Max Nordau
Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit
Max Nordau

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Die monarchistisch-aristokratische Lüge

I.

Wenn man die bestehenden Einrichtungen blos vom künstlerisch-ästhetischen Standpunkte besprechen könnte, wenn es möglich wäre, sie mit dem unpersönlichen Interesse des Prinzen Üsbeck der persischen Briefe Montesquieus zu beobachten und zu beurtheilen, der in einer fremden Welt blos Eindrücke sucht und ihren Staub von den Füßen schüttelt, nachdem er sie verlassen hat, man würde wohl nicht zögern anzuerkennen, daß die gegenwärtige Weltordnung eine geschickt gefügte, folgerichtige, im Ganzen sehr vollkommene ist. Da halten sich alle Theile, da entwickeln sich alle Glieder nothwendig aus einander; da läuft eine einzige logische Linie verknüpfend vom obersten zum untersten Ende. Als der mittelalterlich gothische Staats- und Gesellschaftsbau noch mit allen Pfeilern und Räumen aufrecht stand, muß er imposant gewesen sein und denen, die er beherbergte, ein sicherer, zugleich stolzer und behaglicher Aufenthaltsort geschienen haben. Heute ist nur noch die Façade übrig geblieben, während das ganze nützliche Bauwesen hinter ihr in Trümmer gefallen oder ganz verschwunden ist und dem Obdachsucher nicht ein einziges Gelaß mit unversehrter Decke und tauglichem Gemäuer zum Schutze gegen Regen und Wind mehr läßt; aber die Façade hat die unanfechtbaren Verhältnisse des alten Palastes bewahrt und erweckt im Geiste des Beschauers noch immer die Vorstellung eines bemerkenswerth klugen Planes. Was einst tüchtige Konstruktion war, ist heute zu einer ganz äußerlichen Dekoration ohne Tiefe geworden; aber diese Theaterdekoration ist ein architektonisches Kunstwerk, an welchem alle Einzelheiten einander streng bedingen. Man darf das Baudenkmal freilich nicht mitten im Schuttfelde stehend von der Innenseite betrachten; allein wenn man sich der Außenseite in perspektivischer Entfernung gegenüberstellt und gleichmüthig Kunstkritik an derselben übt, so wird man nicht umhin können, zu sagen: »Der Werkmeister hat seine Sache gut gemacht.«

Das Königthum hängt untrennbar mit der Religion zusammen. Es hat dieselbe in seiner gegenwärtigen geschichtlich gewordenen Form zur unerläßlichen Voraussetzung. Das Gegentheil ist nicht der Fall. Die Religion kann eine Staatseinrichtung sein, ohne gleichzeitig die Monarchie zu bedingen. Theoretisch bedarf dies keines Beweises. Praktisch wurde derselbe durch die von Jesuiten regierten Indianer- und Mestizen-Republiken Südamerikas, durch die auf religiöser Grundlage aufgebauten Vereinigten Staaten von Nordamerika u. s. w. geliefert. Die Monarchie dagegen ist ohne Gottesglauben undenkbar. Man kann sich vorstellen, daß ein starker und gewaltthätiger Mensch sich der Herrschaft in einem Lande bemächtigt und sie mit Mitteln der Klugheit oder Macht festhält; er unterwirft sich die Nation durch einen Handstreich, er stützt sich auf eine Gesellschaft eigennütziger Anhänger, die er durch materielle Vortheile, Ehren und Würden an sein Interesse kettet, und auf eine Armee, der er die erste Stelle im Staate einräumt, die er zu Siegen führt, mit Geld, Orden und Titeln überschüttet; er setzt sich nach seinem Belieben eine Kaiser- oder Königskrone auf, nennt sich Monarch, Protektor, Diktator oder Präsident. Seine Herrschaft wird geduldet, weil er die Macht hat, sich Gehorsam zu erzwingen. Es ist sogar möglich, daß die große Mehrheit des Volkes sich willig vor seinem Ehrgeiz beugt, nicht nur, weil es in der Menschennatur liegt, vom Zauber des Erfolges bis zur Begeisterung hingerissen zu werden, sondern auch, weil es für Dutzendmenschen ein Vortheil und eine Bequemlichkeit ist, das Bestehende gutzuheißen, und weil der Cäsar, wenn er ein Mann von höherer Begabung ist, ganz gut so regieren kann, daß Handel und Gewerbe blühen, die Rechtspflege rasch und zuverlässig ist und die Masse derjenigen Staatsbürger, die sich blos um ihre materiellen Interessen kümmern, dankbar ihren Mittagstisch reichlich bestellt und ihren Sparbeutel sich runden sieht. Ein solcher Usurpator könnte es wagen, aufgeklärt zu sein. Er allein verlöre nichts dabei, wenn er auf die Bundesgenossenschaft der Religion verzichtete. Aufs Schwert gelehnt, bedürfte er nicht der Stütze des Kreuzes. Er hätte die Kritik der Vernunft nicht zu scheuen, weil er deren Folgerungen seine Macht entgegenhalten könnte. Dem Logiker, der ihm sagen würde: »Da du ein Mensch bist, wie wir Übrigen auch, da wir dich nicht freiwillig zu unserm Hirten bestellt haben, so haben wir gar keinen Grund, dir einen vornehmen Platz einzuräumen und deinen Befehlen zu gehorchen,« diesem Logiker könnte der Tyrann antworten: »Dein Argument ist unanfechtbar, aber meine Armee ist es auch. Du gehorchst mir, nicht weil es vernünftig und einleuchtend ist, sondern weil ich dich dazu zwingen kann.« In dieser Lage bedarf ein Herrscher keiner Berufung auf Gott; die Berufung auf seine Faust genügt. Er kann auf Salböl und Priestersegen verzichten, da er das Pulver für sich hat, und seine Bajonette leuchten der unterwürfigen Menge mindestens ebenso ein wie der religiöse Mystizismus einer pomphaften Krönung. Aber selbst für diesen Usurpator ändern sich die Verhältnisse sofort, wenn er etwa einen Sohn hat und ihm sein Reich vererben will. Dann erbittet er sich den Schutz der Religion. Dann erinnert er sich plötzlich, daß die Kirchen im Mittelalter Asyle waren, und er flüchtet sich an den Fuß des Altars vor den Verfolgungen der Vernunft. Jetzt genügt mit einem Male die Klinge des Schwertes nicht, es muß ihr ein Kreuz als Knauf angeschmiedet werden. Die Ursprünge von Cäsars Macht liegen zu klar am Tage: sie werden durch Weihrauch umnebelt. Man löst die festen Linien der Geschichte kunstvoll in die unbestimmten Umrisse der Legende auf und der Priester bekommt den Auftrag, der vorwitzigen Frage: »Weshalb soll der schwache Sohn, der sich niemals eine Krone selbst hätte schmieden können, die seines starken Vaters erben?« die Antwort entgegenzusetzen: »Weil es Gott so will!« Das ist die Klippe, an der junge Dynastien scheitern. Unter den Blicken eines aus Söhnen des neunzehnten Jahrhunderts bestehenden Publikums will sich das Feuer der Füsillade eines Staatsstreichs nicht in die Flammen des Dornbusches Mosis verwandeln und es geht schwer in die Köpfe unserer Zeitgenossen hinein, daß ein Straßenkampf eine Offenbarung des göttlichen Willens sei. Es ist eine verlegene Arbeit, nachträglich einen Heiligenschein um die prosaischen Maueranschläge zu wirken, welche das Geburtszeugniß einer Diktatur bilden, und wenn der Erbe eines Diktators dessen Thron nicht mit dessen Machtmitteln zu behaupten vermag, so hilft es ihm schwerlich etwas, sein Recht zur Herrschaft vom Himmel abzuleiten. Die katholische Kirche hat streng verboten, jemand früher als vier Menschenalter nach seinem Tode heiligzusprechen. Man muß den Gläubigen Zeit lassen, sein alltägliches Menschenthum zu vergessen; denn es ist selbst beim besten Willen schwer, sich zu überreden, daß der Hans oder Kunz, mit dem man auf derselben Schulbank gesessen, nun Engelsflügel hat und vor dem Throne Gottes als einer der vornehmsten Solisten in den Chören der seligen Kantatensänger mitwirkt. Die Kirche war auch in diesem Punkte schlauer als jene Cäsaren, welche ihre Umwandlung in Halbgötter vor den Augen der Zeitgenossen vernehmen möchten, ohne abzuwarten, bis diese die Erinnerung an ihre krummgetretenen Stiefelabsätze und unbezahlten Rechnungen verloren haben. Es war der große politische Fehler der Bonapartes, daß sie sich nicht damit begnügten, Frankreich tatsächlich zu beherrschen, sondern sich in der Notredame-Kirche das mystische Ursprungszeugniß einer Krönung ausstellen ließen. Der 18. Brumaire und 2. Dezember machte dergleichen überflüssig. Dem Adler des Kaiserreichs durfte nicht die Taube des heiligen Geistes zugesellt werden.

Allein wenn ein Diktator der Religion nicht bedarf, so ist ein legitimer Monarch durchaus auf dieselbe angewiesen. Sie ist seine natürliche und nothwendige Voraussetzung. In der weitaus größten Mehrzahl der Fälle steht er persönlich eher unter als über der Durchschnittshöhe menschlicher Begabung. Es ist schon eine seltene Begabung, daß ein Fürst das ist, was man im gewöhnlichen Leben einen fähigen Kopf nennt, und ein über das Alltagsmaß hinausragendes Talent oder gar ein Genie auf dem Throne kommt in den geschichtlichen Dynastien in Jahrhunderten einmal vor. Unter den lebenden Herrschern zivilisirter Länder gibt es solche, die sich für Heerführer, andere, die sich für Gelehrte, Rechtskundige, Schriftsteller, Maler, Musiker halten. Sie geben sich zum Theil ernste Mühe, es in dem Fache, für welches sie Anlagen zu haben glauben, möglichst weit zu bringen, und ihre Leistungen sind gewiß die volle Summe ihres Könnens. Und was kommt bei all ihren Anstrengungen heraus? Wenn man sie nicht als Hofschranze, sondern als unabhängiger Kritiker beurtheilt, so muß man zu dem Schlusse gelangen, daß sie es ohne ihre fürstliche Geburt in den gewählten Gebieten aus eigener Kraft nie zu einer ansehnlichen Stellung gebracht hätten. Dieser Fürst, der sich auf den Soldaten hinausspielt, wäre nie ein kommandirender General geworden; jener, der mit der Rechtsgelehrtheit kokettirt, hätte schwerlich viele Prozesse gewonnen, der Astronom nicht den winzigsten Universitäts-Lehrstuhl erlangt, der Dramatiker keine Aufführung seiner Stücke erlebt, der Maler nie ein Bild verkauft. Hießen sie Mayer oder Durand oder Smith, sie würden im allgemeinen Ringen um die ersten Plätze kläglich zurückbleiben. Es ist fraglich, ob auch nur einer von ihnen seinen Lebensunterhalt mit bürgerlicher Arbeit gewinnen, eine Familie gründen und erhalten könnte. Man muß schon Zugeständnisse machen, um nur zuzugeben, daß sie sich mit ihren gegenwärtigen Gaben, doch einer andern Erziehung, als kleine Gewerbetreibende, Gewürzkrämer ohne persönliche Physiognomie, Beamte nach der Schablone oder Routine-Offiziere durchzubringen vermöchten. Einige haben wenigstens gesellschaftliche und menschliche Vorzüge. Sie sind schöne Männer. Sie wissen in der Intimität anziehend zu plaudern. Sie könnten Erbinnen den Kopf verdrehen und reiche Partien machen, was auch eine Art Talent ist. Anderen muß man selbst diese, wenn nicht bedeutenden, so doch gefälligen Eigenschaften absprechen. Sie sind häßlich, schwächlich, kränklich, zu geistesarm, um selbst die platteste Salon-Konversation zehn Minuten lang in flottem Gange zu erhalten, zu verzweifelt alltäglich, um je von einem bessern Weibe um ihrer selbst willen geliebt zu werden.

Nun denn: jeder dieser Fürsten nimmt in seinem Lande seinen Ranggenossen gegenüber ganz dieselbe Stellung ein; Friedrich der Große dieselbe wie Ferdinand VII. von Spanien, Joseph II. dieselbe wie Ferdinand von Neapel, genannt Rè Bomba, Leopold I. von Belgien dieselbe wie Ludwig XV. oder Georg IV. von England. Sie sind gleich geheiligt, gleich unantastbar gleich unfehlbar. Ihr Name leuchtet mit gleichem Glanze auf den amtlichen Urkunden, ihre Entschließungen haben die gleiche Kraft und Wirksamkeit. Alles bückt sich gleich tief vor ihnen, gibt ihnen denselben Titel Majestät, nennt sie ohne Unterschied erlaucht, großmächtig und allergnädigst. Angesichts dieses Schauspiels lehnt sich der natürliche Menschenverstand auf. Er fragt: »Du Feigling, du Unfähiger, warum gebietest du großen Heerführern und mächtigen Armeen? du unwissender Strohkopf, der du deine Muttersprache nicht orthographisch zu schreiben weißt, warum bist du oberster Schutzherr der Akademien und Universitäten? du Verbrecher, warum spendest du das Recht aus und entscheidest über Leben und Tod von Angeklagten? du unflätiges Schwein, warum bist du der Belohner von Tugend und Verdienst? du Schwächling, warum lenkst du die Geschicke eines starken Volkes und bestimmst auf viele Menschenalter hinaus die Richtung seiner Entwickelung? Warum? Warum?«

Da es eine vernünftige Antwort auf diese Frage nicht gibt, so bleibt der Monarchie nichts übrig, als zu erwidern: »Warum? Weil es Gott so angeordnet hat.« Mit dieser stereotypen Antwort kommt sie jeder indiskreten Neugierde und jeder unbequemen Kritik zuvor. Sie läßt ihrer eigenen Majestät überall die Majestät Gottes wie einen Herold vorangehen. Sie weist jedesmal, so oft sie ihre Vorrechte ausüben will, zuerst auf diese geheiligte Quelle ihrer Macht hin. »Von Gottes Gnaden« heißt es auf den Münzen; »Von Gottes Gnaden« in Gesetzen, Verträgen, Urkunden. Die Gnade Gottes ist gleichsam die Referenz, welche die Monarchie aufgibt, so oft man sich nach ihrem Kredit erkundigt. Damit aber diese Begründung der Königsmacht ausreichend sei, muß man an Gott glauben, und darum hat das Königthum schlechterdings kein dringlicheres und größeres Interesse, als im Volke mit allen Mitteln der List und Gewalt den Glauben an Gott zu erhalten. Die überzeugten Monarchisten, welche die Aufklärung mit Erbitterung bekämpfen und sie mindestens nicht von Staatswegen fördern wollen, haben tausendmal Recht. Sie sind folgerichtig, wenn sie predigen: »Das Volk muß einen Glauben haben,« folgerichtig, wenn sie sich der Gründung konfessionsloser Schulen widersetzen, folgerichtig, wenn sie die Trennung der Kirche vom Staate für gleichbedeutend mit der Untergrabung der Hauptpfeiler des Staatsbaues selbst erklären. Ihre Forderung, daß der Staat christlich sei, ist eine nothwendige Folge ihrer Anschauung. Freilich sind sie nicht ehrlich, wenn sie hinzufügen: »Denn ohne Religion hat das Volk keine Moral und der Staat, der aufhört christlich zu sein, wird eine Tummelstätte aller bösen Leidenschaften, Laster und Verbrechen.« Der richtige Nachsatz muß lauten: »Denn die Religion ist die einzige Begründung eines Erbkönigthums, denn die Aufklärung führt unaufhaltsam zur Herrschaft des Stärksten oder Fähigsten, das heißt zur Diktatur oder Republik.« Es ist nur ein Beweis mehr für die Verlogenheit unserer Zeit, daß selbst die unerschrockensten Monarchisten nicht den Muth haben, den wahren Grund zu bekennen, aus welchem sie das Volk in die Hürde der Kirche zurücktreiben wollen. Sie sollten keck heraussagen: »Wir brauchen die Religion als Schild für die Monarchie!« Das wäre tapfer. Daß sie vorgeben, die Religion im Namen der Ordnung, der Moral und des Volkswohls aufrecht zu erhalten, ist eine Feigheit.

Unser Jahrhundert hat nichts Widersinnigeres erfunden als die liberale, konstitutionelle Monarchie. Man hat da versucht, zwei politische Formen, zwei Weltanschauungen zu verschmelzen, die einander unbedingt ausschließen. Es ist ein Glück, daß die menschlichen Angelegenheiten nicht von der Logik, sondern von der Trägheit, vom Beharrungsvermögen des Bestehenden regiert werden, oder vielmehr, um in der Wahrheit zu bleiben, daß die Logik nur in längeren Zeiträumen zur Geltung gelangt, denn sonst könnte dieses irrationelle Ding, das man konstitutionelle Monarchie nennt, nicht eine Stunde lang bestehen. Wie, die Monarchie hat das Dasein Gottes zur Voraussetzung und ist von Gott selbst eingesetzt, und sie theilt ihre heilige Macht mit Sterblichen? Der Monarch läßt sich seinen Willen durch die Vertreter des Volks, also durch Menschen einschränken, und dieser Wille ist doch direkt die Verdolmetschung des Willens Gottes? Der Monarch gibt also zu, daß man den Willen Gottes einschränke? Ist denn das vor allen Dingen möglich? Und ist es nicht eine Art Auflehnung gegen Gott, eine Gotteslästerung? Und ein gottgläubiger Monarch bestimmt durch ein Grundgesetz ausdrücklich, daß eine solche Gotteslästerung gestattet sei? So stellt sich die Lage dar, aus dem Gesichtspunkte des Königthums von Gottes Gnaden angesehen. Umgekehrt, vom Standpunkte der Volkssouveränetät betrachtet, ist die konstitutionelle Monarchie ganz ebenso unvernünftig. Der Konstitutionalismus beruht auf der Voraussetzung, daß das Volk das Recht habe, seine Geschicke selbst zu bestimmen. Woher hat es dieses Recht? Von der Natur selbst. Es ist eine Form seiner Lebenskraft. Das Volk hat das Recht, sich zu regieren, weil es die Kraft dazu hat, wie das Individuum das Recht zu leben hat, weil und so lange es die Kraft dazu hat. Wenn aber dieser Ausgangspunkt richtig ist, wie gelangt man dann dazu, einen erblichen König zu dulden, dessen Wille allein so viel Gewicht hat wie der Wille des ganzen Volkes, der das Recht hat, sich dem Volkswillen zu widersetzen, wie das Volk das Recht hat, sich dem Willen des Königs zu widersetzen? Wenn das Volk kraft seiner Souveränetät den König absetzen oder das Königthum selbst abschaffen wollte, würde der König sich fügen? Wenn der König kraft seiner Souveränetät das Parlament unterdrücken wollte, würde das Volk sich dies gefallen lassen? Wenn nicht, wo bleibt dann die Souveränetät des einen oder des andern? Zwei Souveränetäten in einem Staatswesen sind ebenso unmöglich wie zwei Götter in der Natur, nämlich Götter mit den Attributen, welche die Gläubigen ihrem einzigen Gotte zuschreiben. Dem König von Gottes Gnaden muß das Volksrecht eine Leugnung der Allmacht Gottes scheinen, dem aufgeklärten Volke das Königthum von Gottes Gnaden eine Leugnung der doch so leicht nachweisbaren Nationalkraft. Das konstitutionelle Königthum ist nur zu erfassen, wenn man das Denkvermögen zum Opfer bringt. Es verhält sich zum absoluten wie der orthodoxe Protestantismus zum Katholizismus. Der Katholizismus ist konsequent, der Protestantismus willkürlich. Jener gibt seinem Oberhaupte das Recht, zu verkünden, was geglaubt werden muß, und verbietet jede Kritik dieser Anordnungen. Dieser gestattet die Kritik des Glaubens an der Hand der Bibel, untersagt aber die Kritik der Bibel selbst. Bis zur Offenbarung hat die Vernunft das Recht der freien Bewegung. Bei der Offenbarung muß sie still halten. Warum? Es gibt keinen Grund. Weil es eben so ist und nicht anders. Es ist die Vernunft mit beschränkter Zirkulation, die Kritik mit einer Stellschraube, welche das Vordringen nur bis zu einem gewissen Punkte ermöglicht. Ganz so gibt die konstitutionelle Monarchie bestimmte Prämissen zu, erlaubt aber nicht, aus ihnen die Konsequenzen zu ziehen. Sie erkennt den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Nation an, leugnet ihn aber gleichzeitig, indem sie ihr eigenes Recht als ein höheres und ursprüngliches verkündet. Sie duldet die Logik in ihrem Gefolge, aber mit ausgebrochenen Zähnen und amputirten Beinen.

