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Die verbreitetste und mächtigste unter den Einrichtungen, welche uns die Vergangenheit hinterlassen hat, ist die Religion. Unter ihrem Banne steht die ganze Menschheit. Sie umschlingt mit demselben Bande die höchsten und die niedrigsten Racen und ihr verknüpfender Knoten macht den Australneger zum Gesinnungsverwandten und Kulturnachbar des englischen Lords. Die Religion durchdringt alle Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens und der Glaube an ihre übersinnlichen Lehrsätze ist die stillschweigende oder ausgesprochene Voraussetzung der Giltigkeit, ja der bloßen Möglichkeit einer ganzen Reihe von Handlungen, welche die kritischen Entwickelungs-Stationen und bestimmenden Wendepunkte des individuellen Daseins bilden. Es gibt noch zahlreiche Kulturländer, wo jedermann einer Religion angehören muß. Um seinen Glauben, seine Überzeugungen kümmert man sich nicht; aber äußerlich muß er zu einer bestimmten Konfession zählen. Man steht nicht mehr ganz auf dem Standpunkte Spaniens im sechzehnten Jahrhundert, Englands während der Gegenreformation unter der blutigen Mary oder der neuenglischen Kolonien zur Zeit der Puritaner-Tyrannei, da man mit furchtbarer Strenge darauf achtete, daß jeder Bürger an den Handlungen des Kults theilnehme; aber der Fortschritt ist im Ganzen ein geringer; denn wenn der Staat nicht mehr fordert, daß man zur Messe und Beichte gehe, und wenn er nicht mehr die Strafe des Feuertodes darauf setzt, daß man Sonntags beim Gottesdienste gefehlt hat, so besteht er doch noch in vielen europäischen und amerikanischen Ländern darauf, daß man im Mitglieder-Verzeichnisse einer religiösen Gemeinde eingetragen sei, und treibt mit Hilfe seiner Gerichte und Gendarmen von allen Bürgern Geldbeiträge zu konfessionellen Zwecken ein.
Die Religion nimmt den Kulturmenschen bei seinem Eintritt ins Leben in Empfang, sie ist seine hartnäckige, aufdringliche Begleiterin durchs ganze Dasein und läßt selbst bei seinem Tode noch nicht von ihm. Der Staatsbürger wird geboren – die Eltern müssen ihn taufen lassen, wenn sie sich nicht, wenigstens in manchen Ländern, einer Strafe und einem gewaltsamen Einschreiten des Staates aussetzen wollen; er will heiraten – er kann es nur in der Kirche und unter Mitwirkung eines Priesters thun. Allerdings besteht mancherorten die Zivilehe, aber erstens ist sie nicht überall eingeführt, zweitens bemühen sich in einigen Ländern, wo sie errungen wurde, mächtige Einflüsse, sie wieder abzuschaffen, drittens haben die gesellschaftlichen Sitten selbst dort, wo die Zivilehe eine unausrottbare Einrichtung ist, mit dem Gesetz nicht gleichen Schritt gehalten und geben vor, dieselbe nicht als Vollehe zu betrachten. Der Weltbürger stirbt, seinem Leichenwagen muß ein Priester folgen, über seinem Sarge müssen Gebete gesprochen werden und er kann nur in sogenannter »geweihter« Erde eine Ruhestätte finden, umgeben von Abzeichen und Inschriften religiöser Natur. Bei zahlreichen Anlässen kann er seine berechtigtsten Interessen blos mit Hilfe eines Eides wahrnehmen, der auf religiösen Anschauungen beruht. Er soll seinem Vaterlande als Soldat das Opfer seines Blutes bringen – er kann es nicht, ohne bei Gott einen Fahneneid zu schwören; er soll vor Gericht sein gutes Recht erstreiten – er kann es nur darthun, indem er einen Eid ablegt. Ohne Eid kann er nicht als Geschworener seinen Mitbürgern Recht sprechen, kann er nicht als Abgeordneter die Interessen des Volkes wahrnehmen, kann er kaum irgend eine öffentliche Stellung bekleiden. Der Versuch, den man in England und Frankreich gemacht, den religiösen Eid durch eine feierliche Versicherung bei Ehre und Gewissen zu ersetzen, hat leidenschaftlichen Widerstand erregt. In der ganzen weiten Kulturwelt ist noch kaum ein Winkelchen oder Endchen zu entdecken, das die Allherrschaft der Religion abgeschüttelt hätte.
Die Formen, unter welchen sich die Zivilisation geschichtlich entwickelt hat, sind die Familie, das Eigenthum, der Staat und die Religion. Nun denn: keine dieser vier Formen umfaßt eine so große Zahl von Individuen wie die letzte. Es gibt viele Menschen, die außerhalb der Familie stehen; so die Findlinge und die Straßenaraber der Großstädte, wenn sie nicht im reiferen Alter durch Ehe oder Konkubinat eine Familie gründen. Die völlig Besitzlosen und die Gewohnheitsverbrecher, die von Raub und Diebstahl leben, erkennen den Grundsatz des Eigenthums nicht an. Mitten in unserer reglementirten Zivilisation mit ihrer Vielregiererei, ihrem Verwaltungsapparate und ihrer Beamtenarmee gibt es ansehnliche Gruppen, – beispielsweise in fast allen Ländern Europas die Zigeuner – die sich nicht in den Rahmen der Staatsorganisation fügen, deren Geburten, Ehen und Sterbefälle nirgends verzeichnet werden, die nirgends Steuer zahlen, nirgends eine Militärdienstpflicht erfüllen, keine Ortsangehörigkeit, keine politische Nationalität besitzen und, selbst wenn sie es wollten, nur sehr schwer in die normale bürgerliche Gesellschaft eintreten könnten, weil ihnen die verschiedenen mit unleserlichen Unterschriften und respektablen Polizeisiegeln bedeckten stempelpflichtigen Papiere fehlen, ohne deren Besitz der nummerirte und etikettirte Sohn der Zivilisation eine rechtsgiltige Anerkennung weder seines Lebens noch seines Todes erlangen kann. Dagegen ist die Zahl derjenigen, die außerhalb der Religion stehen, überaus klein. In Deutschland wurde ein Freidenkerbund gegründet, der solchen, die den Konfessionalismus überwunden haben, Gelegenheit bietet, sich auch äußerlich als von den ererbten Ketten des Aberglaubens befreit zu verkünden. Er zählt nach mehrjährigem Bestande kaum tausend Mitglieder und selbst von diesen werden viele noch amtlich in den Listen der Angehörigen religiöser Gemeinden geführt. In Österreich gestattet ein Gesetz den Austritt aus den bestehenden Religionen. Nicht fünfhundert Personen haben sich dieses Gesetz zu Nutzen gemacht, um sich als konfessionslos zu erklären, und auch von diesen waren die meisten nicht durch die Ehrlichkeit gedrängt, ihre Handlungen und Lebensführungen auch äußerlich mit ihren Überzeugungen in Einklang zu bringen, sondern die einen wollten eine Ehe mit einer andersgläubigen Person eingehen, was den Austritt beider Parteien aus ihrer Konfession zur Voraussetzung hat, und die anderen waren Juden, welche sich dem Wahn hingaben, sie würden dem ihren Stamm verfolgenden Vorurtheile entgehen können, weil sie offiziell nicht mehr zur jüdischen Glaubensgemeinde zählten. Dieser Beweggrund trat so häufig ins Spiel, daß in Österreich konfessionslos und jüdisch fast synonym werden konnten und der Sekretär der Wiener Universität, wenn er bei den Einschreibungen auf die dort noch übliche Frage nach der Religion des Studenten die Antwort erhielt: »Konfessionslos!« mit gutmüthigem Lächeln zu bemerken pflegte: »Warum sagen Sie denn nicht lieber gleich, daß Sie ein Jude sind!« Frankreich ist dasjenige Kulturland, wo die Geistesfreiheit dem Konfessionalismus in den Gesetzen – nicht auch in den Sitten – bisher das weiteste Gebiet abgerungen hat. Doch bleiben auch in Frankreich weitaus die meisten Freidenker im Schoße der Kirche, der ihre Eltern angehört haben, sie gehen zur Messe und Beichte, verheiraten sich vor dem Altar, lassen ihre Kinder taufen und konfirmiren und rufen den Priester zu ihren Todten. Noch nicht nach Hunderten zählen diejenigen, die ihre Kinder ohne Taufe und Firmung aufwachsen lassen und für sich letztwillig ein sogenanntes Zivilbegräbniß fordern. In dem freien England gestatten Gesetz und öffentliche Meinung, daß man Sekten und Religionen stifte, daß man sich zum Buddhismus oder zur Sonnenanbetung der Parsis bekenne, nicht aber, daß man eingestandener Atheist sei. Bradlaugh hatte die Kühnheit, seinen Atheismus offen zu verkünden. Er wurde dafür gesellschaftlich geächtet, aus dem Parlament gestoßen, in haarsträubend kostspielige Rechtshändel verwickelt.
So mächtig ist der Einfluß der Religion auf jeden Geist, so schwer ist es, sich der Gewohnheit des Konfessionalismus zu entschlagen, daß selbst die Gottesleugner, wenn sie im Gemüthe des Menschen den Glauben durch ein anderes, unserer Weltanschauung angepaßtes Ideal ersetzen wollen, schwach genug sind, für ihre vernünftige Konzeption die an die Albernheiten des Kindesalters der Menschheit erinnernde Bezeichnung Religion beizubehalten. In Berlin und an anderen Orten Norddeutschlands haben Vereinigungen von Freidenkern für ihre Gesellschaft keinen anderen Namen gefunden als den einer »freireligiösen Gemeinde« und David Friedrich Strauß nennt einen Idealismus, dessen Wesenheit das Nichtvorhandensein einer übersinnlichen Religion ist, die »Religion der Zukunft«. Erinnert das nicht ein wenig an den Atheisten der bekannten Anekdote, der ausruft: »Bei Gott, ich bin ein Atheist!«
Hier ist der Platz, einem Mißverständnisse zuvorzukommen. Wenn ich die Religion eine konventionelle Lüge des Kulturmenschen nenne, so verstehe ich unter dem Worte Religion nicht den Glauben an außerirdische, übersinnliche Gewalten. Dieser Glaube ist bei den meisten Menschen ehrlich. Unbewußt lebt er selbst noch bei Männern der höchsten Geistesbildung fort und nur die allerwenigsten Söhne des neunzehnten Jahrhunderts sind mit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, von deren Richtigkeit ihre Vernunft überzeugt ist, so eins geworden, daß dieselbe auch bis in das Nachtleben ihrer Seele vordringen konnte, in deren dem Willen fast unzugänglichen Verstecken die unbestimmten Gefühle, Träumereien und Stimmungen ihren Ursprung nehmen. In diesem geheimnißvollen Dunkel wahren die uralten Vorurtheile und abergläubischen Vorstellungen ihre Herrschaft und sie daraus zu verjagen ist unvergleichlich schwerer, als Eulen und Fledermäuse aus den Winkeln und Thurmhelmen zu verscheuchen.
