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Nur durch die Annahme, daß der Mensch seiner Anlage nach ein Herdenthier und das Zusammenleben mit seinen Artgenossen eine Grundbedingung seines Daseins sei, werden uns einige seiner ursprünglichsten und wesentlichsten Seeleneigenheiten verständlich, die durchaus unerklärlich blieben, wenn wir ihn als von Natur einsam und selbständig auffassen müßten und wenn das Bild, das mangelhaft unterrichtete, aber mit lebhafter Einbildung begabte Anthropologen uns vom Urmenschen entwerfen und das ihn uns als wilden, gattungsfeindlichen, allein durch die Wälder schweifenden, mit Keil und Steinmesser bewaffneten Jäger zeigt, in irgend einem Augenblicke seiner Entwickelung wahr gewesen wäre. Einzig auf seiner Herdenthier-Natur beruht sein Solidaritätstrieb, den die selbstische Ausbildung der Kultur schwächen und verdunkeln, aber nicht unterdrücken konnte; dieser Trieb wäre zwecklos und darum unberechtigt bei einem Wesen, das durch seine Beschaffenheit und Bedürfnisse auf ein schroff individuelles, allseitig von der Gattung losgelöstes, blos sich selbst, seine eigenen Neigungen und Interessen berücksichtigendes Sonderdasein hingewiesen wäre. Der Solidaritätstrieb bewirkt, daß der Mensch bei allen seinen Entschlüssen und Handlungen unausgesetzt die Vorstellung der Gattung, der Herde, gegenwärtig hat, sich fragt: »was werden die Übrigen dazu sagen?« und der Aufnahme, die seine Worte, Thaten und Unterlassungen bei ihnen voraussichtlich finden werden, den größten Einfluß auf sein Denken und Thun einräumt. Die öffentliche Meinung wirkt auf jeden Einzelnen mit einer ungeheuren Gewalt, der er sich schlechterdings nicht entziehen kann. Wenn er sich selbst anscheinend gegen sie empört, so gleicht diese Auflehnung gewissen loyalen Oppositionen, die vom schlecht unterrichteten an den besser zu unterrichtenden König appelliren; sie hat ausgesprochen oder uneingestanden den Zweck, nicht sich von der öffentlichen Meinung unabhängig zu machen, sondern sie so umzugestalten, daß sie mit dem Rebellen übereinstimmt. Auch wer, was man so nennt, seine eigenen Wege geht, der thut dies in der geheimen Hoffnung, auf diesem einsamen Pfade, wenn auch noch so spät, wenn auch in noch so weiter Entfernung, schließlich doch wieder zu einer Menge zu gelangen. Timon sucht sich selbst zu überreden, daß ihm die Menschen völlig gleichgiltig geworden seien; am Grunde seines ganzen Thuns und Seins liegt aber dennoch die Sehnsucht nach einer Menschheit, die seinen Wünschen und Neigungen entspräche und in der auch er Einer von den Vielen, ein Theil der Menge sein könnte. Der Wunsch, der öffentlichen Meinung zu gefallen, ist in der Regel sogar mächtiger als der Selbsterhaltungstrieb; denn zahllose Menschen opfern ihr Leben, nicht in der Vertheidigung eigener Interessen, nicht in der Bekämpfung einer persönlichen Gefahr, sondern um etwas zu thun, was die Übrigen preisen; mit anderen Worten: die öffentliche Meinung ist es, die Heroen macht. Die gewöhnlichen, die Durchschnitts-Menschen, diejenigen, die dazu geboren sind, im Rudel mitzutraben, wo es am dicksten ist, und die Richtung des Zugs, die Wahl der Weidegründe, die Feststellung der Stunde des Aufbruchs und die Ruhe und die Führung in Angriff und Abwehr Anderen zu überlassen, haben ihr ganzes Leben hindurch für ihre Handlungsweise überhaupt keine anderen Beweggründe als die Rücksicht auf die Übrigen; sie wagen nie, eigenen Eingebungen zu folgen oder persönlichen Geschmack zu haben; im Größten wie im Kleinsten gehorchen sie der öffentlichen Meinung; von der Farbe ihrer Kravatte bis zur Wahl ihrer Frau wird Alles mit Hinblick auf die Genossen bestimmt, von denen sie ihr ängstliches Auge keinen Nu abwenden. Die mächtigen Individualitäten, die natürlichen Leitthiere der Herde, wagen es eher, sie selbst zu sein und unbekümmert um fremden Beifall oder Tadel eigenen Eingebungen zu gehorchen. Aber die tiefere Analyse läßt erkennen, daß auch sie nur von der Hoffnung aufrecht erhalten werden, die Zustimmung, wenn