Max Nordau
Die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit
Max Nordau

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Mene, Tekel, Upharsin.

I.

Die Menschheit, die gleich Faust Erkenntniß und Glück sucht, war vielleicht zu keiner Zeit so weit entfernt wie jetzt, dem Augenblicke zuzurufen: »Verweile doch, du bist so schön!« Bildung und Gesittung breiten sich aus und nehmen von den wildesten Weltgegenden Besitz. Wo gestern noch Finsterniß herrschte, da flammen heute Sonnen. Jeder Tag sieht eine neue wunderbare Erfindung emporsprießen, welche die Erde wohnlicher, die Widerwärtigkeiten des Daseins erträglicher, die dem Menschenleben gewährten Befriedigungen mannigfaltiger und eindringlicher macht. Aber trotz dieser Vermehrung aller Bedingungen des Behagens ist die Menschheit unzufriedener, aufgeregter, rastloser als je. Die Kulturwelt ist ein einziger ungeheuerer Krankensaal, dessen Luft beklemmendes Stöhnen füllt und auf dessen Betten sich das Leiden in all seinen Formen windet. Wandere von Land zu Land und rufe die Frage hinein: »Wohnt hier Zufriedenheit? Habt ihr Ruhe und Glück?« Überall wird dir die Antwort entgegentönen: »Zieh weiter, wir haben nicht, wonach du fragst.« Horche über die Grenzen: der Wind trägt dir überall die wüsten Geräusche von Streit und Kampf, von Aufruhr und gewaltsamer Unterdrückung ans Ohr.

In Deutschland nascht der Sozialismus mit hunderttausend Mauszähnen an den Pfeilern aller staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen und nicht die Lockpfeife der Rattenfänger Staats-, Katheder- und christlicher Sozialismus, noch die verschwenderisch umhergestellten Fallen der Ausnahmsgesetze, des kleinen Belagerungszustandes und der Polizeiwillkür wenden die unermüdlichen Nager auch nur einen Augenblick lang von ihrem unheimlich geräuschlosen unterirdischen Zerstörungswerk ab. In der Verkleidung des Antisemitismus, dieses bequemen Vorwandes zur Bekundung von Leidenschaften, die sich unter ihrem eigentlichen Namen nicht sehen lassen dürften, tritt bei den Armen und Unwissenden der Haß gegen die Besitzenden, bei den Nutznießern mittelalterlicher Vorrechte, also bei den sogenannten privilegirten Klassen, die Furcht vor begabteren Mitbewerbern um Einfluß und Macht, bei der verworren idealistischen Jugend eine übertriebene und unberechtigte Form des Patriotismus, nämlich die unerfüllbare Forderung nicht blos politischer Einheit des deutschen Vaterlandes, sondern auch ethnischer Einheit des deutschen Volkes zu Tage. Ein geheimes Weh, das hundertfach gedeutet und kein einziges Mal erklärt wurde, treibt jeden Monat Zehntausende aus dem Lande übers Meer und Guß auf Guß, immer erstaunlicher anschwellend, fließt der Auswandererstrom aus jedem deutschen Hafen gleich einer schweren Blutung des nationalen Leibes, die keine Verwaltungskunst zu stillen vermag. Die politischen Parteien führen gegen einander einen barbarischen Ausrottungskrieg und die Güter, um die sie ringen, sind hier das Mittelalter und die monarchische Selbstherrlichkeit, da die Neuzeit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

In Österreich-Ungarn stehen zehn Nationalitäten gegen einander im Felde und suchen sich gegenseitig so viel Böses wie möglich zuzufügen. Die Mehrheiten setzen in jedem Kronlande, ja fast in jedem Dorfe, den Minderheiten den Fuß auf die Brust und die Minderheiten, wo sie nicht mehr widerstehen können, heucheln eine Ergebung, gegen die sie sich im innersten Herzen wüthend auflehnen, ja gegen die sie die Zerstörung des Reiches selbst als die einzige Möglichkeit einer Erlösung aus der unleidlichen Lage inbrünstig anrufen.

In Rußland herrschen solche Zustände, daß man beinahe von einem Rückfall in urweltliche Barbarei sprechen kann. Der Verwaltung ist jedes Gemeingefühl verloren gegangen und der Beamte denkt nicht an die Interessen des Landes und Volkes, die ihm anvertraut sind, sondern nur an die eigenen, welche er durch Raub und Diebstahl, durch Bestechlichkeit und Verschacherung des Rechts schamlos fördert. Die Gebildeten suchen im Nihilismus die Verzweiflungswaffe gegen das unleidliche Bestehende und setzen tausendfach ihr Leben ein, um mit Dynamit und Revolver, mit dem Dolch und der Brandfackel das blutige Chaos herbeizuführen, das ihr Fiebertraum ihnen als unerläßliche Vorbedingung eines neuen Gesellschaftsaufbaus zeigt. Die Staatsmänner, die berufen sind, ein Heilmittel für diese entsetzliche Krankheit zu finden, verfallen auf die wunderlichsten Kuren. Der eine sieht das Heil in der Mündigsprechung des russischen Volkes und in seiner Begabung mit parlamentarischen Einrichtungen; der andere hat nur zu einem entschlossenen Sprung ins Schlammbad des franken Asiatenthums Vertrauen und fordert die Austreibung aller europäischen Errungenschaften und die Kräftigung des angestammten heiligen Zaren-Despotismus; der dritte glaubt an die Wirksamkeit der ableitenden Behandlung und empfiehlt einen frischen, fröhlichen Krieg gegen Deutschland, Österreich, die Türkei, gegen alle Welt, wenn es sein muß. Die dunkle Masse des Volks aber unterhält sich während dieser langwierigen Berathung ihrer Ärzte mit der Plünderung und Ermordung der Juden und wirft bereits Seitenblicke auf das Herrenschloß, indeß sie den Krug und die Synagoge des Hebräers der Erde gleich macht.

In England scheint bei oberflächlicher Betrachtung der Boden fest und der Staatsbau ganz. Wenn man aber das Ohr an die Erde legt, so fühlt man sie beben und hört die dumpfen Schläge der unterirdischen Riesen, die mit den Hämmern an die Decke ihres Gefängnisses pochen und wenn man die Mauern ganz nahe besieht, so erkennt man unter dem Firniß und der Vergoldung die gefährlichen Sprünge, die von unten bis oben laufen. Die Kirche, der Geburts- und der Geldadel sind stramm organisirt und stützen einander in richtiger Erkenntniß der Gemeinschaftlichkeit ihrer Interessen. Die Bürgerschaft fügt sich ergeben den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen der herrschenden Kaste und heuchelt Frömmigkeit und bekundet Ehrfurcht vor einem Titel und schwört darauf, daß nur das, was den oberen Zehntausend nach dem Strich geht, anständig, was aber deren Vortheile zuwiderläuft, gemein und unaussprechlich sei. Allein der Arbeiter, der Pächter stehen außerhalb des Banns dieser Verschwörung; sie fordern ihren Antheil am Kapital und am Boden; sie bilden Vereine von Freidenkern und Republikanern; sie ballen die Faust gegen das Königthum und gegen die Aristokratie und wer die Zukunft nicht im Kaffeesatz, sondern in den Augen der englischen Proletarier zu lesen sucht, der sieht sie finster und gewitterhaft. Von Irland spreche ich gar nicht. Dort ist die wirthschaftliche Revolution in donnerndem Gang, der Mord hält den Straßendamm im Besitze und wenn die englische Regierung das Volk nicht in einem Blutmeer ertränken kann, so wird sie zugeben müssen, daß der Besitzlose sich der Güter des Besitzenden gewaltsam bemächtige und ein Beispiel schaffe, das bald genug in England selbst und noch an vielen anderen Orten Nachahmung finden würde.

