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Der Mensch hat zwei mächtige Grundtriebe, die sein ganzes Leben beherrschen und den ersten Anstoß zu allen seinen Handlungen geben: den Trieb der Selbsterhaltung und den Trieb der Gattungserhaltung. Jener kommt am einfachsten als Hunger, dieser als Liebe zur Erscheinung. Die Kräfte, welche bei den Verrichtungen der Ernährung und Fortpflanzung wirken, sind uns noch dunkel, ihr Walten aber sehen wir klar. Wir wissen nicht, weshalb ein Individuum seinen Entwickelungskreis gerade in einer gegebenen und nicht in einer andern Zahl von Jahren durchläuft; weshalb das große und starke Roß nur 35, der kleinere und schwächere Mensch dagegen über 70 Jahre alt werden kann; weshalb der kleine Rabe bis zu 200, die weit größere Gans nur bis zu 20 Jahren lebt. Was wir aber wissen, das ist, daß jedes Lebewesen schon im Augenblicke seiner Geburt auf eine bestimmte Lebensdauer gestellt, wie ein Uhrwerk für eine bestimmte Ablaufszeit aufgezogen ist, die durch Einwirkung zufälliger äußerer Gewalten verkürzt, in keinem Falle aber verlängert werden kann. Ebenso vermuthen wir, daß auch die Gattungen für eine bestimmte Dauer angelegt sind, daß sie wie die Individuen in einem genau feststellbaren Augenblicke entstehen, gleichsam geboren werden, sich entwickeln, ihre Reife erreichen und sterben. Der Lebenszyklus einer Gattung ist zeitlich zu ausgedehnt, als daß die Menschen seinen Anfangs- und Endpunkt auch nur in einem einzigen Falle durch direkte Beobachtung hätten feststellen können; allein die Paläontologie gewährt zahlreiche sichere Anhaltspunkte, mit deren Hilfe man ohne Wagniß dahin gelangen kann, den Parallelismus der Lebens- und Entwickelungsgesetze des Individuums und der Gattung als Thatsache zu verkünden. So lange das Einzelwesen die ihm bei seiner Erzeugung mitgetheilte Lebenskraft nicht aufgebraucht hat, strebt es mit aller Anstrengung, deren es fähig ist, sich zu erhalten und gegen seine Feinde zu schützen; wenn seine Lebenskraft erschöpft ist, so empfindet es kein Nahrungsbedürfniß und keinen Vertheidigungsdrang mehr und stirbt. Ebenso kommt in der Gattung die Lebenskraft als Fortpflanzungstrieb zum Ausdruck. So lange die Lebenskraft der Gattung mächtig ist, strebt jedes vollausgestaltete Individuum derselben mit Anspannung all seiner Kräfte nach Paarung. Beginnt die Lebenskraft der Gattung zu ebben, so werden deren Individuen im Punkte der Fortpflanzung gleichgiltiger und hören zuletzt ganz auf, dieselbe als Nothwendigkeit zu empfinden. Wir besitzen im Verhältniß des Egoismus zum Altruismus innerhalb einer gegebenen Gattung und selbst innerhalb einzelner Menschenracen oder Völker ein sicheres Maß der Lebenskraft, welche diese Gattung, Race oder Nation noch besitzt. Eine je größere Anzahl Individuen derselben ihr Eigeninteresse höher stellt als alle Pflichten der Solidarität und alle Ideale der Gattungs-Entwickelung, um so näher ist das Ende ihrer Lebensfähigkeit gerückt. Je mehr Individuen einer Nation im Gegentheil den Instinkt des Heroismus, der Selbstlosigkeit, der eigenen Opferung für die Gesammtheit haben, um so gewaltiger ist ihre Lebenskraft. Die Verkümmerung nicht nur der Familie, sondern auch des Volkes beginnt mit dem Überwiegen der Selbstsucht. Das Vorherrschen des Egoismus ist das untrügliche Anzeichen der Erschöpfung der Gattungsvitalität, welcher sehr rasch die Erschöpfung der individuellen Lebenskraft folgen muß, wenn letztere nicht durch günstige Kreuzungen oder Umgestaltungen eine Fristerstreckung erfährt. Ist eine Race oder Nation auf diesen Punkt ihrer absteigenden Lebensbahn gelangt, so verlieren ihre Individuen die Fähigkeit, gesund und natürlich zu lieben. Der Familiensinn geht unter. Die Männer wollen nicht heiraten, weil es ihnen unbequem scheint, sich die Lasten der Verantwortlichkeit für ein anderes Menschenleben aufzubürden und für ein zweites Wesen außer sich selbst zu sorgen. Die Frauen scheuen die Schmerzen und Unbequemlichkeiten der Mutterschaft und streben auch in der Ehe mit den unsittlichsten Mitteln nach Kinderlosigkeit. Der Fortpflanzungsinstinkt, der nicht mehr die Fortpflanzung zum Ziele hat, verliert sich bei den einen und entartet bei den andern zu den seltsamsten und irrationellsten Verirrungen. Der Paarungsakt, diese erhabenste Funktion des Organismus, welche dieser nicht vor seiner vollen Reife verrichten kann und mit welcher die gewaltigsten Sensationen verbunden sind, deren das Nervensystem überhaupt fähig ist, wird zu einer ruchlosen Lüstelei entwürdigt und nicht mehr im Interesse der Gattungserhaltung vollzogen, sondern nur noch im ausschließlichen Interesse einer für die Gesammtheit zweck- und werthlosen individuellen Vergnügung. Wo die Liebe überhaupt noch, als Überlebsel oder Atavismus, auftritt, da ist sie nicht die Zusammenfügung zweier unvollständiger, halber Individualitäten zu einem ganzen und vollkommenen Individuum höherer Art, nicht die Entfaltung eines sterilen Einzellebens zu einem fruchtbaren Doppelleben, das sich in Nachkommenschaft unbegrenzt fortsetzen kann, nicht die unbewußte Hinüberleitung des Egoismus in den Altruismus, nicht das Einmünden der isolirten Individual-Existenz in den frischen, brausenden Strom des Gattungsdaseins, sondern eine wunderliche, sich selbst unverständliche und darum unmöglich zu befriedigende Bangniß, halb Träumerei, halb Hysterie, theils Selbstbetrug, Reminiszenz, Anempfindung von Gelesenem und Gehörtem und krankhafte, sentimentale Phantasterei, theils ganz direkt Überschnapptheit, impulsiver oder melancholischer Wahnsinn. Unnatürliche Laster nehmen überhand. allein während im Geheimen die Schamlosigkeit Orgien feiert, wird öffentlich im Gegentheil eine überaus empfindliche Zimperlichkeit zur Schau getragen und im Sinne des Sprichworts, daß man im Hause des Gehenkten nicht vom Stricke sprechen dürfe, vermeidet ein solches Volk, das hinsichtlich seines Geschlechtslebens ein böses Gewissen hat und sich seiner Begehungs- und Unterlassungssünden wohlbewußt ist, mit der Angst eines ertappten Verbrechers, diesen Punkt in Rede und Schrift auch nur von ferne zu streifen. Das ist das Bild der Geschlechtsbeziehungen einer niedergehenden Race, die entweder durch die natürliche Abnutzung, welche eine Folge des Alters ist, oder durch ungünstige Daseinsbedingungen oder durch das Walten schädlicher und thörichter Gesetze bis zur Erschöpfung ihrer Lebenskraft gelangt ist.
Wenn man mir nun zugibt, daß die Form der Beziehungen beider Geschlechter zu einander innerhalb eines Volkes ein Gradmesser der Lebenskraft des letzteren ist, und diesen Maßstab an die Kulturvölker des Westens legt, so gelangt man zu äußerst alarmirenden Wahrnehmungen. Die Verlogenheit der ökonomischen, sozialen und politischen Einrichtungen hat bei diesen Völkern auch das Geschlechtsleben vergiftet, alle natürlichen Instinkte, welche die Erhaltung und Vervollkommnung der Gattung sichern sollen, sind gefälscht und auf Abwege geleitet und der herrschenden Selbstsucht und Heuchelei werden die künftigen Generationen gerade des geistig entwickeltsten Theils der Menschheit ohne Zögern geopfert.
Zu allen Zeiten hat die Menschheit zuerst instinktiv gefühlt, dann vernünftig begriffen, daß es für sie nichts Wichtigeres als gebe ihre eigene Fortdauer, und alle Empfindungen und Handlungen, welche zu diesem vornehmsten Interesse der Gattung in irgend einer Beziehung stehen, haben von jeher den breitesten Platz in ihrer Gedankenwelt eingenommen. Die Liebe bildet ungefähr den ausschließlichen Inhalt der schönen Literatur aller Zeiten und Völker und jedenfalls den einzigen, der die Masse der Leser oder Hörer dauernd zu fesseln vermochte; das Endergebniß der Liebe, die Verbindung des Jünglings und Mädchens zu einem fruchtbaren Paare, ist anfangs von der Sitte und dem Gewohnheitsrechte der Völker, später von den geschriebenen Gesetzen mit so viel Zeremonien und Festgebräuchen, Vorbereitungen und Umständlichkeiten umgeben worden wie keine andere Handlung des menschlichen Lebens, selbst nicht die Wehrhaftmachung der Jünglinge, die doch bei barbarischen Stämmen, welche im Stande unausgesetzter Angriffe und Nothwehr leben, ein Akt von größter Wichtigkeit ist. Durch diese Förmlichkeiten, welche die Hochzeit umständlich machen, hat sich das Gemeinwesen stets eine Kontrolle über die Geschlechtsbeziehungen seiner Angehörigen gesichert und die Feierlichkeit, mit der es die Vereinigung eines Liebespaares behandelte, sollte in diesem das Bewußtsein erwecken, daß seine Umarmungen keine bloße Privatangelegenheit seien wie eine Mahlzeit, ein Jagdzug oder ein Abendvergnügen mit Gesang und Tanz, sondern ein Ereigniß von hoher öffentlicher Wichtigkeit und Bedeutung, welches dem ganzen Gemeinwesen nahegeht und auf dessen Zukunft mitbestimmend einwirkt. Um eine Herabwürdigung der Liebe zu einer bloßen Unterhaltung nach Möglichkeit zu verhüten, um ihren hehren Zweck, die Gattungserhaltung, thunlichst zu betonen, hat die Gesellschaft seit den ersten Anfängen der Gesittung grundsätzlich nur solche Beziehungen zwischen Mann und Weib als ehrenhaft anerkannt und durch ihre Achtung ausgezeichnet, deren Ernst die Probe eines öffentlichen Zeremoniells bestanden hat, diejenigen dagegen, welche sich dieser Weihe entzogen, mißbilligt und mit ihrem Abscheu oder sogar mit materiellen Ahndungen bestraft.
Auch in unserer hohen Kultur wie in deren barbarischen Anfängen muß der Geschlechtsdrang, wenn er nicht zu einem verächtlichen und verfolgten Laster herabsinken soll, die Gesellschaft zur Zeugin seiner Befriedigung anrufen und sich unter ihre Überwachung stellen; auch heute noch ist die Ehe die einzige Form der Beziehungen zwischen Mann und Weib, welche das Gemeinwesen gutheißt. Was hat nun die Lüge unserer Zivilisation aus der Ehe gemacht? Sie ist zu einer materiellen Übereinkunft herabgesunken, in welcher für die Liebe so wenig Platz bleibt, wie im Genossenschaftsvertrag zweier Kapitalisten, die zusammen ein Geschäft unternehmen. Der Vorwand der Ehe ist noch immer die Gattungserhaltung, ihre theoretische Voraussetzung noch immer die gegenseitige Anziehung zweier Individuen entgegengesetzten Geschlechts, tatsächlich aber wird die Ehe nicht im Hinblick auf die künftige Generation, sondern blos mit Rücksicht auf das persönliche Interesse der die Verbindung eingehenden Individuen geschlossen. Der modernen Ehe, besonders in den sogenannten besseren Klassen, fehlt jede sittliche Weihe und mit ihr die anthropologische Berechtigung. Die Ehe sollte die Sanktion des Altruismus sein, sie ist die des Egoismus. Die Eheschließenden wollen in dem neuen Verhältnisse nicht in und für einander leben, sondern bessere Bedingungen für die Fortsetzung eines behaglichen und verantwortungsfreien Sonderdaseins finden. Man heirathet, um die Vermögenslage günstiger zu gestalten, um sich ein angenehmeres Heim zu sichern, um einen gesellschaftlichen Rang einnehmen und behaupten zu können, um eine Eitelkeit zu befriedigen, um in den Genuß der Vorrechte und Freiheiten zu treten, welche die Gesellschaft den ledigen Frauenzimmern vorenthält und den verheirateten zugesteht. Man denkt bei der Eheschließung an Alles; an den Salon und die Küche, die Promenade und das Seebad, den Ball- und Speisesaal, nur an eins denkt man nicht, an das allein Wesentliche: an das Schlafzimmer, dieses Heiligthum, aus welchem wie ein Morgenroth die Zukunft der Familie, des Volkes, der Menschheit hervorbrechen soll. Muß nicht Verfall und Untergang das Los von Völkern sein, in deren Ehen die Selbstsucht der Gatten triumphirt, während das Kind in denselben ein unerwünschter, im günstigsten Falle gleichgiltiger Zufall, eine nicht leicht zu vermeidende, aber durchaus nebensächliche Folgeerscheinung ist?