In diesem Sinne, das heißt als ein halb oder ganz unbewußtes Festhalten an transzendentalen Einbildungen, ist also die Religion in der That ein noch äußerst weit verbreitetes psychisches Überlebsel des Kindesalters der Menschheit; ich gehe weiter und sage, daß sie eine durch die Unvollkommenheit unseres Denkorganes bedingte funktionelle Schwäche, daß sie eine der Formen unserer Endlichkeit ist. Ich werde mich bemühen, diese Behauptung zu erklären damit sie nicht dunkel erscheine.
Die Philologie, vergleichende Mythologie und Ethnographie haben bereits zahlreiche Beiträge zur Geschichte des Entstehens und der Entwickelung des religiösen Gedankens herbeischaffen können und die Psychologie hat den erfolgreichen Versuch unternommen, die seelischen Eigenheiten nachzuweisen, infolge welcher der ursprüngliche Mensch zur Vorstellung des Übernatürlichen gelangen mußte und der Kulturmensch diese Vorstellung festhält.
Erst nach mehreren Jahrtausenden der Zivilisation, erst ungezählte Generationen nach so umfassenden Denkern wie Pythagoras, Sokrates und Plato gelangte ein intensiver Mensch dazu, gewisse Vorstellungen als nicht wesenhaft, als bloße Formen oder Kategorien unseres Denkens zu erkennen. Beim ersten Dämmern eines lichteren Seelenlebens mußten diese Vorstellungen natürlich das ganze rudimentäre Denken des Urmenschen mit einer Gewalt beherrschen, von der sich der Sohn der Zivilisation, der an Abstraktionen gewöhnt ist und die ungeheure Geistesanstrengung, die sie kosten, gar nicht mehr empfindet, keinen Begriff machen kann. Dem Wilden sind Zeit und Raum und Kausalität etwas ganz so Wirkliches und Stoffliches wie die Dinge selbst, die ihn umgeben und die er mit seinem gröbsten Sinne, dem Tastsinne, wahrnehmen kann. Er stellt sich die Zeit als ein Ungeheuer vor, welches seine Kinder frißt, der Raum erscheint ihm als eine Mauer, welche den Gesichtskreis umbaut, oder auch als ein Zusammenfließen des als Dach oder Sturz gedachten Himmels mit der Erde, und die Ursächlichkeit empfindet er als so nothwendig, als so untrennbar von der Erscheinung, daß er ihr die Nächstliegende und ihm verständlichste Form gibt: die einer bewußten Handlung, eines Wesens gleich ihm selbst. Fällt ein Baum in seiner Wildniß, so kann ihn nur ein organisches Wesen umgeworfen haben; bebt die Erde, so hat sie offenbar jemand erschüttert, und da die Vorstellung »jemand« für seinen armen Geist noch zu unbestimmt und darum zu schwer erfaßbar ist, so gibt er ihr die bequeme Form eines Menschen. Derselbe Denkprozeß wird durch alle Phänomene angeregt, die sich um ihn ereignen. Widerstandsloser Sklave der Kausalitäts-Vorstellung, sucht er für jede Wahrnehmung die Ursache, und da er als Ursache der von ihm verübten Handlungen seinen eigenen Willen kennt oder zu kennen glaubt, so überträgt er diese individuelle Beobachtung auf die Natur und erkennt in deren Erscheinungen die Wirkung der Willkür eines menschenähnlichen Wesens. Hier aber tritt zum ersten Mal ein Grund der Verwirrung und des Erstaunens an ihn heran. Wenn seine Frau mit Hilfe von Reibhölzern Feuer anzündet, wenn sein Stammesgenosse mit seiner Steinaxt ein Thier tödtet, so nehmen seine Sinne die Ursache des Aufloderns der Gluth und des Umsinkens des Thieres wahr. Wenn aber der Sturm seine Hütte umreißt oder der Hagel ihn verwundet, so sieht er das Wesen nicht, das ihm diese Gewalt anthut. Daß dieses Wesen existirt, daß es ihm ganz nahe ist, daran zweifelt er nicht, denn die Hütte liegt in Trümmern da und die Wunde, die ihm der Hagel geschlagen, blutet und das muß doch jemand gethan und thun gewollt haben. Da er aber den Missethäter nicht findet, so bemächtigt sich seines Geistes die entsetzliche Angst, welche die unbekannte Gefahr, gegen die man sich nicht vertheidigen kann, stets erweckt, und dieses Gefühl ist der Anfang der Religion.
In der That: alle Reisebeschreiber, welche Wilde beobachten konnten, sind darin einig, daß das religiöse Gefühl sich in den letzteren ausschließlich als abergläubische Furcht äußert. Und das ist natürlich. Die unangenehmen Empfindungen sind nicht nur weit häufiger, sondern auch weit stärker als die angenehmen und sie regen eine ungleich höhere und lebhaftere äußere und innere Thätigkeit an als diese. Eine angenehme Empfindung wird stumpf und passiv ertragen; der Geist braucht sich sie nicht zu verdeutlichen; Muskeln und Hirn können bei ihr ruhen; eine unangenehme dagegen gelangt zunächst klar zum Bewußtsein und macht dann eine Reihe von Denk- und Willensakten zur Entdeckung und Abwehr ihrer Ursache nothwendig. So kommt es, daß der primitive Mensch ungleich früher auf die ihm feindlichen Kräfte der Natur aufmerksam wird als auf die, welche seine Wohlthäter sind. Daß ihn die Sonne wärmt und die Frucht nährt, darüber macht er sich keine Gedanken, weil er nur denkt, wenn er dazu genötigt wird, und er die Frucht verzehren und sich in der Sonne ausstrecken kann, auch ohne dabei zu denken. Die Gefahren und Widerwärtigkeiten dagegen erwecken seine Seelenthätigkeit und bevölkern seine Vorstellungswelt mit dauernden Bildern. Erst auf einer sehr hohen Stufe geistiger Entwickelung gelangt der Mensch dazu, sich auch die Annehmlichkeiten des Lebens deutlich zu vergegenwärtigen, sie nicht blos instinktiv, sondern mit Bewußtsein zu genießen, hinter ihnen ebenfalls die Willkür eines menschenähnlichen Wesens als Ursache zu suchen und für dieses Liebe, Dankbarkeit und Bewunderung zu empfinden. Bis zu diesem vergleichsweise späten Stadium der Kultur begnügt er sich damit, vor dem unsichtbaren und unbekannten Willen, welcher stürmt und donnert und blitzt, ihn mit allerlei Übeln quält und ihm Schmerz und Ungemach bereitet, Angst und Grauen zu haben.
Aus diesem Gefühle der Furcht gehen alle ursprünglichen Handlungen des religiösen Kults hervor. Man vermeidet es, Dinge zu thun, die den unsichtbaren mächtigen Feind reizen könnten, und die rege, kindische Phantasie, der sprunghafte Gedankengang des primitiven Menschen lassen ihn in allen möglichen Thätigkeiten eine Ursache der Mißstimmung dieses Feindes besorgen. Ist derselbe aufgebracht, so muß man ihn mit allen Mitteln versöhnen. Man fröhnt seiner Habgier, indem man ihm Geschenke macht, ihm Opfer bringt. Man schmeichelt seiner Eitelkeit, indem man ihn preist und seine Eigenschaften rühmt. Man demüthigt sich vor ihm, sucht ihn durch Bitten zu rühren, gelegentlich auch durch Drohungen einzuschüchtern. Gebet, Opfer, Beschwörung sind also Äußerungen desselben Gefühls, aus welchem Darwin in seinem Buche über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei Menschen und Thieren die Grußformen also das Wedeln und Kriechen des Hundes, das Schnurren der Katze, das Sichverneigen und Hutabnehmen des Kulturmenschen ableitet: nämlich Akte der Unterwerfung unter einen stärkern Gegner.
Fassen wir diese Ausführungen kurz zusammen. Die Kausalität, die eine Form oder Kategorie des menschlichen Denkens ist, wird vom primitiven Menschen grob materiell und wesenhaft aufgefaßt. Er sucht für alle Erscheinungen, die ihn beunruhigen, naheliegende Ursachen. Seine Unfähigkeit, abstrakt zu denken, gestattet ihm blos konkrete Vorstellungen, die vor seinem Geiste stets im Gewande ihm geläufiger Bilder erscheinen; so gelangt er zum Anthropomorphismus, das heißt, er denkt sich alle Kräfte, Alles, was im Stande ist, ein Phänomen zu verursachen, in der Gestalt eines Menschen mit Bewußtsein, Willen und Organen zur Vollziehung des letztern, da er eben eine Kraft, losgelöst von der organischen Form, in der er ihre Thätigkeit gewöhnlich beobachtet, noch nicht zu erfassen vermag. Die Kausalität führt ihn also zur Annahme einer Ursache aller Phänomene, seine Abstraktions-Unfähigkeit zum Anthropomorphismus, zur Bevölkerung der Natur mit einem persönlichen Gott oder mit persönlichen Göttern, seine Furcht vor diesen, die ihm Feinde zu sein dünken, zu Opferhandlungen und Gebeten, mit einem Wort zu einem äußerlichen Kult.