Da lobe ich mir das absolutistische Königthum, umgeben von mittelalterlichen Staatseinrichtungen. Es befriedigt die Logik, es schmeichelt dem Sinne, der Ebenmaß und Einklang sucht. Man braucht nur ein einziges Vernunftopfer zu bringen, man muß nur einen Ausgangspunkt ohne Kritik annehmen, nämlich den Ausgangspunkt, daß der Monarch seine Vorrechte der besondern Gnade Gottes verdankt, dann leiten sich alle übrigen Verhältnisse der absolutistischen Monarchie mit wolthuender Folgerichtigkeit von selbst ab. Es ist dann nichts mehr gegen den obersten Rechtsgrundsatz einzuwenden, daß der König nicht fehlen könne, auch wenn er mordet, schändet, stiehlt und falsch schwört; es ist dann selbstverständlich, daß der König mit seinem Volke und Lande und jedem einzelnen Unterthan anfangen dürfe, was ihm beliebt, ohne daß ein Sterblicher das Recht hätte, ihm seine Willkür zu wehren; es ist dann einleuchtend, daß seine Person geheiligt, daß er ein verkörpertes Stück himmlischer Vorsehung sei. Wer ein direkter Bevollmächtigter Gottes ist, der hat ein unzweifelhaftes Recht auf solche übermenschliche Stellung und Macht. So ist der Bau der Monarchie von Gottes Gnaden in ihrer theoretischen Vollkommenheit, unverstümmelt durch Abbrüche, unentstellt durch stylwidrige Einbauten von Volksrechten; ein schönes Werk der menschlichen Einbildung, an dessen symmetrischen Aufrißlinien das Auge mit Befriedigung weilt. Der Unterthan, zum Gehorchen geboren, arbeitet in Frieden mit der gleichmäßigen Stetigkeit einer Maschine; wenn es ihm wohl ergeht, so mästet er sich behaglich; leidet er Hunger, so tröstet er sich damit, daß es so sein müsse und in der Weltordnung so vorgesehen sei; Sorgen braucht er sich keine zu machen, denn der König denkt für ihn und richtet seine Gegenwart und Zukunft ein, wie es am besten ist. Und steigt einmal in ihm ein quälender Zweifel daran auf, daß Alles zum Besten bestellt sei in dieser besten aller Welten, so ist die Kirche da und beruhigt ihn mit der Versicherung, daß auch das scheinbar Unbefriedigende geradeswegs von Gottes Rathschluß herstamme, der doch wissen müsse, was recht, und daß er es nur seiner eigenen Kurzsichtigkeit und Beschränktheit zuzuschreiben habe, wenn er die Vortrefflichkeit alles Bestehenden nicht einzusehen vermöge. Die Monarchie und Religion stehen da als verschworene Spießgesellen zu einander und fechten treulich gegenseitig ihre Sträuße aus. Der König schickt das Volk in die Kirche und der Priester predigt ihm, vor dem Palaste niederzuknieen. Der König psalmodirt: »Es gibt einen Gott, und wer nicht an ihn glaubt, für den besolde ich Kerkermeister und Henker;« der Priester antwortet mit der Gegenstrophe: »Der König ist von Gott selbst eingesetzt, und wer dies nicht glaubt, der hat, von irdischen Strafen nicht zu sprechen, seine Seligkeit verwirkt.« Der König versichert, daß der Priester nicht lügt, und der Priester bestätigt, daß der König sich nichts anmaßt. Nun wird aber durch zweier Zeugen Mund allerwärts die Wahrheit kund und auf den schlichten Geist des Volkes muß eine Aussage um so tiefern Eindruck machen, wenn von den übereinstimmenden Zeugen der eine einen Purpurmantel und eine Krone auf dem Haupte, der andere goldgestickte Kleider und ein edelsteinbesetztes Kreuz auf der Brust trägt. Vor einem Landgerichte würde freilich die gegenseitige Zeugenschaft zweier Interessen-Verbündeter nichts gelten, vor den Völkern aber gilt sie seit so und so viel tausend Jahren.

II.

Ich mache hier nicht der Monarchie den Prozeß, um sie zu Gunsten der Republik sachfällig zu erklären. Ich bin sogar weit entfernt, für die Republik mit der Naivität jenes marktläufigen Liberalismus zu schwärmen, der sich am Klang eines Wortes entzückt, ohne nach dessen Sinne zu fragen. Für viele sogenannte Freisinnige ist die Republik ein erstes Ziel des Strebens, für mich ist es ein letztes. Die Republik, wenn sie ein Fortschritt und eine Wahrheit sein soll, hat eine ganze Reihe von gesellschaftlichen, wirthschaftlichen und politischen Einrichtungen zur nothwendigen Voraussetzung, die von den bestehenden völlig verschieden sind. So lange das alte Europa in seinen gegenwärtigen Kulturformen lebt, ist die Republik ein Widersinn und ein unwürdiges Spiel mit einem Namen. Eine rein politische Umwälzung, die eine der europäischen Monarchien in eine Republik umwandelt, thut ganz dasselbe, wie die Heidenapostel des frühen Mittelalters thaten, als sie den zu bekehrenden Völkern ihre Götter, Feste und Gebräuche ließen und denselben nur christliche Namen gaben. Die ganze Thätigkeit solcher Revolutionen beschränkt sich darauf, alte unverkäuflich gewordene Waaren mit neuen Etiketten zu bekleben und dem leichtgläubigen Volke als ein anderes und besseres Erzeugniß anzuhängen. Die Republik ist das Endglied einer langen Kette von Entwickelungen: sie ist die staatsrechtliche Form, in welcher der Gedanke des unbeschränkten Selbstbestimmungsrechts der Volksgesammtheit zur Anschauung gelangt. Mit dieser Form, wenn sie organisch bedingt und nicht bloß äußerlich aufgeklebt und angepinselt sein soll, sind erbliche Vorrechte und Auszeichnungen, ist der überwiegende Einfluß des Großkapitals, die Macht der Beamtenhierarchie, jede Bevormundung der breiten Massen des Volks unvereinbar. Das Staatswesen jedoch zu lassen wie es ist und nur seine Bezeichnung von Monarchie in Republik zu ändern, ist einfach ein politisches Seitenstück zum bekannten Kniff der Buchhändler, die in zensurbehaftete Länder verbotene Bücher einschmuggeln, indem sie deren erstes Blatt mit dem auf der Polizeiliste stehenden Titel wegschneiden und durch das harmlose Titelblatt einer Jugendgeschichte oder eines Gebetbuchs ersetzen. Was waren die italienischen Republiken von 1848, was war die spanische Republik von 1868, was ist die französische von 1870 anders als Monarchien mit erledigtem Thron, Monarchien, die sich die Kurzweil einer republikanischen Maskerade gönnen? Man denke sich eine Karnevalsgesellschaft von Edelleuten, die eine Bauernhochzeit oder ein Zigeunerlager darstellen. Ihre Tracht und Geräthe, ihr Thun und Reden sind die des niedern Volks, dessen Erscheinung sie nachahmen, aber sie bleiben darum doch die Frau Fürstin und der Herr Graf, und wirkliches Volk, das etwa von den Galerien des Ballsaals zuschauen dürfte, würde den Mummenschanz gewiß nicht als ein thatsächliches Verschwinden der Standesunterschiede auffassen. Dasselbe Volk aber glaubt merkwürdigerweise, daß etwas Wesentliches sich vor seinen Augen ereignet, wenn in einem politischen Schönbartfeste eine Monarchie sich als Republik verkleidet und demokratische Tänze mit feinem Anstande ausführt!

Eine einzige Revolution hat begriffen, daß es nicht genüge, den König aus dem Staatsbau hinauszujagen und dessen Aufschrift zu ändern, um eine Republik aus ihm zu machen. Das war die große Revolution Frankreichs. Sie zerstörte mit dem Königthum zugleich alle Einrichtungen der alten Monarchie. Wie nach dem Tode eines Pestbehafteten begnügte sie sich nicht damit, den Leichnam aus der Wohnstätte der Lebendigen fortzuschaffen, sondern sie verbrannte auch die Kleider und Geräthe des Verstorbenen. Die französische Revolution grub die Monarchie mit allen ihren Wurzeln aus und wandte die Schollen des geschichtlichen Grundes um, welchem sie entwachsen war. Sie hob den Adel auf, vernichtete, so weit es möglich war, die Urkunden, aus denen derselbe seine Vorrechte ableitete, riß dessen Schlösser nieder, verfolgte selbst die Überlebsel, welche die feudalen Standesunterschiede im Sprachgebrauche zurückgelassen haben, indem sie die an Gewohnheiten der Herrschaft und Unterthänigkeit erinnernde gesellschaftliche Ansprache, das »Herr« der höflichen Rede, unterdrückte. Sie that noch mehr. Sie suchte die ganze Gedankenwelt des Volks zu erneuern. Keine einzige Umrißlinie seines geistigen Gesichtskreises sollte unverändert bleiben. Sie wollte sogar verhindern, daß die alten Vorstellungen, welche man durch das Hauptthor des Staatsgesetzes ausgetrieben hatte, durch das Hinterpförtchen der bequemen und denkfaulen Gewohnheit wieder einziehen. Sie schuf also eine neue Religion, erfand einen neuen Kalender, in welchem alles: Jahresbeginn, Zeitrechnung, Monats- und Tagesnamen von der alten Eintheilung abwich, ordnete neue Feste an, schrieb neue Trachten vor – kurz, sie baute eine neue Welt auf, in der nicht einmal eine Erinnerung an die vorausgegangene geschichtliche Entwickelung Platz fand – und doch, was half das alles? Kleider und Sprache konnten geändert werden, aber das Gehirn der Menschen vermochte die französische Revolution nicht umzukneten. Das in Ägypten geborene Geschlecht war unfähig, Kanaan zu besiedeln. Die jahrhundertelange Gewöhnung hatte größere Gewalt über die Franzosen, als selbst das Gesetz, das die Guillotine zur Klausel hatte. Die Dubarry, als sie das Blutgerüst betrat, sagte zum Bürger Sanson: »Verzeihung, Herr Henker,« unmittelbar nach dem Ende der Schreckensherrschaft gestand man den millionengechwollenen Räubern und Dieben, die sich durch gaunerische Lieferungen an den Staat oder den Schacher mit den Gütern der Ausgewanderten schamlos bereichert hatten, den Vorrang zu, den in der alten Gesellschaft der Geburtsadel eingenommen, so daß Napoleon später diesen Emporkömmlingen nur noch Titel zu schenken brauchte, um sie zu einer regelrechten Aristokratie nach dem Muster der zerstörten zu gestalten und kaum hatte das Erdbeben der Revolution ausgeschwankt, als auch schon der mittelalterliche Gesellschaftsbau wieder aufrecht stand, zum Theil mit anderen Steinen und Balken, jedoch genau nach dem alten Grund und Aufriß.

Es ist eben unnütz, ein Stück der alten Weltordnung zu zerstören und den Rest übrig zu lassen. Es war ein zweckloses Verbrechen, dem einfältigen Ludwig XVI. den Kopf abzuschneiden, wenn das französische Volk dennoch fortfahren sollte, auf dem Boden seiner alten Weltanschauung zu stehen, an ein höchstes Wesen und eine übersinnliche Vorsehung zu glauben, die Bibel zu verehren, Todtenkult zu treiben u. s. w. Eine ausschließlich politische Umwälzung, welche nur die Regierungsform ändert, die gesellschaftlichen, wirthschaftlichen und philosophischen Voraussetzungen jedoch, aus welchen die Monarchie logisch hervorgeht, unberührt läßt, hat weder Folgerichtigkeit noch innere Berechtigung. Sie ist eine rohe, rein äußerliche Störung, nicht anders als es etwa die Verfügungen eines wahnsinnigen Tyrannen wie Iwan der Schreckliche wären, wenn man sich eine solche Erscheinung auf dem Throne in unserer Zeit denken könnte. Die Logik der Thatsachen lehnt sich gegen sie auf und gestattet ihr nur eine kurze Dauer. Im Volksorganismus wiederholt sich die bekannte Erscheinung, welche man bei Verstümmelten so oft beobachtet. Wie ein Individuum, dem ein Bein abgesetzt worden ist, in der fehlenden Gliedmaße Schmerz empfindet, so hatte eine Gesellschaft in ihrer heutigen Beschaffenheit, wenn man ihr das Königthum amputirt und durch eine hölzerne republikanische Krücke ersetzt hat, nach wie vor monarchisches Zucken und Jucken. Ja in diesem Punkte gleicht die Gesellschaft nicht einmal einem Menschen, sondern jenen niedrigen Organismen, denen abgeschnittene Theile nachwachsen; es lebt in ihr ein Drang, das fehlende Organ, ohne daß sie sich nicht vollständig fühlt, das nach dem ihr innewohnenden Bildungsgesetze zu ihrer planmäßigen Gänze unerläßlich ist, neu hervorzubringen.

Ich nehme also keineswegs an dem entweder heuchlerischen oder einfältigen Lippendienste jener seltsamen Freisinnigen theil, die vor dem bloßen Worte »Republik« die Kniee beugen und Hosiannah singen. Diese Religion, deren Gott ein leerer Name ist, sie ist nicht die meine. Damit die Republik die nothwendige äußere Form der inneren organischen Staatseinrichtungen sei, muß das Volk, daß sich in diese Form hineinkristallisiren will, auf dem Boden der naturwissenschaftlichen Weltanschauung stehen und allen mittelalterlichen Schutt, den Transzendentalismus, die erblichen Standesunterschiede, den Kapitalismus aus sich ausgeschieden haben. Eine Republik mit staatlich anerkannten Religionen, den transzendentalen Eidesformeln, mit Gesetzen, welche Gotteslästerung bestrafen, mit erblichem Adel und Geburtsvorrechten, mit vorwiegendem Einfluß des ererbten Besitzes ist kein Fortschritt für die Menschheit und hat nichts Wesentliches vor der Monarchie voraus, ja sie steht hinter dieser zurück, insofern sie nicht einmal die Logik und Ästhetik befriedigt, wie es der geschichtlich gewordene, einheitliche, in sich geschlossene Bau der absoluten Monarchie wohl zu thun vermag.

Aus diesen Darlegungen geht hervor, daß ich die historische und logische Berechtigung der Monarchie verstehe und zugebe. Jawohl, ein Volk, das glaubt, die Welt sei von einem persönlichen Gotte regiert und die Bibel sei der authentische Ausdruck seiner Meinungen und die Priester seien die von ihm selbst eingesetzten Deuter des Wortes, hat Recht am Königthum zu hängen, denn der über den Gesetzen stehende König, der unverantwortlich nach eigenem Rathschluß und mit einer keinen Widerstand duldenden Gewalt die Geschicke des Staates lenkt, ist ein getreues Abbild Gottes, seiner Stellung im Weltall, seiner Aufgabe und der Art seines Handelns, die Bibel erklärt ihn als von Gott eingesetzt und die Priester bestätigen, daß es mit seiner übermenschlichen Macht und dem unbedingten Gehorsam, den ihm die Unterthanen schulden, seine Richtigkeit habe. Und ein Volk, welches nichts Unnatürliches darin sieht, daß man als Besitzer von Millionen und Adelstiteln geboren wird und auf diese Weise die sichere Anwartschaft auf Ehren, Macht und Genüsse ganz so wie die Haut oder Kopfhaare als Bestandtheile des Individuums mit auf die Welt bringt, ist folgerichtig, wenn es monarchisch ist, denn daß ein einzelnes Menschenkind mit dem Rechte, über ein ganzes Land zu herrschen, im Magen oder im Kopfe oder wo immer der anatomische Sitz dieses wunderbaren Rechtes sein mag, zur Welt kommt, ist ebenso vernünftig und nicht schwerer zu begreifen, als daß einige hundert Menschenkinder mit einem ihnen gleichsam angewachsenen organischen Rechte auf Reichthum und Vorrang vor Millionen geboren werden. Als abstrakte Konzeption kann die Monarchie aus der theologischen Weltanschauung heraus leicht und mit Siegesgewißheit vertheidigt werden und wer diese Weltanschauung theilt, für den ist jene durchaus keine Lüge. Allein eine Lüge ist die Monarchie zunächst all denen, welche die Welt naturwissenschaftlich auffassen, und zur Lüge wird sie, wenn auch nicht grundsätzlich, so doch in ihrer thatsächlichen Erscheinung und ihrem praktischen Getriebe selbst den Gläubigen, die von ihrem göttlichen Ursprung überzeugt sind. Denn das ist ja die Tragik unserer zeitgenössischen Kultur, daß die alten Institutionen nicht mehr den Muth und das Selbstvertrauen haben, sich in ihrer allein logischen geschichtlichen Form schroff und unabänderlich vor die Menschen hinzustellen und ihnen den Jesuitenspruch zu wiederholen: »Sein wie wir sind oder nicht sein!« Sie streben einen unmöglichen Ausgleich zwischen ihren Voraussetzungen und den Überzeugungen der Neuzeit an, sie machen den letzteren Zugeständnisse, sie lassen sich von geistigen Elementen durchdringen, die ihrem Wesen fremd sind und es zersetzen; die Neuerungen, zu denen sie sich bequemen, sind eine direkte Leugnung der alten Bestandtheile und so gleichen sie einem Buche, das auf derselben Seite eine alte Fabel als Text und deren Kritik, Widerlegung und Verspottung als Randglosse und Fußnote vereinigen würde. In dieser Form werden die sich selbst negirenden und parodierenden Einrichtungen den Aufgeklärten zum Gespött und selbst den Zurückgebliebenen eine Quelle des Ärgernisses und peinlichen Zweifels.