Man wendet vielleicht ein, daß bei Naturvölkern, die in ursprünglichen Verhältnissen leben, die große Mehrzahl der Ehen nicht anders geschlossen wird wie in unserer hohen Kultur. Auch bei jenen spielt die Neigung in der Gründung eines Hausstandes keine Rolle. In dem einen Stamme heiratet der Mann ein Mädchen, das er erst nach der Hochzeit zum ersten Male sieht. In dem andern raubt der heiratslustige Jüngling das erstbeste Weib eines Nachbarstammes, dessen er habhaft werden kann. Wo man die Gattin wählt, da geschieht es nach Erwägungen, die mit Liebe nichts gemein haben. Man macht ein Mädchen zu seiner Hausfrau, weil im Stamme bekannt ist, daß sie tüchtig arbeiten kann, das Vieh sorgsam wartet, geschickt spinnt und webt. Also auch hier ist die Erhaltung des Stammes dem blinden Zufall oder dem Egoismus anvertraut und doch sind solche Völker voll Jugendkraft und ihre Entwickelung, weit entfernt, unter diesem Stande der Dinge zu leiden, ist eine rasch und freudig aufsteigende. Auf diesen Einwand ist zu erwidern, daß die nicht auf Liebe, sondern auf Selbstsucht und Herkommen gegründete Ehe aus anthropologischen Ursachen bei Naturvölkern nicht dieselben schlimmen Folgen hat wie bei Kulturnationen. Innerhalb primitiver Völker sind die Individuen leiblich und geistig wenig differenzirt. Bei allen Männern wie bei allen Weibern herrscht die Stammesart vor, während eine Eigenart gar nicht vorhanden oder nur im Keim angedeutet ist. Alle Individuen sind wie in einer einzigen Form gegossen und einander zum Verwechseln ähnlich; alle haben als Zuchtmaterial ungefähr den gleichen Werth. Da braucht denn der Paarung keine Zuchtwahl voranzugehen; ihr Ergebniß wird ungefähr dasselbe sein, die Eltern mögen sich wie immer zusammengefunden haben. Große Gleichartigkeit der Individuen schließt nicht nur die Nothwendigkeit, sondern sogar die Möglichkeit der Liebe aus. Der Fortpflanzungsdrang erweckt da im Individuum blos einen allgemeinen Wunsch nach dem Besitz eines Individuums des andern Geschlechts, er individualisirt jedoch nicht, mit einem Worte, er steigert sich nicht zu einer höhern Form, welche eben die konkrete Liebe zu einem bestimmten und keinem andern Wesen ist. Das ganze eine Geschlecht hat eine allgemeine Neigung zum ganzen andern Geschlechte und dem Manne wie dem Weibe ist es völlig gleichgiltig, welches Weib oder welcher Mann sein Genosse wird. Kommt einmal in einem Naturvolke ein Individuum vor, das aus der Uniformität des Stammes kräftig heraustritt und sich vor den übrigen Mitgliedern desselben durch körperliche oder geistige Eigenschaften auszeichnet, so wird der Unterschied sofort mit einer Intensität empfunden, von der wir, die an große individuelle Verschiedenheiten der uns umgebenden Menschen gewöhnt sind, uns kaum eine Vorstellung machen können; das große zoologische Gesetz der Zuchtwahl beginnt mit der Gewalt einer Naturkraft zu walten und der Wunsch nach dem Besitze dieses ausgezeichneten Individuums erreicht die Stärke einer furchtbaren, sturmartigen Leidenschaft, welche die extremsten Handlungen veranlaßt. Bei den zivilisirten Völkern aber, deren Individuen hoch differenzirt sind, liegen die Dinge ganz anders. In ihren ungebildeten, also weniger entwickelten unteren Klassen tritt der Fortpflanzungsdrang wohl auch noch mehr als allgemeiner Hang zum andern Geschlecht denn als aussondernde individualisirende Neigung auf und im Widerspruche zu den von schlecht oder gar nicht beobachtenden Dichtern verbreiteten sentimentalen Märchen ist da heftige Liebe zu einem bestimmten Wesen äußerst selten. In den höheren Klassen aber, wo die Individuen reich entwickelt, äußerst mannigfaltig und verschieden sind und scharf ausgeprägte Eigenarten darstellen, wird der Geschlechtstrieb ausschließlich und wählerisch und muß es auch werden, wenn die Nachkommenschaft lebensfähig und tüchtig sein soll. Da muß die Ehe, das heißt das einzige von der Gesellschaft für zulässig erklärte Verhältniß, aus welchem Nachkommen hervorgehen dürfen, ein Ergebniß von Liebe sein. Denn die Liebe ist der große Regulator des Gattungslebens, die treibende Kraft, welche zur Vervollkommnung der Art drängt und ihren physischen Verfall zu hindern sucht. Liebe ist die instinktive Erkenntniß eines Wesens, daß es mit einem bestimmten Wesen des andern Geschlechts ein Paar bilden müsse, damit seine guten Eigenschaften gesteigert, seine schlechten ausgeglichen werden und in seinen Nachkommen sein Typus wenigstens unverkümmert erhalten bleibe, womöglich aber eine Idealisirung erfahre. Der Fortpflanzungstrieb an sich ist blind und bedarf des sichern Führers, der Liebe, um sein natürliches Ziel zu erreichen, welches zugleich die Erhaltung und die Verbesserung der Art ist. Fehlt dieser Führer, wird die Paarung nicht durch gegenseitige Anziehung, sondern durch den Zufall oder durch anderweitige Interessen, welche mit ihrem physiologischen Zwecke nichts zu schaffen haben, bestimmt, so ist bei großer Verschiedenheit der Eltern das Kreuzungsprodukt wohl immer ein gleichgiltiges oder schlechtes. Die Kinder erben die Fehler der Eltern, die in ihnen verstärkt erscheinen, die Vorzüge derselben sind abgeschwächt oder heben einander völlig auf und es entsteht eine unharmonische, in sich zerrissene, zurückgehende Race, die zu raschem Erlöschen verurtheilt ist. Daß seine Verbindung mit einem bestimmten Individuum im Interesse der Stammes-Erhaltung und -Vervollkommnung erwünscht, die mit einem andern dagegen beklagenswerth wäre, das sagt dem Individuum nur eine einzige Stimme: die der Liebe. Goethe hat das Wesen der Liebe mit einem einzigen Worte so wunderbar erfaßt und so erschöpfend definirt, daß dicke Bände der Definition nichts hinzufügen könnten, und dieses Wort heißt: »Wahlverwandtschaft«. Es ist eine der chemischen Wissenschaft entlehnte Bezeichnung und verknüpft aufs tiefsinnigste einen durch die hysterische Schwärmerei begriffsschwacher und einsichtsloser Poeten mystisch verdunkelten Vorgang im Menschen mit den großen elementaren Vorgängen in der Natur. Die Chemie nennt Wahlverwandtschaft den Drang zweier Körper, sich mit einander zu einem neuen Produkt zu verbinden, welches in fast all seinen Eigenschaften, in Farbe, Aggregationszustand, Dichtigkeit, Wirkung auf andere Stoffe u. s. w., von den Körpern, die ihn gebildet haben, völlig verschieden ist. Zwei Körper, die zu einander nicht im Verhältniß der Wahlverwandtschaft stehen, können durch die ganze Ewigkeit in der innigsten Berührung mit einander sein, ihre Beziehung wird immer ein todtes Nebeneinander bleiben, sie wird zu keiner neuen Bildung, keiner Kraftwirkung, keinem lebendigen Vorgang führen. Sind diese Körper jedoch wahlverwandt, so braucht man sie nur einander nahe zu bringen, um augenblicklich rege, schöne, fruchtbare Bewegungserscheinungen hervorzurufen. Der menschliche Organismus ist der Schauplatz ganz gleicher Vorgänge. Zwei Individuen üben auf einander Wechselwirkung oder nicht. Sind sie wahlverwandt, so lieben sie einander, fliegen einander unter stürmischen Erscheinungen zu und werden zur Quelle neuer Bildungen. Sind sie es nicht, so stehen sie kalt und wirkungslos vor einander und ihr Beisammensein wird nie zu einer Episode des allgemeinen Lebensprozesses. Wir stehen da vor Ureigenschaften, welche dem Stoffe inhärent sind und die wir nicht zu erklären versuchen. Weshalb verbindet sich der Sauerstoff mit dem Kalium? Weshalb nicht der Stickstoff mit dem Platin? Wer wüßte das zu sagen? Und weshalb liebt ein Mann dieses eine Weib und nicht ein anderes? Weshalb will ein Weib diesen Mann und verschmäht alle andern? Offenbar, weil diese Anziehung und Gleichgiltigkeit im innersten Chemismus des betreffenden Wesens begründet sind und aus denselben Quellen fließen wie die organischen Vorgänge des Lebens selbst. Die Ehe nun ist ein Gefäß, in welches zwei verschiedene Körper, zwei chemische Individualitäten, miteinander eingeschlossen werden. Sind sie wahlverwandt, so ist das Gefäß vom Leben erfüllt; sind sie es nicht, so enthält das Gefäß den Tod. Wer fragt aber bei modernen Eheschließungen nach Wahlverwandtschaft?
Es gibt nur zwei Arten von Beziehungen zwischen Mann und Weib: solche, die auf natürlicher gegenseitiger Anziehung beruhen und in diesem Falle immer die Reproduktion bewußt oder unbewußt zum Zwecke haben, und solche, bei welchen dieser letztere Zweck nicht in erster Linie angestrebt wird und in welchen man nur die Befriedigung der Selbstsucht in irgend einer ihrer mannigfaltigen Formen sucht. Die ersteren Beziehungen sind die berechtigten und sittlichen, die letzteren bilden die große Kategorie der Prostitution, sie mögen sich äußerlich wie immer präsentiren. Das verworfene Geschöpf, das nachts in den Straßen der Großstadt seinen Leib gegen ein Silberstück einem gleichgültigen Vorübergehenden anbietet, dessen Züge es in der Dunkelheit nicht einmal unterscheiden kann, prostituirt sich; der Schandkerl, der einer alten Närrin den Hof macht und sich seine Huldigungen baar bezahlen läßt, prostituirt sich; für diese Handlungen gibt es nur eine Auffassung. Ich frage aber: wo ist der Unterschied zwischen dem Manne, der von seiner Geliebten ausgehalten wird, und dem, der einer Erbin oder der Tochter eines einflußreichen Mannes, für die er nicht die geringste Liebe empfindet, den Hof macht, um mit ihrer Hand zugleich Reichthum oder Stellung zu erlangen? Und wo ist der Unterschied zwischen der Dirne, die sich an einen Unbekannten gegen eine kleine Vergütung verkauft, und der züchtigen Braut, die sich vor dem Altar mit einem ungeliebten Individuum vereinigt, welches ihr im Austausche für ihre Umarmung einen gesellschaftlichen Rang oder Toiletten, Schmuck und Dienerschaft oder auch nur das kahle tägliche Brod bietet? Die Beweggründe sind in beiden Fällen die gleichen, die Handlungsweise ist dieselbe, ihre Bezeichnung muß nach Wahrheit und Gerechtigkeit dieselbe sein. Die von aller Welt für äußerst ehrbar gehaltene, sich selbst als ungemein sittenstreng betrachtende Mama, welche ihrer Tochter einen wolhabenden Freier vorstellt und deren natürliche Gleichgiltigkeit durch klugen Zuspruch und gute Lehren, etwa von dem Schlage: daß es thöricht sei, eine anständige Versorgung von der Hand zu weisen, daß es im höchsten Grade unvorsichtig wäre, auf eine zweite Gelegenheit zu warten, die sich möglicherweise nie wieder darbieten dürfte, daß ein junges Mädchen an praktische Zwecke denken und sich den albernen Kram romanhafter Liebesgeschichten aus dem Kopfe schlagen müsse, – zu überwinden bemüht ist, diese musterhafte Mama ist eine Kupplerin, nicht mehr und nicht minder als die vom Strafgesetze verfolgte grinsende Vettel, die auf einer Bank der öffentlichen Promenade arbeitslosen Näherinnen verworfene Anträge ins Ohr zischelt. Der in allen Salons mit Auszeichnung aufgenommene elegante Streber, der in den verschlungenen Figuren des Cotillons der reichen Partie nachpürscht, zu der Erbin mit schwimmenden Augen und schmelzenden Biegungen der Stimme spricht, seine Gläubiger auf den Tag nach der Hochzeit vertröstet und seine Maitresse aus der erhaltenen Mitgift abfindet, ist ein Lotterbube ganz so wie der Zuhälter, den selbst der Schutzmann nur widerwillig mit unbehandschuhten Fingern anrührt. Eine Dirne, die sich verschachert, um eine alte Mutter oder ein kleines Kind zu ernähren, steht sittlich höher als die erröthende Jungfrau, welche zu einem Geldsack ins Ehebett steigt, um ihre leichtfertige Gier nach Bällen und Badereisen zu befriedigen, und von zwei Männern ist derjenige der weniger betrogene, der vernünftigere, der logischere, welcher der Genossin einer Minute ihre Gunst von Fall zu Fall baar bezahlt und ihr dann den Rücken wendet, als der, welcher sich mit gesetzlichem Ehevertrag eine lebenslängliche Beischläferin kauft, die es ganz so wie jene auf Entlohnung abgesehen hat. Jedes Bündniß zwischen Mann und Weib, welches der eine oder andere Theil nur eingeht, um materielle Versorgung oder sonstige egoistische Vortheile zu erlangen, ist Prostitution, es mag nun unter Mitwirkung eines Standesbeamten und Priesters oder blos durch freundliche Vermittelung einer Logenschließerin zu Stande gekommen sein.
Das ist aber der Charakter fast aller Ehen: die seltenen Ausnahmsfälle, in welchen ein Mann und ein Weib sich in legitimen Formen vereinigen, ohne andern Grund und Wunsch, als um einander in Liebe anzugehören, werden von den vernünftigen Leuten förmlich verhöhnt und man warnt die Jugend vor ihrer Nachahmung. Arme oder mittelmäßig ausgestattete Mädchen werden von den vorsorglichen Eltern geradezu darauf abgerichtet, die gefahrvollen natürlichen Regungen ihres Herzens zu erwürgen und die Liebenswürdigkeit ihres Lächelns nach der Ziffer des Einkommens eines ledigen Mannes zu bemessen; wenn die eingepaukte Koketterie der Tochter nicht ausreicht, um einen zuverlässigen Ernährer zu ergattern, so eilen Mutter und Tanten zu Hilfe und unterstützen das Bemühen des unschuldigen Kindes mit weisen Manövern. Bei den reichen Mädchen verhält sich die Sache anders. Diese sind nicht Jäger, sondern Wild. Eine gewisse Klasse von Männern ist auf die Mitgifthatz berufsmäßig gedrillt und geht bei dieser Arbeit nach festen Regeln zu Werke. Das trägt Beinkleider und Westen von tadellosem Schnitte, Kravatten von sorgfältig gewählter Farbe und Form und ein einschichtiges Glas in ein Auge geklemmt; das hat gekräuselte Haare und duftet klafterweit nach allerlei Parfüms; das tanzt vortrefflich, ist in Gesellschaftsspielen sattelfest, rhapsodirt von Sportdingen und ist im Theaterklatsch bewandert; in einem späteren Stadium verschwendet das Blumensträuße und Bonbons und läßt es auch an Liebesbriefen in Prosa und Versen nicht fehlen. Mit diesen Mitteln wird der Goldfasan unschwer erbeutet und das einfältige Geschöpf, das in einem lyrischen Drama mitzuspielen geglaubt hat, findet zu spät, daß es nur als Faktor in einem Rechenexempel figurirt hat. Wo endlich beide Theile ungefähr die gleiche Lebens- und Vermögensstellung einnehmen, da wird von vornherein blos gewählt, gemessen und gewogen. Da gibt man sich nicht die Mühe, die wahren Beweggründe der Verheiratung und die eigentliche Auffassung der Ehe zu verleugnen. Man vereinigt zwei Vermögen, zwei Einflüsse, zwei Stellungen. Er will eine Hausfrau haben, die ihm die Suppe kocht und die Hemdknöpfe annäht oder die eine Seidenrobe mit Eleganz tragen und einem Galadiner mit Anstand vorsitzen kann, sie will einen Mann, der für sie arbeitet oder der ihr ermöglicht, zu den Hofbällen zu gehen und die vornehme Gesellschaft bei sich zu empfangen. Bei ungleichem Rang und Vermögen ist diese Aufrichtigkeit ausgeschlossen. Da muß auf der einen oder andern Seite gelogen werden. Dem Geldsack heuchelt das arme Mädchen Neigung, dem Goldfisch der Streber Liebe. Natur und Wahrheit feiern wenigstens den einen melancholischen Triumph, daß der verworfene Egoismus, welcher die Ehe von ihrem natürlichen Ziele abgelenkt hat, deren eigentliche sittliche und physiologische Bedeutung grundsätzlich anerkennt, indem er es für nothwendig hält, bei der Werbung die Maske der Liebe vorzunehmen.