nicht Aller, doch Einiger, der Besten, wenn nicht gleich, doch irgend einmal zu erlangen. Es gehört ein außerordentlicher Muth dazu, sich laut zu einer persönlichen Überzeugung zu bekennen, wenn man weiß, daß man sich mit derselben fast zu seiner ganzen menschlichen Umgebung in feindlichen Gegensatz bringt; die Sache des niedern Volks zu vertheidigen, wenn man wie Catilina als Aristokrat geboren ist; Rom den Krieg zu erklären, wenn man wie Luther ein geliebtes Mütterchen hat, das ihn zu ewigem Höllenfeuer verdammt glaubt; aber diese Helden hatten den Trost, sich in Übereinstimmung mit Minderheiten zu fühlen, die sie zu Mehrheiten machen zu können hofften. Andere einsame Heroen sahen unter ihren Zeitgenossen selbst die sympathischen Minderheiten nicht; allein sie konnten sich doch an der treuen Zustimmung eines einzigen Wesens, eines Weibes, Freundes, Kindes zur Ausdauer im Kampfe gegen die herrschenden Meinungen stärken; wenn ihnen selbst dieser Trost fehlte, so wurden sie von der Überzeugung gestärkt, daß die Menschheit doch einst gerechter und einsichtsvoller sein und ihre Andenken feiern werde, wenn sie schon die Lebenden gesteinigt hat. Allein ich halte es für völlig undenkbar, daß ein Mensch im Vollbesitze seiner Geistesfähigkeiten, um einer persönlichen Eingebung oder Überzeugung zu gehorchen, sich andauernd in heftigen Gegensatz zur öffentlichen Meinung bringe, wenn er absolut sicher ist, daß seine Handlungsweise in aller Ewigkeit, so lange es überhaupt Menschen auf Erden gibt, von Allen verdammt werden wird, eine Änderung der Beurtheilung seiner Handlungsweise vollkommen undenkbar ist, nie auch nur die kleinste Minderheit mit ihm übereinstimmen, alle Menschen ihn ewig als Verräther, Feigling oder Schurken verachten und verabscheuen würden – den Helden, den Blutzeugen, der diese endgiltige Ausstoßung ohne Appell aus der Menschheit, diese grauenhafte Vereinsamung in Gegenwart und Zukunft, diesen Haß in Aller Augen, dieses Ballen aller Fäuste, diese unabänderliche Abkehr aller Seelen für eine von ihm für richtig gehaltene Anschauung erduldet, gibt es nicht unter Menschen, die nicht geistesgestört sind. Die öffentliche Meinung ist nichts anderes als das Gattungsgewissen, wie das Gewissen nicht anderes ist als die öffentliche Meinung innerhalb des Individuums. Der in Allen lebende gemeinsame Stammeserhaltungstrieb macht, daß die öffentliche Meinung, soweit sie ihrem natürlichen Gefühle überlassen und nicht durch künstliche Vorurtheile verdunkelt ist, in der Regel nur solche Handlungen, die das Wohl der Gattung mittelbar oder unmittelbar fördern, gutheißen und nur solche verdammen wird, aus denen sich ein naher oder ferner Schaden für die Gattung ergibt. Umgekehrt ist das Gewissen der Anwalt der Gattungsinteressen in jeder einzelnen Menschenseele, der Vertreter, den die öffentliche Meinung innerhalb jedes Individuums besitzt und durch welchen das Individuum immer mit der Menschheit zusammenhängt und wenn es ganz allein auf einer wüsten Insel mitten im Ozean lebte. Der kategorische Imperativ ist nichts anderes als die Stimme dieses inneren Vertreters der öffentlichen Meinung. Wer das, was er als Recht anerkannt hat, auch dann thut, wenn es gegen seinen individuellen Vortheil geht, ja wer in der Erfüllung einer Pflicht unbemerkt und ohne Hoffnung, jemals gewürdigt zu werden, einen obskuren Heldentod stirbt, der handelt so, weil er einen immer gegenwärtigen Zeugen seines Heroismus in sich fühlt, weil er eine Stimme hört, die ihm laut im Namen der Menschheit Dank und Anerkennung spendet, weil er die sichere Empfindung hat, daß die öffentliche Meinung voll mit ihm ist und nur durch den Zufall verhindert wird, ihm ihre Zustimmung auch objektiv auszudrücken. Kategorischer Imperativ, Gewissen, öffentliche Meinung sind also wesentlich dasselbe: Formen, in welchen die Solidarität der Gattung dem Individuum zum Bewußtsein gelangt.