Das Königthum hat sich geschichtlich aus verschiedenen Wurzeln entwickelt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Menschen schon bei ihrem frühesten Erscheinen auf der Erde gesellige Wesen waren und truppweise lebten wie noch heute die Affen und zahlreiche andere Herdenthiere. Jede Bande hatte wohl ein Oberhaupt, das sie führte und vertheidigte und ohne Zweifel das stärkste Männchen war. In der Morgendämmerung der Gesittung, deren Abglanz auf den ältesten Schriften der Bibel, den Veden und den heiligen Büchern der Chinesen ruht, ist die Familie die Grundlage der Gesellschaft und der Stammvater der natürliche Herrscher, Richter und Berather seiner Angehörigen. Die Menschen vermehren sich, die Familien wachsen ansehnlich und erweitern sich zu Stämmen. Aus dem Familienvater wird der Stammeshäuptling, dessen Autorität wohl noch zum Theil auf der Fiktion beruht, daß sämmtliche Stammesmitglieder aus seinem Blute hervorgegangen sind – eine Fiktion, welche bis in die neuere Zeit die Grundlage der schottischen Clanverfassung geblieben ist – zum andern Theil aber auf den greifbareren und sicheren Stützen, auf welchen die Gewalt des Leitthieres einer Herde steht: nämlich auf seiner vorwiegenden Macht, die durch größere Leibesstärke, Klugheit oder Reichthum an Herden, Weiden, Geräthen und Knechten bedingt sein kann. In dieser Phase ist der Abstand zwischen dem Herrscher und Beherrschten noch gering und die Quellen der Macht des ersten liegen allgemein verständlich zu Tage. Der Sohn gehorcht dem Vater aus Liebe und Ehrfurcht, der Schwache dem Starken aus Furcht, der Arme dem Reichen in der Hoffnung auf Vortheile. Ein Erbrecht auf Herrschaft wird kaum anerkannt. Der thatsächliche Besitz der Machtmittel reicht auch zur theoretischen und moralischen Rechtfertigung der Machtansprüche aus. Noch komplizirt kein übernatürliches Element diese einfachen Verhältnisse, in welchen der Häuptling befiehlt, weil er kann, und der Stamm gehorcht, weil er will oder weil er muß. Allein in dem Maße, in welchem die Kultur fortschreitet, erwacht im Häuptling das Bedürfniß, seinem natürlichen Ansehen das Grauen des Überirdischen anzufügen. Seine überwiegende Klugheit, sein Reichthum, seine Leibesstärke scheinen ihm nicht mehr ausreichend, um ihm den Besitz der Macht zu sichern und ihn gegen den Neid und Ehrgeiz von Nebenbuhlern zu schützen, und er macht die Götter zu seinen geheimnißvollen und darum doppelt furchtbaren Bundesgenossen. Er wirft sich zum Oberpriester der Stammesreligion auf, stellt unsichtbare Schreckgeister in seinen Dienst und entwickelt den Aberglauben zur stärksten Wurzel seiner Gewalt. Das ist die Lage der Dinge bei allen Völkern in dem Augenblicke, in welchem sie in das Tageslicht der Geschichte treten. Das Königsgeschlecht rühmt sich, in gerader Linie von den Göttern abzustammen. Die Pharaonen, die Inkas sind die Söhne der Sonne. Die germanischen Heerkönige gehen aus den Lenden Thors hervor. Die Maharadschas Indiens sind einem Avater Wischnus entsprossen. Das Volk sieht im Herrscher ein geheiligtes Wesen und schreibt ihm übernatürliche Eigenschaften zu. Im Orient darf man ihm nicht ins Antlitz blicken, wenn man nicht auf der Stelle mit Blindheit geschlagen werden will. Die Könige von England und von Frankreich besitzen die Gabe, durch die Auflegung ihrer Hand Fallsucht, Veitstanz und eiternde Schwären zu heilen. Wer sich an der Person des Königs vergreift, der ruft den ewigen Zorn der Götter auf sich, seine Familie, sein Volk herab. Neben seinen menschlichen Söldlingen hat der König alle Götter und Heiligen des Himmels zu Wächtern seines Throns, »sechstausend zur Rechten, sechstausend zur Linken«, wie Heine singt. Nun ist der Abstand zwischen dem Könige und dem Volke bereits ein ungeheurer. Er ist nicht mehr einfach der erste unter seines Gleichen, der Vater seines Stammes, sondern ein Wesen von anderer Beschaffenheit wie die Unterthanen, das außerhalb der Natur steht und auf das sich die Geltung der allgemeinen Lebensgesetze nicht erstreckt. Zwischen dem Könige und dem Volke schlingt sich keinerlei menschliche Beziehung mehr; er ist unnahbar; er wandelt wohl unter den Sterblichen, aber wie ein verkleideter Gott, und hat mit den Menschen, die um ihn wimmeln, nichts gemein. Der Himmel kann nach seinem unerforschlichen Rathschlusse zugeben, daß er den Thron verliere; der Himmel kann einem Niedriggeborenen erlauben, die Krone aufs eigene Haupt zu setzen. Allein auch vom Throne gestürzt sinkt der legitime König nicht in die gemeine Menschheit zurück und selbst mit der Krone geschmückt hat der Usurpator nicht die Weihe der Göttlichkeit. Jener bleibt die erdentrückte Majestät, dieser der Plebejer vom Fleisch und Blut des Volks, der früher oder später wieder in die namenlose Masse aufgehen muß wie ein Eiskristall im chemisch gleichartigen Wasser, während jener stets sein Sonderdasein bewahrt wie ein Diamant in allen Flüssigkeiten.

Seltsame Paradoxie der menschlichen Kultur-Entwickelung! Das Königthum, das sich aus der Nacht der urweltlichen Barbarei bis in unsere Zeit herüber zu retten vermochte, hat von seinen verschiedenen Rechtstiteln die, welche vor der Vernunft bestehen können, als überflüssig aufgegeben und gerade nur diejenigen bewahrt, die vor dem ersten Sonnenstrahl der vernünftigen Kritik sich spurlos verflüchtigen. Die heutige Monarchie leitet ihre Berechtigung nicht mehr von ihrer thatsächlichen Macht ab, sondern von ihrem göttlichen Ursprunge. Sie befiehlt nicht mehr im Namen ihrer Armee, sondern mit Berufung auf die Gnade Gottes. Ein Heer, das bereit ist, das Gebot des Königs auszuführen, ist auch in unseren Tagen ein unwiderstehliches Argument. Dieses Argument verschmäht die Monarchie. Die Behauptung, daß Gott dem König das Anstellungspatent ausgestellt habe, scheint heute selbst einer Kaffeeschwester ein Märchen zum Lachen. Dieses Märchen erzählt die Monarchie mit einem Ernste, dem Gendarmen Nachdruck verleihen.

Im Alterthum, im Mittelalter, zu einer Zeit, da es keine Geschichtswissenschaft gab und die Kritik den Überlieferungen und Quellen unbekannt war, hatte bei der herrschenden Geistesdämmerung der Heiligenschein der Göttlichkeit um das Haupt des Königs eine begreifliche Leuchtkraft, wenigstens in den Augen des Volkes. Das Nationalgedächtniß reichte kaum über ein Menschenalter hinaus. Das Dunkel der Vergangenheit war undurchdringlich und verschlang rasch die Ursprünge aller Dinge. Wer erinnerte sich an die Anfänge der Dynastie? Es fiel niemand schwer, den Sängern zu glauben, welche die Herrscher von einer um so höheren Gottheit abstammen ließen, je freigebiger sie diese genealogische Dichtung belohnten. Allein in unseren Tagen der quellenmäßigen Geschichtsforschung haben Balladen und Fabeln keine Geltung. Wir kennen recht genau die frühesten und späteren Geschicke der europäischen Herrscherhäuser, welche heute die klassischen Vertreter des Legitismus von Gottes Gnaden sind. Bei den Bourbonen, dem ältesten und geheiligtsten Königsgeschlecht Europas, haben wir die Wahl, in ihrem ersten Ahn mit der zweifelhaften Geschichte einen rebellischen Großgrundbesitzer Hugo Capet oder mit der nicht unglaublichen Volkstradition den Pariser Metzgerknecht Robert Le Fort zu sehen. Die Habsburger, von denen übrigens schwerlich ein Blutstropfen in den Adern der Familie fließt, die gegenwärtig Österreich beherrscht, sind die Nachkommen eines armen fränkischen Edelmannes, der so etwas wie besoldeter Klopffechter oder Polizeimeister im Dienste verschiedener Herren, bald eines Bischofs, bald einer Stadt war. Von den Romanows sprechen wir besser nicht. Unleserliche Texte kann der Geschichtsforscher manchmal entziffern. Aber zur Lösung des Problems, wer der Vater eines Sohnes der Kaiserin Katharina II. gewesen sei, dürfte die Methode selbst des scharfsinnigsten Historikers schwerlich ausreichen. Die Hohenzollern haben wenigstens einen reinlichen Geburtsschein, der sich sehen lassen kann. Sie stammen von armen, aber ehrlichen Eltern ab. Die Burggrafen von Nürnberg waren zweifellos ganz tüchtige kleine Beamte des heiligen römischen Reichs und bei ihrer Beförderung zu Großmeistern des deutschen Ritterordens, zu Markgrafen von Brandenburg, zu Kurfürsten, Königen und Kaisern ist es durchaus mit rechten Dingen zugegangen. Man kennt das Datum jeder einzelnen Vorrückung und weiß, daß dieselben Menschenwerk waren und daß zu ihrer Erklärung keine Dazwischenkunft des Übernatürlichen erforderlich ist. Die englische Dynastie gibt ein überraschendes Beispiel der abenteuerlichen Wanderungen, welche das Blut, der Träger der Legitimität, durch ein Dutzend und mehr verschiedener Familien unternehmen kann, ohne etwas von seinem Vorrecht der Herrschaft zu verlieren. Die grillenhafte Zickzacklinie, welche die legitime Abstammung vom Herzog der Normandie bis zum Herzog von Sachsen-Koburg-Gotha beschreibt und die zu verfolgen so mühsam ist, scheint höchstens zu beweisen, daß ein gutes Princip, ganz so wie ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges stets bewußt ist.

Wo bleibt nun in der Geschichte all dieser Familien der Platz für die Intervention Gottes, von dessen Gnade sie ihre Herrscherrechte ableiten? In welchem Augenblicke sind sie dieser Gnade theilhaft geworden? Etwa als Wilhelm der Eroberer bei Hastings Harald den Sachsenkönig besiegte? Oder als Hugo Capet sich gegen seinen rechtmäßigen Herrn aus karolingischem Stamme auflehnte, wie Pipin es einst gegen seinen merovingischen Herrn gethan hatte? Oder als Rudolf der Habsburger seinen Wettbewerber Ottokar von Böhmen schlug? Und wenn die drei Gründer von legitimen Dynastien in ihren Unternehmen den Kürzeren gezogen hätten? Wenn Wilhelm über den Ärmelkanal zurückgeworfen und Hugo als Rebell aufgehängt und Rudolf auf dem Marchfeld todtgeschlagen worden wäre? Wie hätte es dann mit der Gnade Gottes ausgesehen? Wären dann die waghalsigen Persönlichkeiten nicht Ahnen geheiligter Herrscherhäuser, sondern gemeine Räuber, Abenteurer und Aufrührer gewesen? Oder ist es der Erfolg, der entscheidet? Erkennt man die Gnade Gottes eben daran, daß es einer Persönlichkeit gelingt, sich der Herrschaft zu bemächtigen, und wird dieselbe in dem Augenblicke legitim, in welchem sie sich in den Besitz der höchsten Gewalt zu setzen versteht? Das läßt sich hören. Die Volksweisheit glaubt: wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Es ist nicht unlogisch, daß derselbe Gott nach demselben Vorgange dem, welchem er einen Thron gegeben hat, auch Legitimität gibt. Aber in diesem Falle ist ja auch jeder Revolutionär legitim, wenn sein Anschlag gelingt? Cromwell ist dann ein so legitimes Staats-Oberhaupt wie Karl I., dem er den Kopf abschlagen ließ, Barras, Bonaparte so legitim wie Ludwig XVI., dem derselbe Unfall widerfuhr, Ludwig Philipp so legitim wie Karl X. und Napoleon III. so legitim wie Ludwig Philipp? Die Monarchisten haben dann überhaupt nicht das Recht, sich der Autorität eines Staatsoberhaupts zu widersetzen oder selbst nur damit zu schmollen, sobald dasselbe thatsächlich den Platz eines solchen einnimmt; sie müssen dann von ihrem Standpunkte aus erkennen, daß Rienzi, Masaniello, Mazzini, Kossuth, Hecker von Gottes Gnaden Staatsoberhäupter gewesen wären, wenn eben ihre Wagnisse den Erfolg für sich gehabt hätten; ja noch mehr, der Holzspalter Lincoln, der Schneider Johnson, der Advokat Grevy müssen ihnen ganz so geheiligte Persönlichkeiten sein wie ein Wilhelm von der Normandie, ein Hugo Capet, ein Rudolf von Habsburg, denn den Erfolg und den thatsächlichen Machtbesitz haben sie ganz so für sich wie die letzteren! Der Standpunkt der Monarchisten ist dann genau derjenige der Frösche in der Fabel, die mit gleicher Unterwürfigkeit jedem Könige zu gehorsamen haben, den Zeus über sie setzt, ob er nun ein Holzpflock oder ein Kranich ist! Wenn der Erfolg der Beweis von Gottes Gnade sein soll, dann ist er auch die einzige Quelle der Legitimität und die Monarchisten müßten vernünftigerweise jedem Staatsoberhaupt: dem fremden Eroberer, dem Präsidenten der Republik, dem Verüber des Staatsstreichs, mit einem Worte jedem, der den Erfolg für sich hat, die Legitimität zuerkennen.

Oder hat diese Quelle der Legitimität nur in früheren Zeiten geströmt und ist jetzt versiegt? Waren Gewalt, Empörung, Lehenseidbruch und Wahlintrigue nur in vergangenen Tagen die Form, in der Gottes Gnade auf ein Menschenhaupt herniederstieg, und haben sich die Beziehungen zwischen dem Himmel und den Herrscherpalästen in der Folge geändert? Dann wäre es von der größten Wichtigkeit, zu wissen, in welchem Augenblicke diese Änderung eingetreten ist. Die Monarchisten schulden uns in diesem Falle die genaue Angabe des Jahres, des Monats und Tages eines so bedeutungsschweren Ereignisses. Denn in ganz naher Vergangenheit haben sich in Schweden und Norwegen, in Belgien, in Serbien, Rumänien, Griechenland und der Bulgarei Dynastien häuslich eingerichtet; diese Dynastien berufen sich gleichfalls auf die Gnade Gottes; ihre Völker gestehen ihnen Herrscherrechte zu; die jahrhundertealten Dynastien behandeln sie als ihres Gleichen; da ist es denn nicht gleichgiltig, einen Aufschluß darüber zu erhalten, ob diese neuen Könige auch durch die Gnade Gottes solche geworden sind oder ob sie mit dieser Gnade nur flunkern, ob sie, Snobs auf dem Throne, sich einer hohen Beziehung rühmen, die sie nicht besitzen. Sind Bernadottes, Koburger, Obrenoviche u. s. w. Könige von Gottes Gnaden, dann ist der Beweis erbracht, daß die Gnade Gottes auch heute noch wie zur Zeit der mittelalterlichen Usurpationen sich beeilt, zur Macht das Recht hinzuzufügen, und in diesem Falle müssen die Monarchisten zugeben, daß ein beliebiger Sozialdemokrat, wenn es ihm gelänge, sich durch eine Umwälzung an die Spitze des deutschen Reichs zu stellen, Staatsoberhaupt von Gottes Gnaden und zur Herrschaft ebenso berechtigt, persönlich ebenso geheiligt, im Besitze einer ebenso legitimen Autorität wäre wie gegenwärtig der deutsche Kaiser. Oder das Argument ist richtig, daß seit dem Mittelalter die Gnade Gottes, die Monarchenmacht, erschöpft ist wie ein Acker, auf dem Raubbau getrieben wurde, dann sind jene Könige aus jungen Herrscherhäusern nichts Anderes als Schwindler, die durch falsche Vorspiegelungen Vortheile zu erlangen suchen, ein Vorgehen, worüber in einem Artikel des Strafgesetzbuchs nähere Auskunft ertheilt wird, dann ist es eine unfaßbare Anmaßung von ihnen, daß sie von ihren Völkern Untertänigkeit verlangen, und die Monarchen aus alten Dynastien begehen eine schwerzubegreifende Unvorsichtigkeit, wenn sie die Giltigkeit des Rechtstitels derselben zugeben und sie als gleichberechtigte Genossen anerkennen.

Ich höre einen letzten Einwand der Monarchisten gegen meine Argumentation. Dieser Einwand ist nicht etwa der, auf welchen ein logischer Geist verfallen würde, daß nämlich die neuen Dynastien ihre Herrscherrechte vom Willen des Volkes herleiten, welches ihnen diese Rechte freiwillig zugestanden hat. Der Wille des Volkes darf beileibe nicht als Quelle dynastischer Rechte anerkannt werden; denn wenn dieser Wille einen König machen kann, so kann er auch einen König stürzen und die Republik ausrufen, und das wird doch ein Monarchist nicht zugeben! Nein, der Einwand ist ein anderer: die Männer, welche in unserer Zeit neue Dynastien begründet haben, sind Sprossen alter Herrscherhäuser, in welchen das Regieren seit Jahrhunderten endemisch ist; sie sind mit einer latenten erblichen Legitimität geboren, die nur einer günstigen Gelegenheit harrte, um in einer sichtbaren Krone zum Ausbruch zu gelangen. Das kann nun zwar weder von den Bernadottes noch von den Obrenovich mit Recht behauptet werden, da es aber auf die belgischen Koburger, die rumänischen Hohenzollern, die griechischen Glücksburger und die bulgarischen Hessen Anwendung findet, so will ich das Argument nicht gleich als Lüge behandeln, um so weniger, als es mir außerordentlich gefällt. Es ist also wohlverstanden: die Legitimität ist eine natürliche Erbeigenschaft bestimmter Familien; ein Prinz wird mit dem Rechte zum Herrscher geboren; nicht etwa mit dem Rechte, über ein gewisses Volk und kein anderes zu herrschen, sondern mit dem Rechte des Herrschers im Allgemeinen, mit einem vagen Herrscherrechte ohne bestimmtes Objekt, das sich indeß später hinzufinden kann. Ein Koburger, ein Hohenzoller bringt von Geburt aus die Gnade Gottes mit; wenn ihn die Belgier, die Rumänen zum König wählen, so geben dieselben seiner bevorstehenden Legitimität blos eine praktische Geltung. Gottes Gnade wird etwa so ertheilt wie das Diplom einer Fakultät. Mit seinem Diplom in der Tasche hat der junge Doktor wohl das Recht, sich eine ärztliche Praxis zu schaffen, aber die Praxis selbst wird ihm von der Fakultät nicht zugesichert. So gibt dem Prinzen aus legitimem Herrscherhause sein Gottesgnadenthum das theoretische Recht, irgendwo zu regieren, doch garantirt es ihm kein Land, wo er dieses Recht thatsächlich ausüben kann.

Das ist doch ein Argument, das sich sehen lassen kann. Es erklärt Manches, was sonst unerklärlich wäre. An der Hand desselben kann man verstehen, wie ein legitimer König von Gottes Gnaden einen andern legitimen König von Gottes Gnaden seines Thrones und Landes beraubt. So ist die Annexion Hannovers, Kurhessens, Nassaus durch Preußen, Neapels, Toskanas, Modenas, Parmas durch Sardinien nicht mehr eine Verleugnung der Grundlage, auf welcher doch auch der Thron der Hohenzollern und der Savoyer steht. Der Eroberer nimmt dem Verjagten nicht etwa seine Legitimität, ich hätte fast gesagt sein Herrscherdiplom, er nimmt ihm nur sein Land. Er bleibt nach wie vor König von Gottes Gnaden und es ist ihm unbenommen, sich ein anderes Reich zu suchen, über welches er, wenn er eins findet, mit ungeschwächter Legitimität und in der That ganz besonders sichtbarer Gnade Gottes herrschen wird. Die Loslösung des abstrakten Herrscherrechts legitimer Dynastien von der Geltung für ein bestimmtes Land und Volk ist ein unentbehrlicher Bestandtheil der monarchistischen Theorie. Ohne sie wären die erobernden und annektirenden Könige die ärgsten Revolutionäre, würden sie den Unsinn des Gottesgnadenthums am klarsten nachweisen und den Völkern am faßlichsten zeigen, welchen Werth die Rechte eines legitimen Monarchen haben und wie man es anfangen müsse, um einen solchen aus dem Lande zu jagen. Mit Hilfe dieses Gedankens der Unabhängigkeit theoretischer Legitimität von tatsächlicher Herrschaft kann man endlich auch ohne Auflehnung des Verstandes begreifen, daß das Haus Hannover ein Jahrhundert lang von Gottes Gnaden England legitim beherrschen konnte, während die Erben des Hauses Stuart in St. Germain und Rom von Gottes Gnaden legitim verkamen, und daß nach Viktor Emanuel König Humbert von Gottes Gnaden in Italien regiert, während König Franz II. von Neapel seit bald einem Vierteljahrhundert von Gottes Gnaden sich in Paris zerstreut.