Was ist das Los der Männer und Frauen, die auf solche Weise einen Ehebund geschlossen haben? Die Degenerirten, sittlich verschrumpften Nachkommen und Vorfahren, die sich ebenfalls blos nach dem Gebote des materiellen Interesses verheiratet haben, die ohne Liebe gezeugt und empfangen, ohne Zärtlichkeit erzogen wurden, sind der Fähigkeit der Liebe endgiltig verlustig gegangen und können allerdings alt werden, ohne die innere Verarmung ihres Lebens auch nur einen Augenblick lang zu empfinden. Der Mann pflegt seinen Gaumen und Magen, erwirbt große Kennerschaft in Weinen und Zigarren, erlangt durch Freigebigkeit einen geschätzten Namen in Ballerinenkreisen, wird in Klubs mit Achtung genannt, stirbt an staatlichen und gesellschaftlichen Ehren reich und würde, wenn er aufrichtig wäre, auf seinen Grabstein die Inschrift setzen: »Die einzige Liebe meines Lebens war – ich selbst«. Das Weib erfindet wahnsinnige Moden, sucht ihresgleichen an toller Verschwendung zu überbieten, träumt Tag und Nacht von Roben, Schmuck, Möbeln und Wagen, intriguirt, lügt, verleumdet andere Frauen, bemüht sich mit teuflischem Neide, fremdes Herzensglück zu zerstören, und läßt, wenn ihre Aktionsmittel ihren Neigungen entsprechen, auf ihrem ganzen Lebensgange eine breite Spur von Verheerung und Grauen hinter sich zurück wie Heuschreckenfraß oder Pestwanderung. Beide, er und sie, vegetiren in lichtlosen, mephitischen Sphären des Geistes. Ihrem Leben fehlt, jedes Ideal. Ihre Natur, aller Organe des Aufschwungs beraubt, ohne Flug- und Sprungkraft, kriecht platt im Schlamme. Sie sind »anaërobische«, das heißt luftscheue Zerstörungsorganismen, welche Krankheit um sich verbreiten, die Gesellschaft zersetzen und in der von ihnen hervorgerufenen Fäulniß selbst untergehen. Die Degenerirten finden sich hauptsächlich in den höheren Klassen. Sie sind zugleich Folge und Ursache der selbstischen Organisation derselben. Da heiratet man nicht nach Neigung, sondern nach Rang und Vermögen. Vermögen und Rang bleiben auf diese Weise erhalten, aber ihre Besitzer gehen zu Grunde. Das ist eine Wirkung der Selbstrichtungs- und Hemmungsvorrichtungen, mit denen jeder lebende Organismus, also auch die Menschenart, ausgerüstet ist. Die Unterdrückung der Liebe, die Großziehung des Egoismus, welche die herrschenden Tendenzen der obern Schichten sind, würden, wenn verallgemeinert, zum raschen Untergang der Art führen. Der Selbsterhaltungstrieb der Art äußert sich also darin, daß die auf Lieblosigkeit und Selbstsucht gegründeten Familien unerbittlich ausgerottet werden. Das allseitig festgestellte rasche Verkommen aristokratischer Häuser hat schwerlich einen andern Grund als diesen. Neben den Degenerirten sind aber noch die innerlich unzersetzten Organismen, die lebenstüchtigen und liebesfähigen Menschen, welche aus Unverstand, Gedankenlosigkeit oder feiger Angst vor den Gefahren des Kampfes ums Dasein mitten in einer roh egoistisch organisirten Gesellschaft eine Vernunftehe geschlossen haben, so genannt, weil sie die unvernünftigste unter allen denkbaren Arten der Ehe ist. An diesen rächt sich die gegen das Grundgesetz der Zuchtwahl begangene Sünde früher oder später und je später um so schwerer. Der Drang nach Liebe ist aus ihrem Herzen nicht zu entwurzeln und sucht mit fortwährender unendlich schmerzhafter Spannung einen Ausweg aus den starren Wänden des legalen und gesellschaftlichen Konventionalismus. Es kann geschehen, daß ein solches Individuum nie im Leben mit einem wahlverwandten zusammentrifft, dann bleibt die Ehe äußerlich ungestört und das Verhältniß der durch Bande der Berechnung verknüpften Gatten ein formell korrektes; aber ihr Dasein ist ein unbefriedigtes und unfertiges; sie haben ewig das quälende Gefühl einer bangen Unruhe und Erwartung, sie hoffen immer auf etwas Kommendes, das sie aus ihrer Dumpfheit eines inhaltslosen Lebens befreien soll; ihr ganzes Wesen empfindet sich selbst tief innerlich als fragmentarisch und sehnt sich nach einem Abschluß, den es in noch so glänzenden Befriedigungen des Ehrgeizes oder sonstiger Sehnsucht niemals findet, weil ihn eben nur die Liebe gewähren kann. Auch diese Individuen, wie die Degenerirten, entbehren ihr ganzes Leben hindurch der Weihe und des Ideals; aber subjektiv unglücklicher als die letzteren, haben sie das stets gegenwärtige Bewußtsein des Hohen, das ihnen fehlt. Sie sind keine Blinden, sondern Sehende, denen das Sonnenlicht entzogen ist. Das ist, wenn der Zufall des Lebens sie nie mit einem wahlverwandten Wesen in Berührung bringt. Stoßen sie jedoch auf ein solches, so ist die Katastrophe unvermeidlich. Der Konflikt zwischen der Ehepflicht und dem elementaren Streben nach Vereinigung mit dem wahlverwandten Individuum entbrennt gewaltig, der Inhalt, die Liebe, empört sich gegen die Form, die Ehe, und eine Zerstörung muß erfolgen. Entweder wird der Inhalt zermalmt oder die Form zerschleudert. Auch eine dritte Lösung ist denkbar und weil sie die erbärmlichste ist, so ist sie auch die häufigste: die Flächen der Form, welche nach oben gekehrt und Aller Augen sichtbar sind, bleiben unversehrt; an den abgewandten Seiten jedoch entsteht ein schmaler, geheimer Riß, der dem Inhalt gestattet, sich zu dehnen und auszutreten. Unbildlich gesprochen heißt das, daß der liebende Theil entweder die Ehe gewaltsam löst oder seine Liebe mit Aufopferung des Lebensglücks bekämpft und unterdrückt oder den Ehegenossen betrügt und zum geheimen Ehebrecher wird. Gemeine Naturen gerathen gleich auf dieses letztere Auskunftsmittel; edle haben die Tragödie der Empörung gegen die Vorurtheile der Welt und des tödtlichen Ringens zwischen Leidenschaft und Pflicht mit allen ihren Bitternissen durchzukämpfen und durchzulesen. Wäre die Gesellschaft von den Gattungsgesetzen regiert und solidarisch organisirt, so stände sie in diesem Kampfe auf der Seite der Liebe und würde den Ringenden zurufen: »Ihr liebt, so vereinigt euch;« allein die offizielle Gesellschaft ist zur Feindin der Gattung geworden und vom Egoismus beherrscht; darum nimmt sie für die Ehe Partei und befiehlt den Kämpfenden: »Verzichtet!« Da sie sich aber trotz ihrer Unnatur noch die Erkenntniß gewahrt hat, daß dies unmöglich sei, daß man auf Liebe nicht leichter als auf das Leben verzichten könne und ein so grausames Gebot nicht häufiger befolgt werden dürfte als eines, das den Selbstmord heischte, so fügt sie leiser und augenzwinkernd hinzu: »oder gebt wenigstens kein Ärgerniß.« So gelangt die Liebe schließlich doch zu ihrem Rechte, aber nur bei denen, welche auf die Heuchelei der Gesellschaft eingehen wollen, und statt erhebend und veredelnd zu wirken, wird sie unter solchen Verhältnissen zu einer Ursache der Erniedrigung der Charaktere, indem sie Lüge, Wortbruch und Verstellung veranlaßt. Es findet unter ihrer Wirkung in der Ehe eine eigenthümliche Sonderung der Individualitäten statt; gerade die besten und tüchtigsten, diejenigen also, die für die Gattin als Zuchtmaterial den größten Werth hätten, verschmähen es, auf gemeine und unsittliche Kompromisse einzugehen, und da sie weder ein feierliches Gelöbniß hinterrücks brechen wollen, noch immer die Entschlossenheit oder selbst materielle Möglichkeit haben, ihr legitimes Verhältniß offen zu lösen, so gehen sie an ihrer verspäteten Liebe zu Grunde und dieselbe kommt der Gattung in keiner Weise zugute; die Alltagsnaturen dagegen, an denen der Gattung nichts zu liegen braucht und deren Fortpflanzung für sie von geringer Bedeutung ist, gehen dem Martyrium aus dem Wege und genügen ihrem Herzen auf Kosten ihres bürgerlichen Gewissens.
Die konventionelle Ehe (also neun unter zehn, die innerhalb der Kulturvölker Europas überhaupt geschlossen werden) ist daher ein tief unsittliches, für die Zukunft der Gesellschaft verhängnißvolles Verhältniß. Sie bringt diejenigen, welche sie eingehen, früher oder später in einen Konflikt zwischen beschworenen Pflichten und der unausrottbaren Liebe und läßt ihnen nur die Wahl zwischen Gemeinheit und Untergang. Statt eine Quelle der Verjüngung für die Art zu sein, ist sie ein Mittel langsamen Selbstmordes derselben.
Daß die Ehe, ursprünglich als einzig statthafte Form der Liebe zwischen Mann und Weib gedacht, ihren Inhalt vollständig verloren hat und zur größten aller Lügen der Gesellschaft geworden ist, daß man sich gewöhnlich heiratet, ohne nach Neigung zu fragen, daß Jüngling und Mädchen durch das Beispiel des Alltagslebens und fast noch mehr durch die Unterhaltungsliteratur aller Sprachen förmlich dazu erzogen werden, sich die Liebe von der Ehe durchaus gesondert vorzustellen, ja sogar jene und diese in der Regel als gegensätzlich zu empfinden, und daß sie bei der Vereinigung ihrer Hände im geheimsten Hintergrund ihrer Seele den klar bewußten oder unbestimmt geahnten Vorbehalt machen, die Beziehung ihrer Herzen durch diese Förmlichkeit nicht beeinflussen zu lassen, daran trägt hauptsächlich die wirthschaftliche Organisation der Kulturvölker die Schuld. Diese Organisation hat den Egoismus zur Grundlage; sie kennt nur das Einzelwesen und nicht die Gattung; ihre Vorsorge beschränkt sich auf das unmittelbare Interesse des Individuums und vernachlässigt vollständig das der Art; sie bedingt eine Raubwirthschaft, welche die Zukunft der Gegenwart opfert und hat unter ihren zahlreichen Wächtern und Stützen, Bütteln und Rathgebern keinen einzigen Anwalt der ungeborenen Generationen. Was liegt einer so organisirten Gesellschaft daran, daß die Fortpflanzung unter den ungünstigsten Bedingungen geschieht? Das lebende Geschlecht hat nur an sich selbst zu denken. Wenn es sein Dasein in möglichstem Behagen vollenden kann, so hat es vollauf seine Pflicht gegen sich selbst erfüllt und einer andern Pflicht ist es sich nicht bewußt. Das nachfolgende Geschlecht soll wieder allein für sich sorgen und wenn es durch die Schuld der Väter geistig und leiblich verarmt ist, um so schlimmer für es. Die Kinder der Ehe ohne Liebe sind Jammergeschöpfe? Was liegt daran, wenn nur die Eltern in dieser Ehe ihren Vortheil gefunden haben! Die Kinder der Liebe ohne Ehe gehen meist an der gesellschaftlichen Acht ihrer Mütter zu Grunde und werden zu Märtyrern der herrschenden Vorurtheile? Was schadet das, wenn nur ihre Erzeuger aus dem verbotenen Verhältnisse angenehme Augenblicke gezogen haben! Die Menschheit verschwindet aus dem Gesichtskreis des Menschen, das Solidaritätsgefühl, welches zu den ursprünglichen Instinkten des letzteren wie aller höheren Thiere gehört, verkümmert, das Leiden des Nächsten stört nicht mehr das Vergnügen seines Nachbars und selbst der Gedanke, daß die Menschheit mit der lebenden Generation aufhören soll, würde die Gesellschaft nicht bestimmen, eine Lebensführung zu ändern, bei der sich der Einzelne momentan wohlbefinden kann. So ist auch der Geschlechtstrieb zum Gegenstande egoistischer Ausbeutung geworden und da er der mächtigste unter allen Trieben des Organismus ist, so kann man mit Sicherheit auf ihn spekuliren. Deshalb suchen Mann und Weib aus dem heiligen Akte, bei welchem es sich um die Erhaltung und Entwickelung der Menschheit handelt, nach Möglichkeit eine Quelle persönlicher Renten zu machen. Wie kann man es aber dem Kulturmenschen verdenken, daß er die Ehe als Versorgungsanstalt betrachtet und sich bei der Werbung von der Frage bestimmen läßt: »Wer bietet mehr?« Er sieht, daß die Welt die Größe des Vermögens zum Maßstabe des Werthes eines Individuums nimmt; er sieht den Reichen tafeln und Lazarus heute wie zu den biblischen Zeiten vor der Schwelle im Staube liegen; er kennt den Drang und die Gewalt des Kampfes ums Dasein und die Schwierigkeiten des Sieges in demselben; er weiß, daß er nur auf sich selbst und die eigene Kraft zu rechnen und, wenn er unterliegt, vom Gemeinwesen keine annehmbare Hilfe zu erwarten hat. Was Wunder, daß er jeden Lebensakt, also auch die Ehe, zunächst und häufig ganz allein vom Gesichtspunkte seines eigenen taktischen Vortheils im Kampfe ums Dasein betrachtet? Weshalb sollte er denn der Liebe einen Einfluß auf die Wahl seines Gemahls gestatten? Weil sich die Menschheit dabei besser befände? Was kümmert ihn die Menschheit? Was thut denn die Menschheit für ihn? Nährt sie ihn, wenn er hungert? Gibt sie ihm Beschäftigung, wenn er arbeitslos ist? Füttert sie seine Kinder, wenn sie nach Brod schreien? Und wenn er stirbt, wird sie seine Witwe, seine Waisen versorgen? Nein. Und da sie alle diese Pflichten gegen ihn nicht erfüllt, so will auch er nur auf sich bedacht sein, die Liebe als einen angenehmen Zeitvertreib betrachten und bei der Ehe darauf sehen, daß sie seinen Antheil an den Gütern der Erde vermehre.