In Italien hält sich ein schwachwurzelndes Königthum mühsam gegen die steigende Fluth des Republikanismus. Die fiebergeschüttelten, vom Pellagra verwüsteten Tagelöhner der lombardischen Reisebene und der romagnischen Sumpf-Einöden wandern aus, oder wenn sie im heimischen Elend bleiben, so fragen sie untereinander nach dem Rechtstitel der Großgrundbesitzer, denen sie um 50 Centesimi täglich das Mark ihrer Knochen verkaufen. Die Irredenta sucht der Jugend, welcher seit der Einigung Italiens das feste Ziel traditioneller begeisterter Sehnsucht genommen ist, ein neues Ideal an Stelle des verwirklichten zu bieten. Die geheimen Leiden des Volks verrathen sich durch einzelne böse Anzeichen, die im Süden Camorra und Maffia heißen und im Toskanischen die Form religiösen Fanatismus und kommunistischen Urchristenthums annehmen.

Frankreich konnte sich unter allen europäischen Ländern bis vor Kurzem vielleicht des besten staatlichen Gesundheitszustandes rühmen; aber auch da wie viele Krankheitsanlagen, wie viele Keime zukünftiger Übel! An allen Straßenecken der Großstädte predigen aufgeregte Volksredner Gütervertheilung und Petroleum, der vierte Stand rüstet sich, bald lärmend, bald in der Stille, von der Regierung Besitz zu ergreifen und die seit 1789 alleinherischende Bourgeoisie aus den Amtsstuben und Sinekuren, aus dem Parlament und den Gemeinde-Vertretungen hinauszujagen; die alten Parteien sehen den Tag des unvermeidlichen Zusammenstoßes kommen, und bereiten sich, aber zaghaft, ohne Vertrauen, ohne Hoffnung, ohne Einigkeit, mit klerikalen, monarchischen und militär-diktatorialen Komplotten auf ihn vor.

Wozu noch bei den kleineren Ländern verweilen? Der Name Spanien erweckt sofort die Darstellung des Karlismus und Kantonalismus. Bei Norwegen denkt man an den Konflikt zwischen Regierung und Volksvertretung, der die Republik in sich schließt wie das Fruchtfleisch den Samenkern. Dänemark hat seine Bauernpartei und chronische Ministerkrise, Belgien seinen wehrhaften Ultramontanismus. Alle Länder, die mächtigen so gut wie die schwachen, haben ihr besonderes schweres Gebreste und sie glauben Erleichterung, wenn schon keine Heilung zu finden, indem sie mit wachsender Beklemmung Jahr für Jahr Milliarden auf dem Altar des Militarismus opfern, wie im Mittelalter die Großen von gefährlichen Krankheiten genesen zu können hofften, wenn sie ihr Vermögen der Kirche darbrachten.

II.

Die Gegensätze zwischen Regierung und Volk, die Ergrimmtheit der politischen Parteien gegeneinander, die Gährung in einzelnen Gesellschaftsklassen sind aber nur eine Form der allgemeinen Zeitkrankheit, die in allen Ländern dieselbe ist, trotzdem sie überall einen anderen lokalen Namen trägt und bald Nihilismus, bald Fenianismus, bald Sozialismus, Antisemitenthum oder Irredenta-Bewegung heißt. Eine andere weit schwerere Form derselben Krankheit ist die tiefe Verstimmung und Zerrissenheit, die unabhängig von nationaler und Parteizugehörigkeit, ohne Rücksicht auf politische Grenzen und gesellschaftliche Stellung jeder Vollmensch, der auf der Höhe der zeitgenössischen Kultur steht, in seinem Gemüthe empfindet und welche die charakteristische Tonart unserer Epoche ausmacht wie die unbefangene Daseinsfreudigkeit die des klassischen Alterthums und die Frömmigkeit die des frühen Mittelalters. Jeder Einzelne fühlt ein zorniges Unbehagen, dem er, wenn er ihm nicht analytisch auf den Grund geht, tausend naheliegende, zufällige, immer unrichtige Ursachen zuschreibt und welches ihn alle Erscheinungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit herber Kritik auffassen und grausam tadeln, wenn nicht verurtheilen läßt. Diese Ungeduld, auf welche alle äußeren Eindrücke aufregend und erbitternd wirken, nennen die einen Nervosität, die anderen Pessimismus, wieder andere Skeptizismus. Die Vielheit der Bezeichnungen deckt aber nur eine Einheit des Übels.

Dieses Übel tritt in allen Kundgebungen des menschlichen Geistes zu Tage. Die Literatur und die Kunst, die Philosophie und die positive Wissenschaft, die Politik und die Ökonomie sind von seiner Blässe angekränkelt. In der schöngeistigen Literatur finden wir seine ersten Spuren bereits am Ausgange des vorigen Jahrhunderts, wie denn die dichterische Hervorbringung diejenige Verrichtung des menschlichen Geistes ist, an der die leisesten Störungen und Veränderungen in der Verfassung der Menschheit am frühesten wahrnehmbar sind. Als die vornehmen Klassen sich noch in verderbten Lebensgenüssen wälzten und aus ihrem Dasein eine einzige Orgie machten, während die Philister nicht über ihre Nase hinaussahen und mit dem Weltlauf stumpf zufrieden schienen, da stieß Jean Jacques Rousseau seinen Sehnsuchtsruf nach Befreiung aus einer Gegenwart aus, die doch so viele Reize hatte, und schwärmte von einer Rückkehr in den Naturzustand, welchen er gewiß nicht buchstäblich als die ursprüngliche Barbarei, sondern blos allegorisch, als etwas von der Wirklichkeit Verschiedenes, ihr möglichst direkt Entgegengesetztes auffaßte. Sein Schrei erweckte in allen Zeitgenossen ein Echo, wie ein angeschlagener Ton alle in der Nähe befindlichen auf denselben Ton gestimmten Saiten zum Klingen bringt. Ein Beweis, daß Rousseaus Stimmung in allen Seelen vorbestand. Schwelger und Philister duselten sich mit Entzücken in ein heißes Verlangen nach Urwäldern und Wildniß-Existenzen hinein, das damals noch einen komisch wirkenden Kontrast zum Eifer bildete, mit dem sie sich alle Überfeinerungen und Laster der geschmähten Zivilisation für ihre Genüsse zu Nutzen machten. Von Rousseaus Verlangen einer Rückkehr zum Naturzustande stammt die deutsche Romantik in gerader Linie ab. Sie ist ein inkonsequenter Rousseauismus, der nicht den Muth hat, bis ans Ende des eingeschlagenen Weges zu wandern. Die Romantik kehrt nicht bis zur vorgeschichtlichen Epoche um, sondern macht schon auf einer früheren Station, im Mittelalter, Halt. Das Mittelalter, das die Romantik mit so leuchtenden Farben malt, ist ebenso wenig das wirkliche historische Mittelalter, wie Rousseaus Naturzustand der wirkliche Zustand des primitiven Menschen ist. In beiden Fällen handelt es sich um eine willkürliche Schöpfung der Phantasie, die ihre künstliche Welt nach einer identischen Methode, nämlich in allen Theilen im Gegensatz zur bestehenden, aufbaut; in beiden Fällen handelt es sich um eine Kundgebung desselben, bewußten oder instinktiven, Grundgefühls, nämlich eines Hinausstreben aus einer als unzulänglich empfundenen Gegenwart, mit dem unausgesprochenen Hintergedanken, daß jeder Zustand ein besserer sein müsse als der thatsächliche. Verfolgen wir die Genealogie dieser literarischen Tendenz weiter, so gelangen wir zur französischen Romantik, die eine Tochter der deutschen ist, und zur Byronschen Weltverachtung, die einen besonderen Zweig derselben Familie bildet. Von der Byronschen Linie stammen in Deutschland die Weltschmerzpoeten, in Rußland Puschkin, in Frankreich Musset, in Italien Leopardi ab. Der gemeinsame Zug in ihrer geistigen Physiognomie ist die tragische Unzufriedenheit mit der Weltrealität, die der eine in beweglicher Klage, der andere in bitterer Selbstverhöhnung, der dritte in exaltirter Sehnsucht nach neuen besseren Verhältnissen aushaucht.