Doch wozu noch länger im Absurden waten? Es ist nicht der Mühe werth, an einem einzigen Rechtstitel der Monarchie, an ihrem göttlichen Ursprunge, eine ernste Kritik zu üben. Diese ist so leicht, daß man, erstaunt von der Geringfügigkeit der Anstrengung, sich manchmal fragt, ob man nicht mit herkulischen Geberden offene Thüren einrenne? Die weitverbreitete Kenntniß der geschichtlichen Anfänge aller Dynastien, von denen einige sozusagen vor einer Stunde unter den Augen prosaischer Zeitungsberichterstatter entstanden sind, das immer häufiger werdende Schauspiel legitimer Souveräne, welche aus dem ihnen angeblich vom Himmel selbst verliehenen Amte von Völkerhirten hinausgejagt werden, die geringe Achtung, welche gesalbte Könige vor den übernatürlichen Rechten ihrer Standesgenossen bethätigen, machen es dem Gottgläubigen fast noch schwerer als dem Atheisten, zuzugeben, daß die Gnade Gottes den Königen die Krone aufs Haupt gesetzt habe. Die Gnade Gottes kann doch nicht intermittirend sein! Ein Staatsvertrag kann sie doch nicht verleihen, eine verlorene Schlacht sie doch dem Begnadeten nicht rauben! Das sind Konzeptionen von einer Frivolität, gegen die sich alle Überzeugungen eines Gläubigen empören müssen. Der Aufgeklärte kann das Gottesgnadenthum allenfalls als einen jener herkömmlichen Scherze betrachten, die ein Haruspex dem andern mit einem Blinzeln des Einverständnisses, doch unter Wahrung eines würdigen Ernstes rezitirt; dem Gläubigen muß es eine Blasphemie scheinen. Wo jener das Recht hat, zu lächeln, da darf dieser nur zürnen.

Lassen wir indeß die Ursprünge und Rechtstitel der Dynastien ruhen. Thun wir, als glaubten wir Alles, was uns die Monarchie erzählt. Nehmen wir einen Augenblick lang die Miene eines Haruspex während seiner Amtshandlung an. Es ist also Alles wahr und bewiesen: der König wird mit dem Rechte geboren, mir zu befehlen; ich, der Unterthan, komme zur Welt mit der Pflicht, zu gehorchen, das hat Gott so eingerichtet, und wenn ich mich dagegen auflehne, so greife ich in Gottes eigene Weltordnung freventlich ein. Gehen wir nun von diesem Ausgangspunkt weiter, so sind wir beim nächsten Schritte mitten im Reiche der Lüge. In Europa haben nur noch Rußland und die Türkei den Absolutismus, der, ich habe dies oben erörtert, die allein logische Form der Monarchie ist. Alle übrigen Länder haben, soweit sie nicht Republiken sind, die monarchische Regierungsform durch Verfassungen mehr oder weniger mit sich selbst in unauflöslichen Widerspruch gebracht. Der Konstitutionalismus verurtheilt alle, die in seiner Komödie eine Rolle spielen, zu ewiger Lüge und Heuchelei.

Dort, wo der Parlamentarismus eine Wahrheit und das Königthum nur eine geduldete Zierde ist, in England, Belgien, Italien, lügen die Gesetze, wenn sie die Form von Willenskundgebungen des Königs annehmen, denn sie sind Ausflüsse des Parlamentwillens und kommen zu Stande, der König mag wollen oder nicht; die Minister lügen, wenn sie sich der üblichen Redeweise bedienen! »Im Auftrage Sr. Majestät thun wir dieses,« »auf Befehl Sr. Majestät unterlassen wir jenes,« »wir werden die Ehre haben, Sr. Majestät dies und das zu empfehlen«: denn sie wissen und alle Welt weiß mit ihnen, daß der König nicht aufträgt und nicht befiehlt und daß sie ihm nichts zu empfehlen haben, sondern daß sie beschließen, daß sie vor den König mit fertigen Thatsachen hintreten, die unabhängig von seinem Willen geschaffen werden, und daß der König in Wirklichkeit den Ansichten und Entschließungen des Parlaments und der Minister unweigerlich zu gehorchen hat; der König endlich lügt, wenn er zur Volksvertretung in der ersten Person spricht, denn seine Thronrede ist nicht der Ausdruck seiner eigenen Gedanken, sondern ein aus fremder Initiative hervorgegangenes Schriftstück, das ihm fertig in die Hand gegeben wird und welches er so vorliest, wie ein Phonograph die in seinen Trichter hineingesprochenen Worte wiederholt; er lügt, wenn er auf die Fiktion eingeht, daß der Ministerpräsident der Mann seiner Wahl und seines Vertrauens ist, denn es steht ihm durchaus nicht frei, diesen nach seinem Belieben zu wählen, er muß sich vielmehr zu der Persönlichkeit bequemen, welche ihm die Mehrheit der Volksvertretung bezeichnet, er mag sie noch so sehr verabscheuen und ihr eine andere noch so sehr vorziehen; er lügt endlich bei jeder einzelnen Ernennung, Verleihung und Verordnung, bei jeder Regierungshandlung, an der er theilnimmt, wenn er sie für seine eigenen Entschließungen ausgibt, denn sie sind ihm von den Ministern vorgeschrieben und er muß sie oft trotz seiner heftigen Abneigung gegen sie unterzeichnen.

Umgekehrt in den Ländern wo die Verfassung das Wesen des Königthums von Gottes Gnaden unberührt gelassen hat und der Parlamentarismus ein bloßer Aufputz des alten Absolutismus ist wie in Deutschland und Österreich, lügt die monarchische Regierungsform nicht dem Könige, sondern dem Volke. Die Monarchie fordert, als sichtbare Bevollmächtigte und Vertreterin des göttlichen Willens anerkannt zu werden und nimmt ganz folgerichtig die Unfehlbarkeit für sich in Anspruch, die eine Eigenschaft Gottes selbst ist; dennoch gestattet sie theoretisch dem Volke einen Einfluß auf ihre Entschließungen, sie gibt also zu, daß das Volk die Maßregeln einer von Gott eingesetzten und inspirirten Gewalt beurtheile, billige, verwerfe oder ändere, sie unterstellt gleichsam Gott einer menschlichen Kritik und begeht damit eine Gotteslästerung, die sie bei Unterthanen mit dem schwersten Kerker bestrafen würde. Doch verhält sich dies, wie gesagt, nur in der Theorie so. Praktisch geschieht der Wille des Königs und alle konstitutionellen Vorgänge sind bloße Opportunitätslügen des Absolutismus. Man lügt dem Volke, wenn man es auffordert, seine Vertreter zu wählen, man lügt dem Parlamente, wenn man ihm Regierungsvorlagen unterbreitet und es über dieselben abstimmen läßt, denn die Volkswahl ist unvermögend, auf die Vertreter die Willenskraft zu übertragen, welche die verfassungsmäßige Fiktion dem Volke zuschreibt, und die Abstimmungen des Parlaments vermögen an den Regierungsentschlüssen nichts zu ändern.

In den wirklich konstitutionell regierten Ländern ist die Stellung des Monarchen eine unwürdige, aber die ihn umgebende Fiktion seiner Gewalt wird von allen Seiten so sorgsam gewahrt, man vermeidet es so geschickt, die Thatsache seiner absoluten Bedeutungslosigkeit im Staate brutal vorlaut werden zu lassen, die mit seinem Amte verbundenen äußeren Ehren und persönlichen Vortheile und Annehmlichkeiten sind noch immer so große, daß man es verstehen kann, wie Männer mit Selbstachtung und auch nur einiger Empfindlichkeit sich herbeilassen, die Rolle einer solchen willenlosen Puppe zu spielen, deren Zunge und Glieder von der Willkür der jeweilig ihre Fäden handhabenden Minister in Bewegung gesetzt werden. In den Ländern mit Scheinkonstitutionalismus dagegen ist der Narrenpart den Volksvertretern zugetheilt und es ist schon viel schwerer zu begreifen, daß Männer, die diesen Namen verdienen, sich jenen gefallen lassen, da die kleinen Eitelkeitsbefriedigungen, die er etwa gewähren mag, doch kaum für die inneren Demüthigungen entschädigen können, welche er seinem Träger zu jeder Stunde zufügt. In seinem prächtigen Palaste, in seiner zierlichen Uniform, beim Empfang seiner erklecklichen Zivilliste, wenn er rings um sich gekrümmte Rücken sieht und die ausgesuchtesten Höflichkeitsfloskeln, »Majestät« und »gnädigst« und »geruhen«, schneeflockendicht um seine Ohren wirbeln, kann der konstitutionelle König vergessen, daß er sich in einer Fastnachtsrolle bewegt, die in dem Augenblicke ein Ende mit Schrecken nähme, in welchem er seine Rolle ernstlich durchführen wollte. Was aber bestimmt den Parlamentarier im scheinkonstitutionellen Lande, sich durch Reden ohne Wirkung, Gesten ohne Zweck und Voten ohne Folge lächerlich zu machen? Doch kaum die Verachtung der Minister und der Hohn und die Verleumdung der im Regierungssolde stehende Presse. Also vielleicht die Hoffnung, den Schein des Parlamentarismus in Wirklichkeit zu verwandeln? Die Hoffnung kann und darf der Volksvertreter nicht hegen, der auf die Fiktion des göttlichen Ursprungs der Königsrechte eingeht.

Für den Verächter der konventionellen Lügen gibt es kein ergötzlicheres Schauspiel, als das Dilemma, in welches jener unerbittliche Logiker, der Fürst Bismarck, die sogenannten Liberalen des deutschen Reichstags einklemmt, indem er ihnen durch seine bevollmächtigten Parlamentsredner und auf Vorstehen und Apportiren dressirten Journalisten immer wieder sagen läßt: entweder sie seien Republikaner und heucheln, wenn sie einander in Loyalitäts-Versicherungen überbieten, oder ihre Königstreue sei ehrlich und dann haben sie sie durch Gehorsam vor dem Königswillen zu beweisen. Dieses »entweder – oder« ist ein Hammer und Amboß, zwischen welchen der monarchische Liberalismus zu einem Brei zerhauen wird, von dem kein Hund fressen möchte. Es ist unsagbar lustig anzusehn, wie sich die schwachmüthigen Oppositionsparteien unter dem eisernen Griff jener schonungslosen Logik winden! Wie sie sich losmachen, wie sie auskneifen möchten! Sie seien der Dynastie bis in den Tod ergeben, der König habe keine zuverlässigeren Diener als sie, die Republik sei für sie der Greuel der Verwüstung, aber die Verfassung bestehe doch sozusagen auch, und der König selbst habe ja die Gnade gehabt, sie zu beschwören, und mit seiner allerhöchsten Erlaubniß werde man sich unmaßgeblich unterthänigst unterfangen, von den darin den Volksvertretern huldreichst zugestandenen Rechten und Freiheiten in Demuth ersterbend Gebrauch zu machen u. s. w. Es hilft ihnen aber Alles nichts. Die Faust, die sie gepackt hat, drückt sie an die Wand, daß ihnen der Athem vergeht, und man verdonnert sie mit dieser klaren Rede: Gebt ihr zu, daß der König von Gott eingesetzt ist, euch zu beherrschen? Ja? Wie wagt ihr es dann, ihm zu widerstehen, wie wagt ihr es, euch auf eine Verfassung zu berufen, die sein Geschenk ist und die er kraft seiner göttlichen Autorität zurücknehmen kann, wie er sie euch kraft seiner göttlichen Autorität gegeben hat? Oder gebt ihr nicht zu, daß der König seine Rechte von Gott selbst hat? Dann seid Ihr Republikaner. Ein drittes giebt es nicht.«

Nein, ein drittes gibt es nicht. Republikaner oder Absolutisten. Alles andere ist Lüge und Heuchelei, und eine Regierung, welches jenes Dilemma aufgestellt, verdient den begeisterten Dank aller Aufgeklärten. Freilich begeht sie damit eine außerordentliche Kühnheit, denn sie riskirt, daß ein Politiker, dessen Zunge nicht eingerostet ist, den Spieß umdreht und ihr antwortet: »Wenn Logik Trumpf ist, so seid ihr die ersten Heuchler und Lügner. Denn ist der Wille des Königs der Wille Gottes, wie könnt ihr dann die Gottes- und Königslästerung begehen, eine Verfassung bestehen zu lassen, welche die Möglichkeit der Einschränkung des Königswillens durch den Volkswillen zur ersten Voraussetzung hat? Eure vornehmste Pflicht wäre dann Abschaffung der Verfassung. Entweder ist es euch mit der Verfassung Ernst, dann gebt ihr also zu, daß die Stimme des Volks im Staate so viel gilt wie die des Königs von Gottes Gnaden und dann seid ihr ja Republikaner. Oder die Verfassung ist euch ein leeres Wort, ihr beruft einen Reichstag nur zum Schein ein, ihr seid von vornherein entschlossen, zu thun, was euch beliebt und das Parlament einen guten Mann sein zu lassen, und dann ist jede eurer konstitutionellen Handlungen: die Ausschreibung von Wahlen, die Einberufung des Reichstags, die Einbringung von Regierungsvorlagen u. s. w., eine bewußte Lüge. Also Lügner oder Republikaner. Ein drittes gibt es nicht!«

Das ist eben die große Lüge des modernen Konstitutionalismus, daß derselbe von einer Leugnung der göttlichen Autorität des Königs ausgeht und diese Autorität, der er die Grundlage entzogen hat, die nun kläglich in der Luft hängt, dennoch fortbestehen läßt. Das Mittelalter kannte die Ständeverfassung, welche die Königsgewalt auch einschränkte; das Mittelalter kannte Empörungen des Adels gegen den König und erbittertes Ringen der bevorrechteten Stände mit der Krone um die Gewalt. Aber die Einschränkung der Königsgewalt, die Auflehnungen des Adels gegen dieselbe geschahen nicht im Namen eines ihre ursprüngliche Berechtigung ausschließenden Grundsatzes, geschahen nicht im Namen der Volkssouveränetät. Die hohen Barone, die den König in seiner Burg bedrängten, erkannten willig an, daß der König von Gott eingesetzt sei, allein sie behaupteten, daß die Gnade Gottes nicht ihm allein, sondern auch ihnen gelächelt habe. Das war nicht eine Leugnung, sondern eine sinnreiche Erweiterung der Lehre von der überirdischen Autorität der Herrschenden. Wie der Monarch König von Gottes Gnaden war, so erklärten sie, Barone von Gottes Gnaden zusein. Es ist die Geschichte jenes Irrsinnigen, der die fixe Idee hatte, Gott zu sein. Als eines Tages ein anderer Kranker, der dieselbe Wahnvorstellung hatte, in die Anstalt gebracht wurde, wo er eingesperrt war, da war er der erste, über die Einbildung dieses Menschen zu lachen. »Wie kann denn der Mensch Gott sein!« rief er ein über das anderemal. »Warum denn nicht!« fragte der Wärter, der schon glaubte, sein erster Patient sei geheilt. »Weil es nicht zwei Götter gibt. Und da ich Gott bin, so kann er es nicht sein.« Wie dieser Narr, so war der mittelalterliche Adel von seiner eigenen Göttlichkeit überzeugt und er bekämpfte das absolute Königthum nicht im Namen der Vernunft, sondern im Namen seiner Wahnvorstellung. Das macht, daß man im Mittelalter in aller Ehrlichkeit zugleich an der Monarchie und an den Ständevorrechten festhalten konnte, während Volkssouveränetät und gottentstammte Königssouveränetät einander unbedingt ausschließen.

Doch neben der staatsrechtlichen hat die monarchische Lüge auch eine rein menschliche Seite, gegen die sich Vernunft und Ehrlichkeit nicht minder auflehnen als gegen jene. Wie erniedrigen, wie entwürdigen sich alle, die mit dem Könige in persönliche Berührung kommen, vor der Fiktion der Erhabenheit, der Übermenschlichkeit des Königthums, die sie im Herzen verlachen! Das Schauspiel des Königsdaseins war zu jeder Zeit und an jedem Orte denen, die eine Rolle darin zu spielen hatten, eine Komödie. Aber jeder Einzelne spielte mit Ernst und Überzeugung, er fiel, wenn er auf der Szene stand, nie aus der Rolle, er bemühte sich, in den Zuschauern, von denen er durch die unüberschreitbare Feuerlinie der Fußlampen geschieden war, eine poetische Illusion zu schaffen und zu erhalten, und nur die wenigen Vertrauten, denen der Eintritt durch das Künstlerpförtchen gestattet war, durften sehen, daß die prächtigen Paläste der Dekorationen auf verschlissene Leinwand gepinselt seien, daß der goldene und purpurne Pomp der Staatsgewänder aus Flicken und Zindel bestehe und der Held zwischen zwei heroischen Bewegungen das Verlangen nach einem Seidel Bier in die Coulissen hinausflüsterte. Die heutigen Komödianten des Königthums dagegen fallen fortwährend aus der Rolle und machen sich sichtbar über diese, über sich selbst und über das verehrungswürdige Publikum lustig. Sie gleichen den biederen Liebhaber-Künstlern im Sommernachtstraum, denen Zettel die weise Empfehlung gibt: »Ihr müßt den Namen des Löwendarstellers nennen und sein halbes Gesicht muß durch des Löwen Hals sichtbar sein; er selbst kann hindurchsprechen und sich dabei mit rechtem Affekt etwa so ausdrücken: Gnädige Frauen, oder schöne Frauen, ich wollt' euch ersuchen, oder ich wollt' euch bitten, oder ich wollt' euch anflehen, nicht furchtsam zu sein, nicht zu zittern; mein Leben bürge für das euere. Glaubt ihr, ich käme als Löwe hierher, so wär's schade um mein junges Blut. Nein, ich bin kein solches Wesen, ich bin ein Menschenkind wie andere Menschenkinder, und darauf laßt ihn seinen Namen nennen und ganz offenherzig sagen, daß er Schnock, der Schreiner, sei.«

Der Königspalast, in der guten klassischen Zeit der Monarchie ein Allerheiligstes, in das der gemeine Sterbliche nur mit Schauern der Ehrfurcht trat, steht heute dem Reporter offen. Alle seine Skandale, alle seine Verbrechen, alle seine Lächerlichkeiten werden auf dem Bazar herumerzählt. Der letzte Unterthan kennt die geheimen Laster dieses Königs, die häßlichen Krankheiten jenes Prinzen, den Namen der Maitressen dieses Monarchen und die Liebschaften jener Fürstin, man weiß, daß der Kaiser oder der König an der Börse spielt, daß er ein Idiot ist, man kennt seine Unwissenheit, man kolportirt seine unorthographischen Briefe, man zitirt seine albernen Aussprüche – und dennoch wirft man sich gleichzeitig angesichts allen Volkes vor ihm in den Staub, spricht von ihm öffentlich nur in den überschwenglichsten Phrasen der Unterthänigkeit und macht sich einen Ruhmestitel daraus, daß man ihm eifriger den Schmutz von den erlauchten Füßen leckt als ein anderer. Welch ein Schauspiel für den Unbefangenen und Aufgeklärten! Welch eine Quelle beständigen Ekels vor der erblichen Herdenvieh-Natur der zivilisirten Menschen! Der edle Künstler, der eben ein unvergängliches Kunstwerk geschaffen hat, wünscht sich für seine Anstrengung keinen höheren Lohn als den Besuch des Königs; aus der erhabenen Aufregung des Erfindens und Vollendens sinkt er ohne Vermittelung in die niedrige kindische Eitelkeit, seine Arbeit vom König besichtigt zu wissen. Er ist vielleicht ein Beethoven, ein Rembrandt, ein Michelangelo; er wird gekannt und bewundert werden, wenn vom König längst nichts anderes übrig sein wird als eine Zeile im Lexikon der hunderttausend Königsnamen, das den überflüssigen Anhang der Weltgeschichte bildet; er hat das volle Bewußtsein des eigenen Werthes; er weiß, daß der König von seiner Musik oder seinem Bilde, oder seiner Statue nichts versteht, daß dessen Ohr verbunden, sein Auge blöde, seine Seele aller Schönheit verschlossen ist, daß seine Urtheile grotesk sind, daß er im Allgemeinen auf der Höhe der ästhetischen Bildung eines slovakischen Mausefallenhändlers steht – und sein Herz klopft doch höher, wenn der König den zerstreuten bleiernen Blick auf seinem Kunstwerk ruhen läßt oder duselnd seine Musik anhört. Der Gelehrte, der mit angestrengter Geistesarbeit der Menschheit neue Wahrheiten erobert und ihren Gesichtskreis erweitert, hat den Ehrgeiz, in eine Narrenjacke von offiziellem Schnitte gekleidet vor den König zu treten und ihm einige Worte von seinen weltbewegenden Erfindungen und Entdeckungen zu sagen, die vielleicht die Einheit der Kräfte, oder die Spektral-Analyse oder das Telephon sind; er weiß, daß der König unfähig ist, ihm zu folgen, daß derselbe sich für den ihm absolut unverständlichen Gegenstand auch nicht interessiren kann, ja daß er ihn und die gesammte Wissenschaft mit dem ganzen Dünkel eines Barbaren verachtet und einen gut gewachsenen Flügelmann des Garderegiments allen Gelehrten der Welt vorzieht; er weiß auch, daß ihm nur einige Minuten gegönnt sind, in denen er mit fliegender Eile, stammelnd und sich überstürzend sagen kann, was er zu sagen hat, während der König an tausend andere Dinge denkt und auf seinem Gesichte deutlich lesen läßt, wie langweilig ihm die Erfüllung der Pflicht ist, die ihm seine Stellung auferlegt – und der Gelehrte kriecht doch unter dem Joche all dieser demüthigenden Bedingungen durch und nimmt zufrieden seinen Platz ein zwischen einem Kammerherrn, der seine Ankunft in der Residenzstadt meldet, und einem Leutnantchen, das sich für einen ihm verliehenen Orden bedankt. Wie viele Dichter und Schriftsteller betteln um die Erlaubniß, dem Könige ihre Werke darzubringen, blos damit dieselben ungelesen in die hintersten Ränge einer Bibliothek gestellt werden, in welcher genealogische Almanache, Schematismen und Rang- und Quartierlisten den Ehrenplatz einnehmen.