In weiterer Folge führt diese Anschauung zur raschen Entartung der Kulturmenschheit; ihr unmittelbares Opfer aber ist das Weib. Der Mann leidet bei einem solchen Stande der Dinge nicht allzusehr. Fühlt er sich nicht kräftig genug oder hat er nicht den Muth, die Verantwortlichkeit der Gründung einer Familie inmitten einer Gesellschaft auf sich zu laden, die eine Feindin und Ausbeuterin ist, statt, wie es natürlich wäre, ein Rückhalt zu sein, so bleibt er eben ledig, ohne darum auf die volle Befriedigung aller seiner Instinkte zu verzichten. Junggesellenthum ist weit entfernt, mit Enthaltung gleichbedeutend zu sein. Der Hagestolz hat von der Gesellschaft die stillschweigende Erlaubniß, sich die Annehmlichkeiten des Verkehrs mit dem Weibe zu verschaffen, wie und wo er kann, sie nennt seine selbstsüchtigen Vergnügungen Erfolge und umgibt sie mit einer Art poetischer Glorie und das liebenswürdige Laster Don Juans erweckt in ihr ein Gefühl, das aus Neid, Sympathie und geheimer Bewunderung gemischt ist. Hat der Mann ohne Liebe um materieller Vortheile willen geheiratet, so gestattet ihm die Sitte die Anregungen, die er bei seinem Weibe nicht findet, rechts und links zu suchen, oder wenn sie es ihm nicht geradezu gestattet, so behandelt sie es doch nicht als ein Verbrechen, welches ihn aus der Gemeinschaft der achtbaren Leute ausschließt. Ganz anders ist die Lage des Weibes. Das Weib der Kulturvölker ist auf die Ehe als auf seine einzige Laufbahn und sein einziges Lebensgeschick angewiesen. Es darf nur in der Ehe die Befriedigung all seiner engeren und weiteren physiologischen Bedürfnisse erwarten. Es muß heiraten, um zur Ausübung seiner natürlichen Rechte eines voll ausgebildeten, geschlechtsreifen Individuums zugelassen zu werden, um die Weihe der Mutterschaft empfangen zu dürfen, aber auch einfach, um vor materiellem Elend geschützt zu sein. Diese letzte Rücksicht fällt wohl bei der Minderheit wolhabender Mädchen weg; allein obwohl diese meist die Empfindung der tiefen Unsittlichkeit einer Ehe ohne Liebe haben und der Wunsch, einen Mann ihrer Neigung zu wählen, bei manchen bis zu einer Art Manie gesteigert ist, welche sie in allen Bewerbern Mitgiftjäger sehen läßt, so entgehen doch auch sie meist dem verhängnißvollen Walten der Verderbniß nicht, die bei der Eheschließung den rohen Egoismus an die Stelle der Liebe gesetzt hat. Es gibt zu viel Männer, die feig genug sind, das Los eines Ehepfründners anzustreben. Sie werden sich alle Mühe geben, das wolhabende Mädchen zu erbeuten, nicht weil sie es lieben, sondern weil sie dessen Vermögen wollen. Es kostet sie keine Überwindung, auf alle Schrullen desselben einzugehen; wenn das Mädchen Liebe verlangt, so werden sie solche um so überschwenglicher heucheln, je weniger sie davon empfinden, und es sind alle Wahrscheinlichkeiten dafür vorhanden, daß die Erbin jung und unerfahren, dem unwürdigsten unter den Werbern, der in der Regel der geschickteste und ausdauerndste Komödiant sein wird, die Hand reicht, um zu spät zu erkennen, daß auch sie trotz ihrer materiellen Unabhängigkeit nicht einen Wahlverwandten, sondern einen geldgierigen Mann geheiratet hat und auf Liebe entweder verzichten oder sie unter Gefahren und von der Verachtung aller Sittenrichter bedroht außerhalb der Ehe suchen muß. Die reichen Mädchen bilden aber die kleine Minderheit und die übrigen sind durch die heutige Organisation der Gesellschaft gezwungen, auf den Gatten als auf den einzig möglichen Retter vor Schande und Elend, ja vor dem baren Hungertode zu hoffen. Welches Los haben wir den unverheirateten Mädchen bereitet? Ihre volksthümliche Bezeichnung, alte Jungfer, schließt einen Stachel des Hohnes in sich. Die Solidarität der Familie hält meist nicht bis in das reifere Alter der Kinder vor. Sind die Eltern todt, so gehen die Geschwister auseinander, jedes sucht allein seinen Lebensweg zu wandeln, das Zusammensein wird von allen als Last empfunden und das Mädchen, das zartfühlend genug ist, um weder einem Bruder noch einer Schwester, namentlich wenn diese verheiratet sind, im Wege sein zu wollen, findet sich allein in der Welt, ungleich vereinsamter als der Beduine der Wüste. Soll sie ein eigenes Hauswesen gründen? Es wird ein ungastliches und verlassenes sein; denn ein männlicher Freund darf sich nicht an ihre Feuerseite setzen, wenn die üble Nachrede der Nachbarn sie nicht verfolgen soll, weibliche Freundschaften sind selten und sogar bis zu einem gewissen Punkte unnatürlich und am wenigsten wird sie dieselben unter den Schicksalsgenossinnen suchen wollen, die nur noch mehr Melancholie und Verbitterung in ein Heim tragen werden, das davon ohnehin genug und zu viel hat. Ein großer Geist ist rasch mit dem Rathe zur Hand: sie soll sich um den Klatsch der Fraubasen nicht kümmern und die Sympathien um sich sammeln, die ihr begegnen. Mit welchem Rechte verlangt aber der starke und unabhängige Charakter, der so weise spricht, daß ein armes schwaches Mädchen sein Lebelang auf die Genugthuung verzichte, welche selbst der Stärkste noch aus dem Bewußtsein schöpft, von der Billigung und Schätzung seiner Ranggenossen getragen zu sein? Der Leumund ist ein durchaus wesenhaftes Gut und die Meinung der Gleichgestellten spielt im innern und äußern Leben des Individuums die größte Rolle. Und auf dieses Gut soll nun das sitzengebliebene Mädchen kein Anrecht haben? Es wird also voraussichtlich sein Leben unter Fremden verbringen, abhängiger als in der Ehe, der Verleumdung mehr ausgesetzt als die verheiratete Frau, in qualvollem Zwange fortwährend ängstlich auf den Ruf bedacht, den die Gesellschaft rein fordert, ohne für denselben den natürlichen Preis, einen Gatten, zu bieten. Der Hagestolz läuft in Kaffeehäuser und Kneipen, tritt in Klubs ein, die schlecht und recht die Familie ersetzen, geht allein spazieren, reist allein und hat hundert Mittel, sich über die Kälte und Öde seiner Behausung ohne Weibes- und Kindesliebe hinwegzutäuschen. Alle diese Tröstungen sind der alten Jungfer versagt und sie bleibt zu lebenslänglicher Einzelhaft in ihrer Schwermuth über ein verfehltes Dasein verurtheilt. Besitzt sie einige Mittel, so wird sie sie schwerlich vermehren, wahrscheinlich vermindern oder einbüßen, denn sie ist zur Verwaltung, das heißt wesentlich zur Vertheidigung eines Vermögens gegen dessen zahlreiche Nachsteller, durch Erziehung und Sitte ungleich schlechter ausgerüstet als der Mann. Ist sie aber völlig vermögenslos, dann verdunkelt sich das Bild vollends zu trostloser Schwärze. Dem Weibe sind nur wenige und unausgiebige selbstständige Erwerbe offen. Das ungebildete Mädchen aus dem Volke dient und fristet dann wohl sein nacktes Leben, erfährt aber nie, was Unabhängigkeit und Selbstbestimmung heißt, und muß sich die Erniedrigung zum Charakterkrüppel gefallen lassen. Bei freier Handarbeit stirbt es unbedingt Hungers und als Tagelöhnerin verdient es bei annähernd gleichen natürlichen Bedürfnissen im Durchschnitt nur halb so viel wie der Mann. Das Mädchen aus den besseren Klassen wendet sich dem Unterrichte zu, der auch in neun Zehnteln der Fälle die Form der Gouvernanten-Sklaverei annimmt; in einzelnen Ländern stehen ihm einige untergeordnete öffentliche Anstellungen in beschränkter Zahl offen, in welchen ein gebildetes und charaktervolles Mädchen niemals zu der die Armuth allein erträglich machenden Empfindung gelangt, einen inneren Beruf zu erfüllen und seine Gaben und Neigungen zweckmäßig auszuleben; und die so ankommen, sind noch die Glücklichen. Die übrigen bleiben arm, elend, sich und anderen eine Last, erdrückt vom Bewußtsein ihrer völligen Nutz- und Zwecklosigkeit, unvermögend, ihrer Jugend eine Freude, jedem Tag das nöthige Brod und dem Alter die Versorgung zu verschaffen. Und dabei muß das Mädchen, das in so grausamer Verlassenheit vegetirt, fortwährend übermenschlich charakterfest sein. Wir fordern, daß diese Schwermüthige, diese mit sich Zerfallene, diese Frierende, Hungernde, vor den Tagen des Alters Zitternde eine Heroine sei! Die Prostitution ist da, die auf sie lauert und sie lockt. Sie kann in ihrem einsamen und freudlosen Leben keinen Schritt thun, ohne von der Versuchung in tausend Formen bedrängt zu sein. Der Mann, der sich scheut, die Last ihrer dauernden Versorgung auf sich zu nehmen, bedenkt sich nicht, ihre Liebe als Geschenk zu fordern, das zu keiner Gegenleistung verpflichtet. Sein ruchloser Egoismus stellt ihr rastlos nach und wird ihr um so gefährlicher, als er ihre mächtigsten Triebe zu geheimen Bundesgenossen hat. Sie soll nicht nur Elend und Einsamkeit willig tragen, nicht nur den sinnlich entflammten Mann, einen starken, entschlossenen und unermüdlichen Gegner, bekämpfen, sie soll auch ihre eigenen Neigungen und die Empörungen ihrer gesunden natürlichen Instinkte gegen die gesellschaftlichen Lügen und Heucheleien besiegen. Aus solcher Bedrängniß ungeschädigt hervorzugehen erfordert ein Heldenthum, dessen unter tausend Männern kaum einer fähig wäre. Und der Lohn dieser Anstrengungen? Es gibt keinen. Die alte Jungfer, die unter allen Schwierigkeiten wie eine Heilige gelebt hat, findet nicht einmal in der tiefinneren Empfindung eine Entschädigung, daß sie mit ihren bitter mühseligen Entbehrungen einem großen Naturgesetz gehorcht, einen kategorischen Imperativ erfüllt habe; vielmehr ruft ihr, je älter sie wird, um so lauter, eine innere Stimme die Frage zu: »Weshalb habe ich gekämpft? Wem hat mein Sieg genützt? Verdient die Gesellschaft, daß man ihre rücksichtslos selbstsüchtigen Satzungen mit Aufopferung des Lebensglücks achte? Wäre mir nicht tausendmal besser gewesen, ich hatte mich widerstandslos besiegen lassen?
Wenn dem Durchschnittsmädchen vor einem solchen Lose schaudert, wenn es ohne viel nach Neigung und Wahlverwandtschaft zu fragen den ersten Mann heiratet, der mit Freierabsichten in seinen Gesichtskreis tritt, hat es da nicht Recht? Es sind hundert Wahrscheinlichkeiten für eine, daß das Eheschicksal, es mag sich wie immer gestalten, freundlicher sein wird als das einer alten Jungfer in der heutigen Gesellschaft. Natürlich bleibt aber die Lüge, welche das Mädchen begeht, indem es ohne Liebe heiratet, nicht ungerächt. Es wird dem Manne weder eine treue Gattin noch eine pflichtbewußte Hausfrau sein. In ihrem unerfüllten Drange nach Liebe horcht die Frau unausgesetzt auf die Stimme ihres Herzens, hält jede leiseste und unklarste Regung desselben für die ersehnte Offenbarung der Leidenschaft, wirft sich dem ersten Manne an den Hals, der ihren müßigen Geist eine Sekunde lang zu beschäftigen vermag, erkennt alsbald, daß sie sich geirrt habe und schaut von Neuem nach dem Rechten aus, oft genug auf diesem gefährlichen Abhange bis zur Schande des sittlichen Unterganges rollend. Es ist noch ein günstiger Fall, wenn sie blos gefallsüchtig ist, ohne bis zum platonischen oder materiellen Ehebruche zu gelangen, wenn ihr Gefühl der Unabgeschlossenheit ihres Schicksals und der Nothwendigkeit, den ihr bestimmten, ihr Wesen natürlich ergänzenden wahlverwandten Mann erst noch zu entdecken, sich blos als halb unbewußte Koketterie offenbart, die sie antreibt, sich zu putzen, auf Bälle und zu Abendunterhaltungen zu laufen und gierig alle Gelegenheiten aufzusuchen, wo sie fremden Männern begegnen, ihre eigene Anziehungskraft erproben, die der Männer empfinden kann. Sie ist ganz von sich selbst erfüllt, pflegt nur ihre eigenen Interessen und fordert, daß das Leben ihr blos persönliche Annehmlichkeiten biete. Ihr Egoismus macht es ihr unmöglich, neben sich auch noch ihren Gatten zu sehen und zu berücksichtigen und sich in sein Wesen hineinzuleben. Das Hauswesen ist ihr gleichgültig, so weit es nicht für sie allein da ist. Sie verschwendet ohne Mitleid für die Anstrengungen des Mannes. Sie hat ihn ja nur geheiratet, damit sie sorglos und wohlhabend leben könne, und es ist doch so grausam menschlich, ihn dafür zu bestrafen, daß er ungeschickt genug war, sie zur Frau zu nehmen, ohne sich vorher ihrer Liebe zu versichern! Auf diese Weise ist ein fehlerhafter Zirkel hergestellt, der nichts als Trübsal einschließt. Die egoistische Organisation der Gesellschaft macht dem Individuum den Kampf ums Dasein unnöthig und widernatürlich schwer, infolge dessen sucht weder der Mann noch das Weib in der Ehe die Liebe, sondern die materielle Versorgung; der Mann stellt der Mitgift nach; das vermögenslose Mädchen, besorgend, daß es sitzen bleibt, fahndet nach dem erstbesten Manne, der es erhalten kann, und verwandelt sich nach der Hochzeit in ein kostspieliges Luxusthier, das für den Besitzer völlig werthlos und nur eine Ursache großer Auslagen ist; zahlreiche Männer, die ein Weib hätten erhalten und glücklich machen können, werden durch das Beispiel solcher Ehen erschreckt und verzichten darauf, sich zu verheiraten; dadurch findet sich die entsprechende Anzahl Mädchen zum Altjungfernthum verurtheilt, ihre Aussichten, einen Mann zu finden, verringern sich im Allgemeinen, damit steigt ihre Hast, unter die Haube zu kommen, die Frage nach Liebe wird noch entschiedener unterdrückt und die unter solchen Verhältnissen geschlossene Ehe für die möglichen Ehekandidaten noch abschreckender. Mann und Weib werden zu Feinden, die einander zu überlisten und auszubeuten suchen, niemand ist glücklich, niemand befriedigt und die Hände reiben sich blos der katholische Beichtvater und der Besitzer des großen Modegeschäfts, denn Beiden führt diese Lage der Dinge die größte Zahl ihrer Kunden zu.