Und ist denn die Literatur unserer eigenen Generation, die schöngeistige Hervorbringung der beiden letzten Jahrzehnte, nicht durchaus ein Fluchtversuch aus der Zeit und ihren Widerwärtigkeiten? Das Publikum verlangt Romane und Gedichte, die ihm von möglichst fernen Ländern und Epochen sprechen. Es verschlingt die altgermanischen Lebensbilder von Gustav Freytag und Felix Dahn, die mittelalterlichen Lieder von Scheffel und seinen Nachäffern, die ägyptischen und korinthischen und römischen Geschichten von Ebers und Hausrath-Taylor, oder wenn es seine Gunst auch einmal einem Buche zuwendet, das vorgibt, einen modernen Vorwurf zu behandeln, so muß dieses Werk sich durch einen unwahren, krankhaft sentimentalen Idealismus empfehlen, es muß ein Versuch sein, in unsere Tracht Menschen und in unsere Umgebung Vorgänge hineinzulügen, wo sie unsere Sehnsucht wünscht, aber wie sie nie jemand gesehen hat. Die englische Belletristik hat längst aufgehört, ein Spiegelbild der Wirklichkeit zu sein. So weit sie nicht mit greisenhafter Wollust Verbrechen und Schandthaten aller Art, Todtschlag, Raub, Diebstahl, Verführung, Erbschleicherei schildert, zeigt sie eine für Wohlgesinnte eingerichtete Musterwelt, in der die Edelleute schön, stolz, weise, großmüthig und reich, die gemeinen Bürgerlichen gottesfürchtig und den Vornehmen voll Untertänigkeit ergeben sind, die Tugendhaften von Grafen und Baronen gnädig gelobt, die Schlechten von der Polizei eingesperrt werden, – eine Welt, die mit einem Worte die naive Idealisirung der in allen Fugen krachenden, innerlich bereits abgestorbenen und verwesten gegenwärtigen Gesellschaftsordnung Englands darstellt.

Die französische Literatur scheint auf den ersten Blick in diesen allgemeinen Rahmen nicht zu passen. Aber auch nur auf den ersten Blick. Es ist wahr, sie beschränkt ihren Ausblick mit gewollter Ausschließlichkeit auf das Gegenwärtige und Thatsächliche. Sie versagt sich jedes Hinüberahnen und Hinübersehen in Vergangenheit oder Zukunft, in eine bessere oder doch andere Idealität. Sie huldigt einem Kunstprinzip, wofür sie die Bezeichnung Naturalismus gefunden hat. Aber man sehe einmal näher zu: ist der Naturalismus etwa ein Beweis von Zufriedenheit mit dem Bestehenden und in diesem Sinne ein Gegensatz zu dem pseudohistorischen und phantastischen Idealismus, den ich als eine starke Kundgebung von Ekel am Thatsächlichen und von Sehnsucht nach einer Erhebung über die wirklichen Verhältnisse anspreche? Welches sind die Gegenstände, die der Naturalismus mit einer Einseitigkeit, welche man ihm kurzsichtig vorgeworfen hat, behandelt? Zeigt er uns etwa Bilder des Glücks? Malt er uns etwa schöne und erfreuliche Seiten des Erdenlebens? Nein. Er verweilt bei den häßlichsten und trostlosesten Zügen der Zivilisation, namentlich der großstädtischen Zivilisation. Er bemüht sich, überall die Fäulniß, das Leiden, die sittliche Haltlosigkeit, den todtkranken Menschen und die agonisirende Gesellschaft darzustellen, und am Schlusse eines jeden Buches, das dieser Richtung angehört, scheint eine traurige Stimme den eintönig wiederkehrenden Satz zu murmeln: »Du siehst, gequälter Leser, dieses Leben, das hier mit unerbittlicher Richtigkeit geschildert wurde, ist wahrhaftig nicht werth, gelebt zu werden.« Das ist die unausgesprochene These, deren Beweis jede Schöpfung der naturalistischen Literatur darstellt; sie ist der Ausgangspunkt und die Endmoral dieser Bücher. Und sie ist nicht verschieden von der These, auf welcher der unwahre Idealismus der deutschen und englischen Literatur sich aufbaut. Die beiden Richtungen, weit entfernt, einander zuwider zu laufen, führen vielmehr zu demselben Ziele. Der Naturalismus spricht die Prämisse aus, der Idealismus zieht den Schluß aus ihr. Jener sagt: »Die realen Zustände sind unleidlich,« dieser fügt hinzu: »Darum fort mit ihnen, suchen wir sie einen Augenblick lang zu vergessen und uns in die tröstlichen idealen Zustände hineinzuträumen, die ich meinen Lesern vorgaukle.« Der Schriftsteller, der in schwärmerischen Versen fröhliches Leben fahrender Leute, holde Jungfrauen mit Liebe im Herzen und Lilien in den Händen und abenteuerliche Burgen auf morgenrothumglühten Bergspitzen singt und den der gerührte Philister den »edlen Dichter« nennt, ist blos die ergänzende Antinomie jenes andern Schriftstellers, der mit der Feder wie mit einem Stöberhaken in jedem Schlamme wühlt und für den derselbe Philister nicht genug kräftige Ausdrücke der Verachtung hat.

Ich bin bei der Literatur etwas länger verweilt, weil sie schließlich die vielseitigste, vollständigste Form ist, in welcher sich das Geistesleben einer Epoche äußert. Aber auch alle übrigen Kundgebungen des menschlichen Denkens in unserer Zeit lassen dieselben Züge erkennen, aus welchen sich die Physiognomie des zeitgenössischen Schriftthums zusammensetzt. Immer und überall Unruhe, Verstimmtheit, Erbitterung, die in den einen beim Schmerz oder Zorn über die unerträgliche Weltwirklichkeit stehen bleibt, bei den anderen sich zum bestimmten Verlangen einer Änderung aller Daseinsbedingungen weiterentwickelt. Die bildenden Künste hatten in früheren Epochen die Darstellung des Schönen zum Inhalt. Der Maler, der Bildhauer schilderte blos die gefälligen Anblicke ab, welche Welt und Leben boten. Wenn Phidias seinen Zeus skulpirt, wenn Raphael seine Madonna malt, so führt eine naive Bewunderung der menschlichen Form ihre Hand. Diese Künstler empfinden eine fröhliche Zufriedenheit mit den Hervorbringungen der Natur und wo ihr feines Gefühl ihnen eine leichte Unvollkommenheit derselben verräth, da eilen sie mit diskret nachbessernder, das heißt enschuldigender und idealisirender Hand darüber hinweg. Die heutige Kunst kennt weder jene naive Bewunderung noch diese fröhliche Zufriedenheit. Sie betrachtet die Natur mit gerunzelten Brauen und einem boshaften Blick, der besonders auf die Entdeckung der Fehler und Häßlichkeiten eingeübt ist; sie verweilt unter dem Vorwand der Wahrheit bei allen Mangelhaftigkeiten der Erscheinung, die sie unwillkürlich übertreibt, indem sie auf sie hindeutet und sie betont. Ich sage unter dem Vorwand der Wahrheit, denn die Wahrheit selbst liegt doch nicht in unseren Mitteln. Der Künstler gibt das Objekt nothwendig so wieder, wie er es persönlich schaut und empfindet, und der häßliche Steinklopfer Courbets ist ebenso subjektiv und von der absoluten Wahrheit in entgegengesetzter Richtung ebenso weit entfernt wie die holde Mona Lisa des Lionardo, für die sich Basari gerade um ihrer Naturtreue willen begeistert. Und selbst wo die moderne Kunst nicht umhin kann, die Schönheit anzuerkennen, wo sie ihr widerstrebend einen Tribut zollt, indem sie sie nachbildet, da sucht sie noch einen Makel auf sie zu werfen, indem sie eine Andeutung einschmuggelt, daß die edle und reine Form niedrigen Zwecken dient und durch sie entweiht wird. Die Hoheit des nackten Frauenleibes wird durch einen Zug von Sinnlichkeit und Liederlichkeit verleumdet, der in keinem derartigen zeitgenössischen Bilde fehlt und der auf einen Beschauer mit empfindlichen Sinnen ungefähr so wirkt wie das tückische: »Ja, wenn die Welt Alles wüßte«, das eine Klatschbase im Salon ihrem Nachbar ins Ohr zischt, nachdem jemand die Tugend einer Bekannten gepriesen. Die ältere Kunst zeigt ein behagliches Genügen an der Erscheinung, die neue eine selbstverbitternde Unzufriedenheit mit der Natur. Jene rühmt das Objekt, diese beklagt sich darüber. Jene ist eine stete Dithyrambe, diese eine endlose und nicht einmal immer gerechte Kritik. Die Grundanschauung, aus der beide hervorgehen, ist in dem einen Falle die, daß wir in der schönsten aller Welten leben, in dem andern die, daß unsere Welt kaum häßlicher sein könnte als sie ist.