Die Geburtsaristokratie ist natürlich dem Könige gegenüber – so weit dies nämlich möglich ist – noch niedriger, noch hündischer gesinnt als die Geistesaristokratie. Sie, die den König unmittelbar und beständig umgiebt, die unter der Krone die Schlafmütze und unter dem Purpurmantel die Flanelljacke sieht, von der alle Karikirungen, alle Verhöhnungen und Verleumdungen des Königs ausgehen, die sich über seine Schwächen lustig macht und seine Verbrechen unter die Leute bringt, die Geburtsaristokratie hat dennoch keinen höheren Ehrgeiz, als die Gunst des Königs, auch wenn derselbe Ludwig XV. oder Philipp IV. hieße, zu erkriechen und zu erschmeicheln; sie begeht alle Niedrigkeiten, um einen Blick des Königs zu erhaschen; sie verkauft ihm ihre Frauen und Töchter; sie erfindet das schmachvolle Wort, daß »das Blut des Königs nicht beflecke«; ein Aristokrat, der zu stolz ist, um seinen eigenen Diener direkt anzuschauen oder anzusprechen, bewirbt sich emsig darum, selbst der Diener des Königs zu sein und bei feierlichen Anlässen ihm die Hände zu waschen, die Speisen aufzutragen, das Glas zu füllen, Botengänge zu thun, mit einem Worte ihm – wenn auch meinethalben nur symbolisch – Kellners-, Hausknechts- und Eckenstehersdienste zu leisten. Eine bekannte Anekdote, die darum nicht wahr zu sein braucht, erzählt, daß Peter der Große bei einem Besuche in Kopenhagen, um dem König von Dänemark zu beweisen, wie ergeben ihm seine Unterthanen seien, einem Kosaken befohlen habe, sich von einem hohen Thurm hinabzustürzen; der Unglückliche habe sich darauf bekreuzt und sei ohne Zögern ins Leere gesprungen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß der größte Theil der Hofschranzen noch heute eine ähnliche Prüfung ähnlich bestehen würde. Warum? Aus Heroismus? Dieselben Helden würden sich häufig keiner Erkältung aussetzen, um einen Ertrinkenden zu retten. In der Hoffnung auf einen Lohn im Jenseits? Diese Hoffnung mag dem Kosaken Peters das Opfer des Lebens leichter gemacht haben, aber die zeitgenössischen Aristokraten sind in vielen Fällen die Söhne Voltaires und halten von etwaigen Paradieses-Freuden ungleich weniger als von den in ihrem Handbereiche liegenden Befriedigungen, welche dieses irdische Jammerthal bietet. Ich kann mir die wunderbare Erscheinung der bis zur Selbstzerstörung gehenden Verehrung eines vielleicht durch keinerlei Geistes-, Gemüths- und Leibesvorzüge ausgezeichneten, möglicherweise sogar widerwärtigen und hassenswerthen Individuums nicht erklären. Der vortreffliche Münchhausen berichtet von einem merkwürdigen Jagderlebnisse; er jagte eines Tages mit einer trächtigen Hündin eine trächtige Häsin; einen Moment lang verlor er Verfolgte und Verfolgerin aus den Augen; als er ihrer wieder ansichtig wurde, erblickte er zu seinem Erstaunen sieben winzige Hündchen, welche ebenso vielen winzigen Häslein nachsetzten; die beiden Mutterthiere hatten im Laufen geworfen und die neugeborenen Jungen unter einander sofort die Jagd aufgenommen. Etwas Ähnliches scheint zwischen Königen und Unterthanen vorzugehen. Der Unterthan ist von Geburt an dem Könige zum Sterben ergeben, wie bei Münchhausen der Hund von Geburt an den Hasen jagt. Das meine ich ganz ernst, obwol ich es etwas frivol ausdrücke. Nur das Phänomen des Atavismus gibt den Schlüssel zum Verständniß einer die Manneswürde, das Selbstgefühl, ja manchmal sogar den Selbsterhaltungstrieb überwiegenden Königstreue. Es ist offenbar ein Rückfall in urmenschliche Vorstellungen, ein dunkles Nachwirken von Gewohnheiten, die sich durch Tausende von Generationen ohne Unterbrechung vererbt haben, wenn Menschen für ein Individuum, das sie nicht kennen, das sie vielleicht nie gesehen haben und das jedenfalls ihre Gefühle nicht individuell erwidert, eine Zärtlichkeit empfinden oder heucheln, wie sie sie nicht für ihre eigenen Angehörigen, vielleicht nicht einmal für sich selbst fühlen.

Gewiß, es ist tief in der Menschennatur begründet, sich vor jedem in den Staub zu werfen, den die Menge als hervorragend anerkennt. Ich sage: den die Menge als hervorragend anerkennt, nicht: der hervorragend ist. Der Mensch ist eben ein Herdenthier und hat alle Instinkte eines solchen. Zu diesen gehört in erster Linie die Unterordnung unter den Führer. Führer ist aber nur der, den die Herde als solchen annimmt und duldet. Nur eine winzige Gruppe auserlesener Geister beurtheilt eine Persönlichkeit nach ihren Eigenschaften; die große Mehrzahl zieht blos deren Wirkung auf die anderen in Betracht. Die Elite prüft das Individuum an sich, losgelöst von seinen Beziehungen zu den übrigen Menschen; der Mensch der Masse fragt nur nach der Stellung, die jenem von der Allgemeinheit zugestanden wird, und hat den unwiderstehlichen Drang, die Anschauungen dieser Allgemeinheit zu seinen eigenen zu machen. So erklärt es sich, daß jeder berühmte oder selbst nur bekannte, oft sogar einfach berüchtigte Mensch Anhänglichkeiten und Ergebenheiten findet, die dem einsamen, die Welt und Volksthümlichkeit verachtenden Werthe versagt sind. Man braucht kein König zu sein, um Schranzen um sich zu haben. Dazu genügt die bloße Notorietät. Komödianten, Taschenspieler, Zirkusclowns haben ihre Höflinge. Es gibt Leute, die sich an bekannte Verbrecher herandrängen und sich mit diesem Umgange brüsten. Vor Viktor Hugo wurden täglich Selbsterniedrigungen begangen wie kaum vor dem Zaren aller Reußen oder einem indischen Großkönig. Man fiel vor allen greisenhaften Kundgebungen eines bis zur Unbewußtheit geschwächten Verstandes in Ekstase. Man drängte sich an ihn zum Handkusse. Man verehrte und bewunderte seine alte Maitresse und rechnete es sich zur Ehre an, ihrem Leichenbegängnisse zu folgen. Man übertrug die Anbetung des alten Dichters auf seine Enkel, von denen man bisher nichts weiß, als daß sie ungewöhnlich affektirte und verzogene, schon in so jungen Jahren mit Größenwahn behaftete Kinder sind. Was ist es, was die Menschen zu dieser gemeinen und albernen Aufdringlichkeit bestimmt? Was verschafft Brummel und Cartouche ganz so einen Hof wie einem großen Künstler oder Gelehrten? Die Antwort liegt nahe und wird oft gegeben: die Eitelkeit; allein es ist eine oberflächliche Antwort. Weshalb setzt man denn aber eine Eitelkeit darein, zum Troß berühmter Persönlichkeiten zu gehören? Weshalb gewährt es eine Befriedigung, in der Meute, die einen bekannten Menschen umspielt, mitzuwedeln? Weil man damit den urmenschlichen Herdenthier-Instinkt der Unterwürfigkeit unter das Leitthier befriedigt. Der Snobismus ist anthropologisch begründet und das hat Thackeray vergessen, als er mit bitterm Hasse gegen denselben zu Felde zog. Die Loyalität, in dem Sinne, wie die Monarchisten dieses Wort verstehen, ist aber der höchste und vollendetste Ausdruck des Snobismus.

Man sieht, daß ich mich bemühe, für den Byzantinismus mildernde Umstände zu finden. Ich möchte mich gern überreden, an die Aufrichtigkeit der Gefühle zu glauben, welche zahlreiche Leute für Könige und Prinzen zur Schau stellen. Ich bin bereit, zuzugeben, daß der russische Bauer nicht heuchelt, wenn er seinem Selbstherrscher dem Rocksaum küßt, und daß der deutsche Soldat nicht lügt, wenn er es für sein höchstes Glück erklärt, das Leben für den Kaiser hinzugeben. Allein Anthropologie und Atavismus und Heredität, alle die schönen Worte, die ich zum Verständniß der Loyalität des unwissenden und gemeinen Volks anrufe, lassen mich im Stiche, wenn ich vor dem Byzantinismus der Vornehmen und Gebildeten stehe. Dieser Byzantinismus ist und bleibt bewußte Lüge. Er hat keine Wurzel im Gemüthe. Er ist eine Komödie, in der jeder Einzelne für ein Spielhonorar mitwirkt; der eine für Ämter und Würden, der andere für Titel und Ehrenzeichen, der dritte aus einem politischen Grunde, weil ihm das Königthum augenblicklich noch fürs Volkswohl oder für seine eigenen Standesinteressen nöthig scheint, alle miteinander aber für einen unmittelbaren oder mittelbaren Vortheil. Und das ist es, was die monarchische Lüge zu einer viel Widerwärtigern macht als die religiöse. Der Aufgeklärte, der in der Kirche die Kniee beugt und Gebete murmelt, thut dies aus Geistesträgheit oder aus Gleichgiltigkeit oder aus feiger Anbequemung an die Gepflogenheit; selbst wenn er ein Streber ist, der durch geheuchelte Frömmigkeit die Gunst der Priester und ihrer mächtigen Verbündeten zu erschleichen sucht, so demüthigt er sich doch nur vor einem Symbol und küßt mindestens nicht direkt die Hand, von der er das Trinkgeld erwartet. Allein der speichelleckende Hofschranze, der illuminirende und sein Haus mit den dicksten Blumengewinden behängende Bürger, der Dichter von Hymnen auf Königshochzeiten und Prinzengeburten demonstrirt blos um den baaren Lohn, den er sogleich dahin haben will, und unterscheidet sich in nichts von der Prostituirten, welche Worte der Liebe spricht und deren Handlungen übt und alle die Zeit nur an ein Geldstück denkt.

Viele Leute, welche einen König für einen Menschen wie alle anderen auch, nur häufig für einen unbedeutenderen, weniger begabten als die übrigen, halten, die über die vorgeschützte göttliche Mission der Dynastien lächeln und zugeben, daß sie ihre inneren Überzeugungen verleugnen, wenn sie in Ausdrücken der Unterwürfigkeit, Verehrung und Liebe vom Monarchen und seinen Angehörigen sprechen, suchen vor anderen und oft genug sogar vor sich selbst ihren Mangel an Aufrichtigkeit und Überzeugungstreue damit zu entschuldigen, daß die monarchische Lüge im Grunde eine harmlose sei. Das Königthum, sagen sie, ist, mindestens in ehrlich konstitutionellen Ländern, eine bloße Dekoration. Der Monarch hat da weniger Gewalt als der Präsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika. England, Belgien, Italien, das sind in Wirklichkeit Republiken mit Königen an der Spitze und die herkömmlichen, meist gedankenlos geübten Formen der Unterthänigkeit, mit welchen man die Krone umgiebt, hindern in keiner Weise die freie Bethätigung des Volkswillens, und des Volkswillens allein. Das ist ein schwerer Irrthum, der für die Völkergeschicke noch oft verhängnißvoll werden wird. Die Macht der Könige ist noch immer eine ungeheuere; ihr Einfluß selbst in Ländern wie Belgien und Rumänien, England oder Norwegen ein allmächtiger, wenn er auch nicht durch die Verfassung, sondern neben und unter ihr hinweg geübt wird. Wir haben dafür die zuverlässigsten Zeugnisse. Der recht ehrenwerthe Gladstone, der in der Sache kompetent ist, hat sich über den Einfluß der Könige in einer früheren Nummer des »Nineteenth Century« bedeutungsvoll ausgelassen. Gewisse Veröffentlichungen unserer Zeit, insbesondere der »Lebensbeschreibung des Prinzgemahls« von Martin, mit dem Briefwechsel zwischen dem Prinzen Albert und dem Prinzen Wilhelm von Preußen, dem spätern König und Kaiser, und dem Bericht über die Beziehungen zwischen Napoleon III. und dem englischen Hofe, die Denkwürdigkeiten des Barons Stockmar, manche zuverlässigere Theile der Memoiren des Hofraths Schneider, Medings u. s. w. verbreiten über diesen Punkt ein ausreichendes Licht. Wir sehen, wie zwischen den Kabineten der Könige über die Häupter der Völker, Parlamente und Ministerien hinweg die Fäden intimer Beziehungen gesponnen werden, wie die Monarchen einander direkt berathen und berichten; wie sie jedes politische Ereigniß zunächst vom Gesichtspunkte ihrer dynastischen Interessen beurtheilen; wie sie sich der Bewegung gegenüber, welche die Völker zur Erkenntniß ihrer Stärke und Rechte führt, solidarisch fühlen; wie sie sich in den größten Entschließungen, welche in Millionen Einzelgeschicke umwälzend oder zerstörend eingreifen, von kleinen Launen, von persönlichen Freundschaften und Abneigungen bestimmen lassen. Die Volksredner sprechen in Meetings große Phrasen aus; die Abgeordneten deklamiren im Parlamente; die Minister geben mit wichtiger Miene Offenbarungen; alle zusammen sind überzeugt, daß sie allein den maßgebenden Einfluß auf die Schicksale ihres Landes haben; mittlerweile aber lächelt der König verächtlich und schreibt vertrauliche Briefchen an seine königlichen Freunde jenseit der Grenze und verabredet mit ihnen allerlei: Bündnisse und Ausschließungen, Krieg und Frieden, Eroberungen und Abtretungen, Beschränkungen und freiheitliche Zugeständnisse, und wenn der Plan festgestellt ist, wird er ausgeführt, die Parlamente mögen schwatzen, was sie wollen. Werkzeuge, welche ihren Willen sogar in korrekt konstitutioneller Form vollziehen, finden sich eher hundert als eins, im Nothfalle ist es auch nicht schwer, Strömungen der öffentlichen Meinung zu erzeugen, und so begibt es sich am Ende, daß die Könige, die angeblich nur noch eine dekorative Rolle im Staate spielen, deren durch die Verfassung eingeschränkte bloße Existenz keine politische Bedeutung mehr haben soll, das entscheidende Wort im Leben der Völker sprechen, heute ganz so, wie im Mittelalter, ja heute mehr als damals, weil zu jener Zeit die Verbindung zwischen den Königen eine losere war, das Gefühl der Solidarität zwischen ihnen nicht bestand und ihre natürliche Umgebung, die Aristokratie und die Prälatur, ihnen weit weniger zu Willen war als heute. Die Feigheit der Menschen, welche wider ihre Weltanschauung, Vernunft und Überzeugung auf die monarchische Lüge eingehen, rächt sich an ihnen, oder vielmehr am menschlichen Fortschritt; die schlauen Pseudoliberalen, welche die Könige zu betrügen glauben, indem sie ihnen äußerliche Vorrechte und Ehren zugestehen, denen nach ihrer Meinung keine wirkliche Macht entsprechen soll, werden in Wirklichkeit von den Königen betrogen, die dem ihnen gelassenen Schein der Gewalt sehr geschickt das Wesen derselben hinzuzufügen wissen, und die leere Form ist nicht, wie sich die Loyalitätslügner weißzumachen suchen, die Monarchie, sondern das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

III.

Das Verhältniß zwischen der Monarchie und der Aristokratie ist ein ähnliches wie das zwischen der Religion und der Monarchie. So wie jene wohl ohne diese, nicht aber diese ohne jene bestehen kann, so ist wohl eine Aristokratie ohne Monarchie, nicht aber eine Monarchie ohne Aristokratie dauernd möglich. Es gibt Königreiche, welche keinen Erbadel besitzen – Griechenland, Rumänien, Serbien –, andere – Norwegen, Brasilien –, die denselben abgeschafft haben. Doch das sind Kunstbildungen ohne Zukunft. Entweder werden diese monarchischen Staaten alsbald das Königthum zum Adel werfen und sich in Republiken verwandeln, oder sie werden schon in der nächsten, spätestens in der zweiten Generation einen Erbadel emporkommen sehen, der vielleicht keinen gesetzlichen Bestand und keine Titel, aber um so wesenhaftere Vorrechte haben wird. Die erbliche Monarchie hat den natürlichen Drang, sich mit erblichen Angelegenheiten zu umgeben. Man weiß, daß zahlreiche Gattungen der Kerbthiere für ihre Nachkommenschaft in der Weise sorgen, daß die Weibchen ihre Eier in die Nähe oder in die Mitte der für sie bestimmten, zum Theil aus lebendigen Thieren bestehenden Nahrung legen, damit die Raupen gleich beim Ausschlüpfen ihren Tisch gedeckt finden. So will jeder König, daß sein Thronerbe schon in der Wiege eine Treue und Ergebenheit vorfinde, die er sich noch nicht selbst wird erworben haben können, und diese Gefühle erwartet er von der Dankbarkeit einer Anzahl Familien, die er selbst oder seine Vorfahren mit Gütern und Ehren beschenkt haben. Die vorsorgende Zuversicht der Könige wird oft genug getäuscht; das lebende Geschlecht der Aristokraten vergißt in Augenblicken der Gefahr über dem nächstliegenden eigenen Interesse die von den todten Ahnen zugleich mit den beneidenswerthen Vorrechten hinterlassene Dankesschuld und überläßt den Prinzen, der in der erkauften und reich bezahlten Treue des Adels seine Sicherheit finden sollte, recht wohl seinem widrigen Schicksal. Es wäre müßig, alle derartigen Beispiele aus der Geschichte zusammenzulesen; es genügt, an das Verhalten des englischen Adels gegen den König Wilhelm von Oranien und Georg I., an das des französischen legitimistischen Adels gegen Napoleon I. und III. und Ludwig Philipp und umgekehrt des napoleonischen Adels gegen das wiederhergestellte Bourbonenkönigthum zu erinnern. Allein die Könige klammern sich nichtsdestoweniger an diese hinfällige Bürgschaft der Zukunft und schöpfen aus dem Bestande einer Aristokratie ein trügerisches Gefühl der Geschütztheit, wie der Soldat im Felde sich häufig durch eine Deckung beruhigt fühlt, von der er gleichwol weiß, daß sie der Feindeskugel keinen größeren Widerstand entgegensetzt als die Luft allein.