Wenn nun aber die wirthschaftliche Organisation auch die Hauptursache ist, welche aus der Eheeinrichtung eine Lüge macht, so ist sie doch nicht die einzige. Eine große Schuld an dem Gegensatze zwischen Form und Inhalt, zwischen Ehe und Liebe, und an den häufigen tragischen Konflikten zwischen natürlichen Gefühlen und konventionellem Zwange trägt auch die herrschende Geschlechtsmoral, welche eine Folge des Christenthums ist. Diese Moral betrachtet den Paarungsakt als ein abscheuliches Verbrechen, sie verhüllt sich vor demselben das Antlitz wie vor einem Greuel, was allerdings nicht ausschließt, daß sie verstohlen danach lüstern hinschielt, und sie umgibt Alles, was mit dem Geschlechtsleben zusammenhängt oder nur daran erinnert, mit dem Banne eines scheuen Schweigens. Das ist monströs, das ist unerhört. Diese Moral könnte sich nicht eine Stunde lang halten, wenn nicht alle Menschen, alle ohne Ausnahme, sich unter zwei oder vier, oder auch noch mehr Augen über sie so unbekümmert hinwegsetzen würden, als wenn sie gar nicht bestände. Sie hat nicht die schwächste natürliche Begründung und darum auch nicht den Schatten einer Berechtigung. Weshalb soll eine organische Funktion, welche die weitaus wichtigste ist, weil sie die Erhaltung der Art bezweckt, weniger sittlich sein als andere, welche blos die Erhaltung des Individuums zum Zwecke haben? Weshalb sollen etwa Essen und Schlafen legitime Thätigkeiten sein, die man öffentlich üben, von denen man sprechen, zu denen man sich bekennen darf, und die Paarung eine Sünde und Schmach, die man nicht genug verbergen und ableugnen kann? Ist nicht die Geschlechtsreife die Krönung der Entwickelung des Individuums und dessen Reproduktion sein höchster Triumph und seine glorreichste Manifestation? Alle Lebewesen, Pflanzen wie Thiere, empfinden die Begattung als erhabenste Bethätigung ihrer Lebenskraft und rufen mit hohem Stolze die ganze Natur zur Zeugin derselben, die Blumen mit ihrer Farbenpracht und ihrem Duft, die Vögel mit ihrem schmetternden Gesange, die Leuchtkäfer mit ihrem strahlenden Glanze, die Säugethiere mit dem Lärm ihrer Werbung und dem Getöse ihrer Kämpfe; nur der Mensch soll sich seines mächtigsten Gefühls schämen und dessen Befriedigung wie eine Missethat verheimlichen.
Das war allerdings nicht zu allen Zeiten die Meinung der Menschen; Tartüffe war nicht immer der Sittenlehrer derselben. Ich denke dabei nicht etwa an den Menschen im Naturzustande, sondern an den Menschen, der in der Verfassung hoher Kultur lebt. Reiche, geistig und sittlich vertiefte Zivilisationen, deren Idealität derjenigen unserer modernen Zivilisation weit überlegen war, so die indische und griechische, nahmen den Geschlechtsbeziehungen gegenüber einen natürlichen und unbefangenen Standpunkt ein, würdigten den Gesammtorganismus des Menschen, ohne in einem Organ etwas Schändlicheres zu sehen als in einem beliebigen andern, hatten vor der Nacktheit keine Scheu, konnten sich darum mit keuschen Augen und ohne verworfene Hintergedanken betrachten und sahen in der Vereinigung geschlechtsverschiedener Individuen blos den heiligen Endzweck der Vermehrung, der jene Handlung zu einer nothwendigen, edlen und besonders weihevollen macht und in einem gesunden und reifen Geiste unwürdige Nebenvorstellungen und Gedankenverknüpfungen gar nicht aufkommen lassen kann. Die indische wie die griechische Kultur hatten die ursprünglichen Instinkte des Menschen noch nicht so gründlich gefälscht und verdunkelt wie unsere eigenen und waren deshalb noch durchdrungen von der natürlichen Bewunderung und Dankbarkeit für den Vorgang, welcher die Quelle alles Lebens im Weltall ist, nämlich für den der Vermehrung. Man verehrte die Organe, welche bei diesem Lebensakte unmittelbar thätig sind, stellte deren Bild als Symbol der Fruchtbarkeit in Tempeln, Fluren und Wohnungen auf, ersann eigene Gottheiten der Fortpflanzung und widmete ihnen einen Kultus, der erst in den späten Zeiten des Sittenverfalls zu roher und namentlich zweckloser Sinnlichkeit ausartete. Umgeben von Sinnbildern, die ihre Wißbegierde anregen mußten, konnte die Jugend nicht in jener unnatürlichen Unwissenheit erhalten werden, die ein Hauptziel unserer Erziehung ist; da der Verstand von dem Augenblicke an, da dergleichen für ihn ein Interesse zu haben beginnt, die Erscheinungen des Geschlechtslebens klar begreifen durfte, so konnte die Phantasie nicht krankhaft arbeiten und auf Abwege gerathen; das, was offen vor Aller Augen dalag, hatte nicht den Reiz des Verheimlichten und Verbotenen und diese unbefangen aufgeklärte Jugend war sittenreiner und unberührter von vorzeitigen Begierden als die unsrige, die man trotz ängstlicher Bemühungen doch auch nicht in der als heilsam erachteten Unwissenheit erhalten kann, die aber ihre Wissenschaft aus den unlautersten Quellen, verstohlen und darum unter geistvergiftenden und nervenzerrüttenden Aufregungen schöpft.
Eine so gründliche Änderung der Moralitätsbegriffe ist die Folge des Einflusses, welchen die christlichen Anschauungen auf den Geist der Kulturmenschheit gewonnen haben. Die Grundlehren des Christenthums, wie sie in den ältesten Urkunden dieser Religion vorgetragen werden, stehen zu einander in erstaunlichem Widerspruche und gehen von zwei gegensätzlichen Voraussetzungen aus, die einander unbedingt hätten ausschließen müssen, wenn das Christenthum von einem logischen Denker und mit klarem Bewußtsein gestiftet worden wäre. Auf der einen Seite predigen sie: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, liebe selbst deinen Feind; auf der anderen Seite erklären sie, daß das Ende der Welt bevorstehe, Fleischeslust die schwerste Sünde, Enthaltung die gottgefälligste aller Tugenden und absolute Keuschheit der wünschenswerthe Zustand des Menschen sei. Indem das Christentum die Nächstenliebe lehrt, erhob es den natürlichen Instinkt der menschlichen Solidarität zu einem religiösen Gebote und förderte den Bestand und das Gedeihen der Gattung; allein indem es gleichzeitig die Geschlechtsliebe verdammte, zerstörte es sein eigenes Werk, verurtheilte es die Menschheit zum Untergang und stellte sich der Natur mit einer Feindseligkeit gegenüber, die man mit seiner eigenen Ausdrucksweise nur teuflisch nennen kann. Das Dogma der Nächstenliebe mußte die Menschheit erobern, denn es appellirte an ihren mächtigsten Instinkt, an ihren Gattungserhaltungstrieb. Das Dogma der Keuschheit dagegen hätte jede Ausbreitung der neuen Religion verhindern müssen, wenn es nicht in einer Zeit aufgerichtet worden wäre, in welcher die Gesellschaft vollständig verfault war, der ruchlose Egoismus allein herrschte und das Geschlechtsleben, von seinem Zwecke der Artvermehrung abgelenkt, zu einer bloßen Quelle selbstsüchtigen Vergnügens erniedrigt, von allen Lastern besudelt, dem empörten Gewissen der Guten ein Greuel scheinen mußte. Als diese Voraussetzung wegfiel und das Christenthum sich nicht mehr als den Gegensatz des sittlich verkommenen Römerthums empfand, hielt es auch nicht mehr für nothwendig, gegen die Übertreibung des Lasters durch eine Übertreibung der Reinheit zu protestiren, und das finstere, menschenfeindliche Dogma der Keuschheit wurde in den Hintergrund gedrängt. Die Kirche erlegte es nicht mehr allen Gläubigen, sondern nur noch einigen Auserlesenen, den Priestern und Nonnen, auf und machte der Natur sogar das Zugeständniß, daß sie die Ehe zum Sakrament erhob. Das Keuschheitsgelübde der Mönche und Nonnen verhinderte freilich nicht die größten Ausschweifungen gerade in den Klöstern, im Mittelalter, als das Christenthum seine höchste Gewalt auf die Menschen ausübte, war die Zuchtlosigkeit fast wieder so arg wie zur Zeit des Niederganges von Rom und seit dem Bestande der Religion wurde die Lehre der Enthaltung eigentlich nur von solchen Individuen buchstäblich befolgt, die an religiösem Wahnsinn litten, einer Krankheit, die fast immer mit Störungen und Verirrungen des Geschlechtslebens einhergeht, wie diese letzteren eine Degenerationserscheinung ist und mit ihnen auf denselben pathologischen Veränderungen des Gehirns beruht. Grundsätzlich aber gab das Christenthum auch dieses Dogma nie auf, die Kirche sprach Gatten heilig, weil sie während einer langen Ehe einander nie berührt hatten, die Geschlechtsbeziehungen blieben theoretisch eine Sünde in ihren Augen, wenn sie dieselbe auch praktisch duldete, und im Laufe der Jahrhunderte brachte ihre stetige erziehliche Einwirkung die Kulturmenschheit dahin, wo sie heute ist, nämlich zu der Anschauung, daß Geschlechtsliebe eine Schande, Enthaltung moralisch und die Befriedigung des Grundinstinkts jedes Lebewesens eine die schwersten Strafen verdienende Sünde sei. Man hat in der Christenheit nicht weniger Begierden als im Heidenthum; man heischt und gewährt nicht weniger die Gunst des Weibes; aber man hat nicht die lautere, jede Herzensregung veredelnde Empfindung, daß man in löblichem Thun begriffen sei, sondern wird von der Vorstellung verfolgt, man wandle auf verbotenen Pfaden, man beabsichtige ein Verbrechen zu begehen, das verheimlicht werden muß, man fühlt sich durch den Zwang der Verstellung und Heuchelei erniedrigt und durch die Nothwendigkeit, das natürliche Ziel der Neigung, den Besitz der geliebten Person, uneingestanden zu lassen, zur beständigen Lüge gegen sich, das geliebte Wesen und die Menschen verurtheilt. Die christliche Liebe gibt nicht zu, daß die Liebe legitim sei; darum ist auch in den Einrichtungen, welche von jener durchdrungen sind, für die Liebe kein Platz. Die Ehe ist nun eine solche Einrichtung, ihr Charakter ist von der christlichen Moral beeinflußt. Nach der theologischen Anschauung hat sie denn auch mit der Liebe des Mannes zum Weibe nichts gemein. Wenn man heiratet, so geschieht es, um ein Sakrament zu erfüllen, nicht, um einander in Liebe anzugehören. Noch gottgefälliger wäre man freilich, wenn man überhaupt nicht heiratete. Der Priester, der ein Brautpaar vor dem Altar vereinigt, fragt das Weib, ob es bereit sei, dem Manne als Gattin zu folgen und ihm als seinem Herrn zu gehorchen. Ob sie ihn liebt, das fragt der Priester nicht, denn die Berechtigung eines solchen Gefühls erkennt er nicht an und für ihn hat das Bündniß, das er mit seinen Zeremonien besiegelt, seine Begründung in dem vor dem Altar abgelegten feierlichen Gelöbniß, keineswegs aber in einem menschlichen, organischen Drange, der zwei Wesen zu einander führt und an einander festknüpft.
Das ganze offizielle Verhältniß der Gesellschaft zum Geschlechtsleben ist durch diese christlich-dogmatische Anschauung von der Sündhaftigkeit der fleischlichen, das heißt der einzig natürlichen und gesunden, Liebe bestimmt. Die Ehe ist heilig; man darf ihr Gebot der Treue nicht verletzen, auch wenn sie dem Herzen der Gatten nicht die geringste Befriedigung gewährt. Das Weib hat ohne Liebe geheiratet, es lernt später einen Mann kennen, der seine Leidenschaft erweckt – die Gesellschaft gibt die Möglichkeit eines solchen Vorganges nicht zu. Was, das Weib liebt? Das gibt es nicht, das kann es nicht geben! Ein solches Ding wie Liebe wird nicht anerkannt! Die Frau ist verheiratet; das ist Alles, worauf sie Anspruch hat. Sie hat ihren Mann, an den sie ihre beschworene Pflicht bindet, außerhalb dieser Pflicht enthält die Welt nichts für sie. Verletzt sie die Pflicht, so ist sie eine Sünderin und fällt dem Arm der Polizei, der Verachtung aller Wohlgesinnten anheim. Die Gesellschaft gibt dem Gatten das Recht, seine treulose Frau zu tödten, und sie beauftragt ihren Richter, sie zum abschreckenden Beispiel in den Kerker werfen zu lassen, wenn der Gatte zu nachsichtig gewesen ist. Ein Mädchen hat sich in einen Mann verliebt, es hat gethan, was die Natur ihr gebot, ohne auf das Gethue und Gekritzel eines Priesters oder Standesbeamten zu warten? Wehe der Verworfenen! Sie ist aus der Gemeinschaft der Anständigen ausgestoßen. Selbst dem unschuldigen Kinde, das eine Frucht ihrer Verirrung ist, haftet ein Schandfleck an, von dem es sich sein Lebelang nicht wird reinigen können. Auch der Diebstahl ist von der Gesellschaft verboten; aber ihr Richter hat doch manchmal Erbarmen mit dem Diebe, der aus Hunger ein Brod gestohlen hat, und läßt ihn ungestraft laufen. Das macht, die Gesellschaft gibt zu, daß der Hunger gelegentlich stärker sein könne als die Achtung vor ihrem Gesetze. Der Gattin aber, die trotz der Ehe, dem Mädchen, das ohne die Ehe geliebt hat, verzeiht sie nicht. Für die Übertretung des Gesetzes, mit dem sie die Beziehungen der Geschlechter geregelt hat, läßt sie keine Entschuldigung gelten. Sie will nicht sehen, daß auch die Liebe wie der Hunger stark genug sei, die Bande des geschriebenen Gesetzes zu zerreißen. Muß man nicht glauben, daß dieses Gesetz, diese Sitte von verschlackten und verkalkten Greisen oder von Eunuchen erfunden worden sind? Ist es möglich, daß eine solche Anschauung seit Jahrhunderten eine Gesellschaft beherrscht, in der die Eunuchen und Greise doch in der Minderzahl sind, die doch auch zwanzigjährige Mädchen und vierundzwanzigjährige Jünglinge enthält? Beherrscht – ja darin liegt es: diese Anschauung beherrscht die Gesellschaft eben nicht. Diese hat sich mit dem unmenschlichen Gesetze und der herzlosen Sitte abgefunden, indem sie ihnen ins Gesicht Achtung lügt und hinter dem Rücken Rübchen schabt. Ihre Nichtanerkennung der Liebe ist Heuchelei. Vor dem Richter, der die Ehebrecherin verurtheilt, vor der gestrengen Dame, die das verführte Mädchen von sich jagt, zieht sie den Hut; dem Dichter aber, der von Liebe singt, ohne der Ehe mit einer Silbe zu gedenken, klatscht sie Beifall, daß ihr die Handteller wund werden. Jeder Einzelne gibt öffentlich salbungsvoll zu, daß es eine Sünde sei, den Herzensregungen zu gehorchen, im Geheimen aber gehorcht er ihnen mit Begeisterung und hält sich darum nicht einmal für einen schlechteren Menschen. Die Theorie der christlichen Moral besteht nur darum, weil sich in der Praxis niemand an sie kehrt. Das Band einer ungeheuren Konspiration schlingt sich um die ganze Kulturmenschheit und macht deren sämmtliche Mitglieder zu Genossen eines Geheimbundes, dessen Angehörige auf der Straße das Haupt vor der theologischen Satzung neigen, in der Stube aber der Natur opfern und unerbittlich über jeden herfallen, der ihre eleusynischen Mysterien ausplaudert, sich gegen die allgemeine Verlogenheit auflehnt und keck genug ist, sich auch auf dem öffentlichen Platze zu den Göttern zu bekennen, die er wie alle Übrigen in seinem Larengemache verehrt.