Das ist die eine Wurzel der Religion beim primitiven Menschen und sie ist auch aus dem Gemüthe des Kulturmenschen nicht herausgerissen. Selbst Geister, die gebildet und im Denken geübt genug sind, um Zeit und Raum nicht mehr als etwas stofflich Vorhandenes zu betrachten, empfinden die Kausalität noch immer als wesenhaft und haben sich nicht zur Höhe der Abstraktion emporarbeiten können, von der aus man auch die Kausalität nicht als eine Bedingung der Erscheinungen, sondern als eine Form unseres Denkens erkennt. Und was den Anthropomorphismus betrifft, so wird er noch heute fortwährend geübt; nicht blos vom Kinde, das sich an den Märchen erbaut, die den Wind und die Bäume reden und die Sterne Ehen schließen lassen, sondern auch vom Erwachsenen in der geheimsten Intimität seines Seelenlebens, das sich kaum je vollständig von den Nachwirkungen der Kindesgewohnheiten befreit. Ist es nicht bezeichnend, daß der Modephilosoph unserer Tage mit einer seltsamen Rückkehr zu urmenschlichen Vorstellungen sein System auf denselben Voraussetzungen aufgebaut hat, aus welchen die frühesten Rudimente einer Weltanschauung bei den Zeitgenossen des Höhlenbärs und bei den heutigen Australnegern erwuchsen: nämlich auf der Annahme eines Willens als Grundbedingung nicht allein irgend einer Thätigkeit, sondern schon des bloßen Bestehens jedes Objekts? Dieses Hineintragen eines uns vertrauten, weil häufig in uns selbst beobachteten Vorganges in die uns umgebenden Dinge, dieses Bestreben, sich deren Vorhandensein durch die Existenz eines Willens in ihnen zu verdeutlichen, weil man auch die Vorstellung eines Menschen nicht von dem eines in ihm waltenden und sein ganzes Thun bedingenden Willens trennen kann, gehört durchaus der ersten Stufe der menschlichen Geistesthätigkeit an. Schopenhauer mag seinem System durch Sublimirungen und Raffinements äußerlicher Natur und durch dessen Einkleidung in die Kunstsprache der Wissenschaft ein genug vornehmes Ansehen gegeben haben, um es Bildungsmenschen mit guter Art vorstellen zu können, in seinem Kern bleibt dasselbe dennoch der erstaunlichste Atavismus, den die Geschichte der Philosophie, die so wesentlich eine Geschichte der Rückfälle des menschlichen Geistes in überwunden geglaubte alte Träumereien und Thorheiten ist, aufzuweisen hat. Wenn selbst ein auf der Höhe unserer Kultur stehender Denker wie Schopenhauer die unorganischen Dinge mit einem Willen gleich dem menschlichen belebt, um sie zu begreifen (obwohl doch im Menschen selbst einige der wichtigsten Vorgänge, z. B. die des Stoffwechsels, ohne den Einfluß des Willens stattfinden), wenn diesem System bei zahlreichen Geistern der Elite eine billigende Aufnahme wird, wie sollte man es nicht verstehen, daß der Mammuthjäger der Quaternärzeit, die an seinem beschränkten Ich gemachten armseligen Erfahrungen verallgemeinernd, die Natur nur begreifen konnte, wenn er hinter ihren Erscheinungen einen Urheber nach seinem Ebenbilde, nur stärker und schrecklicher, mit größerer Steinaxt und kräftigerem Appetit, annahm und dadurch zu den Anfängen einer Religion gelangte?
Die Vorstellung eines Willens als Ursache der Weltphänomene, also der Glaube an einen persönlichen Gott oder an Götter, ist aber blos ein Theil der Religion, die ihre transzendentalen Erklärungsversuche nicht auf die Natur beschränkt, sondern auch an dem Menschen und an seiner Stellung in der Natur übt. Zu den religiösen Vorstellungen gehören auch die einer Seele im Menschen und einer Fortdauer derselben nach seinem Tode. Erst der Glaube an die Unsterblichkeit vervollständigt den Glauben an Gott zu einem umfassenden Systeme, das die Grundlage einer Gesellschaftsordnung und einer Moral abgeben konnte, da es eine sichere Definition von gut und schlecht, eine Unterscheidung von Tugend und Laster gestattete und in einer künftigen Belohnung und Bestrafung, deren erste Voraussetzung die Unsterblichkeit des Individuums mit seinen wesentlichen Attributen: der Empfindung und Vorstellung ist, die Mittel fand, die Menschen in ihrem Handeln zu bestimmen. Der Glaube an die Seele und deren Unsterblichkeit entspringt indeß nicht mehr aus der Kausalität und dem Anthropomorphismus, sondern aus ganz anderen psychologischen Quellen, denen wir ein wenig nachgraben wollen.
Spezialforscher haben vielfach die Frage erörtert, ob der Glaube an eine Seele und deren Unsterblichkeit dem Glauben an Gott vorangegangen oder nachgefolgt sei und ob nicht alle religiösen Vorstellungen überhaupt sich aus dem Seelenkult durch die Zwischenstufe des Dämonenglaubens hindurch entwickelt haben. Daß vielen alten Völkern und modernen wilden Stämmen der Glaube an die Seele ein wesentlicherer Bestandtheil der wirklich empfundenen innern Religion ist als der Glaube an ein höchstes Wesen, das scheint der Todtenkult der Egypter, die Laren- und Ahnen-Verehrung der Römer, das Trinken des Blutes geschlachteter Feinde bei antiken Celten und Germanen und die Menschenfresserei mancher innerafrikanischer und Südseeinsel-Stämme zu beweisen, welch letztere namentlich ganz gewiß nicht aus einem unwiderstehlichen Fleischbedürfnisse hervorgeht, wie oberflächliche Beobachter angegeben haben, sondern aus der mystischen Hoffnung, daß die Eigenschaften des getödteten Feindes auf denjenigen übergehen werden, der von ihm ißt. Alles in Allem ist die Frage, ob der Seelen- oder Gottglaube der ältere ist, eine untergeordnete. Das Eine steht fest, daß der Mensch sehr früh die zwei Vorstellungen hatte, in ihm sei etwas vom Körper Verschiedenes, welches das Leben bedinge, und dieses Etwas überdaure den Tod, die Zerstörung der äußern Form. Zu der ersten Vorstellung mußte eine ungenaue Beobachtung und eine mangelhafte Einsicht in die Naturgesetze führen. Man fühlte im lebenden Menschen mannigfache geheimnißvolle Bewegungen, das Klopfen des Herzens, das Schlagen der Pulsadern. Im todten Menschen ist Alles still und unbeweglich. Die Rolle, welche das Herz als Sitz der Gefühle im Sprachgebrauche noch heute spielt, legt als Überlebsel Zeugniß für das Interesse ab, welches diese auffallenden Bewegungen des Herzens früh im Menschen erregten. Dem ungeschulten Denken ist nichts geläufiger, als aufeinanderfolgende Erscheinungen in ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Da im Todten sich nichts regt, so muß das, was im Lebenden hüpft und sich wirft, das Lebenbedingende sein. Wenn man lebt, so ist es da; wenn man stirbt, so geht es davon, verläßt es den Körper. Was ist es aber? Auf diese Frage antwortet die Phantasie des primitiven Menschen vielfältig. Darin sind fast alle Völker einig, dem Lebensprinzip, der Seele, eine Thierform zu geben. Dem einen ist die Seele eine Taube, dem anderen ein Schmetterling. Andere, die bereits abstrakterer Vorstellungen fähig sind, denken sich dieselbe als einen Windhauch oder als einen Schatten. Die beunruhigenden und unerklärlichen Erscheinungen des Schlafes und Traumes werden durch solche Annahmen einer Erklärung zugänglich, welche dem primitiven Geiste genügt. Die Seele, dieser materielle und organisirte Bewohner des Körpers, diese Art Schmarotzer des Lebendigen, empfindet manchmal das Bedürfniß, ihren Käfig zu verlassen. Dann fällt der Leib in einen Zustand, welcher dem ähnlich ist, welcher seiner harrt, wenn die Seele für immer von ihm geht; er weiß und fühlt nichts, er bewegt sich nicht: er schläft. Die Seele ergeht sich irgendwo; sie thut und erfährt allerlei; davon bleibt eine dunkle Erinnerung, wenn sie in ihren ordentlichen Aufenthaltsort zurückgekehrt ist: das sind Träume. Jakob Grimm verzeichnet eine Sage, nach Paulus Diakonus, welche erzählt, der fränkische König Guntram sei eines Tages auf der Jagd eingeschlafen und der ihn begleitende Knecht habe aus seinem Munde ein schlangenähnliches Thierchen hervorkriechen und bis zum nahen Bache eilen gesehen, über den es nicht gekonnt. Der Diener habe darauf sein Schwert aus der Scheide gezogen und über den Bach gelegt. Das Thierchen sei hinüber gegangen, nach einigen Stunden wiedergekommen und in des Königs Mund zurückgeschlüpft, worauf dieser erwachte und dem Begleiter erzählte, er habe geträumt, einen großen Fluß gesehen zu haben, über den eine eiserne Brücke gebaut war, über die sei er gegangen u. s. w. In einer andern Sage, ebenfalls bei Grimm, wird von einer schlafenden Magd erzählt, aus deren Munde ein rothes Mäuslein hervorgegangen sei; man habe die Schläferin umgewandt, worauf die Maus bei der Wiederkunft den Mund nicht finden gekonnt und die Magd nicht mehr erwacht sei. Und wo war dieser geheimnißvolle Bewohner des Menschenleibes, der die großen Räthsel des Lebens und Todes, des Schlafes und Traumes so faßlich erklärt, vor der Geburt seines Beherbergers und wohin geht er nach dessen Ende? Er war vorher in anderen Leibern und bezieht nachher andere Leiber; das ist der Glaube an die Seelenwanderung. Oder er entsteht erst mit dem Leibe und bleibt auch nach dessen Tode in seiner Nähe: das ist die altegyptische Vorstellung, die zur sorgsamen Erhaltung der Leichen führte. Daß er mit dem Leibe zugleich vergehe, nimmt der primitive Mensch nirgends an. Und das ist ganz natürlich! das absolute Nichtsein ist eine Vorstellung, der das menschliche Denken fremd und feindlich gegenübersteht, ja die voll zu realisiren ihm unmöglich ist. Man kann von einer Maschine keine Kraftleistung verlangen, die über das Vermögen ihrer Bestandteile geht. Die Vorstellung des Nichtseins ist eine Kraftleistung, die über das Vermögen des menschlichen Denkapparats hinausgeht. Man spricht von horror vacui der Natur. Ganz so groß ist der horror vacui des menschlichen Denkens. Das, was im Menschen denkt, das ist sein Ich; dasselbe bildet die Unterlage, die notwendige