In der Philosophie, sowohl in der zünftigen, die von den Lehrstühlen der Hochschulen herab gepredigt, wie auch in der, welche in aller Freiheit von den Gebildeten gepflegt wird, die ohne Fachmänner zu sein, sich doch für die hohen Probleme der menschlichen Erkenntniß interessiren, in der Philosophie ist die Modeströmung der Pessimismus. Schopenhauer ist Gott und Hartmann sein Prophet. Der Positivismus Auguste Comtes macht als Doktrin keine Fortschritte und breitet sich als Sekte nicht aus, weil selbst seine Anhänger eingesehen haben, daß seine Methode zu eng und sein Ziel nicht hoch genug ist. Die französischen Philosophen studiren fast nur noch die Psychologie oder genauer Psycho-Physiologie. Die englische Philosophie kann kaum mehr Metaphysik genannt werden, da sie darauf verzichtet hat, sich mit ihrer erhabensten Aufgabe, dem Suchen einer befriedigenden Weltanschauung, zu befassen, und sich nur noch mit praktischen Fragen zweiten Ranges beschäftigt: John Stuart Mill schloß sich wesentlich in die Logik, also in die Formenlehre des menschlichen Denkens ein; Herbert Spencer vertritt die Gesellschaftslehre, das heißt die geistigen und sittlichen Fragen, welche sich aus dem menschlichen Zusammenleben ergeben, Bain kultivirt die Theorie der Erziehung, treibt also angewandte Psychologie und Moralphilosophie. Nur Deutschland hat noch eine lebendige Metaphysik und diese ist eine düstere, trostlose. Der gute Doktor Pangloß ist todt und hat keine Erben hinterlassen. Der Hegelianismus, der für alles Vorhandene einen zureichenden Grund fand und in der Selbstüberredung, daß das Seiende ein logisch Bedingtes und Nothwendiges sei, doch noch eine Art kümmerlicher Beruhigung und Zufriedenheit schöpfte, ist in die Rumpelkammer der eingetragenen Systeme gewandert und die Welt wird von der Philosophie erobert, die tragisch darin gipfelt, daß der unleidliche Kosmos durch den Willen zum Nichtsein aller Wesen ins Nichts zurückgeführt werden soll.

Auf ökonomischem Gebiete äußert sich dieselbe Zeitkrankheit in anderer, aber nicht minder bezeichnender Form. Beim Reichen suchen wir vergebens die Empfindung geruhiger Sicherheit des Besitzes und der Freude an demselben, beim Armen ebenso vergebens ein geduldiges Sichbescheiden mit der nach menschlicher Voraussicht doch nicht zu ändernden Dürftigkeit. Jenen verfolgt die unbestimmte Besorgniß vor einer nahen Gefahr, er fühlt aus den Menschen und Verhältnissen eine dunkle, aber sehr wirkliche Drohung heraus und sein Vermögen scheint ihm ein bloßes Lehen, das ihm von einem Augenblick zum andern rauh abgefordert werden kann; diesen erregt der Neid die Gier nach dem Besitze des andern, er findet weder in sich noch in der Weltordnung, wie er sie erfassen gelernt hat, überzeugende Gründe dafür, daß er arm und von der Tafel der Lebensgenüsse ausgeschlossen bleiben soll, und er horcht voll grimmiger Ungeduld auf innere Stimmen, die ihn überreden, daß sein Anrecht auf einen verhältnißmäßigen Theil aller Güter so groß sei wie das des Besitzenden. Der Reiche fürchtet, der Arme hofft und erstrebt einen Wechsel der wirthschaftlichen Zustände und der Glaube an die Möglichkeit einer unveränderten Fortdauer derselben ist bei allen erschüttert, selbst bei jenen, die sich ihre Zweifel und Besorgnisse nicht eingestehen wollen.

Was lehrt uns die innere Politik in allen Kulturländern, in allen ohne Ausnahme? Die Gegensätze sind überall schroffer, die Parteikämpfe erbitterter als jemals vorher. Die gemäßigten Vertheidiger des Bestehenden sterben aus und werden an einem dieser Tage von der Erdoberfläche verschwunden sein. Vergebens wird man nach einem politischen Quietisten auslugen, der den Versuch wagen würde, Anhänger für die Anschauung zu werben, daß man an die bestehenden Einrichtungen nicht rühren, sie so erhalten solle, wie sie sind. Es gibt keinen Konservativen mehr. Die Bezeichnung müßte aus dem politischen Sprachgebrauche verschwinden, wenn man sie streng nach dem Wortsinn verwenden wollte. Ein Konservativer ist der, welcher bewahren will, was vorhanden ist. Darauf beschränkt sich niemand. Die Defensive hat aufgehört, eine politische Kampfesmethode zu sein. Nur die Offensive wird geübt. Es gibt nur noch Reaktion und Reform, das heißt Revolution nach rückwärts oder nach vorwärts. Jene will die Vergangenheit zurückbringen, diese das Herannahen der Zukunft beschleunigen. Die Gegenwart verabscheut der Reaktionär ganz so wie der Liberale.

Die allgemeine Rastlosigkeit und innere Zerrissenheit hat mannigfaltige und mächtige Rückwirkungen auf das individuelle Leben. In tausend Zügen gibt sich eine erschreckend weit verbreitete Scheu vor der Betrachtung und Erfassung der Weltwirklichkeit kund. Man fälscht eifrig die Werkzeuge der sinnlichen Wahrnehmung und des Bewußtseins, indem man durch aufregende oder narkotische Gifte aller Art das Nervensystem umstimmt, und beweist dadurch eine instinktive Abneigung gegen die Wahrheit der Erscheinungen und Verhältnisse. Das alte Problem des »Dinges an sich« sei hier nicht tiefer erörtert. Es ist sicher, daß wir blos Veränderungen in unserem eigenen Organismus, nicht solche, die außer uns vorgehen, direkt wahrnehmen können. Aber die Veränderungen in uns werden höchst wahrscheinlich durch Objekte außer uns veranlaßt und es ist gewiß, daß unsere Wahrnehmungen uns ein ungleich richtigeres Bild des Objekts geben, wenn sie blos durch die natürliche Mangelhaftigkeit unseres normal funktionirenden Organismus beeinflußt werden, als wenn zu dieser unvermeidlichen Fehlerquelle noch eine absichtliche Störung der Thätigkeit des Nervensystems durch verschiedene Gifte kommt. Nur wenn die Wahrnehmungen der Vorgänge um uns ein beständiges, sei es bewußtes oder unbewußtes Unbehagen in uns hervorrufen, werden wir das ebenso beständige Bedürfniß empfinden, diese Wahrnehmungen von uns abzuhalten oder sie derart zu modifiziren, daß sie angenehmer werden. Das ist der Grund, weshalb die Statistik überall eine fortwährende Zunahme des Alkohol- und Tabakverbrauchs nachweisen kann, weshalb die Gewohnheit des Opium- und Morphiumgenusses sich unheimlich verbreitet, weshalb die Gebildeten sich mit Gier auf jedes neue Betäubungs- und Reizungsmittel werfen, das die Wissenschaft ihnen zur Verfügung stellt, und weshalb wir heute neben Alkoholikern und Morphiomanen auch schon gewohnheitsmäßige Chloral-, Chloroform- und Äthertrinker kennen. Die Kulturmenschheit wiederholt im Großen das Vorgehen des Individuums, das einen Kummer in der Flasche zu ersäufen sucht. Sie will der Wirklichkeit entfliehen und verlangt die ihr notwendigen Illusionen von den Stoffen, welche ihr dieselben gewähren können. Hand in Hand mit dieser instinktiven Selbsttäuschung und zeitweiligen Flucht aus der Wirklichkeit geht die endgiltige Flucht aus der letztern: der Selbstmord nimmt allenthalben, besonders in den hochzivilisirten Ländern, in demselben Maße zu wie der Verbrauch von Alkohol und narkotischen Stoffen. Eine dumpfe Verbitterung, die manchmal bewußt ist, manchmal blos in Gestalt einer vagen, treibenden Unzufriedenheit empfunden wird, erhält jeden Strebenden in einer grimmigen Aufregung und gibt dem Kampfe ums Dasein in der modernen Gesellschaft wilde und diabolische Formen, die er in früheren Epochen nicht gehabt. Dieser Kampf ist nicht mehr ein Gefecht höflicher Gegner, die einander grüßen, ehe sie blank ziehen, wie Franzosen und Engländer vor der Schlacht von Fontenoy, sondern das wüste Handgemenge blut- und weinberauschter Gurgelabschneider, die thierisch zustoßen und Pardon weder erwarten noch gewähren. Man beklagt das Seltenwerden der Charaktere. Was ist ein Charakter? Eine Individualität, die in sicherer Orientirung einigen einfachen moralischen Grundsätzen folgt, welche sie als gut erkannt und zu Führern über die ganze Lebensbahn erkoren hat. Der Skeptizismus gestattet keine Charakterentwickelung, weil er den Glauben an leitende Grundsätze ausschließt. Wenn der Polarstern erlischt und der elektrische Pol verschwindet, hört der Kompaß auf, von Nutzen zu sein. Es gibt den festen Punkt nicht mehr, auf den er weisen könnte. Der Skeptizismus, auch eine Modekrankheit, ist aber wieder nur eine andere Form des Gefühls der Unzufriedenheit mit dem Bestehenden. Denn zur Anschauung, daß Alles eitel, daß nichts eine Aufregung, eine Anstrengung, einen Kampf zwischen Pflicht und Laune werth sei, gelangt man nur, wenn man alles Vorhandene als ärgerlich mangelhaft und unzulänglich empfinden und verachten gelernt hat.