In früheren Zeiten war die öffentliche Meinung etwas Ungreifbares; sie hatte keinen Körper, keine deutlichen Umrisse; sie entstand, man wußte nicht wie; sie setzte sich aus tausend kleinen Zügen zusammen: aus dem flüchtigen Worte des Prinzen und vornehmen Herrn, aus dem bedeutungsvollen Kopfschütteln des Gevatters Schneider in der Innungs-Kneipe, aus dem Geschwätze der Frau Base beim Nachmittagsbesuche, auf dem Markte, in der Spinnstube; eine bestimmte Gestalt nahm sie nur in der, wohl nicht durch das geschriebene Gesetz, aber durch die Sitte eingesetzten Ehren-Gerichtsbarkeit an, welche jeder Stand, namentlich aber jede geschlossene Körperschaft über die eigenen Mitglieder übte und deren eine Höherberufung ausschließendes Urtheil den Betroffenen sicherer moralisch vernichtete als das Erkenntniß einer bestellten Gerichtsbehörde. Heute ist die öffentliche Meinung dagegen eine fest organisirte Gewalt und im Besitze eines Organs, das von aller Welt als ihr bevollmächtigter Vertreter anerkannt wird, und dieses Organ ist die Presse. Die Bedeutung der Presse in der modernen Kultur ist eine ungeheuere; ihr Vorhandensein, der Platz, den sie im Leben des Einzelnen wie der Gesammtheit einnimmt, gibt unserer Zeit weit mehr ihren Charakter als alle die wunderbaren technischen Erfindungen, welche die materiellen und geistigen Bedingungen unseres Daseins gründlich umgestaltet haben. Die hohe Entwickelung des Zeitungswesens fällt mit diesen Erfindungen zusammen und ist eine ihrer Wirkungen; es ist darum schwer, sich unsere heutigen Zeitungen von diesen Erfindungen gesondert zu denken; man mache aber den Versuch: man stelle sich unser Jahrhundert einmal im Besitze der Eisenbahn, des Telegraphen, der Photographie und der Kruppschen Kanonen, aber ohne andere Zeitschriften als die wöchentlichen Anzeige- und Rezensions-Blättchen des vorigen Jahrhunderts und dann stelle man es sich mit der alten Postkutsche, der zehntägigen Entfernung zwischen Berlin und Paris, der Talgkerze mit der Lichtscheere, dem Steinfeuerzeug und der Radschloßflinte, aber im Besitze der heutigen politischen Tageblätter vor; man wird dann finden, daß unsere Zeit in jenem Falle den früheren Zeiten weit mehr gleichen würde als in diesem, daß der eine Zug, den das Vorhandensein unserer Presse in die Physiognomie der zeitgenössischen Kultur bringt, diese Kultur kräftiger von allen früheren Kulturen unterscheidet als alle übrigen Züge, die das moderne Leben charakterisiren. Die Bedeutung der Presse ist von keiner Seite bestritten. Ein französischer Staatsmann hat sie die »vierte Gewalt im Staate« genannt, nämlich eine Gewalt, die mit den drei anderen, der Krone, der Pairs- und der Abgeordnetenkammer, Gesetze gibt und regiert, ein Ausspruch, welcher von Leuten, die nicht französisch können, als »sechste Großmacht« übersetzt wurde. Es ist sicher, daß heute auf die Dauer in keinem europäischen Staate ohne die Mitwirkung und trotz dem Widerstande der Presse regiert werden kann oder Gesetze aufrecht zu erhalten sind. Ein anderer Franzose, Girardin, hat in einem Anfall paradoxaler Laune die Macht der Presse geleugnet. Kurzsichtige Betrachtung wird ihm Recht geben, weitsichtige über ihn die Achsel zucken. Gewiß, ein bestimmtes Blatt wird in einem bestimmten Falle seinen Willen oft nicht durchsetzen können; selbst der ersten Zeitung der Welt gelingt häufig nicht einmal die Entfernung eines groben Bureaudieners aus einem öffentlichen Amt, geschweige denn die Verhinderung des Zustandekommens eines Gesetzes, die Erhaltung oder der Sturz eines Ministeriums, die Durchsetzung einer bestimmten Politik. Wenn aber alle verbreiteten Blätter des Landes mit Ausdauer einem gewissen Ziele zustreben, wenn sie nicht zu konkrete, sondern etwas allgemein ausgedrückte Gedanken unermüdlich durch Monate, durch Jahre wiederholen, ihre Leser immer wieder auf ihren Gesichtspunkt führen, so gibt es schlechterdings nichts, was sie nicht schließlich durchsetzen können, so gibt es die Regierung, das Gesetz, die Sitte, ja die Weltanschauung nicht, die ihnen widersteht.