Voraussetzung des Denkakts; ohne Ich kein Gedanke, keine Vorstellung, selbst keine Empfindung; die Vorstellung des Nichtseins wird ebenfalls vom Ich konzipirt, aber während das Ich sich bemüht, das Nichtsein sich zu vergegenwärtigen, hat es gleichzeitig das volle Bewußtsein seines Seins und diese Gleichzeitigkeit verhindert vollständig die wirkliche, deutliche Vorstellung des Nichtseins. Um sich von diesem einen überzeugenden, klaren Gedanken machen zu können, müßte das Ich einen Augenblick lang aufhören, sich als seiend zu fühlen, das heißt, es müßte unbewußt sein, es dürfte nicht denken. Dann könnte es aber auch das Nichtsein nicht denken. Hier ist der circulus vitiosus, über den der Mensch infolge der Natur seines Denkapparates nicht hinauskömmt. So lange er denkt, ist sein Ich sich seines Daseins vollbewußt und kann das Nichtsein nicht ernstlich konzipiren; ist der Mensch aber seines Daseins unbewußt, dann denkt er nicht, also auch nicht den Gedanken des Nichtseins. Durch Wunder der Abstraktion ist die indische Philosophie zur Vorstellung des Nirvanah, des absoluten Nichts, der absoluten Stoff- und Bewegungslosigkeit gelangt. Dem Gedanken dieses absoluten Nichts, des Aufhörens der Welt sowohl als des Ich, ist der Menschengeist eher zugänglich. Aber gegen einen Untergang des Ich bei einer Fortdauer der Welt lehnt er sich unbeugsam auf. Wie, diese Dinge, die nur da sind, weil wir sie wahrnehmen, ja deren Existenz außer unserer Wahrnehmung wir uns gar nicht vorstellen können, sollen fortdauern, und das, was ihnen erst ihr Dasein gibt, das sie wahrnehmde Ich, soll aufhören? Das ist undenkbar. Das mit dem Ich zugleich das ganze Weltphänomen verschwindet, daß dann das Nirvanah eintritt, das ist eine mögliche, ja in gewissem Sinne egoistisch-tröstliche Vorstellung. Daß aber das Ich aufhört und die Welt unverändert weiter besteht, ist ein Gedanke, der im Rahmen unseres auf dem Ich beruhenden Denkens nicht Platz findet. Wir können uns mit einem Wortschwall und Phrasenguß fast ertränken, wir können uns philosophische Formeln und Definitionen vormachen und uns mit hochmüthigem Selbstbetrug überreden, daß wir uns etwas Deutliches, Anschauliches dabei denken, wenn wir die Definitionen und Formeln emsig wiederholen. In Wirklichkeit haben wir vom Nichtsein nicht mehr eine Vorstellung als von der Unendlichkeit, die wir ja auch wohl in Formeln, aber nicht in unser Gehirn bringen konnten. Es ist schon ein ungeheurer Triumph des menschlichen Geistes, daß auserlesene Kraftseelen zu einer Art schattenhafter, nicht recht in Worte zu fassender Ahnung dieser beiden Vorstellungen des Nichtseins und der Unendlichkeit gelangt sind; man könnte das, wenn dieser Vorgang möglich wäre, ein Hinaustreten des Menschen aus sich selbst, ein Sichemporheben über sich selbst nennen. Wie sollte der primitive Mensch solche fast übermenschliche Gedankenarbeit leisten? Sie mußte erst durch viele Jahrtausende harter Geistesdisziplin vorbereitet werden. Bei geringerer Entwickelung des Denkvermögens mußte dem Menschen das Nichtsein unfaßbar, die ewige Dauer des Ichs selbstverständlich, gar nicht anders denkbar sein. Er mußte zu der groben Vorstellung einer leiblichen Auferstehung der Todten und zu der feineren einer Unsterblichkeit der unkörperlichen, aber seltsamerweise dennoch die geistigen Attribute des Individuums: Willen, Empfindung und Vorstellung wahrenden Seele gelangen.
Das ist es, was ich meinte, als ich oben sagte, die Religion sei eine durch die Unvollkommenheit unseres Denkorgans bedingte funktionelle Schwäche und eine der Formen unserer Endlichkeit. Durch die Wirkung der Kausalität und der den Anthropomorphismus bedingenden Unfähigkeit, sich Kräfte anders als in gewohnten, organischen Formen vorzustellen, kam der Mensch zum Gottbegriff; durch die ungenaue Beobachtung der Erscheinungen des Lebens und des Todes, des Schlafes und Traumes zur Annahme einer Seele und durch das Unvermögen des Ich, sich als nichtseiend vorauszusetzen, zum Glauben an die individuelle Unsterblichkeit in irgend einer Form. Die Annahme einer Fortdauer nach dem Tode ist nichts Anderes als eine Erscheinungsform des Selbsterhaltungstriebes, wie der Selbsterhaltungstrieb selbst nichts Anderes ist als die Form, in welcher die Lebenskraft, die ihren Sitz in jeder einzelnen Zelle unseres Organismus hat, uns zum Bewußtsein kommt. Die Kraft zum Leben ist identisch mit dem Willen zum Leben. Wer viele Leute sterben gesehen hat, der weiß, wie leicht sich das Individuum mit dem Gedanken des Todes abfindet, wenn er seine Lebenskraft durch Alter oder Krankheit wirklich erschöpft fühlt, und wie furchtbar schwer es die Nothwendigkeit des Endes akzeptirt, wenn es etwa durch einen Unfall mitten in blühendem und zukunftberechtigtem Leben getroffen wird. Der Selbstmord ist nur ein scheinbarer Widerspruch gegen meine Behauptung; er setzt allerdings einen äußerst kräftigen Willen voraus, der selbst nur die Kundgebung einer ebenso kräftigen Vitalität sein kann; und somit schiene es, als wäre in diesem Falle die Kraft zum Leben das Gegentheil vom Willen zum Leben, in Wirklichkeit ist aber der Selbstmord, so weit er nicht das Ergebniß einer augenblicklichen Verdunkelung des Bewußtseins ist, ein unzweckmäßiger Akt der Vertheidigung des Lebens gegen Gefahren, die es bedrohen; man gibt sich den Tod, wenn man leibliches oder seelisches Ungemach, also Lebenshindernisse fürchtet, und man würde diese extreme Handlung nicht verüben, wenn man nicht unbewußt am Leben hinge, da man sonst keine Ursache hätte, Widerwärtigkeiten zu fürchten, die im schlimmsten Falle blos das Leben zerstören können. Jeder Selbstmord hat etwas von der oft beobachteten Handlung des Soldaten an sich, der sich vor der Schlacht tödtet, weil er von der Angst vor ihren Gefahren überwältigt ist, der also gewiß nicht aus Überdruß am Leben oder Gleichgiltigkeit vor dem Tode, sondern im Gegentheile aus bis zur Unzurechnungsfähigkeit gesteigertem Lebensverlangen zum Selbstmörder wird. Der Satz, daß die Kraft zum Leben mit dem Willen zum Leben identisch ist, duldet also keine Ausnahme und dieser Wille zum Leben macht selbst vor der Erscheinung des Todes nicht Halt. Der Organismus, der in allen seinen Zellen den Drang und Wirbel der Lebensvorgänge fühlt, ist der Vorstellung eines völligen Aufhörens dieser fruchtbaren und wonnigen Bewegung unzugänglich. Das Individuum empfindet das eigene Sein als ein ewiges, das eigene Ende als ein unabsehbares, obwol es seltsamerweise die Vorstellung des Aufhörens eines andern Individuums recht wohl konzipiren kann. Nur bei höchster Geisteskultur gelangt man mit Hilfe zahlreicher mühsamer Abstraktionen und Analogien wie ebenso vieler Leitersprossen zu einer Idee, welche das intime Verständniß des Aufhörens unseres individuellen Seins unserem Geiste oder vielmehr unserem Gefühle vermitteln soll, nämlich zur Idee einer so engen Solidarität des Einzelmenschen mit der Gattung, daß man die nachgeborenen Geschlechter als unmittelbare Fortsetzungen und weitere Entwickelungsstufen der vorangegangenen empfinden und in der Dauer der Menschheit Trost und Ersatz für die Vergänglichkeit des Individuums schöpfen kann.
In dem heutigen Kulturmenschen wirken die Gründe, welche im Urmenschen transzendentale Vorstellungen erweckt haben, theils noch immer in ihrer ursprünglichen Form nach, theils üben sie ihren Einfluß in der Sphäre des Unbewußten. Der Anthropomorphismus ist noch immer eine Neigung eines jeden Geistes, der nicht mit größter Strenge die Keimung und Entfaltung seiner Vorstellungen überwacht und da es so überaus bequem ist, Abstraktionen in familiäre Bilder zu kleiden, so ertappt sich wohl jeder von uns jeden Augenblick dabei, wie er sich Unsittliches in der grob sinnlichen Form der im Thier- oder Pflanzenleben beobachteten organischen Vorgänge vergegenwärtigt. Und die Unfähigkeit, sich das Aufhören des Ich mehr als äußerlich vorzustellen, ist noch heute so groß wie zu irgend einer Zeit. In der Sphäre des Unbewußten wirkt der urmenschliche Aberglaube kraft des Gesetzes der Vererbung fort. Die Vererbung, sagt der französische Philosoph Th. Ribot, ist für die Gattung dasselbe, was für das Einzelwesen das Gedächtniß ist. Kürzer gesagt: Die Vererbung ist das Gedächtniß der Spezies. In jedem einzelnen Menschen leben also die Vorstellungen der Ahnen in Form häufiger unbewußter, verdunkelter, jedoch stets gegenwärtiger Erinnerungen fort, die nur einer äußern Anregung bedürfen, um mit voller Klarheit aufzublitzen, ja das ganze Seelenleben zu überstrahlen. Die Vererbung ist ein Bann, dem wir uns nicht entziehen können. Wie wir unvermögend sind, unsere Gesichts- und Leibesbildung willkürlich zu bestimmen, so sind wir unfähig, die intimste Physiognomie unseres Gedankens zu ändern. Das erklärt die Züge unkontrollierbaren, dem Willen nicht zu unterwerfenden Aberglaubens, die wir häufig selbst bei sehr hellen Geistern mit schmerzlichem Staunen überraschen, und die Regungen religiöser Sentimentalität, denen namentlich dichterisch angelegte Gemüther unterworfen sind, weil in ihnen die Heredität besonders vorwiegt. Diese Quelle übersinnlicher Vorstellungen, die Vererbung, werden wir nur allmälig, durch die angehäufte Arbeit vieler Generationen, versiegen machen, und erst in Jahrtausenden wird der Mensch von Geburt angelegt sein, die Erscheinungen der Welt und des Lebens naturwissenschaftlich und vernünftig zu betrachten, weil hundert Geschlechtsfolgen ihm so vorgedacht haben werden, wie wir von Geburt angelegt sind, diese Erscheinungen abergläubisch und irrationell anzuschauen, weil nicht hundert, sondern vielleicht hunderttausend Generationen vor uns die Gewohnheit des fehlerhaften Denkens gehabt haben.