Um die Eheeinrichtung unbefangen zu beurtheilen, muß man sich, so schwer dies auch ist, von den Vorurtheilen, in denen wir großgezogen sind, befreien und von der mit unserem ganzen Denken innig verwachsenen Gewohnheit der christlichen Moralanschauungen völlig losmachen. Im Gegensatze zum Theologen muß man den Menschen als ein natürliches Geschöpf und im Zusammenhange mit der übrigen Natur betrachten; wenn man eine menschliche Einrichtung auf ihre Berechtigung prüfen will, so muß man fragen, ob sie der Beschaffenheit, den Grundtrieben, den höchsten Gattungsinteressen des Menschen entspricht. Legt man nun diesen Maßstab an die Einrichtung der Ehe, so ist es sehr zweifelhaft, ob sie vor der Kritik besteht, und es scheint äußerst schwer, zu beweisen, daß sie ein natürlicher Zustand des Menschen sei. Wir haben gesehen, daß die wirthschaftliche Organisation der Gesellschaft zur Eheschließung aus Interesse führt und daß die christliche Moral verbietet, die Liebe als berechtigt anzuerkennen. Nun drängt sich aber noch eine letzte und peinliche Frage auf: Ist die Ehe nur darum eine Lüge, weil es sich den meisten Gatten nicht um den Besitz des Individuums, sondern um die materielle Versorgung handelt, und ist sie nur darum ein Zwang, weil die christliche Moral nicht zugeben will, daß neben dem vom Priester geknüpften Bande noch ein solches Ding wie Liebe existirt? Ist nicht vielmehr die Ehe, wie sie heute in der Kulturmenschheit besteht, überhaupt eine unnatürliche Form des Verhältnisses der beiden Geschlechter zu einander und müßte sie in ihrer gegenwärtigen Ausbildung, nämlich als dauernder Bund für das ganze Leben, nicht auch dann eine Lüge sein, wenn man immer nur aus Liebe heiratete und der Leidenschaft ihre volle natürliche Berechtigung zugestehen würde?
Wir sind gerade im Punkte der Beziehungen beider Geschlechter zu einander so weit vom Naturzustande entfernt, daß es äußerst schwer ist, heute noch mit Bestimmtheit zu erkennen, was in dieser Richtung physiologisch und nothwendig und was gefälscht, verdorben und angekünstelt und durch vielhundertjährige Vererbung scheinbar zuletzt doch auch natürlich geworden ist. Vorsichtig kritische Beobachtung der intimsten Regungen des Menschenherzens, zusammengehalten mit den Wahrnehmungen, welche das höhere Thierleben gestattet, scheint aber doch zu einem für die Anhänger der bestehenden Ordnung sehr entmuthigenden Ergebniß zu führen. Die Ehe, wie sie sich unter den Kulturvölkern geschichtlich entwickelt hat, beruht grundsätzlich auf der allgemeinen Anerkennung der Monogamie. Es scheint aber, daß Monogamie kein natürlicher Zustand des Menschen ist, und so scheint zwischen dem individuellen Triebe und der gesellschaftlichen Einrichtung ein prinzipieller Widerspruch zu bestehen, der immer wieder Konflikte zwischen dem Gefühl und der Sitte veranlassen, in gewissen Fällen die Form immer wieder in Gegensatz zum Inhalt bringen, die Ehe immer wieder zur Lüge machen muß und schwerlich durch irgend eine Reform so vollständig zu lösen sein dürfte, daß das äußerliche monogamische Eheverhältniß zweier Gatten unter allen Umständen auch ihre innere Zusammengehörigkeit und ihre geschlechtliche Neigung zu einander bedeuten würde.
Die Einrichtung der Ehe überhaupt beruht, wie ich oben nachzuweisen gesucht habe, auf der Ahnung oder Erkenntniß, daß das Interesse der Gattungserhaltung und -Vervollkommnung eine gewisse Überwachung des Geschlechtstriebs durch die Gesammtheit erfordert. Daß aber diese Einrichtung gerade die Form eines theoretisch für das ganze Leben geschlossenen Bundes zwischen einem einzigen Manne und einem einzigen Weibe angenommen hat, das ist kein Ausfluß des Gattungsinteresses, das ist nicht eine Lebensbedingung der Art, folglich auch nicht durch ihren Selbsterhaltungsdrang herbeigeführt, sondern eine Folge der wirthschaftlichen Organisation der Gesellschaft und darum wahrscheinlich ebenso vorübergehend wie diese Organisation. Die Erkenntniß, daß die Ehe die Form der Monogamie haben müsse, eine Erkenntniß, die vielleicht nur halb bewußt, aber doch klar genug war, um in Gesetzen und Sitten Ausdruck zu finden, ging anscheinend aus diesem Gedankengange hervor: »In einer Gesellschaft, die keine wirthschaftliche Solidarität kennt, in der Jeder nur für sich arbeitet und sorgt und den Nächsten unbekümmert zu Grunde gehen läßt, müssen die Kinder verhungern, wenn die Eltern sie nicht großziehen. Die Mutter kann die Last der Erhaltung ihrer Kinder nicht allein tragen, denn in derselben egoistischen Gesellschaft wird die Frau, weil sie die schwächere ist, von dem seine Stärke mißbrauchenden Manne aus allen einträglicheren und leichteren, das heißt ihr allein zugänglichen Erwerben so vollständig hinausgedrängt, daß sie mit ihrer eigenen Arbeit kaum sich selbst, geschweige denn auch noch Kinder ernähren kann. Man muß also den Vater zwingen, dem Weibe diese Last tragen zu helfen. Dieser Zwang ist aber nur auf eine Weise wirksam auszuüben: indem man eine Fessel schmiedet, welche den Mann unlösbar an das Weib knüpft, das er zur Mutter zu machen wünscht. Diese Fessel ist die Ehe für's Leben. Und damit man leichter feststellen könne, welcher Vater für welches Kind aufzukommen hat, damit man nicht Gefahr laufe, die Erhaltungspflicht einem Unrichtigen aufzubürden, soll jeder Mann nur von einem einzigen Weibe, jedes Weib nur von einem einzigen Manne Kinder haben können. Das ist die Einzelehe. Und nun sind die Verhältnisse schön einfach und übersichtlich. Du wünschest ein Weib zu besitzen? Gut; verpflichte dich zuvor, für sie selbst und die dem Verhältnis etwa entspringenden Kinder dein Lebelang zu arbeiten. Du wirst später des Weibes überdrüssig? Um so schlimmer für dich. Du hast sie nun und mußt sie behalten. Du findest, daß du dich in ihrer Wahl geirrt, daß du dich selbst betrogen hast, als du glaubtest, daß du sie liebtest? du hättest dich besser prüfen, reiflicher überlegen sollen. Die Ausrede kann jetzt nicht mehr zugelassen werden. Du bist nun für eine andere entflammt? Das kümmert uns nicht. Du mußt die Last deines Weibes und deiner Kinder weiter tragen und wir, die Gesellschaft, dulden nicht, daß du dich ihrer auf unsere Schultern entledigst.«
Der Selbsterhaltungstrieb der Gattung hört eben nie auf, thätig zu sein, so lange die letztere noch Lebenskraft besitzt. Die einzige Weise nun, auf welche die Gattung bei einer auf Egoismus und Individualismus beruhenden wirthschaftlichen Organisation das Leben ihrer Frauen und Kinder, also ihre eigene Fortdauer sichern kann, ist in der That die lebenslängliche Einzelehe. Unsere Wirthschaftseinrichtungen mußten unsere Eheeinrichtungen nach sich ziehen. Praktisch ist, wie vorher auseinandergesetzt wurde, die Ehe zu einem Mittel der Befriedigung des Egoismus der Eltern geworden, da man sie nicht aus Liebe, nicht nach den Gesetzen der Zuchtwahl, nicht im Interesse der Nachkommenschaft schließt; theoretisch aber ist sie eine vom Interesse – allerdings vom schlecht verstandenen Interesse – der Gattungserhaltung diktirte Institution und nicht für die Eltern, sondern für das Kind geschaffen. Das erwachsene Geschlecht wird theoretisch dem unentwickelten oder ungeborenen geopfert, das Magenbedürfniß der Kleinen vor dem Herzensbedürfniß der Großen berücksichtigt; unerbittlich in den Ländern, die noch voll unter dem Einfluß der christlich-theologischen Weltanschauung stehen, etwas schonender in denen, in welchen die Aufklärung natürlichere und menschlichere Vorstellungen verbreitet hat. Der Katholizismus, der, wie wir gesehen haben, die Liebe als unberechtigt und als Sünde betrachtet, gestattet überhaupt keine Lösung der Ehe und gibt nicht zu, daß zwei Menschen sich in einander geirrt haben können, oder wenn sie sich geirrt haben, daß ihr Lebensglück eine Scheidung erfordern könne. Die vom Katholizismus emanzipirten Völker machen der Liebe das Zugeständniß, daß sie existirt, daß sie Rechte hat, daß sie außerhalb des Ehebundes auftreten kann; aber sie machen es widerwillig und halb; sie erlauben die Scheidung nur unter Schwierigkeiten, sie verfolgen die Geschiedenen mit gehässigen Vorurtheilen und sie treiben die Herzlosigkeit so weit, daß sie verbieten, die Person zu heiraten, der zu Liebe man sich geschieden und die man noch vor der Scheidung von einem früheren Gemahl geliebt hat, ein Verbot, dessen Dummheit und Grausamkeit geradezu schaudererregend sind.
Vom Standpunkte der egoistischen Wirtschaftsorganisation ist das tadellos folgerichtig; von dem der Physiologie und Psychologie dagegen sieht man die schwersten Bedenken auftauchen. Die Ehe wird für das Leben geschlossen. Nehmen wir den günstigsten Fall an: die beiden Gatten lieben einander wirklich. Wird diese Liebe so lange dauern wie das Leben? Kann sie so lange dauern? Sind die beiden Gatten berechtigt, einander Treue bis in den Tod zu versprechen? Begehen sie nicht eine Tollkühnheit oder Leichtfertigkeit, wenn sie sich für die Unwandelbarkeit ihrer augenblicklichen Gefühle verbürgen? Die Poeten, denen zweifellos das Verdienst zuzuschreiben ist, diese Frage fast hoffnungslos verwirrt und verdunkelt zu haben, zögern allerdings keinen Augenblick lang mit der Antwort. Ihnen steht es fest, daß die wahre Liebe ewig dauert. »Und sag, wie endet Liebe? Die war's nicht, der's geschah«, meint Friedrich Halm. Die war's nicht, der's geschah. Hm, das ist nachträglich leicht gesagt. Jeder, der das Leben mit offenen Augen betrachtet, kann dem schnellfertigen Lyriker hundert Beispiele von Verhältnissen anführen, die sich sehr leidenschaftlich anließen und dennoch sehr rasch und sehr gründlich erkalteten. Wenn der Dichter dann mit seiner Phrase entwischen wollte, daß das nicht die wahre Liebe gewesen sei, so müßte er sich die Gegenfrage gefallen lassen, woran er denn eigentlich die wahre Liebe erkennen, wie er sie von der, »die es nicht gewesen ist,« unterscheiden will, da doch die letztere im Augenblicke ihres Entstehens und während ihrer allerdings kurzen Blüthe der andern zum Verwechseln ähnlich ist, in den Betroffenen dieselben Empfindungen erregt, sie zu denselben Handlungen veranlaßt, mit demselben Gefolge von Lärm und Aufregung, von Schwärmerei und Verzweiflung, von Zärtlichkeit und Eifersucht einhergeht wie jene? Gewiß, es gibt Fälle, in denen die Liebe nur mit dem Leben aufhört. Sehr nüchterne Untersucher würden vielleicht auch in diesen Fällen finden, daß ihre Dauer den günstigen Umständen, der Macht der Gewohnheit, der zufälligen Abwesenheit von Störungen und Versuchungen, mit einem Worte Einflüssen, die von den beiden Individuen unabhängig sind, mindestens in demselben Maße zugeschrieben werden kann wie der Qualität des Gefühls. Man wird indeß das Vorhandensein dieser Fälle nicht leugnen. Für sie ist die lebenslange Einzelehe ein wahrer, natürlicher und berechtigter Zustand. Da decken sich Form und Inhalt vollkommen und der sichtbare äußere Bund hört nie auf, der Ausdruck innern Zusammenhanges zu sein. Allein wenn solche Fälle zweifellos existiren, so sind sie doch selbst nach dem Zugeständniß der Lyriker selten. Wie sollen sich nun die zahllosen Individuen zur Ehe stellen, die in einem gegebenen Augenblicke ernstlich zu lieben glauben, obwol sich nach Monaten oder Jahren, vielleicht auch plötzlich bei der Begegnung mit einem andern Wesen herausstellt, daß es ein Irrthum gewesen sei? Sollten sie sich beeilen, sich mit einander fürs Leben zu verbinden? Bald hörten sie auf, einander zu lieben, und dann ist der Bund für sie ganz so eine unerträgliche Last, als wenn er von vornherein ohne Neigung geschlossen worden wäre. Oder sollen sie sich nicht heiraten, ehe sie die sichere Überzeugung gewonnen haben, daß ihre Liebe bis an den Tod dauern werde? Das wäre etwas schwierig; denn da die wahre Natur der Empfindung erst nachträglich bekannt werden kann, so müßten die Liebenden bis zur Sterbestunde warten, ehe sie mit gutem Gewissen das Wort sprechen könnten: »Unsere Liebe war in der That die richtige, sie hat so lange gedauert wie das Leben, wir können uns nun getrost miteinander – begraben lassen, ohne besorgen zu müssen, daß wir eins des andern überdrüssig werden.« Wollte man so strenge Prüfung und so zweifellose Überzeugung als Vorbedingung der Ehe fordern, die Menschheit müßte darauf verzichten, Brautpaare zu sehen. Es ist gut, daß Romeo und Julie jung gestorben sind. Wäre die Tragödie nicht mit dem fünften Akte zu Ende, ich bin nicht sicher, ob wir nicht sehr bald von Zerwürfnissen zwischen den beiden reizenden jungen Leuten hören würden. Ich habe schreckliche Angst, daß er nach wenigen Monaten eine Maitresse genommen und sie sich mit einem veronesischen Edelmann über ihre Verlassenheit getröstet hätte. Es wäre zu entsetzlich: ein Scheidungsprozeß als Epilog der Balkonszene. Ich gehe aber weiter und behaupte: wie ich Romeo und Julie kenne, wäre das sogar ganz sicher geschehen, denn sie sind beide sehr jung, sehr leidenschaftlich, sehr unvernünftig und sehr beweglich gewesen und eine Liebe, die auf einem Balle entsteht und durch den ersten Eindruck einer schönen leiblichen Erscheinung veranlaßt ist, pflegt erfahrungsgemäß nicht viele Nächte, in deren Morgendämmerung man »die Nachtigall und nicht die Lerche« zu hören glaubt, zu überdauern. Haben aber darum Romeo und Julie einander nicht geliebt? Ich möchte den sehen, der das zu behaupten wagte! Und hätten sie einander nicht heiraten sollen? Das wäre eine Todsünde gewesen, vom Standpunkte der Menschenzucht ebenso sehr wie von dem der Dichtung. Wenn ihre Ehe dennoch einen schlechten Verlauf genommen hätte, so wäre das kein Beweis gegen ihre Liebe, sondern ein solcher gegen die anthropologische Berechtigung der Ehe gewesen.