Seltsames Schauspiel, zugleich Verwunderung und Ärger, Unglauben und Heiterkeit erregend, diese mittelalterliche Komödie mitten in unserer neuzeitlichen Kultur! Eine Menschenklasse spielt in der kaukasischen Menschheit altägyptische oder indische Kaste; sie legt sich Titel bei, die einst Ämter bedeuteten, heute aber gar keinen Sinn mehr haben; sie malt, meißelt und ritzt auf ihre Wagen, Häuser, Siegelringe unvernünftige und häßliche Bilder, Kampfschilde darstellend, die seit einigen Jahrhunderten außer Gebrauch sind und deren hartnäckige Beibehaltung auf uns so wirkt wie etwa das Gehaben eines Menschen, der sich das Gesicht tätowiren würde wie die vorgeschichtlichen Celten oder einen Feuerstein als Taschenmesser mit sich herumtrüge oder mit einem Fischgrätenpfeil auf die Hasenjagd zöge. Wie lacht man nicht, wenn sich jemand Herzog nennt, was einen Feldherrn, den Anführer einer Armee bedeutet, und in Wirklichkeit ein kleiner Stutzer ist, der nie etwas anderes als einen Kotillon angeführt hat? oder wenn ein anderer seine edle Geburt rühmt und sich für ein auserlesenes Individuum in der Nation hält, während er einen Buckel und Skropheln hat und geistig hinter einem Straßenkehrer steht? Unsere Zivilisation schließt kaum ein absurderes Überlebsel in sich als einen Adelsstand, der sich gesetzlich nur noch durch Titulaturen und Wappen kennzeichnet.

Will ich etwa damit gesagt haben, daß die Gleichheit eine vernünftigere Verfassung der Gesellschaft wäre? Ich bin davon weit entfernt. Die Gleichheit ist ein Hirngespinnst von Stubengelehrten und Träumern, die niemals die Natur und die Menschheit mit eigenen Augen beobachtet haben. Die französische Revolution glaubte die Gedanken der Enzyklopädisten zusammenzufassen, als sie ihre Forderungen in die drei Worte verdichtete: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.« Freiheit? Ganz recht. Wenn dieses Wort überhaupt eine Bedeutung hat, so kann es nur die sein, daß die Hindernisse weggeräumt werden, durch welche die der Willkür und Einfalt kurzsichtiger Menschen ihr Dasein verdankenden Gesetze das fruchtbare Spiel der natürlichen Kräfte des Individuums und der gesellschaftlichen Gruppen erschweren oder völlig unterdrücken. Brüderlichkeit? Oh, das ist ein herrliches Wort, das ideale Ziel der menschlichen Entwickelung, eine Vorahnung des Zustandes unserer Gattung zur Zeit ihrer noch sehr entfernten erhabensten Vollkommenheit. Aber Gleichheit? Das ist ein Fabelding, wofür in einer vernünftigen Erörterung kein Platz ist. Die Vorläufer der großen Revolution haben übrigens, man muß ihnen diese Gerechtigkeit widerfahren lassen, niemals von der gesellschaftlichen Gleichheit gesprochen, sondern nur von der Gleichheit vor dem Gesetze. Das zu betonen haben die Redner und Publizisten der großen Revolution unterlassen; ihnen war es um wirkungsvollen Lapidarismus zu thun und sie opferten der Kürze die Deutlichkeit. So erschien die »Gleichheit« ohne erläuterndes Beiwort in der Dreieinigkeit des Revolutions-Programms und wurde von dem Haufen, der Schlagworte gedankenlos wiederholt, mißverständlich in dem Sinne aufgefaßt, in welchem die »égalité« seither auf der Speisekarte der Bierkeller-Demokratie figurirt. Ist doch selbst die Gleichheit vor dem Gesetze nur theoretisch möglich, praktisch aber undurchführbar! Gewiß, wenn eine Maschine die Gesetze anwenden würde, so wäre man sicher, daß dies stets in gleicher Weise nach den mechanischen Grundsätzen ihrer Konstruktion geschähe; allein sowie lebendige Menschen dieses Geschäft besorgen, ist die Ungleichheit schlechterdings unvermeidlich; der gewissenhafteste, gegen menschliche Eindrücke am undurchdringlichsten gewappnete Richter wird unbewußt von der körperlichen Erscheinung, der Stimme, dem Geiste, der Bildung und Stellung der Parteien beeinflußt und die Spitze des Gesetzes wird in seiner Hand von Gunst und Abgunst abgelenkt wie die Magnetnadel von elektrischen Strömen. Es besteht da eine Fehlerquelle für das gleichmäßige Wirken des Gesetzes, die auf ein Minimum eingedämmt, doch nie ganz verstopft werden kann.

Ist aber schon die Gleichheit vor dem Gesetze schwer, so ist die gesellschaftliche Gleichheit gar nicht denkbar. Sie steht im Widerspruch zu allen Lebens- und Entwickelungsgesetzen der organischen Welt. Wir, die auf dem Boden der naturwissenschaftlichen Weltanschauung stehen, erkennen gerade in der Ungleichheit der Lebewesen den Anstoß zu aller Entwicklung und Vervollkommnung. Was ist denn der Kampf ums Dasein, diese Quelle der schönen Mannigfaltigkeit und des Formenreichtums der Natur, anderes als eine stete Bethätigung der Ungleichheit? Ein besser ausgerüstetes Wesen läßt die Artgenossen seine Überlegenheit fühlen, verkürzt ihnen ihren Antheil an dem Mahle, das ihnen die Natur bereitet, und verkümmert ihnen die Möglichkeit der vollen Geltendmachung ihrer Individualität, um für die Manifestation seiner eigenen mehr Raum zu gewinnen. Die Unterdrückten widerstehen, der Unterdrücker vergewaltigt sie. In diesem Ringen steigern sich die Kräfte der Schwächeren und entfalten sich die des Stärksten zu ihrem höchsten Vermögen. Jedes Erscheinen eines bevorzugten Individuums ist auf diese Weise eine Förderung für die ganze Gattung und hebt diese um eine Stufe empor. Die unvollkommensten Individuen werden im Kampfe um den ersten Platz vernichtet und verschwinden. Der Durchschnittstypus wird fortwährend besser und edler. Die heutige Generation steht in ihrer Masse so hoch wie die Ausnahmswesen der gestrigen und die morgige hat den Drang, den Führern von heute gleich zu werden. Es ist ein Wettlauf ohne Ende, doch immer nach vorwärts. Die Menge sucht den Bevorzugten gleich zu werden, die Bevorzugten suchen die sie auszeichnende Ungleichheit zwischen sich und der Menge zu erhalten und sogar zu vergrößern. Fortwährende Anspannung der Fähigkeiten, unermüdliche Anstrengung bei den einen wie bei den anderen und als Ergebniß der beständige Aufstieg zum Ideal. Die Besten nennen das Bestreben der Geringeren, mit ihnen in eine Linie zu gelangen, Neid; die Geringeren das Bemühen der Besseren, ihren Vorsprung zu behaupten, Hochmuth. Das sind aber nur Erscheinungsformen der natürlichen Trägheit des Stoffs, welcher jede Anstrengung, auch wenn sie nothwendig und heilsam ist, als augenblickliche Unannehmlichkeit empfindet, und die scheinbare Unzufriedenheit mit dem Zwang der Mühe kann niemals als Beweis gegen deren Nützlichkeit gelten.

Die Ungleichheit ist also Naturgesetz und aus diesem schöpft die Aristokratie ihre Berechtigung. Auch daß dieselbe einen erblichen Stand bildet, hat nichts, was die Vernunft beleidigen könnte. Wenn es eine Beobachtung gibt, deren Richtigkeit nicht angezweifelt werden kann, so ist es die, daß Eigenschaften des Individuums auf dessen Nachkommen übergehen. War der Vater schön, stark, muthig, gesund, so ist es sehr wahrscheinlich, daß seine Söhne sich derselben Vorzüge erfreuen werden, und hat jener sich durch die letzteren einen ausgezeichneten Platz in der Gesellschaft errungen, so ist kein Grund vorhanden, daß die Erben seines Blutes diesen Platz nicht auch behaupten. Es wäre wohl besser für sie und die Gesammtheit, wenn sie gezwungen wären, den vornehmsten Rang aus eigener Kraft von Neuem zu erobern; das würde sie gegen Erschlaffung und Rückgang sichern; wahrscheinlich würden jedoch auch beim freien Wettbewerb die Söhne der Besten unter den Siegern weitaus die Mehrheit bilden.

Eine erbliche Aristokratie ist jedoch nicht blos natürlich, sie hat auch ihren Nutzen für das Gemeinwesen. In einer Demokratie, deren Ideal das mißverstandene »Egalité« der großen Revolution ist, werden in der Regel nur alte oder doch ganz reife Männer zu Stellungen gelangen, in welchen sie auf die Entwickelung der Gesammtheit Einfluß üben können. Blos in den allerseltensten Ausnahmen wird da ein Mann in jungen Jahren bereits Gelegenheit gefunden haben, die Mitstrebenden zu besiegen und Abgeordneter, Parteiführer, Minister, Staatsoberhaupt zu werben. Beispiele wie die der Feldherren der ersten französischen Republik, Bonapartes, Washingtons, Gambettas beweisen nichts gegen diese These. Die angeführten Persönlichkeiten wurden durch plötzliche Umwälzungen an die Spitze ihrer Nation gestellt. Da entschied nicht allgemeine Fähigkeit, sondern einerseits der Zufall, daß sie im Augenblicke, als Plätze zu nehmen waren, sich in der Nähe dieser Plätze befanden, und andererseits die Enthaltung zahlreicher vollberechtigter Mitbewerber, die es verschmähen, sich in Momenten der Verwirrung durch einen Handstreich der Gewalt zu bemächtigen. Revolutionen können allerdings ganz junge Männer in die ersten Stellen befördern. Aber Revolutionen sind Ausnahmefälle und Übergänge, die sich nicht ewig wiederholen. Sie sind nicht die normale Verfassung der Demokratie. Ist diese einmal zur Ruhe gelangt und lebt sie regelmäßig unter ihren natürlichen Bedingungen, so bietet sie für die meteorischen Laufbahnen eines Washington, Bonaparte oder Gambetta keinen Raum. Es ist aber von größter Wichtigkeit für den menschlichen Fortschritt, daß ab und zu junge Leute das maßgebende Wort im Staate sprechen. Die Alten sind neuen Ideen nicht zugänglich und haben nicht die Kraft und Geschicklichkeit, nach neuen Grundsätzen zu handeln. Das physiologische Gesetz, nach welchem Nervenreize gewohnte Bahnen am leichtesten durchlaufen und nur sehr schwer neue Wege einschlagen, ist in seinen Wirkungen verhängnißvoll. Es macht aus dem älteren Menschen einen Automaten, dessen sämmtliche organische Funktionen von der Gewohnheit beherrscht werden und dessen Denken und Fühlen fast nur noch Reflexthätigkeit ist. Man setze nun diesen gealterten Organismus neuen Anregungen aus! Man zwinge seine Anschauungen, aus den gewohnten, bequem ausgefahrenen Geleisen auszubiegen und über frischaufgebrochenen Grund hinzuholpern! Wo der junge Geist blos nöthig hat, einen neuen Gedanken zu erfassen, da muß der alte Geist erstens dasselbe thun, das heißt den neuen Gedanken nachdenken, zweitens jedoch überdies gegen seine Neigung ankämpfen, den betreffenden Gedanken in der hundertmal geübten alten Weise zu formen. Er hat also eine doppelte Anstrengung zu liefern und seine Kraft, weit entfernt, eine größere zu sein als die des jungen, ist im Gegentheil eine ansehnlich geringere. Das ist die physiologische Erklärung der sogenannten Verknöcherung der Alten. Dieselben finden es zu mühselig, sich ihrer Gewohnheit zu entringen; ihr Zentralnervensystem ist oft auch schlechterdings unfähig, Impulse von genügender Stärke hervorzubringen, um die Widerstände neuer Nervenbahnen zu überwinden. Darum ist ein von alten Leuten geführtes Gemeinwesen zur Routine verurtheilt und hat die Neigung, ein Museum von Überlieferungen zu werden. Wo dagegen die Jugend regiert, Gesetze giebt und verwaltet, da finden alle Neuerungen raschen Eingang und das Herkömmliche, dem nicht die Gewohnheit als Leibgarde zur Seite steht, hat fortwährend den Beweis seiner Vortrefflichkeit zu liefern, auf daß man es verschone. Die Unerfahrenheit und Schnellfertigkeit der Jugend, welche den vervollständigenden Nachtheil dieses Vortheils bilden, können keinen großen Schaden anrichten, da im komplizirten Mechanismus des Staates der Weg von der geistigen Initiative zur thatsächlichen Durchführung ein langer ist und die vielen Räder, die in Bewegung gesetzt werden müssen, den stärksten Impuls genügend aufbrauchen, um für den letzten Nutzeffekt immer nur eine sehr kleine Kraft übrig zu lassen. Das Vorhandensein einer erblichen Aristokratie nun macht es auch in normalen Zeiten einer größeren Anzahl bevorzugter Personen möglich, in der Blüthe ihres Lebens zu hohen und verantwortungsreichen Stellen zu gelangen. Denn der Aristokrat hat vor der dunklen Masse der Namenlosen die Notorietät voraus, die er schon bei der Geburt als Wiegengeschenk vorfindet, während der unbekannte Sohn des Volkes in der Regel die besten Jahre seines Lebens daran wenden muß, um sie mit betrübsamer Kraftverschwendung und Charaktereinbuße zu erringen. Im natürlichen Laufe der Dinge ist der Platz, auf dem er für das Gemeinwol arbeiten kann, dem Plebejer das Ende, dem Aristokraten der Anfang seiner Laufbahn und dem letztern bleibt alle die Energie für den Dienst der Gesammtheit, die der erstere in der Mühsal des Emporkommens verbraucht.

Noch einen zweiten Nutzen hat der Bestand einer erblichen Aristokratie für das Gemeinwesen. Der Besitz eines berühmten und angesehenen Namens bietet außergewöhnliche Bürgschaften dafür, daß sein Träger eine sichere Auffassung der Pflicht und ein höheres Ideal des Menschenthums haben wird als ein Individuum von niederer Herkunft. Natürlich kann diese allgemeine Regel nicht auf alle Einzelfälle angewandt werden. Ein Fürst oder Herzog von ältestem Adel kann ein Lump sein und der Sohn eines Tagelöhners oder der Findling, der in der Gosse der Großstadt aufgelesen wurde, das glänzendste Beispiel von Charaktervornehmheit und selbstverleugnendem Heroismus geben. Das erstere ist aber doch wohl die Ausnahme und von letzterem weiß ich nichts, so lange es nur nicht bewiesen ist. Da ist eine Stelle, von deren Inhaber Muth, Ehrlichkeit und Pflichttreue gefordert wird. Ich bin mit meinen Mitbürgern berufen, sie durch Wahl zu besetzen. Mehrere Bewerber stehen vor mir, ich kenne aber keinen von ihnen persönlich: der eine stammt aus altem, vornehmem Hause, der andere trägt einen Namen, den ich zum ersten Male höre. Nun denn: wenn ich in dieser Lage den Eingebungen der oberflächlichen Demokratie folge, so werde ich für den Plebejer stimmen, von dem ich nichts weiß, nur um für den chimärischen Gleichheitsgrundsatz zu demonstriren; wenn mir aber das Interesse des Gemeinwesens am Herzen liegt, wenn ich gewissenhaft bemüht bin, wenigstens die Wahrscheinlichkeit zu vergrößern, daß der öffentliche Dienst reinen und starken Händen anvertraut sei, so werde ich meine Stimme für den Aristokraten abgeben. Ich kenne freilich auch diesen nicht, aber von den beiden Unbekannten ist er derjenige, dem die stärkere Voraussetzung der moralischen Zuverlässigkeit zur Seite steht. Warum? Nicht blos aus dem gemeinhin angegebenen Grunde, weil er eine bessere Erziehung erhalten hat und weil ihm früh die Anschauungen der sogenannten Ritterlichkeit eingepfropft wurden. Das ist ein Argument, das nur zu häufig im Stiche läßt. Aristokratische Geburt ist durchaus keine Gewähr guter moralischer Erziehung und jeder kennt Beispiele von Prinzen, die, in der erbärmlichsten Umgebung aufgewachsen, Lügner, Feiglinge, Wüstlinge, ja gemeine Diebe – oder feine Diebe, wenn es etwa feiner ist, Brillantenschmuck als Baumwolltaschentücher zu stehlen – geworden sind. Nein, nicht in der Erziehung liegt die Bürgschaft eines höheren moralischen Niveaus des Aristokraten, sondern in seinem Familienstolze, nennen wir es meinethalben sogar Ahnendünkel. In ihm ist das Gefühl der Solidarität mit seinem ganzen Geschlechte äußerst lebendig. Die Individualität tritt bei ihm weit mehr hinter die höhere Einheit des Hauses zurück als beim Plebejer. Dieser ist er selbst und sonst nichts, also eine Einheit; jener ist der Vertreter einer Gesammtheit. Er weiß, daß seine Handlungen auf alle Träger seines Namens zurückwirken, wie die von anderen Trägern seines Namens erworbenen Ehren ihm zugute kommen. Ein Aristokrat ist also eine Kollektiv-Individualität, bestehend aus den Vorfahren, Mitlebenden und Nachkommen seines Geschlechts, und die Sicherheiten, die er gewährt, verhalten sich theoretisch und bis zum Beweise des Gegentheils zu den Sicherheiten, die der Namenlose bietet, so, wie die Sicherheiten eines Verbandes zu denen eines Einzelnen. Selbst wenn man persönlich feig und gemein angelegt wäre, würde man sich als Träger eines historischen Namens bei sich ergebender Gelegenheit zu einer heroischen Anstrengung gestachelt fühlen, weil man sich sagen würde: »Auch wenn ich persönlich zu Grunde gehe, so war meine That doch nicht vergebens geübt – sie wird meinem Geschlechte, den Menschen aus meinem Blute, angerechnet; ich vermehre damit den Glanz meines Namens, ich vergrößere also den positiven Besitz meiner Erben.« Der Durchschnitts-Müller oder -Schulze hat nicht diesen Sporn zum Heroismus. Seine Selbstaufopferung kommt keinen bestimmten Personen zugute und das Wohl der Gesammtheit ist ein Gedanke, der in Augenblicken der Gefahr für die Fassungskraft eines gewöhnlichen Hirns vielleicht doch etwas sehr unbestimmt ist. Gewiß, dem kategorischen Imperativ gehorcht auch die Masse. Die Geschichte legt Zeugniß dafür ab. Auf den Schlachtfeldern thun die Müller und Schulze ihre Schuldigkeit trotz den Dalberg und Montmorency. Allein beim heutigen Entwickelungszustande der Menschheit scheint mir die abstrakte Allgemeinheit des kategorischen Imperativs ein minder fester aprioristischer Baugrund für mein Vertrauen als das greifbare Interesse einer Familie. Gerade für die Fälle, wo es gilt, das Leben für den Staat einzusetzen, kommt dies sehr in Betracht. Das mächtige Verlangen nach individueller Dauer, über das ich mich im vorigen Kapitel des Weiteren verbreitet habe, erleichtert dem Aristokraten die Selbstaufopferung weit mehr als dem Plebejer. Jener ist der Unsterblichkeit sicherer; dieser hat in der Regel das Bewußtsein, daß kein Hahn nach ihm, seinem Namen, seiner Heldenthat kräht. Der dunkle Heros hat im besten Fall eine Sekunde der Selbstbefriedigung und wird dann ins Massengrab geworfen; der vornehme begeistert sich an der Gewißheit, ein besonderes Grabmal und eine weithin sichtbare Ehrensäule im Camposanto der Geschichte zu erhalten. Ich habe die feste Hoffnung, daß sich das Bewußtsein der menschlichen Solidarität allmälig steigern wird. Auserlesene Menschen haben es zu allen Zeiten außerordentlich klar gehabt und sind ohne Zögern Blutzeugen für das künftige Wohl des Menschengeschlechts geworden. Aber im Allgemeinen stecken wir heute noch im Individualismus und Egoismus. Nur ganz langsam erweitert sich die enge Empfindung für das unmittelbare Eigeninteresse zum Verständniß der Einheit des Gemeinde-, des Volks-, des Gattungsinteresses und die Menschheit muß noch ein gar großes Stück voranschreiten, ehe der gemeine Mann eine Großthat, die Selbstaufopferung erfordert, ganz so aus dem Grunde üben wird, weil er den der Gesammtheit dadurch erwachsenden Nutzen als einen persönlichen Vortheil empfindet, wie der Aristokrat, weil er das Gefühl hat, sein persönliches Interesse wahrzunehmen, indem er seinem Geschlechte die Erinnerung eines heroischen Aktes hinterläßt. Es ist aber für den Staat wichtig, eine Klasse zu besitzen, von der man bestimmt weiß, daß sie Gründe hat, die Pflichterfüllung über das Leben zu stellen. Man braucht dann in Momenten der Gefahr die Freiwilligen der ersten Linie nicht erst zu suchen. Man hat dann zu allen Zeiten die Winkelriede unter der Hand, die sich mit offenen Augen, zielbewußt und bei voller Erkenntniß des sicheren Unterganges, für das Gemeinwesen opfern.