Zu den Gründen, welche, wie sie den Transzendentalismus ursprünglich entstehen ließen, ihn noch fortwährend im menschlichen Geiste unterhalten, treten einige andere, welche vielleicht unfähig gewesen wären, für sich allein die Vorstellungen eines Gottes, einer Seele und der Unsterblichkeit derselben anzuregen, die jedoch mächtig beitragen, diesen Vorstellungen, da sie einmal bestehen, Fortdauer zu sichern. Der eine dieser akzessorischen Gründe des Weiterbestandes religiöser Empfindungen im Menschengemüthe trotz der neuzeitlichen Aufklärung ist die natürliche Feigheit des Menschen, der nicht gern auf mächtige Bundesgenossen verzichtet und nicht leicht den Gedanken verträgt, ganz allein auf sich selbst gestellt zu sein, sich blos auf die eigene Kraft verlassen zu dürfen, auf keinen unsichtbaren Helfer und Schützer rechnen zu können. Selten bringt die Menschheit ein Individuum hervor, das im Gefühl seiner Kraft und getragen von hohem Selbstbewußtsein bereit ist, das Leben als einen Einzelkampf aufzufassen, in welchem es Schwert und Schild stark und geschickt benutzen muß, um als Sieger oder doch heil aus demselben hervorzugehen. Diese Ausnahmsmenschen, welche den stolzesten und vollendetsten Typus unserer Gattung darstellen, werden Parteiführer, Eroberer, Hirten der Völker. Sie verachten die Heerstraßen und brechen sich neue Bahnen. Sie nehmen nicht geduldig das Schicksal hin, das ihnen die Umstände bereiten, sondern suchen sich ein Sondergeschick zu schmieden, und wenn sie über dieser Arbeit zu Grunde gehen sollten. Aber die große Herde der Menschen hat nicht die trotzige Unabhängigkeit. Die Durchschnitts-Individuen wollen den Kampf ums Dasein nicht als Einzelkampf bestehen, sondern als Massengefecht in geschlossener Schlachtreihe. Sie wollen Schwertgenossen an beiden Ellenbogen und im Rücken, womöglich auch vor sich spüren. Sie wollen Kommandorufe hören und ihre Handlungen von höheren Verantwortlichkeiten bestimmt wissen. Diese Menschen klammern sich an den Glauben als an eine Waffe und einen Trost. Welch eine Beruhigung, sich einbilden zu können, daß man mitten im gefährlichsten Lebensgewühle unter dem besonderen Schirm eines Gottes oder Schutzengels steht! Man hat auf diese Weise die Genugthuung, als simpler Schneider oder Taglöhner das Privilegium des Achilles zu theilen, den im Getümmel der Trojerschlacht der unsichtbare Schild der Pallas Athene schirmte. Und welch ein Kraftgefühl zieht man aus dem Bewußtsein, in jeder Lebenslage mit einer mächtigen Waffe ausgerüstet zu sein – dem Gebet! Man verzweifelt schwer, wenn man überzeugt ist, jedes Ungemach durch ein Wort, eine Anrufung abwenden zu können. Ich nehme einen extremen Fall. Ein Luftschiffer fällt in einer Höhe von tausend Fuß aus dem Nachen seines Ballons. Ist er ein Freidenker, so weiß er, daß er unrettbar verloren ist und daß es die Macht nicht gibt, die seinen Leib verhindern kann, fünf Sekunden später zu einem blutigen Brei zerklatscht auf der Erde zu liegen. Ist er aber ein Gläubiger, so behält er während der ganzen Dauer des Falles, so lange ihn das Bewußtsein nicht verlassen hat, die Hoffnung, daß eine übernatürliche Gewalt, die er durch ein Stoßgebet zum Einschreiten veranlassen kann, ihm zuliebe die Gesetze der Natur einen Augenblick aufheben und ihn sachte und unbeschädigt auf den Boden niedersetzen wird. So lange das Bewußtsein dauert, wird es vom Selbsterhaltungstrieb beherrscht und es hält hartnäckig an seinem Rechte fest, gegen ein noch so unumstößliches Todesurtheil an eine fabelhafte, verschwommene Möglichkeit zu appelliren. Die Menschenseele hat kein theureres Gut als die Illusion. Und welche großartigere und tröstlichere Illusion könnte es geben als die Selbsttäuschung durch den Glauben und das Gebet! Darum werden gewöhnliche Menschen in äußersten Bedrängnissen immer Rückfälle in Vorstellungen kindlichen Aberglaubens erleiden, so lange sie nicht von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung genug durchdrungen sein werden, um den Tod eines Individuums, und wäre es selbst ihr eigenes, als eine Begebenheit von winzigster Bedeutung für die Gattung und das Weltganze zu empfinden, und solange nicht die Solidarität der Menschheit genug allgemein und fest organisirt sein wird, daß in Bedrängnissen jedes Individuum mit absoluter Zuversicht und schon instinktiv bei seinen Nebenmenschen und nicht bei unfaßbaren überirdischen Gewalten nach Hilfe wird ausschauen dürfen.
Ein zweiter jener Gründe des Fortbestehens religiöser Empfindungen, die ich akzessorische genannt habe, ist das Bedürfniß eines Ideals, das in jedem Menschengemüthe, selbst im rohesten, unausrottbar bestellt. Was ist das Ideal? Der entfernte Typus, nach dem hin die Menschheit sich entwickelt und vervollkommnet; nicht blos der Typus körperlicher Erscheinung, sondern auch der Typus des Gemüthslebens, der Denkungsweise, der Gesellschaftsverfassung. Der Auftrieb zu diesem Ideal, die Sehnsucht danach ist jedem geistig und leiblich normal gebildeten Menschen eingeboren; es handelt sich da um etwas Organisches, das nicht nothwendig bewußt sein muß, ja in das sich selbst beim klarsten und tiefsten Denker viel Unbewußtes mischt. Wer je einen Eisenbahndamm aufwerfen gesehen hat, der weiß, daß dies so geschieht: man pflanzt zuerst hölzerne Gestelle auf, welche das Profil des Dammes verzeichnen, dann häufen die Arbeiter so lange Erde auf, bis die Masse die mit Latten vorgebildete Form und Höhe erreicht hat. Jedes Lebewesen hat in sich ein Bildungs- und Entwickelungsgesetz, das ihm gegenüber dieselbe Bedeutung hat wie die Stecklatten gegenüber dem aufzuwerfenden Damme; es entsteht von vornherein mit einem unsichtbaren, aber durchaus wesenhaften Rahmen, in den es hineinwächst, den es auszufüllen sucht, wie der Damm in sein vorgebildetes Profil hineinwächst und es ausfüllt. Gelangt ein Organismus bis zu der Form, welche das äußerste Ziel seiner Entwicklungsfähigkeit darstellt, so hat er die Vollkommenheit erreicht und sich selbst idealisirt. Gewöhnlich bleibt das Einzelwesen hinter dem Ideal seines Typus zurück, aber das Streben danach ist die geheimnißvolle Triebkraft seiner Selbsterhaltung und Entwickelung, das heißt aller organischen Vorgänge in ihm. Die Gattung hat ihr Entwickelungsziel und Alles, was nöthig ist, um es zu erreichen, ganz so in sich wie das Individuum. Wie das Individuum hat jede Spezies ihr Wachsthumsgesetz. Sie entsteht, ist beanlagt, eine bestimmte Größe und Kraft zu erreichen und eine bestimmte Dauer zu leben, wächst bis zu einer gewissen Höhe, geht dann wieder zurück und verschwindet zuletzt, indem sie einer andern, höhern Bildung Platz macht, für die sie als Vorstufe, ich möchte sagen als Versuch oder Entwurf gedient hat. Die Paläontologie lehrt uns eine ganze Reihe von Thiergattungen kennen, die während einer bestimmten geologischen Epoche gelebt haben und dann ausgestorben sind. All das findet auch auf die Menschheit seine Anwendung. Sie ist in ihrer Gesammtheit eine zoologische Einheit und wird von einem einzigen Lebensgesetze regiert. Sie ist in einer bestimmten geologischen Zeit entstanden (ob diese Zeit in die Anfänge der Quaternär-Epoche fällt oder ob man sie in die mittleren oder jüngsten Abschnitte der Tertiär-Epoche verlegen soll, ist für das Argument gleichgültig), sie wird nach allen Analogien in einer bestimmten geologischen Zeit aufhören. Die Formen, die ihr vorangegangen sind, können wir erst vermuthen; diejenigen, die ihr folgen werden, entziehen sich selbst unserer Ahnung. Aber so lange die Menschheit auf Erden lebt und so lange sie noch nicht den Gipfelpunkt ihrer Entwickelung erreicht hat, so lange strebt sie unausgesetzt, den unsichtbaren vorbestimmten Rahmen ihrer Bildung auszufüllen, und dieses Streben nach der Verkörperung ihres vollendeten Typus, dieses Wachsthum zur Höhe ihres idealen Maßes wird von allen Menschen, mit einziger Ausnahme der Idioten, empfunden, wenn auch von den meisten nur dumpf und unklar. Bei den Menschen der Elite steigert sich die Empfindung bis zum Bewußtsein. Bei den anderen bleibt sie im Stadium einer unbestimmten, ahnungsvollen Sehnsucht, die man nach Belieben Drang zum Höheren oder Bedürfniß des Ideals nennen mag und die unter diesem oder jenem Namen nichts Anderes ist als ein mächtiges Verlangen, aus der individuellen Vereinzeltheit herauszutreten und die Zusammengehörigkeit mit den Nebenmenschen deutlich zu fühlen. Das Band, das alle Individuen zu einer Gattung verknüpft und die Spezies selbst wieder zu einer zoologischen Einheit, zu einem Individuum höherer Ordnung macht, schlingt sich um jedes Menschenherz und wird deutlich als Solidarität empfunden. Diese Solidarität wird sich aber äußern. Jeder Mensch hat Stunden, in denen es ihm unabweisbares Bedürfnis ist, sich als Theil eines großen