbedeckte Noten ausgibt – und bei vielen Banken erreicht der Betrag der unbedeckten Noten ein Drittel und mehr der ganzen Notenmenge – einem Individuum auf seine Unterschrift hin ein Darlehn in Noten gewährt, für die dasselbe sich alle Güter verschaffen kann, so ist dies Geschäft ein Akt des vollen Kommunismus. Die Bank gibt nicht von ihr erworbene aufgesparte Arbeit, das heißt Geld, sondern eine Anweisung auf künftig zu leistende Arbeit, und daß diese Anweisung vom Gemeinwesen respektirt wird, daß das Gemeinwesen gegen unbedeckte Noten Güter ausliefert, das ist eine dem Grundsatze der menschlichen Solidarität dargebrachte Huldigung, das ist eine Anerkennung der Thatsache, daß das Individuum Anspruch auf einen Antheil an den vorhandenen Gütern besitzt, auch wenn es für diesen Antheil noch nicht einen persönlich hervorgebrachten Gegenwerth zum Austausch bieten kann.
Der Heimfall aller Güter an den Staat nach dem Tode ihrer Erwerber schafft ein nahezu unerschöpfliches gemeinsames Vermögen, ohne den individuellen Besitz aufzuheben. Jedes Individuum hat dann ein Eigen- und ein Gesammtvermögen, wie es einen Tauf- und Familiennamen hat. Das Staatsvermögen, mit dem es geboren wird, ist gleichsam sein Familien-, das eigene Vermögen, das es sich während seines Lebens erwirbt und dessen alleiniger, ungestörter Nutznießer es ist, sein Taufname und beide zusammen umschreiben seine wirthschaftliche wie die Namen seine bürgerliche Persönlichkeit. Indem das Individuum für sich arbeitet, arbeitet es zugleich für die Gesammtheit, welcher eines Tages der ganze Überschuß seines Erwerbes über seinen Verbrauch zugute kommen wird. Das Gesammtvermögen bildet das ungeheure Sammelbecken, welches aus dem Überfluß der einen dem Mangel der anderen abhilft und nach jedem Menschenalter die immer wieder entstehenden Ungleichheiten in der Gütervertheilung ausgleicht, welche die Vererbung im Gegentheil fixirt und mit jeder Generation schroffer macht.
Zu einer solchen Neuordnung der wirthschaftlichen Organisation der Gesellschaft muß es kommen, weil die Vernunft und die naturwissenschaftliche Weltanschauung sie gleichzeitig fordern. Ein einziges Grundprinzip muß die Gesellschaft beherrschen und dieses Grundprinzip kann nur entweder der Individualismus, das heißt der Egoismus, oder die Solidarität, das heißt der Altruismus sein. Gegenwärtig herrscht weder der Individualismus noch die Solidarität in voller Logik, sondern ein Gemisch von beiden, das unvernünftig und unlogisch ist. Der Besitz ist individualistisch organisirt und der Egoismus geht in der Vererbung bis zu seinen äußersten Grenzen, indem er nicht blos mit List und Gewalt an sich rafft, was er kann, sondern den Raub auch für ewige Zeiten festzuhalten, aus seinem Mitgenusse die Gemeinschaft der Menschen für immer auszuschließen sucht. Allein den Nichtbesitzenden gesteht der Besitzende nicht das Recht zu, sich auf das Prinzip zu berufen, dem der letztere seinen Reichthum verdankt. Das Vermögen wird im Namen des Individualismus erworben und festgehalten, vertheidigt aber wird es im Namen der Solidarität. Der Reiche genießt den unverhältnißmäßig großen Antheil an den Gütern, den er an sich zu bringen verstanden hat, mit verhärtetem Egoismus; wenn aber der Arme ebenfalls egoistisch und individualistisch sein und die Hand nach dem Besitze des andern ausstrecken will, so wird er eingesperrt oder gehenkt. In Form von Wucher und Spekulation ist die rücksichtslose Verfolgung des selbstischen Interesses gestattet, in Form von Raub und Diebstahl ist sie verboten. Derselbe Grundsatz ist in der einen Anwendung ein Verdienst, in der andern ein Verbrechen. Dagegen empört sich der gesunde Menschenverstand. Ich gebe zu, daß man den Egoismus predige, aber dann habe man den Muth, ihn in allen Fällen gutzuheißen. Ist es recht, daß der Reiche in Müßiggang schwelge, weil er es verstanden hat, das Land an sich zu reißen oder die Menschenarbeit auszubeuten, so muß es auch billig sein, daß der Arme ihn todtschlage und sein Vermögen als gute Prise behandle, wenn er zu einem solchen Unternehmen den Muth oder die Stärke hat. Das ist logisch. Freilich geht bei dieser Logik die Gesellschaft zu Grunde und die Zivilisation zum Teufel und die Menschen werden zu Raubthieren, die einzeln in den Wäldern schweifen und einander zerreißen. Wer also einen solchen Zustand nicht für das ideale Ziel der gesellschaftlichen Entwickelung hält, dem bleibt nichts übrig, als sich für den andern Grundsatz, die Solidarität zu entschließen. Da heißt es nicht mehr: Jeder für sich, sondern: Einer für Alle und Alle für Einen. Da erkennt es die Gesellschaft als ihre Pflicht, die noch nicht erwerbsfähige Jugend zu erhalten und zu bilden, das nicht mehr erwerbsfähige Alter zu versorgen, dem Gebrechen zu Hilfe zu kommen und die Entbehrung nur noch als Strafe willkürlichen Müßigganges zu dulden. Diese Pflicht zu erfüllen ist aber schlechterdings nur unter einer Bedingung möglich: wenn die Vererbung der Güter unterdrückt wird.
Große Katastrophen stehen auf wirtschaftlichem Gebiete bevor und es wird nicht mehr lange möglich sein, sie aufzuhalten. So lange die Menge gläubig war, konnte man sie für irdisches Elend mit unbestimmten Versprechungen himmlischer Glückseligkeit trösten. Heute, wo die Aufklärung immer allgemeiner wird, verringert sich die Zahl der Geduldigen immer mehr, die in einer Hostie den Ersatz für ein Mittagsmahl finden und die Anweisung eines Priesters auf einen Platz im Paradiese dem unmittelbaren Besitze eines guten irdischen Ackers gleichachten. Die Besitzlosen zählen sich und die Reichen und sie finden, daß ihrer mehr und daß sie stärker sind. Sie prüfen die Quellen des Reichthums und sie finden, daß Spekulation, Ausbeutung und Erbschaft nicht mehr vernünftige Berechtigung haben als Raub und Diebstahl, welche das Gesetzbuch schwer ahndet. Bei der fortschreitenden Enterbung der Massen durch ihre Losreißung vom Grund und Boden und bei der wachsenden Anhäufung der Vermögen in wenigen Händen werden die wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten immer unleidlicher und an dem Tage, an welchem sich bei der Menge zum Hunger die Erkenntniß der ferneren Ursachen desselben gesellt, gibt es das Hinderniß nicht, welches sie nicht beseitigen und niederwerfen wird, um zum Rechte der Sättigung zu gelangen. Hunger ist eine der wenigen Elementargewalten, gegen welche auf die Dauer weder Drohung noch Überredung hilft. Das ist denn auch die Kraft, die voraussichtlich den auf Aberglauben und Selbstsucht ruhenden Gesellschaftsbau, dem die Philosophie allein nicht beikommen kann, dem Boden gleichmachen wird.