Literatur und Kunst, Philosophie, Politik und Wirthschaftsleben, alle Erscheinungen des gesellschaftlichen und individuellen Daseins lassen also einen einzigen gemeinsamen Grundzug erkennen: die bittere Unbefriedigung über die Weltwirklichkeit. Aus diesen verschiedenartigen Kundgebungen des menschlichen Geistes tönt uns ein einziger schmerzlicher Schrei entgegen, den wir, wenn wir ihn volksthümlich artikuliren sollen, mit dem Rufe übersetzen können: »Hinaus, hinaus aus dem Bestehenden!«

III.

Hier drängt sich eine Frage auf: Ist dieses Bild blos das der Gegenwart? Paßt es nicht auch auf alle früheren Epochen?

Ich bin weit entfernt, nach dem Worte des römischen Dichters ein »Lobpreiser der Zeiten, die gewesen«, zu sein. Ich glaube nicht an ein goldenes Zeitalter in der Vergangenheit. Die Menschen haben ohne Zweifel immer gelitten; sie sind immer unzufrieden und unglücklich gewesen. Der Pessimismus hat eine physiologische Begründung und ein gewisses Maß von Leiden ist durch die Beschaffenheit unseres Organismus bedingt. Wir werden uns ja unseres Ich nur dadurch bewußt, daß wir leiden. Unser Ich wird uns nämlich blos durch die Empfindung seiner Begrenzung zum Bewußtsein gebracht und die Empfindung der Begrenzung wieder wird einzig durch einen mehr oder minder unsanften Zusammenstoß mit den Dingen hervorgerufen, die außerhalb unseres Ich vorhanden sind. So wird man in einer dunklen Stube des Vorhandenseins der Wände blos dadurch gewahr, daß man mit Kopf oder Zehen gegen sie anrennt. Der Mensch erkauft also sein Bewußtsein durch Schmerzempfindungen und der Gegensatz zwischen dem Objekt und dem Subjekt wird ihm blos durch beständiges Unbehagen zur Erkenntnis gebracht. Allein wenn es wahr ist, daß die Menschheit immer litt und klagte, daß sie zu allen Zeiten den schmerzlichen Gegensatz zwischen Wunsch und Besitz, zwischen Ideal und Wirklichkeit empfand, so ist es nicht minder wahr, daß die menschliche Unzufriedenheit noch nie so tief und weit verbreitet war, sich noch nie gegen so viele Veranlassungen zugleich richtete, noch nie in so radikalen Formen auftrat wie heute.

So weit wir die Geschichte überblicken, weiß sie von Parteikämpfen und Revolutionen zu berichten. Es mag oft den oberflächlichen Anschein haben, als wäre der selbstsüchtige Ehrgeiz einiger Führer der einzige Anstoß zu solchen Bewegungen, denen nach dieser kurzsichtigen Auffassung die Massen, welche ihnen ihre Wucht geben, innerlich völlig fremd blieben. Ich glaube aber nicht an die Berechtigung der Identifikation dieser Bewegungen mit ihren Führern. Parteien bilden und schaaren sich nur um Schlagwörter, in denen Theile eines Volkes den Ausdruck ihrer dunklen Aspirationen zu finden glauben, und wenn eigennützige Ambition in der Regel die elementaren Volksleidenschaften zu ihrem Nutzen arbeiten läßt wie ein Fabrikant die Wasser-, Dampf- oder Windeskraft, so kann sie ihren Zweck doch nur erreichen, indem sie heuchelt, die Verwirklichung großer allgemeiner Wünsche anzustreben. Parteikämpfe sind für ein Volk, was für den Lastträger die Bewegung ist, mit der er die Bürde von einer Achsel auf die andere hinüberschwingt um sich eine kleine und im Grunde trügerische Erleichterung zu schaffen, und Revolutionen sind Sturmfluthen, durch welche eine Ausgleichung des Niveaus der Volksideale und der wirklichen Zustände versucht wird. Sie sind nie willkürlich, sondern ganz so die Wirkung eines physikalischen Gesetzes wie der Orkan, der die durch Temperaturunterschiede verursachte Dichtigkeits-Verschiedenheit der Luft ausgleicht, oder wie der Katarakt, der die Spiegel zweier Wasserläufe auf dieselbe Richthöhe bringt. So oft zwischen den Volkswünschen und den tatsächlichen Verhältnissen der Niveauabstand zu weit wird, bricht mit Naturnotwendigkeit eine Revolution aus, welche die organisirten Gewalten eine Weile künstlich aufdämmen, auf die Dauer aber nie hintanhalten können. Die Umwälzungen sind es deshalb allein unter allen Zeugnissen der Geschichte, die uns gestatten, aus ihrer Gewalt, ihrem Umfang und ihren Zielen mit Sicherheit auf den Grad und die Objekte der jeweiligen menschlichen Unzufriedenheit zu schließen.

Nun denn: alle Revolutionen, welche die Geschichte bis zur neuesten Zeit verzeichnet, hatten eine verhältnißmäßig geringe Ausdehnung und richteten sich gegen eine beschränkte Anzahl als unleidlich empfundener Verhältnisse. Den Inhalt der inneren Politik des republikanischen antiken Rom bildet der Kampf der Plebejer gegen die Patrizier. Was waren die Aspirationen der niedriggeborenen Masse, die sich in den Namen Catilinas und der Gracchen verkörpern? Sie wollten einen billigen Antheil am gemeinsamen Grundbesitze, sie wollten ein mitentscheidendes Wort über die Angelegenheit des Staates. Im antiken Gemeinwesen hatte der einzelne Bürger ein außerordentlich stark entwickeltes Gefühl für den staatlichen Zusammenhalt und die sich daraus ergebenden Pflichten und Rechte. Auf sich selbst gestellt, empfand sich das Individuum als klägliches Fragment, ein Ganzes und Volles wurde es in den eigenen Augen erst, wenn es an richtiger Stelle als nöthiger Theil ins Staatsgefüge hineingepaßt war. Der römische Plebejer sah sich als ungerecht verachteten und enterbten jüngeren Sohn eines reichen Hauses an und stritt um den Platz am väterlichen Tische und um die Stimme im Familienrats. Allein es fiel ihm nicht ein, sich gegen die bestehende Ordnung des Staates und der Gesellschaft aufzulehnen. Er war auf sie stolz und bot ihr eine frohe Unterwerfung. Er schätzte den Patrizier um seiner vornehmen Geburt willen und neidete ihm weder die erblichen Ehren im Tempel der Götter noch die äußeren Abzeichen des höheren Ranges. Zufrieden nahm er die Stufe auf dem ragenden Treppenbau der gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Rangordnung ein, auf die ihn der unabänderliche Zufall der Geburt gestellt hatte, und wenn er mit Ehrfurcht über sich die ritterlichen und senatorialen Familien sah, so erblickte er mit Selbstgefühl unter sich die Menge der ganz und halb Unfreien, der Sklaven und Freigelassenen.