Ganzen zu wissen, sich zu überzeugen, daß in seinem individuellen Dasein das große Gattungsdasein mit seiner gewaltigeren Lebenskraft mitwirkt; daß seine Sonderentwickelung die winzige Episode der wuchtigen Massenentwickelung der Menschheit ist; kurz, aus dem Bewußtsein der Identität mit einem überwältigend erhabenen Organismus, der glorreich lebt, gedeiht und wächst und noch kein betrübendes Ende absehen läßt, eine unsagbar tiefe Tröstung für die Enge, Noth und Kürze der eigenen Existenz zu schöpfen. Der Mensch der Elite hat tausend Mittel, dieses Bedürfnis zu befriedigen, ohne daß er seine Studirstube oder doch mindestens seinen Salon verläßt. Die Betrachtung der menschlichen Entwickelung durch die Geschichtsepochen hindurch, die Versenkung in die großen Denker und Dichter aller Zeiten, die Erfassung der durch die Wissenschaft geoffenbarten Weltharmonie, und, wenn diese einsamen Erhebungen nicht genügen, der gesellschaftliche Verkehr mit Geistern von gleich weitem Gesichtskreise sind völlig ausreichend, um ihm den Ausblick und Austritt aus seiner individuellen Vereinzeltheit in die Großartigkeit des menschheitlichen Gesammtdaseins zu jeder Stunde weit offen zu halten. Aber der Mensch aus dem Volke, wie steht es mit ihm? Wo hat er die Gelegenheit, sich als Mensch mit allen anderen Menschen zu empfinden? Wann wird ihm bewiesen, daß er berechtigt und befähigt sei, sich über die Daseinsbedingungen des fressenden, zeugenden und vergehenden Viehs emporzuschwingen? Wann findet er im Kampfe um das tägliche Brod, in der Mühsal eines ausschließlich auf die Befriedigung gröbster Bedürfnisse gerichteten Strebens den Augenblick der Einkehr in sich selbst, des Aufschauens über sich, der Orientirung über seine Stellung in der Menschheit und in der Natur? Bisher hat der gemeine Mann die Gelegenheit zu höherem Dasein blos durch die Religion erlangt. Das Ideal war ihm nur in der Form des Glaubens zugänglich, der Sonntag bedeutete ihm nicht blos leibliche Ruhe, sondern auch Entfaltung aller Blüthen des Geistes. Die Kirche war sein Festsaal, der Priester sein höherer Umgang, Gott und die Heiligen seine vornehmen Beziehungen. Im Tempel sah er sich in einem stolzen, prächtigen Monumentalbau, der ihm doch ebenso angehörte wie die elende Hütte, die seine Alltags-Armuth beherbergt. Im Gottesdienste fand er sich Theilnehmer an einer Handlung, die nicht direkt seine Ernährung und Bekleidung, nicht ein rohes Leibesinteresse zum Gegenstande hat. Mitten unter den anderen Gläubigen fühlte er sich als gleichberechtigtes Mitglied einer großen Gemeine und die Beziehungen, die ihn mit allen Nachbarn verknüpften, verdeutlichten sich auch seinen Sinnen in den Kultusübungen, den Kniebeugungen, Bekreuzungen u. s. w., die er gemeinsam und gleichzeitig mit ihnen vornahm. Die Predigt war das einzig höhere Menschenwort, das an sein Ohr schlug und ihn doch ein wenig, wenn auch noch so wenig, aus der Dumpfheit seines gewöhnlichen rudimentären Denkens wachrief. Das war ein mächtiger Grund seines Festhaltens am Glauben und das wird ein mächtiger, ja unabschwächbarer Grund bleiben, so lange die neue Kultur dem gemeinen Manne keinen Ersatz für die Gemüthsbewegungen und bescheidenen Befriedigungen seines menschlichen Selbstbewußtseins bietet, die er in der Religion immerhin findet.
Dieser Ersatz wird geboten werden, er wird es zum Theil jetzt schon. Das Wort des Dichters und Denkers wird das des Predigers, der Theater- und Konzert- oder Versammlungssaal die Kirchenhallen überflüssig machen. Die Keime der künftigen Gestaltungen sind bereits allenthalben wahrnehmbar. In den Ländern, die politische Freiheit besitzen, sucht die ungebildete mühselige Menge in Volksversammlungen, wo ihr von den gemeinsamen Interessen des Ortes oder des Landes gesprochen wird, die Sonntagserholung und die ideale Erhebung. An Wahltagen fühlt sich dort, wo das allgemeine Stimmrecht besteht, der gemeine Mann mit noch ganz anderem Stolze als Vollmensch, denn in den gemeinsamen Kultushandlungen des Abendmahls u. s. w. In den vielerorten bestehenden Vereinen, welche Vorträge oder Vorlesungen aus poetischen Werken veranstalten, spricht ein menschlicheres und verständlicheres Wort zu der Masse, als es die Predigt ist, und man kann nur bedauern, daß diese Vereine ihre Wirkung noch nicht auf die tiefsten Schichten des Volkes üben, die solcher Anregung am meisten bedürfen. Und diese Keime werden sich entwickeln. Einer vielleicht nahen Zukunft ist es vorbehalten, eine Zivilisation zu sehen, in der die Menschen ihr Bedürfniß nach Erholung, nach Erhebung, nach gemeinsamen Emotionen und nach menschheitlicher Solidarität nicht mehr transzendental, sondern vernünftig befriedigen. Mit einem Zurückgreifen auf Uraltes, Längstvergangenes, wie es die Kulturgeschichte nicht selten verzeichnet, wird das Theater wieder wie in seinen griechischen Anfängen vor dritthalbtausend Jahren eine Kulturstätte der Menschen sein, allerdings ein Theater, das nicht von der Zote, der Gassenhauer-Melodie, dem beschränkten Gelächter, der lüsternen Halbnacktheit beherrscht sein, sondern wo man in schöner Verkörperung die Leidenschaften mit dem Willen und die Selbstsucht mit der Entsagungsfähigkeit ringen sehen und aus allen Reden wie ein ewiges Grundmotiv den Hinweis auf das Gesammtdasein der Menschheit heraushören wird. Gemeinsame Handlungen der Wohlthätigkeit werden auf die Handlungen des Kultus folgen. Und wie ganz andere Gemüthsanregungen wird der Mensch in diesen Gemeinfesten der Zukunft empfinden! Mit der klaren, verständlichen Schönheit des Dichterworts kann der Mystizismus des Predigers nicht wetteifern. An den menschlichen Leidenschaften eines edlen Dramas erbaut sich ein Geist, für den der Symbolismus einer Messe ohne Verstand und Bedeutung ist. Den Erklärungen eines Gelehrten, der die Erscheinungen der Natur auseinandersetzt, der Rede eines Politikers, der die Tagesfragen der Gemeinde und des Staates behandelt, bringt der Zuhörer ein ungleich lebendigeres und unmittelbareres Interesse entgegen, als dem schwülstigen Gewäsch eines Kanzelredners, der Mythen erzählt oder Dogmen verwässert. Die Adoption von Waisen durch die Gemeinde, die Vertheilung von Kleidern und anderen Geschenken an arme Kinder und Ehrenerweisungen an verdiente Mitbürger in festlichen Räumen, im Beisein der Bevölkerung, unter Begleitung von Gesang und Musik, unter Beobachtung würdiger, feierlicher Formen, gibt dem Theilnehmer eine ganz andere Empfindung der wechselseitigen Verpflichtungen der Bürger, der Menschen gegen einander und ihre Verknüpftheit durch ein Band der Zusammengehörigkeit, mit einem Worte der Solidarität, als gemeinsames Eintauchen schmutziger Finger in ein Weihwasserbecken oder gemeinsames Beten und Singen. So stelle ich mir die künftige Kultur vor. So wird eines Tages meiner Überzeugung nach auch der niedrigste Mensch sein Einzelleben mit dem Leben einer Gemeinde verknüpft sehen, in solchen Festen der Dichtung, der Kunst, des Gedankens, der Menschlichkeit die Enge seines individuellen Horizonts zum umfassenden Gesichtskreise des Gattungsdaseins ausweiten, so zur Anschauung höherer Entwickelungsziele gelangen und sich mit dem Menschheitsideale durchdringen. Allein bis zur Verwirklichung dieses Zukunftsbildes ist es verständlich, daß die Masse die ideale Erhebung, welche sie nirgends sonst findet, in der Religion oder vielmehr in deren Äußerlichkeiten: in der weiten Kirchenhalle, in den Festgewändern des Priesters, im Orgelklang und Gesang, in den mystischen Handlungen des Kultus sucht.
Die vorausgeschickten Entwickelungen schließen ein Mißverständniß wohl aus: das Bedürfniß der Menschen nach höheren geistigen Anregungen und einem Ideale, nach einem allzeit bereiten Troste und sogar nach der Selbsttäuschung eines ebenso mächtigen wie geheimnißvollen Schutzes in allen Nöthen ist kein geheucheltes, kein erlogenes, sondern besteht wirklich und unausrottbar und wir haben gesehen, wie dieses Bedürfniß aus geschichtlichen, physiologischen und psychologischen Gründen es nothwendig am bequemsten finden muß, seine Befriedigung im herkömmlichen Gott-, Seelen- und Unsterblichkeitsglauben zu suchen. Das Festhalten an diesen transzendentalen Grundvorstellungen ist bei den meisten Menschen keine bewußte Lüge, kein absichtlicher, höchstens ein unwillkürlicher Selbstbetrug; es ist eine ehrliche Schwäche; ein aufrichtiges Gebrechen; eine Gewohnheit, die man nicht ablegen kann; eine poetische Sentimentalität, die man pietätvoll der rücksichtslosen Vernunftanalyse entzieht. Unter der religiösen Lüge verstehe ich etwas Anderes. Ich verstehe darunter die Verehrung, welche auf der Höhe der Kultur stehende Menschen den positiven Religionen, ihren Glaubenssätzen, ihren Einrichtungen, Festen, Zeremonien, Symbolen und Priestern zollen.