Worauf beruht nun die kulturelle Bedeutung, worauf der Einfluß der Presse? Man hat es versucht, die Vermittlung des Geschäftsverkehrs als die wichtigste Rolle derselben hinzustellen. Mit einem Geiste, der die Kulturbedeutung der Zeitung in ihren Anzeigespalten studirt, brauchen wir uns nicht in Erörterungen einzulassen. Auch daß sie Neuigkeiten mittheilt, gibt ihr nicht ihre Macht. Als bloße Chronik der Tagesereignisse hätte die Zeitung keine andere Stellung als der Bartscheerer an der Ecke, der auf diesem Gebiete, wenigstens was die örtlichen Vorfälle betrifft, ihr Nebenbuhler ist. Ein Blatt, das blos aus Nachrichten in trockener, objektiver Fassung bestände, würde schwerlich je eine Regierung beunruhigen, aber auch das Publikum nie bewegen. Man spricht die Presse endlich als die Lehrerin der Massen, die volksthümliche Verbreiterin der Ergebnisse fachwissenschaftlicher Forschung an. Auch damit ist ihre Wirkung nicht entfernt erschöpft, denn erstens ist es mit der Popularisirung der Wissenschaft durch die Tagespresse wirklich nicht weit her und zweitens lehrt die Beobachtung, daß das beste populär-wissenschaftliche Blatt auf den Geist seiner Leser einen ungleich geringeren Eindruck macht, als das schlechteste politische Käseblättchen. Nein; nicht das Inserat, auch nicht die Neuigkeit und selbst nicht der volksthümlich belehrende Aufsatz gibt der Presse ihre Macht im Staate und ihren bestimmenden Einfluß auf die Kultur, sondern ihre Tendenz, der politische oder philosophische Gedanke, der ihr zu Grunde liegt und der nicht blos im Leitartikel sondern auch in der Auswahl und Gruppirung der Neuigkeiten, in der Fassung der fernstliegenden Nachricht, in der Beleuchtung aller verzeichneten Thatsachen mehr oder minder deutlich zum Ausdrucke gelangt. Wäre die Presse eine bloße Erzählerin von Geschehnissen, so stände sie auf der ziemlich niedrigen Rangstufe eines Verkehrsmittels und ihr Platz in der Zivilisation wäre ein sehr geringer. Sie ist aber eine kritische Überwacherin der Tagesvorfälle, sie nimmt es auf sich die Handlungen, ja auch die Worte und selbst die unausgesprochenen Absichten der Menschen zu beurtheilen, diese zu brandmarken oder zu preisen, sie zu ermuthigen oder zu bedrohen, sie der Gesammtheit zur Liebe und Nachahmung zu empfehlen oder als Gegenstand des Abscheus und der Verachtung zu bezeichnen; sie verkörpert in sich die öffentliche Meinung, sie legt sich deren Rechte bei, sie übt deren Strafgewalt bis zu ihrer furchtbarsten Form, der Ächtung und moralischen Vernichtung; sie macht sich zur Handhaberin des objektiven kategorischen Imperativs, sie bestellt sich zum öffentlichen Gewissen der Gesammtheit.
Da drängt sich denn die Frage auf: wer ist es, der die höchsten Attribute der öffentlichen Meinung besitzt? wer rüstet ihn mit denselben aus? woher nimmt er die Berechtigung, im Namen des ganzen Gemeinwesens zu regieren, zu urtheilen, bestehende Einrichtungen umzustürzen, neue Ideale der Moral und der Gesetzgebung aufzustellen? Von wem erhält der Journalist sein Mandat? Diese Frage haben sich die Regierenden beim ersten Auftreten einer im Namen der öffentlichen Meinung wirkenden Presse vorgelegt und weil sie sich dieselbe niemals zu ihrer Befriedigung beantworten konnten, haben sie die Presse immer verfolgt, sie auszurotten oder wenigstens unter ihrer Zuchtruthe zu halten, sie zu knebeln und zu fesseln gesucht. Der Instinkt der Menge war diesen Bestrebungen der Regierungen stets entgegengesetzt und die Preßfreiheit überall eine der ersten und stürmischsten Forderungen der Völker. Dieser wie fast jeder volksthümliche Instinkt war an sich richtig und im Interesse der Gesammtheit begründet; in seiner Anwendung aber erwies er sich als äußerst schlechter Logiker. Wenn die Völker Preßfreiheit forderten, so glaubten sie damit diese Vorstellung auszudrücken: »Die öffentliche Meinung, das heißt der vereinigte Gedanke und das vereinigte Gefühl, Rechtsbewußtsein und Gewissen Aller, ist in allen Fragen die höchste Autorität und die letzte Urtheilsinstanz des Gemeinwesens; es ist monströs, dieser höchsten Autorität die Freiheit des Wortes nehmen oder einschränken, diese letzte Instanz an der Verkündigung ihres Urtheils verhindern zu wollen; das bedeutet die Vergewaltigung Aller, es ist die Anmaßung eines Einzelnen oder einer Minderheit, den eigenen Willen gewaltsam an die Stelle des Willens Aller zu setzen und das kann ein Gemeinwesen, dessen Mitglieder freie Männer sind und ihre Geschicke selbst bestimmen wollen, nicht dulden.