Tiefer war die Unzufriedenheit jener Sklaven, welche sich in der verworrenen Zeit des Übergangs der Republik ins Kaiserreich wiederholt empörten und mit dem Opfer ihres Lebens in furchtbar tragischen Kämpfen gegen die bestehende Gesellschaftsordnung protestirten. In diesen namenlosen Haufen, die den lebendigen Unterbau für die überraschend monumentale Gestalt des Spartacus bilden, ahnen wir zum ersten Male das Fressen und Wühlen des weißglühenden Zweifels, ob Alles, was ist, auch wirklich so sein müsse, wie es ist, jenes Zweifels, der sich nie in die Striemen der lastenschleppenden Ägypter eingebrannt zu haben scheint, welche uns die alten Wandmalereien der Tempel und Gräber in langen, stummen, trostlosen Reihen zeigen, und dessen marternde Berührung die zweihundert Millionen geduldiger Inder noch nicht gespürt haben, welche heute schweigend das Joch der Engländer tragen, wie sie seit Jahrtausenden das ihrer Kasten-Ordnung ertrugen. Aber auch die Parteigänger des Spartacus waren weder Radikale noch Pessimisten in unserem Sinne. Sie stießen auch blos gegen den Stachel, nicht gegen den, der ihn hielt. Ihr Zorn galt nicht der Weltordnung, sondern ihrem Platze in derselben. Sahen sie ein, daß der Verstand es nicht rechtfertigen könne, Menschen mit Willen und Einsicht wie Vieh und leblose Sachen als Eigenthum zu behandeln? Mit Nichten. Die Einrichtung der Sklaverei nahmen sie an und ließen sie gelten, sie wollten nur selbst nicht Sklaven sein. Ihr Ideal war nicht die Zerstörung einer unvernünftigen Gesellschaftsform, sondern ein Rollentausch. Diese Revolutionäre konnten leicht befriedigt werden. Ein Sieg machte aus den Verzweifelten Zufriedene und aus den Rebellen Stützen der Gesellschaft!

Eine tiefere geistige Bedeutung wohnt den großen Bewegungen des Mittelalters inne. Die Bilderstürme, die Kreuzzüge, die Waldenser- und Albigenser-Fanatismen enthüllen uns einen Zustand schwerer Beunruhigung der Seelen. Der geheimnißvolle Zauber des Fabellandes im Sonnenaufgang kann seine lockende Gewalt auf rohe Gemüther nur üben, wenn ein dunkler Drang nach Änderung der gewohnten Verhältnisse sie quält. Die Hunderttausende, die aus Europa nach dem Palästina strömten, welches ihnen wie das unbekannte Verderben erscheinen mußte, hatten zur Führerin nicht so sehr die Kreuzesfahne, wie eine leuchtende Wolkengestalt, die ihnen voranzog und die sie alle mit den Augen der Seele sahen, und diese Führerin war das Ideal. Der Glückliche verließ gewiß nicht sein heimisches Behagen, um nach dem heiligen Grabe zu wallen; dies that nur der Suchende und Sehnende, der Wechsel und Besserung verlangte. Und die Menschen, die für ihren Glauben tödteten und sich schlachten ließen, die um eines winzigen Zweifels willen den Scheiterhaufen bestiegen oder ganze Bevölkerungen ausrotteten, waren zuverlässig auch keine zufriedenen Genießer der Gegenwart. Denn wer eine so fieberhafte Angst um sein Seelenheil, das heißt um die Bedingungen seines Glücks im künftigen Dasein hat, wer sich dieses versprochene Leben jenseits des Grabes mit solchen Opfern, Anstrengungen und Leiden vorbereitet, dem hat das Diesseits, das Leben im Fleische, gewiß keine ausreichenden Befriedigungen gebracht. Die mittelalterliche Menschheit war also zweifellos ebenfalls unzufrieden und aufgeregt; was sie jedoch von gewaltsamer Auflehnung gegen das Bestehende abhielt, das war, daß sie in ihrem Glauben einen Trost und eine Beruhigung hatte, welche sie alle irdischen Übel leicht und beinahe fröhlich ertragen ließen. Wer mit Zuversicht ein neues Glück erwartet, der bescheidet sich mit einstweiligem Ungemach und empfindet es kaum.

Aber die Menschheit entwickelte sich weiter und der Trost des Glaubens begann zu versagen. Es kam der Moment, wo die Religion nicht mehr das sicher wirkende Ventil gegen den aufrührerischen Unmuth der Unzufriedenen war. Dieser Augenblick war kritisch. Um ein Weniges geschah es, daß die Skepsis und Zerrissenheit, die erst unserer Zeit eigen sind, vierhundert Jahre früher in die Gemüther einzogen. Die Menschen ließen sich indeß ihre lieben Illusionen nicht ohne Widerstand rauben, sondern machten eine große Anstrengung, um sie noch festzuhalten. Diesen Kampf um ein tröstliches Ideal nennt die Geschichte die Reformations-Bewegung. Sie hatte die Wirkung, das Erwachen der Menschen aus einem angenehmen Dusel um Jahrhunderte zu stunden. Dennoch treten damals bereits einzelne Zeichen zu Tage, die für das Entstehen eines Pessimismus sprechen, welchen der Glaube an ein besseres Jenseits nicht mehr zu bändigen vermag. Der deutsche Bauernkrieg war die That verzweifelter Menschen, denen das Paradies keine hinlängliche Entschädigung für irdisches Elend zu sein schien und die sich mit gewaltthätiger Faust schon hienieden eine Abschlagszahlung auf die Summe künftiger Freuden sichern wollten.

Bis zur französischen Revolution müssen wir gehen, um ein Volk in einer Verfassung zu finden, in welcher ihm alles Bestehende genug unleidlich scheint, um es mit jedem Opfer und um jeden Preis wegzuräumen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit beobachten wir da eine breite volksthümliche Bewegung, die nicht gegen ein bestimmtes einzelnes Objekt, sondern gegen die Gesammtheit aller Zustände anstürmt. Da wollen nicht mehr die Armen sich in den Besitz des ager publicus setzen wie die römischen Plebejer, nicht mehr Enterbte und Bevormundete das Recht der Selbstbestimmung und der Menschenwürde erstreiten wie die Sklaven des Spartacus, nicht mehr einzelne Klassen sich beschränkte Vorrechte sichern wie die Bürger in den Städte-Aufständen des Mittelalters, auch nicht trostbedürftige Träumer sich gegen geistigen Zwang die ihnen am tröstlichsten scheinende Form ihres Traumes wahren wie die Waldenser, die Albigenser, die Hugenotten, die Reformationskrieger. Das Alles ist in der großen Revolution, aber noch mehr, noch Andres. Sie ist zu gleicher Zeit materiell und intellektuell. Sie verneint den Glauben und stellt die herkömmliche Form des individuellen Besitzes in Frage. Sie sucht den Staat und die Gesellschaft auf neuer Grundlage und nach neuem Plane aufzubauen. Sie hat den Willen, dem Leibe und der Seele angenehmere Daseinsbedingungen zu schaffen. Sie ist eine Explosion, die nicht blos auf einzelne schwächere Stellen sondern auf die ganze ihr entgegenstehende Oberfläche mit gleichmäßiger Wucht einwirkt und den ganzen Rahmen der kulturmenschlichen Verhältnisse auseinandersprengt.