Gewiß stehen diesen Vortheilen einer erblichen Aristokratie auch Nachtheile gegenüber; das ist ja in den menschlichen Dingen unvermeidlich. Vor Allem übt eine Aristokratie nur auf den Charakter, aber nicht auf den Geist eines Volkes einen vortheilhaften Einfluß. Förderung des Geisteslebens, Erweiterung der Anschauungen, Erhöhung des intellektuellen Niveaus darf man von ihr nicht erwarten. Die bevorrechtete Klasse kann körperlich tüchtiger sein als die Menge, weil sie sich besser nährt, unter günstigeren Gesundheitsverhältnissen lebt und die durch diese vortheilhaften Daseinsbedingungen erworbenen leiblichen Vorzüge zu Racemerkmalen steigert, welche sich in den Nachkommen fixiren. Geistig wird sie aber niemals hervorragen, weil eben geistige Vorzüge sich nicht vererben und in Bezug auf Talent buchstäblich jeder sein eigener Ahnherr, der erste Begründer seines Hauses sein muß. Das ist eine merkwürdige Thatsache, die man noch nicht genug hervorgehoben hat. Das Genie, ja selbst das ungewöhnlich bedeutende Talent entgeht vollständig der Genealogie. Es hat keine Abstammung. Es ist und bleibt streng individuell; es kommt plötzlich und verschwindet plötzlich in einer Familie und ich weiß schlechterdings kein einziges Beispiel, daß es sich, wie körperliche Vorzüge, auf Nachkommen in einer Steigerung oder selbst nur in gleichmäßiger Stärke vererbt hätte. Ja noch mehr: die großen Talente sind in der Regel überhaupt ohne Nachkommenschaft, und wenn sie Kinder haben, so sind diese schwächlich, verkümmert und weniger lebensfähig als der Durchschnitt der Menschen. Man spürt da das Walten eines geheimnißvollen Gesetzes, welches verhüten zu wollen scheint, daß innerhalb eines einzelnen Stammes allzugroße Verschiedenheiten in der Richthöhe der Geistesgaben entstehen. Man bedenke nur, was die Folge davon wäre, wenn das Genie sich wie hoher Wuchs, Muskelkraft und Lebensschönheit vererbte! Es lebte dann in einem Volke eine kleine Klasse von Shakespeares, Goethes, Schillers, Heines, Humboldts – zwischen dieser Klasse und der großen Menge bestände ein ungeheurer Abstand; jene müßte der letztern immer fremder werden; sie könnte die allgemeinen Daseinsbedingungen nicht erdulden und würde versuchen, entweder Sondergesetze für sich zu schaffen, also einen der Masse unbegreiflichen Staat im Staate zu bilden, oder die allgemeine Gesetzgebung für ihre eigenen Bedürfnisse einzurichten, was natürlich der Menge ebenso verderblich wäre, wie wenn man sie dazu verurtheilte, beständig reinen Sauerstoff zu athmen. Eine höhere Intelligenz besiegt stets die niedrigere und wenn die letztere mit noch so überlegener Körperkraft gepaart wäre. Wo geistig entwickeltere Racen auf solche stoßen, die es minder sind, da gehen diese unrettbar zu Grunde. Vielleicht würde eine wenn auch wenig zahlreiche Aristokratie von Genies auf ihr eigenes Volk so wirken wie die Weißen auf die Rothhäute oder Australneger. Allein zur Bildung einer solchen Aristokratie kommt es eben nie. Das Genie gibt, indem es sich thätigt, so viel organische Kraft aus, daß ihm für die Zeugung keine übrig bleibt. Seltsame Theilung der Arbeit im Menschengeschlechte! Die gemeinen Menschen haben das Geschäft der materiellen Erhaltung ihrer Spezies zu besorgen, die großen Geister sich nur mit der ruckweisen Förderung der intellektuellen Entwicklung zu befassen. Man schafft nicht zugleich Gedanken und Kinder. Das Genie ist eine Zentifolie, prächtig, aber unfruchtbar, der vollkommenste, ja zu übermäßiger Entfaltung gelangte Typus der Gattung, doch zur direkten Fortpflanzung untauglich. Man hat gut, Goethe und Schiller, Walter Scott und Macaulay in den Adelsstand zu erheben, ihre Nachfahren, selbst wenn sie welche haben, werden in der Erbaristokratie doch niemals die höchste Geisteselite des betreffenden Volks vertreten. Auch wenn ausnahmsweise ein geborener Aristokrat, wie etwa Byron, die Erscheinung des Genies darbietet, macht dies noch immer den Stand nicht zu einem solchen der Talente. Die besten Intelligenzen einer Nation werden sich also nicht in deren Erbaristokratie finden und als Kaste wird diese nur durch Leibes- und Charakter-Eigenschaften über den Rest der Nation hervorragen. Sie wird infolge dessen das Interesse und das Bestreben haben, die Eigenschaften, die sie besitzt, höher zu stellen als die, welche ihr abgehen; sie wird vom Menschen und Bürger ein Ideal entwerfen, das nicht durch Geistesgaben glänzen wird, und wo ihr Einfluß ein vorwiegender ist, da wird die Intelligenz nicht darauf rechnen dürfen, den Rang eingeräumt zu erhalten, den einzunehmen sie sich berechtigt fühlt. Ein zweiter Nachtheil der Erbaristokratie ist der, daß ihr Bestand unvermeidlich zu Ungerechtigkeiten gegen einzelne Bürger führt. Sie nimmt manchen ihren natürlichen Antheil an Luft und Sonne. Sie hat einen Vorsprung gegen Plebejer, die diesen im Wettlauf zu den Lebenszielen den Sieg erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Alle Gesetze, welche die Gleichberechtigung der Bürger ohne Rücksicht auf die Geburt verfügen, helfen da nichts: bei gleicher Begabung wird in jeder Bewerbung von zwei Rivalen der aristokratische triumphiren und oft genug wird der Sieger sogar nicht der gleich-, sondern der minderbegabte sein. Doch das ist eben nicht zu ändern. Die absolute Gerechtigkeit ist eine theoretische Konzeption, die sich nicht verwirklicht. Die Gerechtigkeit, die wir erlangen können, ist die Diagonale eines Kräfteparallelogrammes, dessen Seiten die Macht und das Rechtsideal sind. Das Gefüge der Gesellschaft erlegt jedem Individuum gewisse Verkümmerungen auf und der vortheilhaftere Standort des Aristokraten auf der Walstatt des Kampfes ums Dasein ist eine davon. Wir müssen sie mit den übrigen tragen. Wir können es ja immerhin versuchen, uns in den ersten Rang durchzudrängen! Haben wir genug starke Schultern und Ellenbogen, so wird es uns gelingen. Haben wir dieses natürliche Rüstzeug nicht, nun, dann steht uns die Klage über die Vorrechte der Aristokraten nur etwa in dem Maße zu wie der Antilope die Klage über die Unbescheidenheit des Löwen, der sie frißt.

Wenn man also auf dem naturwissenschaftlichen Standpunkte steht und zugiebt, daß die allgemeinen Lebensgesetze der organischen Welt auch den Aufbau und das Wirken der menschlichen Gesellschaft bestimmen, so kann man nicht zögern, den Bestand einer erblichen Aristokratie natürlich und in einigen Hinsichten sogar nützlich zu finden. Was immer die philosophische Spekulation, die nicht mit den Thatsachen rechnet, gegen das Dasein einer bevorrechteten Kaste einwenden mag, eine solche wird sich dennoch unfehlbar herausbilden, so wie mehr als zwei Menschen in einen dauernden Interessen-Verband treten. Das Beispiel aller Gemeinwesen, die sich ursprünglich auf die Grundlage der absoluten Gleichheit gestellt haben, ist da, um dies zu beweisen. Die große nordamerikanische Republik ist theoretisch eine vollkommene Demokratie. Praktisch bildeten in den Südstaaten die Sklavenbesitzer eine Erbaristokratie mit allen Institutionen und Attributen einer solchen, in den Staaten des Ostens suchen sich die Abkömmlinge der ersten puritanischen Einwanderer und holländischen Ansiedler von der nachdrängenden Masse der Spätergekommenen abzuschließen und mindestens gesellschaftliche Privilegien zu üben und die durch die verwerflichsten Mittel der List und Gewalt reich gewordenen Börsenpiraten gründen förmliche Dynastien, deren Mitglieder nicht blos im geselligen Leben die Vorbilder für die Nachahmung der Menge sind, sondern auch mit sehr reeller Gewalt in die Geschicke der Gemeinde und des Staates eingreifen. Bei den Franzosen soll der Instinkt der Gleichheit ganz besonders mächtig sein. Er hinderte sie aber nicht, auf den Trümmern ihres alten Adels einen neuen zu errichten, der zwar keine Titel und Wappen hat, aber alle wesentlichen Attribute einer Aristokratie besitzt und dessen Ahnen – Ironie der Geschichte! – gerade die unerbittlichsten Gleichheitsfanatiker der großen Revolution sind. Wohlgemerkt: ich spreche jetzt nicht von den Königsmördern des Konvents, aus denen Napoleon nach dem Muster des geschichtlichen Adels seine imperialistische Aristokratie formte, sondern von den Familien, in denen seit der großen Revolution politischer Einfluß und Reichthum erblich sind, blos weil ihr Ahn damals eine mehr oder minder hervorragende Rolle gespielt hat. Man vergleiche einmal die Verzeichnisse der Personen, die in den letzten vier Menschenaltern Frankreich als Minister, Senatoren, Abgeordnete und hohe Verwaltungsbeamte regiert haben: man wird erstaunt sein, seit 1789 viele Namen in jener Generation wiederzufinden. So haben die Carnot, die Cambon, die Andrieux, die Brisson, die Bessou, die Perier, die Arago u. s. w. Politiker-Dynastien von großer Gewalt gegründet und wer die heutigen Träger dieser Namen kennt, der weiß, daß die Epigonen ihre ersten Stellen im Staate nicht der eigenen Kraft verdanken, sondern dem Namen, den sie tragen. Auch das ottomanische Reich hat eine streng demokratische Verfassung und kennt außer der Dynastie der Osmanen und den Nachkommen des Propheten, denen aber nicht das geringste Ansehen geschenkt wird, keinen Erbadel. Jeden Tag sieht man Lastträger oder Barbiere Paschas werden und die Laune des Padischah, welche allein Rang und Ehren vertheilt, fragt niemals nach der Abkunft eines Günstlings. Dennoch wird das Land in der Hauptsache von den Söhnen der Emporkömmlinge, von den Effendis, regiert und wenn der Pascha seinen Sprößlingen auch nicht gerade seinen Titel hinterlassen kann, so vererbt er ihnen doch in den meisten Fällen einen Theil seines Einflusses. Der Nepotismus ist die letzte Wurzel eines bevorrechteten Standes, die noch triebkräftig bleibt, wenn die demokratische Haue alle übrigen ausgerodet hat. Es ist so menschlich, den eigenen Sohn und den Sohn des Freundes vor Fremden und Unbekannten, und hätten sie noch so große Verdienste, zu fördern! Darum wird der Schwiegersohn des Professors vor dem minder vorsichtig verheirateten Mitbewerber stets schwerwiegende wissenschaftliche Titel voraushaben, dem Sohne des Ministers die diplomatische Karriere leicht werden, jeder Nachwuchs, der im Salon der hochgestellten Väter einst zusammen auf dem Teppich gespielt hat, eine geschlossene, sich gegenseitig unterstützende Phalanx bilden, die der Außenstehende schwer durchbricht, und derjenige, welcher am nächsten zur Schüssel ist, den Löffel zuerst in sie tauchen.

IV.

Ich habe anerkannt, daß die Aristokratie eine natürliche und darum unvermeidliche und voraussichtlich ewige Einrichtung der Menschheit ist, und mich gegen die ihr zugestandenen erblichen Ehren und Vorrechte nicht aufgelehnt; aber nur unter einer Bedingung: daß die Aristokratie wirklich aus dem besten und tüchtigsten Menschenmaterial des Volkes bestehe. Wenn eine Adelskaste berechtigt sein soll, so muß sie eine anthropologische Begründung ihrer Ansprüche nachweisen können. Sie muß ursprünglich aus einer auserlesenen Gruppe hervorgegangen sein und durch Zuchtwahl ihre Vorzüge erhalten und vergrößern. Geschichtlich sind in der That alle Aristokratien so entstanden. In den Völkern von gleichmäßiger Zusammensetzung sind früh die stärksten und schönsten, die tapfersten und klügsten Männer zu Macht und Ansehen unter ihren Stammesgenossen gelangt und ihre Nachkommen haben ihren Familienstolz aus diesen natürlichen Gaben der Ahnen gezogen. Sie haben das Gefühl gehabt, daß sie ihre Erhöhung nicht der grillenhaften Menschengnade, sondern der ewigen Mutter Natur verdanken, und sie haben dies, urmenschlicher Vorstellungsweise entsprechend, so ausgedrückt, daß sie sich rühmten, von den Göttern ihres Volks, anders gesagt, von dessen Idealtypen, abzustammen. Solchen Götteradel hatten die Germanen, solchen haben noch heute die Hindus und gewisse primitive Stämme wie die nordamerikanischen Rothhäute. Wo dagegen eine Nation aus einer Mischung verschiedener ethnischer Elemente entstanden ist, wo ein kräftiger Stamm sich einen schwächern unterworfen hat, da bilden die Nachkommen der Eroberer, also der tüchtigeren, mindestens körperlich höher stehenden Race die Aristokratie. Dies ist der Ursprung des Adels in allen europäischen Ländern, welche zur Zeit der Völkerwanderung oder später den Einfall fremder, meist germanischer Stämme zu erdulden hatten. Der französische Uradel ist fränkisch, burgundisch und sächsisch-normannisch, der spanische westgothisch, der italienische vandalisch, gothisch und longobardisch, theilweise auch schwäbisch, französisch und spanisch, der russische warägisch, das heißt skandinavisch, der englische normannisch, der ungarische magyarisch, der chinesische mandschurisch. Auf eine Aristokratie, die aus den vollkommensten Individuen des Stammes oder aus einer höheren Erobererrace hervorgegangen ist, findet Alles Anwendung, was ich von der Berechtigung der gesellschaftlichen Ungleichheit gesagt habe. Eine solche Aristokratie wird mit Recht die ersten Stellen im Gemeinwesen einnehmen, denn sie wird die Macht haben, dieselben an sich zu reißen und zu behaupten. Von Haus aus besser organisirt und höher gesinnt als die Masse der Plebejer, wird sie ihre Stärke und ihren Muth fortwährend üben und entwickeln müssen, da sie sonst dem Andrang der niedrigen Stände nicht wird widerstehen können. Dadurch bleibt ihr der Vorsprung vor dem Reste des Volkes beständig erhalten. Das Walten der natürlichen Gesetze läßt ihr nur die Alternative, ihre Vorzüge unverkümmert zu bewahren oder zu verschwinden. Sie muß heroisch sein, denn wenn sie in einem Augenblicke der Gefahr ihr Leben über ihre Privilegien stellt, so entwinden andere, die keine Furcht vor dem Tode haben, ihr diese. Sie muß die Pflicht von Vorkämpfern und Bannerträgern auf allen Wegen erfüllen, denn wenn sie sich nicht entschlossen an den ersten Platz stellt, wird sie überfluthet und in die hinteren Reihen gedrängt. Sie darf endlich keine geschlossene Kaste bilden, weil sie sonst der Verkümmerung anheimfällt und an dem Tage, an welchem ihre Neider merken, daß sie nicht mehr die bessere Race sei, von ihrem Sockel gestoßen wird. Sie darf sich dem freien Spiel des Naturgesetzes, aus dem sie ihre Berechtigung zieht, nicht widersetzen. So oft im Volke eine Individualität auftaucht, welche Proben einer besondern Überlegenheit liefert und den Haufen zur Anerkennung ihrer höhern Organisation zwingt, muß die Aristokratie sich beeilen, derselben ihre Reihen zu öffnen und sich sie einzuverleiben. Zu den unvermeidlichen Degenerirungen muß eine beständige Blutverbesserung das Gegengewicht bilden und das Emporkommen der Besten, das zur Entstehung einer Aristokratie geführt hat, darf nie verhindert werden.