Diese Verehrung ist eine Lüge und eine Heuchelei selbst bei jenen, die noch im Transzendentalismus befangen sind, wenn sie sonst den Anschauungen und der Bildung ihrer Zeit nicht völlig fremd gegenüberstehen; sie ist eine Lüge und Heuchelei, deren Ungeheuerlichkeit die Angesichter nur darum nicht mit beständiger Schamröthe bedeckt, weil man die meisten Dinge gedankenlos thut, ohne sich über ihre Bedeutung Rechenschaft abzulegen. Gewohnheitsmäßig geht man in die Kirche, grüßt man den Priester, behandelt man die Bibel mit Ehrfurcht, mechanisch nimmt man eine Miene der Sammlung und Andacht an, wenn man an Kultushandlungen theilnimmt, und man vermeidet es, sich deutlich zu vergegenwärtigen, welchen schändlichen Verrath man mit diesen Akten an all seinen Überzeugungen, an seiner Erkenntniß, an all dem, was man als Wahrheit erfaßt hat und festhält, begeht.
Die geschichtliche Forschung hat uns gelehrt, wie die Bibel entstanden ist; wir wissen, daß man mit diesem Namen eine Sammlung von Schriften bezeichnet, die an Ursprung, Charakter und Inhalt so verschieden sind, wie es nur etwa ein Buch sein könnte, das beispielsweise die Nibelungen, eine Zivilprozeßordnung, Mirabeaus Reden, Heines Gedichte und einen Leitfaden der Zoologie, fortlaufend gedruckt, stückweise durcheinander gewürfelt und in einen Band vereinigt, enthalten würde. Wir unterscheiden in diesem Wust altpalästinischen Aberglauben, dunkle Anklänge an indische und persische Fabeln, mißverstandene Nachahmungen egyptischer Lehren und Bräuche, ebenso trockene wie geschichtlich unzuverlässige Chroniken, allgemein menschliche, erotische und nationaljüdisch-patriotische Poesien, die sich selten durch Schönheiten ersten Ranges, häufig durch Überschwenglichkeit, Rohheit, schlechten Geschmack und echt morgenländische Sinnlichkeit auszeichnen. Als literarisches Denkmal ist die Bibel weit jünger als die Veden und ein Theil der Kings; an poetischem Werth steht sie hinter Allem zurück, was selbst Dichter zweiten Ranges in den letzten zwei Jahrtausenden geschaffen haben, und nun gar sie mit den höchsten Leistungen Homers, Sophokles', Dantes, Shakespeares oder Goethes vergleichen zu wollen, könnte nur einem fanatisirten Geiste einfallen, der auf den Gebrauch seiner Urteilskraft verzichtet hat; ihre Weltanschauung ist kindisch und ihre Moral, wie sie sich im alten Testament in der nachtragenden Rachsucht Gottes, im neuen in der Parabel des Arbeiters der letzten Stunde, in den Episoden Magdalenens und der Ehebrecherin, im Verhältnis Christi zu seiner Mutter ausdrückt, empörend. Und dennoch heucheln Menschen, die gebildet und urtheilsfähig genug sind, dies alles zu erkennen, unbegrenzte Ehrfurcht vor diesem alten Buche, sie nehmen Anstoß daran, daß man darüber wie über ein anderes Erzeugniß des Menschengeistes in aller Freiheit spricht, sie bilden mächtige, über ungeheuere Summen verfügende Gesellschaften, um dasselbe in Millionen von Abdrücken über die ganze Welt zu verbreiten, und geben vor, selbst erbaut und erhoben zu sein, wenn sie darin lesen.
Die Liturgien aller positiven Religionen beruhen auf Vorstellungen und Gebräuchen, die in der ältesten Barbarei Asiens und Nordafrikas ihren Ursprung haben. Der Sonnenkult der Arier, die Mystik des Buddhismus, der Isis- und Osiris-Dienst der Egypter haben in den religiösen Handlungen und Gebeten, in Festen und Opfern der Juden und Christen ihren Niederschlag abgesetzt. Und die Menschen des neunzehnten Jahrhunderts wahren eine ernste, ja feierliche Miene, während sie Kniebeugungen, Handbewegungen, Zeremonien und Sprüche wiederholen, die vor Jahrtausenden, in der Stein- und Bronzezeit, am Nil oder Ganges von armselig unentwickelten Menschen erfunden wurden, um den Vorstellungen des rohesten Heidenthums von dem Weltursprung und der Weltregierung eine sinnliche Form zu geben!
Je mehr man sich in diese unwürdige Komödie vertieft, je mehr man sich den grotesken Gegensatz zwischen der Zeitbildung und den positiven Religionen verdeutlicht, um so schwerer wird es, mit Gleichmuth über diesen Gegenstand zu sprechen. Der Widersinn ist so unmenschlich toll, so überwältigend, riesenhaft, daß das Einzelargument der detaillirenden Kritik ihm gegenüber so ohnmächtig dasteht wie etwa der beste, tadelloseste Kehrbesen gegenüber den Sandbergen der Sahara und nur das Gelächter eines Rabelais oder der zornige Tintenfaßwurf eines Luther der Aufklärung mit ihm fertig werden könnte.
Wie soll man jeden einzelnen Zug der religiösen Lüge nachweisen? Man muß sich damit begnügen, aufs Gerathewol Beispiele anzuführen. Die Diplomaten wenden Bestechungen und Drohungen an, um die Kardinäle zur Ernennung eines Papstes ihrer Wahl zu bestimmen; und nachdem die mühsamen und hartnäckigen Intriguen zu einem Ergebniß geführt haben, gestehen dieselben Diplomaten, welche die Fäden des Puppenspiels gezogen, dem Papste eine Autorität zu, die die Fiktion zur Voraussetzung hat, daß der heilige Geist ihn zum Nachfolger des heiligen Petrus ausersehen hat. Die Papstwahl wird als ernstes und bedeutendes Ereigniß behandelt von Tausenden, die mit breitem Lächeln die Erzählungen von der Einsetzung eines neuen Dalai-Lamas nach dem Tode seines Vorgängers lesen, obwol doch beide Vorgänge die größte Ähnlichkeit mit einander haben. Die Regierungen unterhalten Vertretungen bei einem Manne, dessen Bedeutung darin besteht, daß er Gott neue Heilige beigeben, den Seelen der Menschen überirdische Belohnungen zusichern und Sünder aus den Qualen posthumer Verbrennung befreien kann, und indem sie mit ihm Staatsverträge schließen, erkennen sie in der feierlichen Form von Gesetzen an, daß der Papst in der That einen besonderen Einfluß bei Gott besitzt und daß man einer Person, die dem Weltgeist so nahe steht und von ihm mit einem Theile seiner Gewalt über die Natur und die Menschheit ausgerüstet ist, Rücksichten schulde, auf die kein anderer Mensch Anspruch erheben dürfte. Und dieselben Regierungen bedenken sich nicht, Expeditionen nach Innerafrika zu senden und sich über einen schwarzen Zauberer lustig zu machen, der etwa ihren Sendlingen verbieten würde, in sein Gebiet vorzudringen, da er sie im Falle der Nichtbeachtung seines Verbots mit dem Zorn des Fetisch heimsuchen werde, dessen allmächtiger Günstling und Rathgeber er sei. Wer zeigt mir den Unterschied zwischen diesem armen Teufel von Neger und dem römischen Papste, da sie doch beide behaupten, erster Minister Gottes zu sein, dessen Donner und Blitze lenken zu können, ihm Leute zur Auszeichnung empfehlen oder zur Ungnade vorschlagen zu dürfen? Und wo ist die Logik der gebildeten Europäer, wenn sie den einen als lustige Person, den andern als eine verehrungswürdige Gewalt behandeln?
Jede einzelne Religionshandlung wird zur sträflichen Komödie und lästerlichen Satire, wenn sie der Bildungsmensch des neunzehnten Jahrhunderts übt. Er besprengt sich mit Weihwasser und drückt dadurch die Anschauung aus, daß einige Worte, welche ein Priester in Begleitung gewisser Gesten darüber gesprochen, es in seinem Wesen verändert, ihm geheimnißvolle Tugenden mitgetheilt hat, obwol die einfachste chemische Analyse ihn überzeugen kann, daß zwischen diesem und jedem andern Wasser schlechterdings kein anderer als höchstens ein Reinheits-Unterschied besteht! Man spricht Gebete, macht Kniebeugungen, nimmt an Messen und sonstigen Gottesdiensten theil und geht dadurch auf die Voraussetzung ein, daß es einen Gott gebe, der durch Anrufungen, Bewegungen, Weihrauchdüfte und Orgelklänge angenehm berührt werde, jedoch nur dann, wenn die Anrufungen in bestimmten Worten, die Bewegungen nach bestimmten Formen geschehen und wenn das Zeremoniell von Personen in bestimmter bizarrer Kleidung, in Mäntelchen und Roben von einem Schnitt und einer Farbenzusammenstellung, wie sie kein vernünftiger Mensch tragen würde, geübt wird. Die bloße Thatsache, daß eine Liturgie festgestellt und peinlich beobachtet wird, kann nur so in die Sprache des gesunden Menschenverstandes übersetzt werden: die Priester haben aus sicherer Quelle in Erfahrung gebracht, daß Gott nicht nur die Eitelkeit hat, allerlei Komplimente, Lobsprüche und Schmeicheleien hören, seine Größe, seine Weisheit, seine Güte, all seine sonstigen Eigenschaften unmäßig gerühmt wissen zu wollen, sondern daß er mit dieser Eitelkeit auch noch die Grille verbindet, all diese Lobsprüche und Komplimente nur in einer bestimmten und keiner andern Form anzunehmen. Und die Söhne des Zeitalters der Naturwissenschaft affektiren Achtung vor Liturgien und dulden nicht, daß man diese Narrenspossen mit der allein ihnen gebührenden Verachtung behandle!