Gewiß, um sich so wild gegen alle Einrichtungen aufzubäumen und sie so vollständig bis auf den Erdboden wegfegen zu wollen, muß man sie furchtbar intensiv als absurd empfunden und unter ihrem Zwange überaus schwer gelitten haben. Und doch – wir überraschen in der großen Revolution einen Zug, der es uns unmöglich macht, den Seelenzustand, aus dem sie hervorgegangen ist, für einen so qualvollen zu halten wie den der Jetztzeit; und dieser Zug ist ihr unerschöpflicher Optimismus. In der That: die Männer der großen Revolution waren völlig frei von der Krankheit des Pessimismus. Hoffnung und Zuversicht erfüllte sie zum Überströmen. Sie hatten die feste Überzeugung, unfehlbare Mittel zur Sicherung des absoluten Menschenglücks zu besitzen, und mit dieser Überzeugung ist es unmöglich, nicht selbst glücklich zu sein. Es ist in diesen Männern die Frühlings- und Morgenrothstimmung, aus der heraus Uhland sein jubelndes: »Die Welt wird schöner mit jedem Tag – Nun muß sich Alles, Alles wenden!« singt. Diese Jugendlichkeit, ja Kindlichkeit der Hoffnungen und Illusionen, diese Freudigkeit beim Ausblick in die Zukunft ist vielleicht das allermerkwürdigste Phänomen an der großen Revolution.

Von unserer raschen Wanderung durch die Jahrhunderte bringen wir die Lehre mit, daß die heutige Zeitstimmung in der Vergangenheit ihres Gleichen nicht hat. Nur einen Moment gibt es in der Weltgeschichte, der in dieser Hinsicht an die Gegenwart erinnert, und das ist die Epoche des Todeskampfes der antiken Welt. Diese Ähnlichkeit ist wiederholt hervorgehoben worden. Die ererbte Weltanschauung hatte sich überlebt und eine neue, die sie ersetzen konnte, war nicht gefunden. An das, was die Priester predigten und die Schule lehrte, glaubte man nicht mehr; die Voraussetzungen, auf denen die ganze Lebensführung beruhte, waren hinfällig und letztere dadurch anstößig, unlogisch und sinnlos geworden. Der Menschen hatte sich infolge dessen eine Ermüdung, eine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bemächtigt, die ihnen das Leben unerträglich machte. Sie fanden weder in sich noch außer sich einen Trost, sie verloren bis auf die letzte Spur den Glauben an die Möglichkeit einer Besserung, eines erfreulicheren Morgen, und wie eine unheimliche moralische Epidemie raffte sie der Selbstmord zu Tausenden hin. Nur in jener schreckhaften Zeit, in der das römische Weltreich verfiel und das alte Heidenthum unterging, finden wir dieselbe Bangigkeit der einen und düstere Verzweiflung der anderen, dieselbe suchende Unruhe und bittere Tadelsucht, denselben Skeptizismus bei den Oberflächlichen und Pessimismus bei den Tiefen, welche unsere eigene Kulturepoche charakterisiren. Aber auch zwischen diesen beiden ähnlichen Epochen besteht doch noch ein letzter Unterschied: im kaiserlichen Rom ergriff die bis zum Todesverlangen gesteigerte Verzweiflung blos die geistig Vornehmen, also eine im Verhältniß zur Gesammtheit ganz kleine Schaar von Auserlesenen, während die große Menge in dumpfer Gedankenlosigkeit hinlebte und die ungeheure Tragik des Moments höchstens als äußerliche, materielle Noth der Zeit empfand; in unserer Zeit dagegen erstreckt sich diese Stimmung wie eine allgemeine, eine ganze Erdhälfte beschattende Dämmerung über die riesige Mehrheit aller Kulturmenschen. Wohl ist das nur ein Mengen-, kein Gattungs-Unterschied. Allein was eine schwere Krankheit grauenhaft macht, das ist eben ihre weite Verbreitung.

IV.

Woher nun dieser unleidliche Seelenzustand der Kulturmenschheit? Woher diese in solcher Tiefe und Ausdehnung beispiellose Verstimmtheit und Verbitterung aller Denkenden in einer Zeit, die doch selbst den Ärmsten eine Fülle geistiger und materieller Befriedigungen leicht erreichbar macht, welche sich früher selbst ein König nicht verschaffen konnte?

Woher? Aus derselben Ursache, welche die gebildeten Spätrömer mit jenem Ekel vor der Leere des Daseins erfüllte, von dem sie sich blos durch den Selbstmord befreien zu können glaubten; aus dem Gegensatz zwischen unserer Weltanschauung und allen Formen unseres individuellen, gesellschaftlichen und bürgerlichen Lebens. Jede unserer Handlungen widerspricht unseren Überzeugungen, verhöhnt sie, straft sie Lügen. Ein unüberbrückbarer Abgrund klafft zwischen unserer Erkenntniß, zwischen dem, was wir als Wahrheit empfinden, und den herkömmlichen Einrichtungen, unter denen wir zu leben und zu wirken gezwungen sind.

Unsere Weltanschauung ist die naturwissenschaftliche. Wir fassen den Kosmos als eine Stoffmasse auf, welche als Attribut die Bewegung hat, die, im Grunde eine einzige, uns in der Form verschiedener Kräfte zur Wahrnehmung gelangt.Die Bedenken, die vom erkenntnißtheoretischen Standpunkte aus gegen diese Weltanschauung erhoben werden können, sind mir recht wohl bekannt. Ich kann mir ebensowenig wie ein Anderer ein Atom vorstellen, das noch ein Körper sein, aber keine Theile mehr haben soll; ich weiß ebensowenig wie ein Anderer, auf welche Art die Kraft, die etwas Unkörperliches sein muß, auf Körper zu wirken vermag. Aber diese erkenntnißtheoretischen Schwierigkeiten sind nicht entfernt so groß wie die der theologischen Weltanschauung mit ihrer Annahme einer Schöpfung von Stoff aus dem Nichts und eines undeterminirten Prinzips, das selbst determinirt handelt, das keinen Ursprung und keine Ursache hat und doch in einem gegebenen Moment in sich die Ursache zu einer Handlung, nämlich Weltschöpfung findet u. s. w. Und doch haben sich die gläubigen Philosophen durch ihr absolutes Unvermögen, eine annehmbare Erkenntnißtheorie zu bieten, nie an ihrer theologischen Weltanschauung irre machen lassen. Die Bewegung sehen wir von bestimmten Gesetzen regiert, die wir zum Theil erkannt, definirt, experimentell erprobt haben, denen wir zum andern Theil auf der Spur sind, die wir für unwandelbar halten und von denen wir keine Ausnahme kennen. Die Frage nach dem letzten Grund und nach dem Anfang der Dinge haben wir als eine mit den Mitteln unseres Organismus unlösbare aufgegeben. Zur Bequemlichkeit, als provisorischen Abschluß einer Gedankenreihe, die formal nicht Fragment bleiben kann, nehmen wir, allerdings willkürlich, eine nicht direkt zu erweisende Ewigkeit des Stoffs an. Diese Annahme, die einzige arbiträre in unserem System, reicht uns vollständig zur Erklärung aller übrigen Phänomene aus und widerspricht nicht unserer Einsicht in das Walten der natürlichen Gesetze. Sie macht uns die ebenso willkürliche, ebenso unerweisbare Annahme eines ewigen Willens oder Intellekts oder wie man immer »Gott« umschreiben will, unnöthig, die den Nachtheil hätte, zu einer Reihe anderer Annahmen – wie Vorsehung, Seele, Unsterblichkeit u. s. w. – zu führen, welche unfaßbar und unvernünftig sind und zu allen unangreifbar bewährten Naturgesetzen in Widerspruch stehen. Wenn wir vom Weltganzen zu unserer Gattung, zur Menschheit, herabsteigen, so ergiebt sich aus unserer naturwissenschaftlichen Auffassung mit Nothwendigkeit, daß wir im Menschen ein Lebewesen sehen, welches sich ohne Unterbrechung an die Reihe der Organismen anschließt und in jeder Hinsicht von den allgemeinen Gesetzen der organischen Welt regiert wird. Wir erkennen keine Möglichkeit, dem Menschen Sondervorrechte oder Zustände der Gnade zuzugestehen, welche nicht auch jedem andern Thier- oder Pflanzen-Individuum zukämen. Wir glauben, daß die Entwicklung der menschlichen wie die aller anderen Gattungen durch die Zuchtwahl vielleicht erst ermöglicht, jedenfalls aber gefördert wurde und daß der Kampf ums Dasein im weitesten Sinne die ganze Menschheitgeschichte ebenso wie das Dasein des obskursten Individuums formt und allen Erscheinungen der Politik wie des Gesellschaftslebens zu Grunde liegt.