Das ist die Theorie einer Aristokratie, deren Berechtigung man anerkennen, deren Überlegenheit man tragen müßte. Wie steht es nun aber mit der Praxis? Ist der Adel, der in fast allen Ländern Europas den Vordergrund der Szene erfüllt, die Aristokratie, welche ich definirt habe? Es giebt keinen seiner Sinne Mächtigen, der diese Frage bejahen könnte. Der sogenannte Adel, das heißt die Klasse, die sich durch erbliche Titel vor dem Reste der Nation auszuzeichnen versucht, erfüllt keine einzige der Bedingungen einer natürlichen Aristokratie. Der Uradel, also bei den Völkern, über die sich kein fremder Herrenstamm gesetzt hat, der Stammes- oder Götteradel, bei den anderen, die einst unterjocht wurden sind, der Erobereradel, ist überall ausgestorben oder verdorben. Ausgestorben oder verdorben durch eigene Schuld, weil er sich gegen sein natürliches Lebensgesetz aufgelehnt hat, ausschließlich geworden ist und es nicht verstanden hat, sich zu verjüngen. In vielen Familien hat sich dadurch die Fruchtbarkeit erschöpft und sie haben eines Tages keinen Erben mehr hervorbringen können; in anderen sind die Nachkommen hoher Ahnen allmälig dumm, feig und schwach geworden, sie haben weder ihr Gut noch ihren Rang gegen die Gier von kräftigeren Nachstellern verteidigen können und sind in Armuth und Dunkelheit versunken, so daß ihr Blut gegenwärtig vielleicht in den Adern von Tagelöhnern oder Bauern fließt. Ihren Platz, durch Tod oder Verfall erledigt, nehmen allerlei Leute ein, die ihre Größe nicht einer höheren Organisation, nicht der Natur, sondern der Gnade von Monarchen oder anderen großen Herren verdanken. Aller heutige Adel – ich glaube nicht, daß es authentische Ausnahmen von dieser Regel gibt – ist Briefadel, in weitaus der größten Anzahl von Fällen sogar sehr junger. Ein individueller Willensakt, nicht ein anthropologisches Gesetz schuf die Rechtstitel der vornehmen Geschlechter. Wie erwirbt man aber seit dem Mittelalter, über das kein Stammbaum in Europa hinausreicht, die Gunst der Fürsten, die in der Adelung ihren Ausdruck findet? Etwa durch ideal-menschliche Eigenschaften, durch Vorzüge, die es wünschenswerth machen, ihre Besitzer als Zuchtmaterial zur Veredelung des Stammes zu benutzen? Die Geschichte der Adelsfamilien aller Länder ist da, um auf diese Frage die Antwort zu ertheilen. Es gibt fast kein Beispiel, daß eine hohe und edle Natur, die einen idealen Typus der Menschheit darstellt, in den Adelsstand erhoben worden wäre. Wenn selten einmal wirkliches Verdienst einen Adelsbrief auf seinem Lebenswege gefunden hat, so muß es zu seinen vortrefflichen unbedingt auch niedrige und verächtliche Eigenschaften gehabt haben und die letzteren allein erklären es dann, daß es fürstliche Anerkennung gefunden hat. Die Ursachen der Erhöhung zahlreicher Familien sind so schmutzig, daß man sie in anständiger Gesellschaft gar nicht erwähnen kann; diese Familien verdanken ihre Ehren der Schande ihrer weiblichen Vorfahren und ihr stolzes Wappen erhält in monumentaler Weise die Erinnerung daran, daß sie gefällige Väter und Gatten und vorurtheilslose Dämlein zu ihren Mitgliedern zählten. In anderen Fällen war der Adelsbrief der Lohn einer Schurkerei oder eines Verbrechens, womit der Ahnherr des Hauses sich seinem Fürsten dienstfertig erwiesen hat. Ich gebe übrigens zu, daß die Unzucht und der Meuchelmord, obwol häufig genug der Ausgangspunkt glänzender Erdengeschicke, immerhin nur die Minderheit des Adels zu ihren Privilegien verholfen haben. Die Mehrheit hat ihren Vorrang auf weniger großartige Weise erworben. Wir finden als Grund der Erhebung in den Adelsstand gewöhnlich Reichthum oder langjährige Dienste in Regierungsämtern und in der Armee. Wie gelangt man zu so großem Reichthum, daß man mit demselben die Augen des Fürsten auf sich zieht? Durch Unskrupulosität oder Glücksfälle, weit öfter durch die erstere als durch die letzteren; zur Zeit der Reformation beraubte man die Kirche; etwas später rüstete man Kreuzer aus, das heißt war Seeräuber; dann vielleicht Sklavenhändler oder Sklavenbesitzer und -Ausbeuter; in neuerer Zeit ist man Armeelieferant und bestiehlt den Staat, oder Spekulant und reißt Hunderttausenden durch verwegene Börsenhandstreiche den mühseligen Sparpfennig aus der ängstlich geschlossenen Faust, oder im reinlichsten Falle Großindustrieller und erpreßt seine Millionen einigen hundert oder tausend kümmerlich entlohnten Fabrikarbeitern. Und wie sehen die Leute aus, die sich durch Kriegs- oder Friedensdienste ihrem Fürsten bemerkbar machen? Es sind immer, ich sage immer ohne jede Einschränkung, klebrige Molluskenseelen, schleichende, kriechende Streber, die ihr Leben damit zubringen, jede Regung männlicher Selbstständigkeit in sich zu unterdrücken, die letzte Spur von Stolz und Selbstbewußtsein aus sich auszumerzen, sich vor allen Höherstehenden zu bücken, ihnen durch Annahme ihrer Eigenheiten angenehm zu werden, überschwengliche Loyalität zu heucheln und zuletzt, als würdige Krönung einer Laufbahn, die auf dem Bauche zurückgelegt worden ist, um die Adelung zu betteln. Männer, die aus dem guten, starren Menschenstoffe gemacht sind, die ein widerstandskräftiges Rückgrat haben, die nicht ruhig und glücklich sein können, wenn sie nicht sie selbst sind, solche Männer werden sich nie herbeilassen, ihre Eigenart zu verleugnen, stets der Meinung ihrer Vorgesetzten zu sein, zu schmeicheln, zu intriguiren und zu bitten und sich mit diesen Mitteln, den einzigen, die zum Ziele führen, die Fürstengunst zu erwerben. An diese Männer denkt man, wenn man Posten der Gefahr zu besetzen, nicht wenn man Gnaden zu vertheilen hat. Diese Männer drängen sich vor, wenn es gilt, dem Gemeinwesen aufopferungsfähig zu dienen, aber sie wenden nicht die Ellenbogen an, um bei Einzügen und in Festsälen den Blick des Monarchen auf sich zu ziehen. So ist der Briefadel in der That eine Einrichtung, welche der Menschenzucht dient, wie die Wettrennen der Pferdezucht, aber die zur Zucht einer neuen Race bestimmten Sieger und Renner sind die Besitzer von Eigenschaften, die ein gemeiner Vater wohl seinem Sohne wünschen kann, damit er, was man so nennt, in der Welt seinen Weg mache, mit denen aber kein Dichter seinen Helden auszustatten wagen wird, weil die Poesie das Menschenideal reiner erhält als Gesetz und Sitte, weil das ästhetische Gewissen sich dort noch empört, wo das moralische Gewissen nichts mehr zu sagen hat, und weil man den auf gesellschaftsübliche Art erfolgreichen Menschen wohl die Hand drückt, aber nicht duldet, daß eine Dichtung sie verherrliche und der Menschheit als Muster vorhalte. Die Individuen, welche durch Ordens- und Adelspatente in jedem Menschenalter aus der Masse der Nation ausgelesen werden, sind wohl in Hinsicht auf ihre Geistesgaben nicht die am schlechtesten betheilten; dumm werden sie in der Regel nicht sein. im Gegentheil, es ist wahrscheinlich, daß sie schlau und geschickt sein werden; auch an Ausdauer, Zähigkeit und Willenskraft werden sie der Durchschnittsmenge meist überlegen sein. Was ihnen aber sicher fehlen wird, das ist der Charakter und das ist die Selbstständigkeit, also gerade die Eigenschaften, die eine natürliche, das heißt Blut-Aristokratie haben könnte und die eine gesellschaftliche Ungleichheit zu ihren Gunsten und zum Nachtheil der Plebejer ganz von selbst, auch ohne die Dazwischenkunft geschriebener Gesetze, schaffen würde.

Ich habe nun das Porträt des Individuums gezeichnet, das seiner Familie den Adel erwirbt. Seine Nachkommen werden meist moralisch höher stehen als ihr Ahn. Um einen Rang zu erhalten, braucht man nicht so erbärmlich zu sein, wie um ihn zu erwerben. Man muß nicht mehr ein rücksichtsloser Egoist, ein Schranze oder Intrigant sein. Der Charakter verbessert sich durch die allmälige Einwirkung der Standesanschauungen, welche noch auf der ursprünglichen Theorie beruhen, daß die Aristokratie die Gesellschaft der Besten und Edelsten des Volkes sei. Denn wenn der Briefadel mit dem Blutadel auch nichts gemein hat, so hält er doch an den theoretischen Fiktionen fest, aus welchen der letztere hervorgeht. Allein welche anthropologischen Geschicke sind dem modernen Adel bereitet? Er wird entweder, den mittelalterlichen Vorurtheilen huldigend, sich nur innerhalb des eigenen Kreises verheiraten, also ›Mesallianzen‹ scheuen, oder Mißehen in gewissen Fällen eingehen. Die erstere Lebensregel führt sehr rasch zur völligen Verkümmerung der Adelsfamilien. Denn diese, die nicht wie der Blutadel von ursprünglich besser organisierten Individuen abstammen, sind von vornherein mit keinem Überschuß an organischer Kraft ausgerüstet und die Inzucht muß nothwendig die baldige Erschöpfung des Lebenskapitals zur Folge haben, das, obwohl an sich nicht größer als bei den Individuen des gemeinen Volks, dennoch die größeren Ausgaben leisten soll, welche das mit höherer Stellung verbundene intensivere Leben erfordert, ohne sich durch Zuschüsse aus dem unerschöpflichen Sammelbecken der allgemeinen Volkskraft erneuern zu können. Wenn aber ein Aristokrat außerhalb seines Kreises heiratet und seiner Familie neues Blut zuführt, welcher Art ist dieses Blut, welches sind die Gründe, die ihn bei seiner Zuchtwahl bestimmen? Der Fall, daß ein vornehmer Mann ein Mädchen aus dem Volke aus Liebe um körperlicher und sittlicher Vorzüge willen zu seiner Gattin macht, ist überaus selten, für die Blutverbesserung der Familie wären aber nur solche Ehen vorteilhaft, denn um eine gute Stamm-Mutter zu werden, braucht ein Weib neben der normalen Leibesbildung die als harmonische Schönheit empfunden wird, auch Gesundheit und Gleichgewicht der Seele, Eigenschaften, die in der Form einer ruhigen, ja etwas spießbürgerlichen Sittlichkeit zur Erscheinung gelangen. Gewöhnlich wird die Mesallianz eines Vermögensvortheils oder einer leidenschaftlichen Laune willen vollzogen. Analysieren wir die Bedingungen, unter welchen Mesallianzen der einen und der andern Art vorzukommen pflegen. Ein vornehmer Mann heiratet eine reiche Bürgerliche, um, wie man das wohl ausdrückt, sein Wappen neu zu vergolden. Er ist dann entweder ein Wüstling, der sich in Ausschweifungen zu Grunde gerichtet hat und in die Ehe wie in eine Versorgungsanstalt eintritt, oder er ist ein verkümmerter Mensch ohne Lebenskraft, denn wer sich mit organischer Energie geladen fühlt, der ist stolz und unternehmend, der hat den Drang, ein Weib seiner Wahlverwandtschaft zu freien, und die Zuversicht, auch ohne die Mitgift einer ungeliebten Frau in der Welt eine gute Figur zu machen; er ist aber auch ein Mensch von gemeinem Charakter und niedrigen Anschauungen, denn er muß bereit sein, zu heucheln und zu lügen, da reiche Erbinnen in der Regel wenigstens während ihres Brautstandes fordern, daß man das rohe Streben nach ihrem Vermögen hinter dem Anschein der Neigung verberge. Sie, die reiche Erbin, repräsentiert ebenfalls einen sehr tiefstehenden Typus der Menschheit; sie stammt zunächst von einem geistig beschränkten und würdelosen Vater ab, denn ein anderer würde das Glück seines Kindes nicht äußerm Schein opfern und auch nicht in Familienbeziehungen zu einer Gesellschaft treten wollen in der man ihn und die Seinigen doch stets als Eindringling mit Hohn und Verachtung behandeln wird. Das Mädchen selbst ist entweder mit seinem Lose zufrieden, es willigt ein, die Gattin eines Mannes zu werden, dem sie gleichgiltig ist, dann ist es ein Geschöpf ohne Herz und Seele, eine alberne eitle Zierpuppe, oder es hat das Verlangen, zu lieben und geliebt zu werden, fügt sich aber dennoch dem Schicksale, das seine Familie ihm bereitet, dann ist es eine Natur ohne Willenskraft und ein verwaschener Charakter. Ähnlich stehen die Dinge in den Mißehen, die nicht wegen der Mitgift eingegangen werden. Von den Fällen, in denen echte, sittliche Liebe zu einem Bunde zwischen Vornehm und Gering führt, spreche ich nicht. Wir können dieselben um so mehr vernachlässigen, als sie vielleicht in einem Jahrhundert einmal vorkommen und auf die Racenverbesserung der Aristokratie um ihrer Seltenheit willen keinen berechenbaren Einfluß üben können. Die Regel ist, daß ein Aristokrat in Mesallianzen aus Liebe eine Bühnenkünstlerin, Zirkusreiterin oder auch nur einfach eine geschickte zweideutige Schöne der Kurorte und internationalen weltstädtischen Salons heiratet. Von dem so gebildeten Paare ist dann der weibliche Theil ein anormales Wesen, das sich als ein außerhalb der Durchschnittsform stehender Typus schon dadurch zu erkennen gegeben hat, daß es eine exzeptionelle, oft sogar exzentrische oder verwerfliche Laufbahn wählte, ungewöhnliche Schicksale anstrebt und sich gegen die Pflichten auflehnt, welche die heutige Gesellschaft ihren weiblichen Mitgliedern auferlegt, der männliche Theil aber ist das, was die Psychiatrie einen ›Degenerirten‹ nennt, das heißt ein Individuum, in welchem Wille und Vernunft verkümmert sind, der moralische Sinn rudimentär ist und die geschlechtliche Leidenschaft, oft in seltsamer Entartung, allein das Seelenleben beherrscht; solche Individuen können dem Wunsche nach dem Besitze eines Weibes, welches sie zu erregen weiß, nicht widerstehen; um ihn zu erfüllen, begehen sie Thorheiten, auch Unwürdigkeiten, und, wenn es nicht anders geht, selbst Verbrechen. Man untersuche nur genau – in den Romanen, die mit der Ehe zwischen einem Prinzen und einer Schauspielerin enden, wird man fast immer finden, daß der Mann ein »Degenerirter« in wissenschaftlichem Sinne, eine schwache, sinnliche und impulsive Natur ist. Die Mesallianz, wie man sie erfahrungsgemäß einzugehen pflegt, ist also, weit entfernt, der Aristokratie anthropologische Vortheile zu bringen, im Gegentheil ein Vorkommniß, das förmlich scharfsinnig ausgesonnen scheint, um das allerschlechteste Menschenmaterial des Adels und Bürgerstandes zu einer Ehe zu vereinigen, aus welcher nur moralische Siechlinge hervorgehen können.

Das ist die Entstehung des Briefadels und das sind seine nothwendigen weiteren Geschicke. Der Ahn ist ein Selbstling, Ränkeschmied oder Schranze, am besten alle drei zugleich, der Abkömmling wie durch Schicksalsschluß zur Verkümmerung verurtheilt, sei es, daß er sein Blut durch die ungünstige Inzucht innerhalb eines engen Kreises gleich fehlerhaft qualifizirter Familien erschöpft, sei es, daß er Mißehen mit unentwickelten oder mit desäquilibrirten Ausnahmstypen der Weiblichkeit eingeht. Diese soziologischen und anthropologischen Thatsachen liegen klar vor Aller Augen und sind allen Gebildeten bekannt. Und dennoch – hier steigt wieder groß und überwältigend das Bild menschlicher Feigheit, Dummheit und Heuchelei vor uns auf – und dennoch erfreut sich der Adel eines gesellschaftlichen Ansehens, vor dem sich weitaus die meisten Menschen willig und sogar mit einer gewissen inneren Genugthuung beugen. Der Snobismus, der sich besonders angenehm gekitzelt fühlt, wenn er sich an Aristokraten reiben kann, ist in allen Ländern zu Hause, in allen, auch den demokratischsten. Der Franzose, der sich rühmt, die Gleichheit erfunden zu haben, ist stolz auf die Bekanntschaft eines Herzogs oder Marquis und interessirt sich für das Leben und Treiben seines nationalen Adels trotz einem englischen »Flunkey«. Der Amerikaner, der angeblich blos den allmächtigen Dollar verehrt und sich über die Standesunterschiede im alten Welttheil lustig zu machen affektirt, ist im innersten Herzen entzückt, wenn er seinen Salon mit einem Edelmann schmücken kann. Wer es wissen will, der weiß, wie man heutzutage einen Adelstitel – wenn auch vielleicht nur in gewissen Ländern – erlangt. Man kennt den genauen Preis einer Fürsten-, Grafen- oder Freiherrn-Krone. Man weiß, daß dieses Schmuckstück das Äquivalent einer bestimmten Summe ist, und man zollt doch jenem eine Achtung, die man dieser versagt. Hier sei ein kleiner Zug angeführt, der die Verlogenheit der Zivilisationsmenschen besser demonstrirt, als es bändelange Argumentation vermöchte. Ein französischer Abgeordneter hat der Kammer einen Gesetzentwurf vorgelegt welcher es jedermann freistellt, gegen Bezahlung einer festgestellten Summe an den Staatsschatz sich einen Adelstitel beizulegen und sich desselben in allen Aktenstückes u. s. w. zu bedienen; um 60,000 Fr. könnte man sich Herzog, um 50,000 Marquis u. s. w., um 15,000 einfach »Herr von« nennen. Wenn dieser Entwurf zum Gesetze würde, so dürfte es kaum jemand geben, der dieses offene, ehrliche Geschäft machen, und sich vor aller Welt einen Adelstitel wie einen Frack oder eine Uhrkette kaufen wollte. Man versuche dagegen mit einem Blatte eine Anzeige zu veröffentlichen, daß man im Stande sei, die Adelung wohlhabender Personen diskret zu vermitteln, und man wird mit jeder Post hundert Anfragen erhalten; man verspreche nun Adelstitel der Republik San Marino oder des Fürstentums Reuß-Schleiz-Greiz zu demselben oder einem höhern Preise wie die vom französischen Abgeordneten vorgeschlagenen – man wird für die Waare Nehmer finden. Und doch handelt es sich dort um eine korrekte!, hier um eine schleichende und zweideutige Operation; dort um einen Titel, der in einem Staate von 37 Millionen Einwohnern giltig ist, hier um einen, der blos in einigen Dörfern gesetzliche Geltung hat. Ja, aber in jenem Falle wird offen ausgesprochen, daß der Adelstitel für jedermann auf der Straße feil ist, in diesem dagegen die Fiktion gewahrt, daß der Adel der Lohn des Verdienstes und der Geadelte ein Wesen höherer Ordnung sei, und so erschachert man sich einen Adelsbrief lieber durch die Dazwischenkunft eines verdächtigen Maklers, als daß man ihn reinlich in einem Stempel- oder Steueramt kaufen würde, weil man eben die Lüge der Adelseinrichtung mindestens äußerlich aufrecht erhalten will.

Die Vorrechte, die man der Aristokratie eingeräumt, sind übrigens nicht blos gesellschaftlicher Natur und bestehen nicht in Titulaturen und Komplimenten allein. Der Adel hat in den monarchischen Ländern unbeschadet der gesetzlich gewährleisteten Gleichheit der Rechte und Pflichten aller Bürger einen sehr reellen und sehr großen Einfluß, der ihm namentlich den Besitz sämmtlicher Sinekuren des Gemeinwesens sichert. Ich verstehe hier das Wort Sinekure im weitesten Sinne. Bei der heutigen Organisation des Besitzes und Erwerbs muß man Stellen, die bei ehrenhaftem Range sicheres Einkommen gegen geringe Anstrengung gewähren, als Geschenke des Staates betrachten. Alle diese Stellen, für die es keiner besonderen Fähigkeiten bedarf, die jeder Durchschnittsmensch bekleiden kann, wenn man sie ihm nur anvertrauen will, für die mit einem Worte das Sprichwort erfunden worden ist, daß Gott dem auch Verstand gibt, dem er ein Amt gegeben, also die Offiziers-, die höheren Beamtenstellen, die Pfründen, die besoldeten Hofwürden u. s. w., sind tatsächlich dem Adel vorbehalten. Das Gemeinwesen macht sie einer kleinen Gruppe von Individuen, die hierauf nicht den geringsten vernünftigen Anspruch haben, zum Geschenk; es deckt diesen Privilegirten den Tisch und setzt ihnen ein reichliches und leckeres Mahl vor, blos weil sie sich, wie Beaumarchais sagt, die Mühe gegeben haben, geboren zu werden.

Die Lüge des Briefadels der sich schmarotzend in die geschichtlichen Formen und Vorrechte des Blutadels hineingestohlen hat, welcher eine anthropologische Grundlage hatte, weil er aus den Nachkommen der tüchtigsten Individuen des Stammes oder einer höheren Race von Eroberern bestand, diese Lüge, obwol von der Geschichte, der Vernunft, dem Augenschein stündlich entlarvt, wird geduldet und sogar gehätschelt. Sie ist ein Eckpfeiler des monarchischen Staatswesens. Man thut, als glaubte man daran, daß ein beschränkter, frivoler Laffe, der sich Herr Graf oder Herr Baron nennt, aus vorzüglicherem Stoffe bestehe als der Rest des Volkes; man thut, als ginge man auf die Annahme ein, es sei dem Fürsten möglich, durch Bekrittelung eines Papierwisches oder Pergamentfetzens aus einem gemeinen Menschen ein feines und edles Wesen zu machen. Übrigens warum sollte dies auch dem Fürsten nicht möglich sein? Ihm steht ja die Gnade Gottes zur Verfügung und von dieser kann man sich eines solchen Verwandelungs-Wunders wohl versehen, das schließlich nicht unbegreiflicher ist als die übrigen Wunder der Bibel und Liturgie.

 


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