« Indem die Völker so dachten, begingen sie den schweren logischen Fehler, ihre Folgerungen aus einem Vordersatze zu ziehen, den sie als bewiesen annahmen, während es sich gerade darum handelt, seine Richtigkeit zu beweisen. Die Annahme, von der die volksthümliche Forderung der Preßfreiheit ausgeht, ist die, daß öffentliche Meinung und Presse dasselbe seien. Das ist es aber eben, was die Regierungen immer aufs entschiedenste bestritten, zweifellos mit unendlich größerer Berechtigung, als die Völker es behaupteten.
Vor der öffentlichen Meinung beugen sich Regierungen immer ganz so wie Individuen, wenn sich dieselbe legitim und unzweideutig offenbart. Gelangt nun aber in der Presse die öffentliche Meinung legitim und unzweideutig zum Ausdruck? Wer diese Frage beantworten will, der vergegenwärtige sich, was eine Zeitung ist, wie sie entsteht, wie sie gemacht wird. Der erstbeste Mensch von der Straße, ein Lastträger, ein verbummeltes Genie, ein Spekulant kam, wenn er Geld hat oder eine Erbschaft macht, oder Kommanditäre findet, eine Zeitung größten Styls gründen, zahlreiche Journalisten von Beruf zu einem Redaktions-Stab um sich schaaren und sozusagen von einem Tage auf den andern zu einer Macht werden, die auf Minister und Parlament, auf Kunst und Literatur, auf Börse und Waarenhandel einen gewaltigen Druck ausübt. Eine Gegenbemerkung liegt hier nahe: wenn die neue Zeitung eine Macht werden soll, so kann sie dies nur auf eine Weise: indem sie große Verbreitung findet; das setzt voraus, daß sie von Talenten geschrieben wird und daß sie Gedanken ausspricht, die dem Publikum sympathisch sind; einerseits ist es nun nicht wahrscheinlich, daß Talente sich die Oberleitung und den beherrschenden Einfluß eines verächtlichen Individuums gefallen lassen werden; wir haben damit eine Bürgschaft für die Moral des Zeitungsgründers; andererseits ist nicht anzunehmen, daß das Publikum eine Zeitung massenhaft abonniren wird, wenn es nicht mit den Redakteuren einverstanden ist; wir haben damit eine Bürgschaft dafür, daß die Zeitung wirklich die öffentliche Meinung zum Ausdruck bringt; indem der Leser eine Zeitung abonnirt, wählt er gleichsam deren Redaktion zu seinen Wortführern; die Abonnentenliste ist das Mandat der Redaktion; jede Pränumerationserneuerung bedeutet zugleich eine Erneuerung der Vollmacht des Redakteurs, im Namen seiner sämmtlichen Leser zu sprechen. Das klingt sehr einleuchtend, ist aber vom ersten bis zum letzten Worte falsch. Die Erfahrung lehrt, daß man sich um Geld die Mitwirkung von charakterlosen Talenten immer und überall erkaufen kann. Man kennt zu Dutzenden Beispiele ehemaliger Annoncensammler und Zeitungsausträger, Wucherer und Bankbrüchiger, abgestrafter Verbrecher und Glücksspieler, Volksverhetzer und roher Ignoranten, die große Blätter gründeten, glänzende Federn für ihren Dienst anwerben konnten und ihr Unternehmen im Geiste ihrer eigenen Gemeinheit, Unsittlichkeit und Gesinnungslosigkeit leiteten. Auch das Argument der Abonnentenzahl verträgt keine Kritik. Ein gewissenloser Unternehmer braucht nur auf die erbärmlichen und verächtlichen Instinkte, welche in der Menge neben den edlen und guten Trieben vorhanden sind, zu spekuliren, um sicher zu sein, daß er Leser und Käufer findet. Wer erinnert sich nicht der Blätter, welche die unflätigste Zote pflegen, oder dem verleumderischen Klatsch über Privat-Personen und -Verhältnisse gewidmet sind, oder durch skandalöse Ausschreitungen in der Schreibweise zu wirken suchen, oder durch schlüpfrige Bilder die Geilheit der Leser reizen, oder einfach eine Lotterie darstellen und den Käufern Geldgewinnste oder andere Prämien versprechen? Alle diese