Noch unerträglicher und empörender als die religiöse Lüge des Einzelnen ist die religiöse Lüge des Gemeinwesens. Der einzelne Bürger, selbst wenn er äußerlich einer positiven Religion angehört und an ihren Praktiken theilnimmt, macht oft kein Hehl daraus, daß er innerlich dem Aberglauben fremd gegenüberstehe und nicht überzeugt sei, durch das Aussprechen bestimmter Worte den Lauf der Weltgesetze ändern zu können, durch die Besprengung eines Kindes mit Wasser dasselbe dem Teufel zu entreißen und durch den Gesang und die Besprechung eines Mannes in schwarzem Talar einem todten Angehörigen den Eingang ins Paradies zu erleichtern oder wohl auch erst zu ermöglichen. Aber als Glied der Gemeinde und des Staates zögert derselbe Bürger nicht, alle Einrichtungen für nothwendig zu erklären, welche die positive Religion erfordert, und er bringt für dieselben alle materiellen und moralischen Opfer, welche die besoldeten Heger des staatlich anerkannten und aufrechterhaltenen Aberglaubens von ihm verlangen. Derselbe Staat, der Universitäten, Schulen, Bibliotheken errichtet, baut auch Kirchen; derselbe Staat, der Professoren anstellt, besoldet auch Priester; dasselbe Gesetzbuch, das die Schulpflichtigkeit der Kinder verfügt, bestraft zugleich Gotteslästerung und Verspottung oder Beleidigung anerkannter Religionen. Man vergegenwärtige sich nur recht, was all das bedeutet: Du sagst die Erde stehe fest und die Sonne drehe sich um sie, obwol man dir mit allen Mitteln der Wissenschaft unanfechtbar das Gegentheil beweist, oder du behauptest, die Erde sei erst fünftausend und etliche Jahre alt, obwol man dir Denksteine aus Ägypten und anderswoher zeigen kann, die allein um einige tausend Jahre älter sind, niemand kann dir das Geringste anhaben, man sperrt dich nicht einmal in ein Irrenhaus, man erklärt dich nicht einmal für unfähig, Ämter und Würden zu bekleiden, trotzdem du doch den auffallenden Beweis geliefert hast, daß du vollständig urtheilsunfähig bist und nicht die Geisteseigenschaften hast, die zur Besorgung der eigenen und namentlich der öffentlichen Angelegenheiten mindestens theoretisch unerläßlich sind. Du behauptest im Gegentheil, daß du an das Dasein eines Gottes nicht glaubst, daß der Gott der positiven Religionen die Ausgeburt kindischer oder gemeiner oder bis zum Blödsinn beschränkter Geister sei, und du setzest dich gerichtlicher Verfolgung aus und wirst für unfähig erklärt, Ämter und Würden zu bekleiden, obwol für das Dasein Gottes noch nie ein ernster wissenschaftlicher oder vernünftiger Beweis beigebracht wurde, obwol namentlich die angeblichen Beweise, welche selbst der gläubigste Theologe für das Dasein Gottes anführen kann, nicht entfernt so klar und zwingend sind wie die Beweise, mit denen der Archäologe und Geologe das Alter der menschlichen Zivilisation und der Erde, der Astronom die Bewegung der Erde um die Sonne darthun, und man unter allen Umständen selbst vom Standpunkt der Theologen aus weit eher zu entschuldigen ist, wenn man an Gott, als wenn man an den greifbaren Ereignissen der wissenschaftlichen Forschung zweifelt. Doch weiter: der Staat ernennt Professoren, besoldet sie aus Steuergeldern, verleiht ihnen Titel und Würden, kurz, überträgt auf sie einen Theil seiner Autorität, und diese Professoren haben den direkten Auftrag, zu lehren und zu beweisen, daß die Weltvorgänge von natürlichen Gesetzen regiert werden, daß die Physiologie keinen Unterschied zwischen den organischen Verrichtungen aller Lebewesen kenne und daß zweimal zwei vier sei; allein neben diesen Professoren der exakten Wissenschaften ernennt er auch Professoren der Theologie, welche den ebenso direkten Auftrag haben, zu lehren, und wohl nicht zu beweisen, aber zu behaupten, daß die neugeborenen Menschen mit einer Erbsünde behaftet seien, daß Gott eines Tages einem Menschen ein Buch in die Feder diktirt habe, daß bei zahlreichen Anlässen die Naturgesetze aufgehoben wurden, daß sich ein Mehlteig durch einige darüber gemurmelte Worte in Fleisch, und zwar in das Fleisch eines bestimmten, nach ihrer eigenen Behauptung vor bald zwei Jahrtausenden verstorbenen Menschen verwandeln könne und daß drei eins seien und eins drei. Wenn ein gesetzliebender Bürger der Reihe nach einen Vortrag eines staatlich ordinirten Professors der Naturwissenschaften und einen Vortrag eines mit derselben Autorität ausgerüsteten Professors der Theologie anhört, so wird er sich in einem schweren Gemüthszwiespalt befinden. Der eine hat ihm gesagt, nach dem Tode löse sich der Organismus in seine elementaren Bestandteile auf, der andere hat ihm erklärt, gewisse Personen seien nach ihrem Tode nicht nur unversehrt geblieben, sondern sogar wieder zum Leben erwacht. Und beide Lehren treten ihm unter der Autorität des Staates entgegen, beide Lehrer bezahlt er mit seinem Steuerpfennig, beide Fakultäten erklärt der Staat für gleich nothwendig, gleich berechtigt. Welchem Professor soll nun der unglückliche Bürger glauben? Dem Theologen? Dann lügt ja der Physiologe und der Staat besoldet einen Lügner und gibt ihm mit vollem Bewußtsein den Auftrag, Lügen unter die Jugend zu bringen! Oder soll er dem Physiologen glauben? Dann ist der Theologe der Lügner und der Staat begeht mit der Bestallung des Theologen dieselbe Schuld des bewußten Betrugs. Wäre es ein Wunder, wenn der loyale Bürger angesichts dieses Dilemmas etwas von seiner Achtung vor der Autorität des Staates verlieren würde?
Das ist noch lange nicht Alles. Das Gemeinwesen verfolgt durch seine Gesetze und Gerichte alte Frauen, welche Dienstmädchen Geld entlocken unter dem Vorwand, ihnen dafür das Herz ihres flatterhaften Liebhabers wieder zuzuwenden; aber dasselbe Gemeinwesen besoldet Männer und zollt ihnen öffentliche und private Achtung, welche denselben Dienstmädchen Geld entlocken unter dem nicht minder betrügerischen Vorwand, durch allerlei Hokuspokus ihre gestorbenen Verwandten aus dem Fegefeuer zu befreien. Die Sitte will, daß man Geistliche und namentlich hohe Würdenträger der Kirche, Bischöfe, Kardinäle, mit Verehrung und Untertänigkeit behandle, und dieser Sitte fügen sich Männer, welche dieselben Geistlichen für Betrüger oder Einfaltspinsel halten, die sich in nichts Wesentlichem von den Medizinmännern der Rothhäute unterscheiden, jenen Medizinmännern, welche auch eine Liturgie befolgen, Zeremonien anstellen, Gebete sprechen, sich vor ihrem Stamme als Besitzer übernatürlicher Einflüsse ausgeben und über die zu lachen dieselbe Sitte gestattet, welche den Pantoffelkuß beim Papste und den Handkuß beim Prälaten vorschreibt.
Amtliche und halbamtliche Zeitungen berichten ab und zu mit humoristischen Randbemerkungen, daß in China die Regierung einen Gott mit der Strafe der Absetzung bedrohe, wenn er gewissen Bedürfnissen des Landes nicht Rechnung trägt, wenn er beispielsweise nicht regnen läßt, den kaiserlichen Truppen keinen Sieg verleiht u. s. w. Dieselben Zeitungen aber drucken an ihrer ersten Stelle eine Regierungs-Verfügung ab, welche – wie in England nach dem Siege von Tel-el-Kebir – anordnet, an einem bestimmten Tage Gott in amtlich festgestellten Worten dafür zu danken, daß er dem betreffenden Volke bei einer gewissen Gelegenheit seinen besonderen Beistand geliehen. Was ist der wesentliche Unterschied, zwischen der Verordnung der chinesischen Regierung, die einem nationalen Gott einen Theil seiner Opfer entzieht, weil er die Verheerungen einer Epidemie zuläßt, und der Verordnung der englischen Regierung, die Gott eine öffentliche Anerkennung ausspricht, weil er die Interessen der englischen Politik in Ägypten brav wahrgenommen, sich als ein Freund der Engländer und Feind der Araber erwiesen hat? Beide Verordnungen gehen von derselben Anschauung aus; nur sind die Chinesen muthiger und folgerichtiger als die Engländer, die sich im Falle einer Niederlage nicht getrauen würden, Gott ihr Mißfallen über seine Lauheit in der Erfüllung seiner Pflichten gegen die ihn verehrende Nation auszudrücken, wie sie ihm bei einem Siege ihr Lob für seinen Eifer aussprechen.
Ich habe es oben gesagt: man kann die religiöse Lüge nicht in allen Einzelheiten nachweisen, man muß sich auf Stichproben beschränken, wenn man sich nicht tausendmal wiederholen soll. Diese Lüge durchdringt und demoralisirt unser ganzes öffentliches und privates Dasein. Der Staat lügt, wenn er Bitttage verordnet, Priester anstellt, Kirchenfürsten in sein Oberhaus beruft, die Gemeinde lügt, wenn sie Kirchen baut, der Richter lügt, wenn er Verurtheilungen wegen Gotteslästerung und Beleidigung von Religionsgenossenschaften ausspricht; der neuzeitlich gebildete Priester lügt, wenn er sich dafür bezahlen läßt, daß er Handlungen vornimmt und Worte spricht, von denen er weiß, daß sie alberner Hokuspokus sind, der aufgeklärte Bürger lügt, wenn er für den Priester Verehrung affektirt, zum Abendmahl geht, sein Kind taufen läßt. Das Hereintragen der alten, zum Theil noch urweltlichen Kultusformen in unsere Zivilisation ist eine monströse Thatsache und die Stellung, welche der Geistliche, dieses europäische Äquivalent des amerikanischen Medizinmannes und afrikanischen Almamy, unter uns einnimmt, ein so insolenter Triumph der Feigheit, Heuchelei und Geistesträgheit über die Wahrheit und Gesinnungsfestigkeit, daß er allein genügen würde, um unsere heutige Kultur als eine durch und durch verlogene, unsere staatlichen und gesellschaftlichen Lebensformen als schlechterdings unhaltbare zu charakterisiren.