Die Wahrheit ist, daß unter zehntausend Menschenpaaren sich kaum eins findet, welches einander während des ganzen Lebens und ausschließlich liebt und die andauernde Einzelehe für seine Bedürfnisse erfände, wenn sie nicht schon bestände. Sicher aber finden sich in derselben Anzahl neuntausend neunhundert, die in einem Abschnitt ihres Lebens den heftigen Wunsch empfunden haben, sich mit einem bestimmten Individuum zu verbinden, glücklich waren, wenn sie diesen Wunsch erfüllen konnten, bitter litten, wenn derselbe unbefriedigt bleiben mußte, und sich gleichwol nach kürzerer oder längerer Zeit zu ganz verschiedenen, oft entgegengesetzten Empfindungen für den Gegenstand ihrer leidenschaftlichen Neigung weiter entwickelten. Haben diese Paare das Recht zur Ehe? Zweifellos. Ihre Verbindung muß im Interesse der Gattung sogar gefordert werden. Wird aber die lebenslange Einzelehe dauernd mit ihrem Glücke verträglich sein? Kein ehrlicher Beobachter des wirklichen Lebens wird diese Frage bejahen.
Der Mensch ist thatsächlich kein monogamisches Thier und alle Einrichtungen, die auf der Annahme der Monogamie beruhen, sind mehr oder minder unnatürlich, dem Menschen mehr oder minder lästig. Herkömmliche, infolge der Vererbung sehr tief wurzelnde Anschauungen beweisen nichts gegen diese biologische Thatsache. Man horche nur einmal sehr scharf auf die geheimsten und leisesten Stimmen im Herzen von Liebenden! Füllt das geliebte Wesen wirklich das liebende so vollständig aus, daß es keinen Platz für einen Wunsch oder mindestens für eine Wahrnehmung übrig läßt, die ein anderes Wesen zum Gegenstande hat? Ich leugne es. Wer aufrichtig ist, der wird zugeben, daß Mann und Weib selbst im höchsten Paroxysmus einer jungen Liebe noch eine dunkle Ecke in der Seele bewahren, die von den Strahlen der konkreten Leidenschaft nicht durchleuchtet ist, und wo sich die Keime abweichender Sympathien und Begierden zusammendrängen. Man hält diese Keime aus anerzogener Ehrlichkeit vielleicht in engem Gewahrsam, man gestattet ihnen nicht, sich gleich zu entwickeln, aber man ist sich ihres Vorhandenseins fortwährend bewußt und man fühlt, daß sie bald zu Macht und Größe erwachsen würden, wenn man sich ihrer Entfaltung nicht widersetzte. So anstößig das klingen mag, ich muß es doch sagen: man kann sogar gleichzeitig mehrere Individuen mit annähernd gleicher Zärtlichkeit lieben und man braucht nicht zu lügen, wenn man jedes seiner Leidenschaft versichert. Ob man auch in ein bestimmtes Wesen noch so verliebt ist, man hört doch nicht auf, für den Einfluß des ganzen Geschlechts empfänglich zu sein. Das keuscheste liebende Weib bleibt ein Theil der allgemeinen Weiblichkeit, wie der ehrlichste liebende Mann ein Theil der allgemeinen Männlichkeit der Menschheit bleibt; er wie sie fühlt immer die natürliche Anziehung des entgegengesetzten Geschlechts und unter nur einigermaßen günstigen Umständen kann diese allgemeine Anziehung ganz gut der Ausgangspunkt einer neuen Sonderneigung zu einem bestimmten Individuum werden, wie ja auch die erste Liebe in der Regel wohl nichts anderes war als die Zusammenfassung und Übertragung der bevorstehenden allgemeinen Neigung zum andern Geschlecht auf eine bestimmte Verkörperung desselben, gewöhnlich die erste, die man näher zu kennen Gelegenheit hatte. Dabei habe ich, das sei ausdrücklich wiederholt, keusche Frauen und ehrliche, selbstbeherrschungsfähige Männer vor Augen. Von den Weibern, die mit der Anlage zur Dirne, von den Männern, die als oberflächliche Lüstlinge geboren sind und deren Zahl eine weit größere ist, als die kodifizirte Moral sich gerne eingesteht, spreche ich gar nicht. Die unbedingte Treue liegt nicht in der Menschennatur. Sie ist keine physiologische Begleiterscheinung der Liebe. Daß man sie fordert, ist ein Ausfluß des Egoismus. Das Individuum will im geliebten Wesen ganz allein herrschen, es völlig ausfüllen, in demselben blos sein eigenes Spiegelbild antreffen, weil diese Wirkung auf einen andern Menschen seine höchste Bethätigung und mächtigste Auslebung ist und das Selbstgefühl oder die Eitelkeit sich keine vollkommenere Befriedigung denken kann als die Beobachtung einer solchen Wirkung. Wie man sich besonders tief und ganz als volles Individuum empfindet, wenn man einen Gegner im freien Kampfe von Kraft gegen Kraft, von Menschen gegen Menschen überwunden hat, so fühlt man seine eigene Individualität ungemein intensiv und zugleich wonnig, wenn man sich als Vollbesitzer eines andern Individuums erkennt. Treue fordern, heißt also nichts anderes als die Grenzen der eigenen Wirkung auf ein Fremdes abgehen und sie erfreulich weit finden wollen und Eifersucht ist die furchtbar schmerzhafte Erkenntniß der Beschränktheit dieser Grenzen. Man kann darum eifersüchtig sein, ohne im Geringsten selbst zu lieben, wie man einen Genossen im Kampfspiel besiegen wollen kann, ohne ihn zu hassen; es handelt sich in beiden Fällen um die Eitelkeit, sich als tüchtiges Individuum zu fühlen; es ist eine Frage der Überlegenheit, der Kraft psychischer Gymnastik; und ebenso fordert man Treue, ohne sich darum nothwendig zur Gegenseitigkeit verpflichtet zu fühlen. Der beste Beweis, daß die Treue nicht durch den natürlichen Zweck der Liebe, nicht durch das Interesse der Fortpflanzung gefordert wird, sondern eine der Menschheit künstlich anerzogene Bedingung, ein Ausfluß der Eigenliebe, Eitelkeit und Selbstsucht ist, liegt eben in diesem Mangel an Gegenseitigkeit. Handelte es sich um eine organische Nothwendigkeit, so würde man die Treue des Mannes als eine ebenso unverletzliche Pflicht empfinden wie die des Weibes; da es sich aber um eine Forderung des Egoismus handelt, so mußte im Laufe der Sitten-Entwickelung der Egoismus des Stärkeren den Schwächeren besiegen und da der Mann der Stärkere ist, so hat er in der That Gesetz, Sitte, Anschauungsweise und Empfindung zu seinem eigenen Vortheile und zum Nachtheile des Weibes gebildet. Er heischt vom Weibe unbedingte Treue, räumt ihm aber nicht dasselbe Recht gegen ihn ein. Wenn sie sich vergißt, so hat sie eine Todsünde begangen, die mit der allgemeinen Verachtung noch am gelindesten bestraft ist; wenn er dasselbe thut, so hat er sich einen liebenswürdigen kleinen Fehltritt zu Schulden kommen lassen, für den das Gesetz keine Strafe hat, über den die Gesellschaft gutmüthig und diskret lächelt und den die Frau unter Thränen und Umarmung verzeiht, wenn sie ihn überhaupt ernst genommen hat. Und diese Ungerechtigkeit des zweifachen Maßes wird doch noch größer durch den Umstand, daß es von vornherein nicht dasselbe ist, ob das Weib oder ob der Mann eine Untreue begeht; denn wenn das Weib sündigt, so ist sie dabei wohl immer passiv; sie wird von einem Mann, also einer Gewalt, die von ihrem Willen unabhängig ist, in Versuchung geführt; sie unterliegt einer Kraft, die stärker ist als ihr Widerstand; wenn aber der Mann sündigt, so ist er aktiv; er thut es, weil er es thun will; Joseph kommt außer der Bibel nicht oft vor und Frau Potiphar gehört zu den Seltenheiten; der Mann ergreift die Initiative zur Sünde, er sucht sie freiwillig auf und begeht sie mit konzentrirter Absicht und Vorbedacht, mit Kraftaufwand und trotz ihm entgegengesetzter Abwehr. Am weitesten ist der rohe Egoismus des Mannes in dieser Richtung in Indien gegangen. Er faßt da seinen Besitz des Weibes als einen so absoluten auf, er treibt da die Forderung der Treue so grausam weit, daß er die Witwe, ja sogar die Braut zwingt, dem gestorbenen Gatten oder nur Bräutigam auf den Scheiterhaufen zu folgen, während der Mann, wenn er seine Frau verliert, sich nicht ein Haar zu krümmen braucht und unter allgemeiner Billigung vom Leichenbegängniß geradenwegs in ein neues Brautgemach einkehren kann. In Europa hat die Selbstsucht des Mannes nicht ganz so zerstörende Formen angenommen. Nur einige sentimentale und hysterische Poeten haben sich bis zur Forderung einer das geliebte Wesen überlebenden Treue verstiegen und die mondsüchtigen Gestalten von Liebenden gezeichnet, die sich selbst zu ewiger Trauer und Enthaltung verurtheilten, weil sie das geliebte Wesen nicht heiraten konnten oder weil es starb. Wenigstens waren diese Schwärmer so gerecht, die Gleichheit der Verpflichtung bei beiden Geschlechtern zu dekretiren, und ihre Toggenburgs sind ebenso oft Männer wie Frauen. Leser von gesunder Empfindung glauben indeß nicht an diese Gestalten und halten sie, sofern sie überhaupt der Wirklichkeit nachgebildet sein sollten, für krankhaft entartete Naturen, die aus der Noth eines pathologischen Seelen- oder Leibeszustandes eine poetische Tugend machen. Die europäische Sitte gibt nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch zu, daß Liebe aufhören, daß man wiederholt lieben könne und daß die Treue die Liebe nicht zu überdauern brauche, denn sie läßt zweite Ehen verwitweter Gatten als vollmoralische, vor jeder gesellschaftlichen Kritik bestehende Verhältnisse gelten. Wäre jemals und irgendwo das Weib stärker gewesen als der Mann, so hätte ohne Zweifel unsere ganze Anschauung von der Treue eine andere Gestalt. Dann wäre die Leichtfertigkeit des Weibes eine reizende Schwäche, der etwas von der Natur eines Scherzes anhaften würde, während die Untreue des Mannes eine tragische Bedeutung hätte. Man würde vom Manne dieselbe Keuschheit außerhalb des Eheverhältnisses und insbesondere vor der Ehe fordern wie heute vom Weibe. Don Juan würde Donna Juana heißen und wir würden im Theater über den armen unschuldigen Othello Thränen vergießen, den die wild eifersüchtige Desdemona erwürgen würde.