Blätter können mit solchen mehr oder minder schändlichen Mitteln zu großer Verbreitung und damit zum entsprechenden Einfluß gelangen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß ihre Verbreitung eine größere und damit ihr Einfluß ein stärkerer sein wird als der von anständigen Blättern, die nur erzählen, was sie wissen, die nur lehren, wenn sie selbst unterrichtet sind, die feste moralische Grundsätze haben und nie zu den gemeinen Instinkten ihrer Leser sprechen, sondern deren ideale Anlagen zu entwickeln bemüht sind. Ist dieser Einfluß nun berechtigt? Hat der Redakteur des Zoten- oder Privatskandalblattes wirklich ein giltiges Mandat, vor hunderttausend Lesern die Regierung anzugreifen, die Handlungen eines Bürgers zu beurtheilen, Stimmung zu machen und der öffentlichen Denkweise allmälig oder mehr oder weniger unmerklich ein Rinnsal von bestimmter Richtung zu graben? Wir stehen da vor einem der seltsamsten Widersprüche der neuzeitlichen Kultur. Die moderne Anschauungsweise lehnt sich gegen jede Autorität im Staate auf, die nicht vom Volke eingesetzt ist. Man läßt nicht einmal in der Monarchie das reine Gottesgnadenthum gelten, sondern schränkt die durch die Geburt erlangte Macht des Königs wenigstens theoretisch durch den Willen der Wähler ein. Der Minister muß vom Staatsoberhaupt ernannt, vom Parlamente genehmigt sein. Der Abgeordnete hat sich um die Stimmen seiner Mitbürger zu bewerben. Blos der Journalist, dessen Macht praktisch der der Gesetzgebung und der Regierung gleichkommt, der die Befugnisse des Abgeordneten und Ministers übt, braucht von Niemand ernannt und von Niemand gewählt zu werden. Er ist die einzige Autorität im Staate, die keiner Bestätigung von irgend einer Seite bedarf. Er macht sich selbst zu dem, was er ist, und kann seine Gewalt üben, wie es ihm beliebt, ohne für ihre Mißbräuche oder schwersten Irrthümer im Geringsten verantwortlich zu sein. Man sage nicht, daß dieses Bild übertrieben ist. Leichtfertige oder gewissenlose Journalisten haben schon Revolutionen und Kriege vorbereitet und direkt herbeigeführt, über ihr eigenes Volk oder fremde Nationen Unheil und Verwüstung gebracht. Wären sie Könige gewesen, man hätte sie weggejagt; wären sie Minister gewesen, man hätte ihnen einen Prozeß um den Kopf gemacht; als Journalisten blieben sie vollkommen unbehelligt und waren die Einzigen, die ohne Schaden aus dem allgemeinen Ruin hervorgingen, den sie allein verursacht hatten. Ist es nicht erstaunlich, daß man eine solche Willkürherrschaft, einen solchen Despotismus ohne den leisesten Versuch einer Auflehnung duldet, während man alle anderen Tyranneien leidenschaftlich bekriegt? Die Anomalie wird nicht geringer, wenn wir vom politischen Einflusse der Presse absehen und uns an den gesellschaftlichen halten. Der Richter, dem wir die Befugniß einräumen, über unsere Ehre, unser Vermögen, unsere Freiheit zu schalten, bedarf nach ernsten Studien und mehrjähriger Übung einer regelrechten Ernennung; er ist an strenge Gesetze gebunden; seine Verirrungen oder Ausschreitungen werden unverzüglich geahndet, in den meisten Fällen wohl auch gutgemacht. Der Journalist nun vermag ebenfalls die Ehre und das Vermögen eines Bürgers zu schädigen, ja zu vernichten; er kann selbst dessen persönliche Freiheit beeinträchtigen, indem er ihm den Aufenthalt an einem bestimmten Orte unmöglich macht; er aber übt diese richterliche Strafgewalt, ohne den Beweis vorhergegangener Studien zu liefern, ohne von irgend jemand bestellt zu sein, ohne Bürgschaft der Unparteilichkeit und gewissenhafter Untersuchung zu bieten. Es ist wahr, man behauptet, die Presse heile die Wunden, die sie schlage, und der Bürger ist grundsätzlich gegen den Journalisten durch das Preßgesetz gewaffnet. Jene Behauptung und diese Thatsachen stehen auf schwachen Füßen. Ein Zeitungsangriff gegen einen Privatmann kann diesem einen schlechterdings unheilbaren Schaden zufügen. Alle Berichtigungen und Widerrufe sind unvermögend, ihm volle Genugthuung zu gewähren; denn mancher Leser wird wohl den