Das ist unsere Weltanschauung. Aus ihr ergeben sich all unsere Lebensgrundsätze und unsere Rechts- und Moralauffassung. Sie ist ein Elementarbestandtheil unserer Kultur geworden. Sie durchdringt uns mit der Luft, die wir athmen. Es ist unmöglich geworden, sich gegen sie abzuschließen. Der Papst, der sie in der Encyklika verdammte, stand unter ihrem Einflusse. Der Jesuitenzögling, von dem man sie fernzuhalten sucht, indem man ihn in einer künstlichen Atmosphäre von mittelalterlicher Theologie und Scholastik aufzieht, wie man Seethiere in Binnland-Aquarien in weithergeholtem Meerwasser zu erhalten sucht, der Jesuitenzögling selbst ist von ihr erfüllt, er nimmt sie in sich auf, indem er die Maueranschläge in den Straßen sieht, indem er die Lebensgewohnheiten seiner Gesinnungsgenossen beobachtet, indem er fromme Zeitungen liest, indem er bei einem wohlgesinnten Buchhändler ein Brevier kauft, sein ganzes Seelenleben ist unbewußt von ihr gefärbt und durchtränkt, er hat unwillkürlich Gedanken und Empfindungen, wie sie der Mensch des elften Jahrhunderts nie gehabt hatte, und er hat gut das Unmögliche versuchen: er kann sich nicht verhindern, der Sohn der Neuzeit und ihrer spezifischen Zivilisation zu sein.

Und mit dieser Weltanschauung müssen wir in einer Kultur leben, die willig zugibt, daß ein Mensch durch den Zufall der Geburt die weitgehendsten Rechte über Millionen seiner ganz gleich, in vielen Fällen sogar weit besser organisirten Mitmenschen erlange, daß ein Mann, welcher sinnlose Worte spricht und zwecklose Bewegungen macht, als sichtbare Verkörperung übernatürlicher Gewalten verehrt werde, daß ein Mädchen in gewisser Lebensstellung ein schönes, kräftiges, blühendes Individuum nicht, wohl aber ein häßliches, schwächliches, verkümmertes heiraten dürfe, weil jenes einem sogenannten niedern, dieses einem ebenbürtigen Range angehört; daß ein gesunder und starker Arbeiter hungere, während ein kränklicher und unfähiger Müßiggänger in einem Überfluß schwelgt, den er gar nicht zu genießen vermag. Wir, die wir glauben, daß die Menschheit aus niedrigeren Lebensformen hervorgegangen ist, und die wir wissen, daß alle Individuen ohne Unterschied nach denselben organischen Gesetzen werden, dauern und vergehen, wir müssen uns vor einem Könige neigen, müssen in ihm ein unter besonderen Lebensgesetzen stehendes Wesen verehren und dürfen nicht lächeln, wenn wir auf den Münzen und in den Regierungsakten lesen, daß er durch eine mystische »Gnade Gottes« sei, was er ist. Wir, die wir überzeugt sind, daß alle Weltvorgänge von unabänderlichen und keine Ausnahme duldenden physikalischen Gesetzen bestimmt werden, müssen sehen, wie der Staat Priester besoldet, deren erklärte Aufgabe es ist, Zeremonien aufzuführen, die angeblich einen die Naturgesetze überwiegenden und unterjochenden Einfluß auf die Weltvorgänge üben sollen, wir müssen gelegentlich feierlichen Messen oder Gottesdiensten anwohnen, in denen für unser Gemeinwesen besondere geheimnißvolle Begünstigungen von einer der naturwissenschaftlichen Auffassung unfaßbaren übernatürlichen Kraft erbeten werden, und wir weisen den Individuen, die solche widersinnige Gaukeleien verüben, im Staate und in der Gesellschaft einen hohen Rang an. Wir glauben an die große und wohlthätige Wirkung der Zuchtwahl und vertheidigen dennoch gleichzeitig den Konventionalismus der Ehe, die in ihrer gegenwärtigen Form die Zuchtwahl direkt ausschließt. Wir erkennen im Kampfe ums Dasein die Grundlage allen Rechts und aller Moral und geben täglich Gesetze und stützen fortwährend Einrichtungen, welche das freie Spiel der Kräfte absolut verhindern, den Starken und Lebensberechtigten den Gebrauch ihrer triumphsichernden Fähigkeiten wehren und den naturgemäßen Sieg über die Hinfälligen zu einem todeswürdigen Verbrechen machen. So ist unser ganzes Leben auf hergebrachten Voraussetzungen einer anderen Zeit aufgebaut, die unseren heutigen Anschauungen in keinem Punkte mehr entsprechen. Form und Inhalt unseres bürgerlichen Daseins schließen einander heftig aus. Das Problem unserer offiziellen Kultur scheint zu sein, einen Würfel in einer Kugel von gleichem Rauminhalt unterzubringen. Jedes Wort, das wir sprechen, jede Handlung, die wir üben, ist eine Lüge gegen das, was wir in unserer Seele als Wahrheit erkennen. So parodiren wir uns gleichsam selbst und spielen eine ewige Komödie; die uns trotz aller Gewohnheit ermüdet, die von uns eine beständige Verleugnung unserer Erkenntniß und Überzeugungen verlangt und uns in Momenten der Selbsteinkehr mit Verachtung vor uns und dem Welttreiben erfüllen muß. Wir tragen bei hundert Gelegenheiten mit feierlichen Mienen und gesetztem Anstand ein Kostüm, das uns selbst eine Narrenjacke scheint, wir heucheln äußerliche Verehrung vor Personen und Einrichtungen, die uns innerlich im höchsten Grade absurd dünken und halten feige an Konventionen fest, deren vollständige Unberechtigtheit wir mit allen Fibern unseres Wesens fühlen.

Die Rückwirkung eines solchen ewigen Konflikts zwischen den Daseinsformen und den Überzeugungen auf das innere Leben des Individuums ist eine tragische. Man erscheint sich selbst wie ein Clown, der Alles lachen macht, aber den seine eigenen Späße anekeln und tief traurig lassen. Die Unwissenheit ist mit einer Art thierischen Behagens ganz gut vereinbar und man kann glücklich und zufrieden sein, wenn man alle Einrichtungen, von denen man umgeben ist, als nothwendig und vollberechtigt empfindet. Die Inquisitoren, die den Zweifel mit dem Würgstock und Scheiterhaufen verfolgten, wollten in ihrer Weise der Menschheit eine Wohlthat erweisen und ihr die Lebensfreudigkeit retten. Sowie man aber erkennt, daß die überkommenen Institutionen abgestorben und innerlich vermodert, daß sie leere, sinnlose Scheingebilde sind, halb Vogelscheuche, halb Theaterdekoration, muß man die Schrecken und Empörungen, die Entmuthigungen und Galgenhumoranfälle erleiden, die etwa ein Lebendiger hätte, welcher in eine Gruft unter Leichen gesperrt wäre, oder ein Vernünftiger, der unter Wahnsinnigen leben und, um nicht mißhandelt zu werden, auf alle ihre Verrücktheiten eingehen müßte.

Dieser beständige Widerspruch zwischen unseren Anschauungen und allen Formen unserer Kultur, diese Notwendigkeit, umgeben von Einrichtungen zu leben, die wir als Lügen betrachten, sie sind es, die uns zu Pessimisten und Skeptikern machen. Das ist der tiefe Riß, der durch die ganze Kulturwelt geht. In diesem unerträglichen Zwiespalt verlieren wir alle Daseinsfreude und alle Strebenslust. Er ist der Grund des fieberischen Unbehagens, das die Gebildeten aller Nationen verdüstert. Das unheimliche Räthsel der Zeitstimmung hat ihn zur Lösung.

Aufgabe der folgenden Kapitel wird es sein, diesen Zwiespalt zwischen den herrschenden konventionellen Lügen und der sich gegen sie empörenden naturwissenschaftlichen Weltanschauung im Einzelnen nachzuweisen.

 


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