Ich verkenne nicht, wie ungeheuer schwierig es ist, die Frage der Treue und der natürlichen Dauer der Liebe aus unserer heutigen Moral und Sitte heraus peremptorisch zu lösen. Wenn man die höheren Thiere betrachtet, so erkennt man unschwer, daß bei ihnen die Leidenschaft des Männchens für das Weibchen nur während der Werbung und allenfalls noch während der Zeit, die man die Flitterwochen oder den Honigmond nennen könnte, dauert und daß die gegenseitige Treue, die nur bei einzelnen Arten überhaupt besteht, die Geburt des Jungen nicht überlebt. Unser menschlicher Stolz mag sich noch so ungeberdig dagegen sträuben, wir müssen doch nach diesen Analogien aus dem Thierreich, das eben von denselben Lebensgesetzen regiert ist wie die Menschenart, welche sich biologisch in nichts von ihm unterscheidet, die menschlichen Gepflogenheiten untersuchen, wenn wir wissen wollen, ob sie natürlich und nothwendig oder künstlich und willkürlich sind. Diese Vergleichungsmethode würde also zur Annahme führen, daß die Liebe sich in der Erreichung ihres Ziels und der Erfüllung ihrer Aufgabe erschöpft wie der Hunger in der Stillung des Speisebedürfnisses und daß auch für das Weib mit der Geburt des Kindes ein Akt seines Liebelebens vollkommen abgeschlossen sei und ein neuer Akt mit anderer Rollenbesetzung beginnen könne. Wenn dies, wie es den Anschein hat, der wahre und natürliche Zustand der menschlichen Empfindung ist, so hat die dauernde Einzelehe in der That keine organische Berechtigung, sie muß dann in den meisten Fällen nach den Flitterwochen oder doch nach der Geburt eines Kindes zur leeren Form und Lüge werden und zu Konflikten zwischen Neigung und Pflicht führen, auch wenn sie ursprünglich immer aus Liebe geschlossen wurde. Allerdings drängen sich sofort eine Menge Gegengründe gegen eine Beweisführung auf, deren logische Schlußfolgerung nur die Abschaffung der Ehe und die Rückkehr zur freien Paarung der Thiere sein könnte. Der nächstliegende Gegengrund ist dieser: Es mag ja sein, daß der Mensch seinem natürlichen Instinkte nach polygamisch ist, daß er den Hang hat, gleichzeitig oder nacheinander zu mehr als einem Individuum des entgegengesetzten Geschlechts in Beziehung zu treten; aber er hat auch andere Instinkte und es ist ja gerade die Aufgabe der Gesittung, den Willen des Menschen so zu erziehen, daß er seine Instinkte bekämpfen und unterdrücken kann, wenn er sie als schlecht erkennt. Dieses Argument ist leider kein überzeugendes; denn zunächst müßte erst noch bewiesen werden, daß der polygamische Instinkt für den Bestand und die Entwickelung der Menschheit schädlich wäre, weil man nur in diesem Falle berechtigt wäre, ihn schlecht zu nennen; ferner aber gibt es doch zu denken, daß die Gesittung, der die Bezähmung anderer Instinkte gelungen ist, tatsächlich nie dahin gelangte, den polygamischen Instinkt zu unterdrücken, trotzdem die Kirche ihn mit Höllenstrafen bedrohte, das Gesetz ihn verdammte, die offizielle Moral ihn für unsittlich erklärte; der Mann lebt in den Kulturländern trotz der gesetzlichen Monogamie in polygamischem Zustande; es dürfte da kaum unter hunderttausend Männern einen geben, der auf seinem Sterbebette beschwören könnte, im ganzen Leben nicht mehr als ein einziges Weib gekannt zu haben; und wenn von den Frauen der monogamische Grundsatz strenger befolgt wird, so ist es nicht immer, weil es ihnen an der Neigung gefehlt hat, sich über denselben hinwegzusetzen, sondern weil die Schutzwächter der offiziellen Moral das Weib schärfer überwachen und seine Auflehnungen härter bestrafen als die des Mannes; ein Instinkt aber, der den Gesetzen und der Sitte so hartnäckig und erfolgreich widersteht, muß doch wohl tiefer begründet sein als die anderen Instinkte, deren die Zivilisation Herr werden konnte. Mehr Gewicht hat ein anderes Argument. Die menschliche Liebe, obwol in der Hauptsache auch nichts anderes als der Drang nach dem Besitze eines bestimmten Individuums zum Zwecke der Fortpflanzung, ist doch noch mehr; sie ist auch eine Freude an der geistigen Art des geliebten Wesens; sie ist auch Freundschaft. Dieses Element der Liebe überdauert deren physiologisches Element. Gewiß ist das, was man für das geliebte Wesen nach dem Besitze empfindet, nicht dasselbe wie vorher. Aber es ist noch immer ein Hohes und Mächtiges und es kann den Wunsch, ja die Nothwendigkeit eines lebenslangen Beisammenseins begründen, das dann seine Berechtigung nicht mehr vom natürlichen Zwecke der Ehe, der Vermehrung, sondern von dem Bedürfnisse eines geistig höher entwickelten Wesens nach dem Umgange mit einem Wesen von ähnlicher Gesinnung ableiten würde. Auch im treuesten Gemüthe, und wenn die Leidenschaft ursprünglich noch so mächtig war, erfährt die Liebe nach den Flitterwochen oder nach dem ersten Kinde diese Umgestaltung, in welcher sie die Fessel der Ehe noch immer nicht als lästig empfindet, freilich ohne ferner ein völlig sicherer Schutz gegen das Aufflammen einer neuen Leidenschaft zu sein. Es treten aber noch andere Umstände hinzu, die dem Willen den Kampf gegen die polygamischen Instinkte erleichtern. Wenn das Zusammenleben zweier Menschen, die einander einen Augenblick lang geliebt und dadurch bewiesen haben, daß sie annähernd harmonisch zu einander gestimmt sind, eine Weile gedauert hat, so wird es zu einer Gewohnheit, welche die Treue mächtig unterstützt. Man empfindet vielleicht nach einiger Zeit gar nichts mehr für einander, nicht die geringste Liebe, ja nicht einmal Freundschaft, aber die Gemeinschaft hält doch und hält sogar recht fest. Wie beim Vorgang der Versteinerung alle ursprünglichen Bestandtheile, einer Baumwurzel etwa, allmälig verschwinden und durch ganz fremde erdige Stoffe ersetzt werden, die sich jedoch sorgsam in die Stelle der verdrängten organischen Moleküle einstehlen und die allgemeine Form unverändert lassen, bis vom inneren Gefüge gar nichts mehr vorhanden ist, ohne daß die äußere Gestalt der Wurzel im Geringsten gelitten hätte, so ersetzt bei dieser Umgestaltung der Gefühle die Gewohnheit unmerklich Partikelchen für Partikelchen der sich verflüchtigenden Liebe und wenn diese vollends verschwunden ist, bleibt doch die Form des Lebensbundes der beiden Menschen erhalten; und ob diese Form auch starr und kalt und todt ist, so ist sie doch dauerhaft und widerstandskräftig. Ist die Ehe mit Kindern gesegnet, so überträgt sich die Zärtlichkeit der Eltern auf diese und aus ihrem Gemüthe erwächst eine neue Liebe, welche sich gleichmäßig um beide Eltern schlingt und sie fest zusammenhält wie eine Kletterpflanze, die mit ihren Ranken zwei Bäume umwuchert und unlösbar verknüpft und sie noch mit frischem Laub und Blüthen bedeckt, wenn sie bereits abgestorben und verdorrt sind. Überdies wird man in dem Maße, in welchem die Ehe dauert, älter, der Liebesdrang wird aus natürlichen Ursachen schwächer und wenn auch die Keime neuer Neigungen nicht absterben, nicht verschwinden, so wird es dem Willen und der Einsicht doch mit jedem Jahre leichter, ihre Entwickelung zu verhindern. Endlich bleibt nach einem Morgenroth der Liebe für den ganzen Lebenstag eine süße und tiefe Erinnerung zurück, die zur Dankbarkeit für das Wesen, das man geliebt hat, stimmt und ebenfalls zum Festhalten an demselben drängt. Aus allen diesen Gründen mag es thunlich sein, die Menschen in der Regel monogamisch und für die ganze Lebensdauer zu paaren, auch wenn ihre leibliche und geistige Anlage sie ursprünglich auf eine Mehrzahl gleichzeitig oder aufeinander folgender Verhältnisse angewiesen haben sollte. Immerhin wird es jedoch zahlreiche Fälle geben, in welchen gegen eine neue Leidenschaft nichts vorhält, nicht die Freundschaft, welche die Liebe begleitet, nicht die Dankbarkeit, welche sie übrig läßt, nicht die Gewohnheit, nicht das reifere Alter, nicht das Band des gemeinsamen Elternantheils an Kinderexistenzen; in diesen Fällen muß die Rücksicht der Treue schwinden und die Ehe hört auf, berechtigt zu sein. Die Gesellschaft gibt die Möglichkeit solcher Fälle ja zu und hat in den fortgeschrittenen Ländern die Scheidung eingeführt. Damit ist aber die Natur noch nicht zu ihrem Rechte gelangt. Das heuchlerische Vorurtheil, welches sich an die strenge monogamische Theorie festklammert, verfolgt die geschiedenen Gatten und heftet ihnen einen kleinen Schandfleck an, der sie zu einer Kategorie nicht mehr vollkommen ehrbarer Personen herabsetzt. Dadurch werden schwächere und furchtsamere Naturen veranlaßt, die Lüge der Wahrheit vorzuziehen, lieber das Gemahl zu betrügen, als sich ehrlich mit demselben auseinanderzusetzen, und das gesellschaftliche Los Geschiedener durch feiges Sichverkriechen in eine besudelte und zum Verbrechen gewordene Ehe zu vermeiden. Die Gesellschaft muß sich daran gewöhnen, in Geschiedenen muthige und wahrhafte Menschen zu achten, die sich zu keinem Ausgleiche mit ihrem Gewissen herbeilassen und entschlossen die Form zerbrechen, sowie sie inhaltslos geworden ist und ihre natürlichen Gefühle sich gegen sie auflehnen. Erst die Verallgemeinerung dieser Anschauungsweise würde dem Menschenherzen seine Rechte, der Ehe die Wahrheit und Heiligkeit wiedergeben, der Liederlichkeit und Flattersucht den Vorwand der Liebe entreißen und den Ehebruch zu einem abscheulichen Verbrechen machen, das nur noch die gemeinsten und verworfensten Naturen begehen würden.
Die letzten Untersuchungen galten der Frage, ob ein Bund mit einem einzigen Wesen und auf Lebensdauer überhaupt der Menschennatur entspricht und nicht früher oder später nothwendig zur Lüge werden muß, auch wenn er ursprünglich immer nur aus Liebe geschlossen wird. Wie weit sind wir aber noch von einem Zustande entfernt, welcher der Gesellschaft die Nothwendigkeit einer solchen Untersuchung nahe legen würde! Ehe man an die Lösung des äußersten anthropologischen Problems schreiten kann, ob der Mensch nur einmal liebt und seine Paarungsinstinkte nur in einem einzigen Wesen des entgegengesetzten Geschlechts ausleben darf, müßte zunächst erreicht werden, daß jede Ehe Liebe zur Voraussetzung habe und der offizielle Bund mindestens im Augenblicke, wo er geknüpft wird, auf gegenseitiger Anziehung der Verbundenen beruhe. Dem widersetzt sich aber die gegenwärtige wirthschaftliche Organisation der Gesellschaft. So lange der Mann nicht sicher ist, immer Arbeit und durch diese ein angenehmes Auskommen zu finden, wird er stets in der Ehe seinen materiellen Vortheil suchen, oder wenn er einen solchen nicht erlangen kann, sie scheuen und ihr die schmutzigen Befriedigungen, welche ihm die Prostitution anbietet, oder flüchtigere Verhältnisse vorziehen, die ihm keine oder nur geringfügige Verantwortlichkeit auferlegen. Und so lange das Weib auf die Ehe als auf seine einzige Laufbahn und Versorgung angewiesen ist, wird es sich immer in die Ehe stürzen, ohne nach Liebe zu fragen, und nachträglich entweder furchtbar unglücklich sein oder sittlich zu Grunde gehen. An dem schrecklichen Lose, welches die Zustände besonders dem Weibe bereiten, werden die Quacksalber nichts ändern, welche die sogenannte Frauenemanzipation als Heilmittel der schwersten Gesellschaftskrankheit anpreisen. Ich lasse mich auf eine tiefere Kritik des Emanzipations-Gedankens gar nicht ein; nur in einigen Worten will ich bemerken, daß bei voller Gleichstellung beider Geschlechter der Kampf ums Dasein noch scheußlichere Formen annehmen würde als gegenwärtig. Ist das Weib erst die ernste Rivalin des Mannes auf vielen Gebieten der Erwerbsthätigkeit, so wird es, da es das schwächere Wesen ist, rücksichtslos zermalmt. Die Galanterie ist eine Erfindung des Wohlstands und Müßiggangs. Die Noth und der Hunger rotten dieses Gefühl aus, auf welches die Frauen doch rechnen, wenn sie sich eine Welt ausmalen, in der das Weib mit dem Manne um den Bissen Brod ringt. Die schwersten und gerade die nothwendigsten Arbeiten wird der Mann allein verrichten müssen; er wird sie höher stellen als die, welche das Weib leistet, und wie heute die Frauenarbeit mit einem geringeren Preise entlohnen als seine eigene. Warum? Weil er die Kraft hat, seine Anschauung zum Gesetz zu erheben und seinen Willen durchzusetzen; aus keinem andern Grunde. Das Weib hat eine hohe und vornehme Stellung in der Kultur, weil es sich bescheidet, weil es zufrieden ist, die Ergänzung des Mannes zu sein und seine materielle Überlegenheit anzuerkennen. Versucht es indeß, diese in Frage zu stellen, so wird es alsbald gezwungen, deren Wirklichkeit zu empfinden. Das voll emanzipirte Weib, das sich vom Manne unabhängig, in vielen Fällen wegen aufeinander stoßender Interessen als dessen Feindin fühlt, muß alsbald in die Ecke gedrückt sein. Das ist dann der Kampf, der rohe Kampf, und wer in demselben siegt, das ist nicht zweifelhaft. Die Emanzipation bringt nothwendig Mann und Weib in das Verhältniß einer höheren und niederen Race – denn der Mann ist für den Kampf ums Dasein besser ausgerüstet als das Weib – und das Ergebniß ist, daß die letztere von der ersteren in eine schlimmere Abhängigkeit und Sklaverei gebracht wird, als die ist, aus welcher die Emanzipation das Weib befreien soll. Das Ziel der Emanzipationsprediger ist, dem Weibe zu ermöglichen, auch ohne den Mann zu leben und auf die Ehe zu verzichten. Diese Methode, einen Übelstand zu heilen, hat denselben Werth wie die eines Menschenfreundes, der etwa in einer Hungersnoth mit Vorschlägen hervortreten würde, wie man den Menschen am zweckmäßigsten das Essen abgewöhnen könnte. Es handelt sich darum, den Hungernden zu essen zu geben, nicht sie zu lehren, auf Nahrung zu verzichten. Und nicht der Ehe zu entrathen sollt ihr dem Weibe ermöglichen, ihr seltsamen Anwälte der Opfer unserer Zivilisation, sondern ihr sollt ihm seinen natürlichen Antheil am Liebeleben der Menschheit sichern. Wie ich es im vorigen Kapitel für eine Pflicht der Gesellschaft erklärt habe, für ihre Kinder zu sorgen, ihnen die volle Bildung und, so oft es nöthig ist, den Unterhalt bis zur eigenen Erwerbsfähigkeit zu gewähren, so halte ich es für eine Pflicht der Gesellschaft, ihre Frauen, ihr kostbarstes Zuchtmaterial, vor physischer Entbehrung zu schützen. Das Gemeinwesen schuldet dem Weibe Schutz und Erhaltung. Die Rolle des Mannes im Gattungsleben ist die des Broderwerbers, des Erhalters und Vertheidigers der lebenden Generation; die Rolle des Weibes ist die einer Erhalterin der Art, einer Vertheidigerin der künftigen Generationen, einer Veredlerin der Gattung durch die Zuchtwahl, indem sie unter den Männern den Kampf anregt, dessen Preis sie ist und in dem die tüchtigsten Streiter die kostbarste Beute davontragen. Als Kind muß das Mädchen die Vortheile der allgemeinen Jugenderziehung empfangen, später muß es, wenn es ihrer bedarf, Anspruch auf volle Versorgung, sei es im Elternhaus, sei es in eigenen Anstalten, haben. Die Gesellschaft muß dahin gelangen, es als eine Schmach zu empfinden, daß innerhalb eines zivilisirten Gemeinwesens ein Weib, sei es jung oder alt, schön oder häßlich, Noth leiden kann. In einer nach diesen Grundsätzen umgestalteten Gesellschaft, in der das Weib keine Sorge um das tägliche Brot hat und weiß, daß es vor Entbehrung gesichert ist, es mag heiraten oder ledig bleiben, in der die Kinder von der Gesammtheit erhalten und gebildet werden, in der der Mann nicht hoffen darf, sich um Geld so viel Frauen kaufen zu können, als er braucht, weil die Noth nicht länger seine Kupplerin sein wird, in einer solchen Gesellschaft wird das Weib bald genug nur noch aus Neigung heiraten, das Schauspiel von alten Jungfern, die keinen Mann gefunden haben, ein ebenso seltenes sein wie das von alten Junggesellen, die in einem freien Leben der Liederlichkeit alle Annehmlichkeiten ohne die sittlichen Lasten und Einschränkungen der Ehe genießen, und die Prostitution sich nur noch aus der sehr kleinen Minderzahl degenerirter Geschöpfe anwerben, deren ungeregelte Triebe keine Zucht vertragen, die nur in Verworfenheit und Schande athmen können und für die Arterhaltung ohnehin völlig werthlos sind. Wenn materielle Erwägungen nicht mehr bei der Eheschließung mitsprechen müssen, wenn das Weib frei wählen kann und sich nicht verschachern muß, wenn der Mann gezwungen ist, um die Gunst des Weibes mit seiner Persönlichkeit und nicht mit seiner Stellung und Habe zu werben, so kann die Eheeinrichtung von einer Lüge zur Wahrheit werden, bei jeder Umarmung waltet dann der hehre Geist der Natur, jedes Kind wird mit der Liebe seiner Eltern wie mit einem Heiligenschein geboren und empfängt als kostbarstes Wiegengeschenk die Kraft und Lebenstüchtigkeit, die jedes Paar, das sich in Wahlverwandtschaft zusammengefunden hat, seinen Sprößlingen vererbt.