Angriff, aber nicht die in einer andern Nummer des Blattes erschienene Abwehr zu sehen bekommen, mancher aus Oberflächlichkeit die letztere nicht gelesen haben und in jedem Falle bleibt der Angegriffene bei einem kleineren oder größeren Theile des Publikums, vor dem man seine Ehre oder sein Ansehen geschädigt hat, hoffnungslos und dauernd angeschwärzt. Mit dem Prozeß des Privaten gegen eine Zeitung verhält es sich ähnlich. Ein Blatt hat tausend Mittel, einem Einzelnen das Leben unerträglich zu machen, ohne ihm eine Handhabe zu einer Prozeßklage zu bieten, und selbst wenn der Journalist so ungeschickt war, sich einer Verurtheilung auszusetzen, so steht die Sühne in der Regel in keinem Verhältnisse zur Schuld.
Die Sachlage erklärt es, daß nicht nur alle Reaktionäre, sondern selbst viele Freisinnige offene oder geheime Feinde der Presse sind und um so erbittertere, als die Macht der Presse sie zwingt, ihre Gefühle denn doch zu verbergen und Freundschaft und Schätzung zu heucheln. Die meisten Leute sehen ein, daß in der Presse nicht nothwendig die öffentliche Meinung, vor der allein sie sich beugen wollen, zum Ausdruck kommt, sondern ebenso oft und vielleicht noch öfter die Unwissenheit, der Leichtsinn, die Bosheit, die Beschränkung oder die Unsittlichkeit eines Einzelnen, allein sie gehen aus Feigheit dennoch auf die Lüge ein, die Presse als das bevollmächtigte Organ der öffentlichen Meinung anzuerkennen, ja sie mit der letztern völlig zu identifiziren. Wie ist diese Lüge zur Wahrheit zu machen? Wie ist es zu verhindern, daß nicht autorisirte Usurpatoren eine Gewalt an sich reißen, welche nur die wirkliche öffentliche Meinung durch ausdrücklich ermächtigte Wortführer zu üben berechtigt ist? Das ist eine der wichtigsten politischen und kulturellen Fragen der Gegenwart, welche die Regierungen seit Jahrzehnten vergebens zu lösen suchen. Es ist allerdings ein bequemes Mittel, die Freiheit der Presse einzuschränken, aber dieses Mittel ist thöricht, es führt nicht zum Zwecke, es ist unsittlich und es setzt einfach die Willkür eines Beamten an die Stelle der Willkür eines Journalisten. Es ist unmöglich, die Freiheit des Denkens durch Gesetze zu beeinträchtigen und es begünstigt nur die allgemeine Heuchelei und Verlogenheit, wenn man den Menschen verhindert, all das, was er denkt, auch offen auszusprechen. Wozu aber die Gesammtheit berechtigt ist, das ist, dem Einzelnen zu verbieten, das, was er denkt, im Namen der Gesammtheit statt in seinem eigenen Namen vorzutragen und seinen individuellen Gedanken damit ein Gewicht und eine Tragweite zu geben, die ihnen in keiner Weise zukommen. Der Tag wird hoffentlich anbrechen, an dem alle Leser gebildet und urtheilsfähig genug sein werden, um diese Unterscheidung zwischen einer Einzelstimme und dem dröhnenden Worte der öffentlichen Meinung, das heißt der Gesammtheit, selbst zu machen. Dann werden blos die Blätter gelesen werden, in welchen wirklich die öffentliche Meinung zum Ausdruck gelangt, und diejenigen unbeachtet bleiben, in welchen nur eine individuelle Eitelkeit sich am eigenen Geschwätz ergötzt; dann werden blos die Journalisten, denen das Volk um ihre Geistes- und Charaktereigenschaften willen das Recht zugestehen wird, zu predigen und zu lehren und zu urtheilen, Einfluß besitzen, die anderen aber wegen ihrer Anmaßung einer öffentlichen Rolle einfach ausgelacht werden. Dann wird es aber auch überflüssig sein, das Recht der ärztlichen Praxis auf approbirte Personen einzuschränken, denn die Menschen werden selbst so vernünftig sein, sich blos bei Männern der Wissenschaft Rathes zu erholen und Quacksalber zu vermeiden. Dann werden überhaupt die meisten Gesetze unnöthig sein, da sie ja in der Regel keinen anderen Zweck haben, als der ungenügenden Einsicht des einzelnen Bürgers mit der weiseren Einsicht des Gesetzgebers zu Hilfe zu kommen. Bis aber die allgemeine Bildung und Urteilsfähigkeit sich zu dieser idealen Höhe entwickelt haben wird, ist ein mäßig bevormundendes Einschreiten der Gesetzgebung denkbar und begründet. Für Bücher, Broschüren oder selbst Maueranschläge oder einzelne Flugblätter, in denen ein Individuum unter seinem eigenen Namen oder unter der Bürgschaft und Verantwortlichkeit eines Verlegers oder Druckers vor das Publikum hintritt und für individuelle Ansichten um Zustimmung wirbt, soll es keine Einschränkung geben, jeder soll auf diesem Wege zu seinen Mitbürgern sprechen und ihnen Alles sagen dürfen, was ihm durch den Kopf geht. Vergreift er sich dabei an der Privatehre eines Bürgers, indem er ihn durch unwahre Behauptungen verleumdet, so soll er dafür zur öffentlichen mündlichen Abbitte und zu einer Berichtigung gezwungen werden, welcher eine anhaltende und weitgehende Publizität gesichert werden müßte, etwa durch monatelange Einschaltung in allen Blättern einer Stadt oder selbst Provinz, durch ebensolange Veröffentlichung in Maueranschlägen und durch häufiges Ausrufen an öffentlichen Plätzen; kann er die Kosten dieser Publizität nicht tragen, so werde er zu langer Zwangsarbeit verurtheilt, durch welche er diese Kosten aufbringen soll. Anders steht die Sache bei periodischen Schriften, welche sich an einen durch Abonnements gesicherten vorausbestehenden Kreis von Lesern wenden und eine fertige, ihrer Zuhörerschaft gewisse Tribüne für Alles bilden, was in ihnen vorgetragen wird. Eine solche Tribüne ist eine öffentliche Einrichtung, sie soll auch der öffentlichen Kontrole unterstehen wie alle anderen öffentlichen Einrichtungen, welche für das leibliche, geistige und sittliche Wohl der Bürger von Bedeutung sind. Um eine öffentliche Schule, eine Apotheke, ein Hospital, ein Theater zu errichten, bedarf man einer Erlaubniß, deren Erlangung von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig ist, welche im Interesse der Gesammtheit gestellt werden. Eine Zeitung müßte mindestens solchen Anstalten gleichgestellt werden. Um eine Zeitung gründen und leiten zu dürfen, müßte man eine Erlaubniß haben; aber nicht die Genehmigung einer Behörde, sondern ein Mandat des Volks. Es wäre gesetzlich festzustellen, daß ein Kandidat, der sich um ein Redakteurs-Mandat bewirbt, ein bestimmtes, seine Reife verbürgendes Alter erreicht haben, völlig unbescholten sein und ein gewisses Maß von Bildung nachweisen müsse. Nur wer im Besitz dieser Eigenschaften wäre, dürfte sich seinen Mitbürgern vorstellen und von ihnen die Wahl zum Redakteur verlangen. Diese Wahl hätte mit Stimmenmehrheit der Wahlberechtigten zu erfolgen. Einmal im Besitze seines Mandats, dürfte der Journalist schreiben, was ihm beliebt; dasselbe ginge ihm aber verloren, wenn er wegen Privatverleumdung verurtheilt würde, und er hätte es etwa alle zehn Jahre durch eine wiederholte Volkswahl erneuern zu lassen. So würde ein Unbekannter oder der Vertreter von Meinungen, welche der Mehrheit der Bürger zuwider sind, schwerlich zu einem Redakteurs-Mandate gelangen, aber diesem unglücklichen Kandidaten wäre es ja unbenommen, als unabhängiger Schriftsteller für seine Ansichten zu wirken. Dem Besitzer eines Mandats würde es wahrscheinlich leichter werden, eine Zeitung zu finden als heute einem diplomirten Arzte, Advokaten, Lehrer oder Ingenieur, zu der Praxis, dem Amt, einem Bahnbau u. s. w. zu gelangen. Ein Mandat hätte für den Verwaltungsbezirk zu gelten, von dessen Hauptorte es ertheilt wurde, also für den Staat, wenn die hauptstädtische Bevölkerung für die Provinz, wenn die Wählerschaft ihres Vororts es votirt hätte u. s. w. Auf weitere Einzelheiten einzugehen, etwa einen förmlichen Gesetzentwurf über den Gegenstand auszuarbeiten, dazu habe ich hier keine Veranlassung. Ich wollte nur in großen Zügen ein System zeichnen, nach deren Verwirklichung der Journalist tatsächlich das Recht hätte, im Namen der Gesammtheit zu sprechen, seine Autorität der des Richters, des Lehrers, des Volksvertreters mit gutem Grunde gleichgeachtet würde und das Volk ihm in aller Form das Mandat übertrüge, sein Wortführer zu sein. Dann wäre die Presse wirklich, was sie jetzt fälschlich zu sein vorgiebt: das legitime Organ der öffentlichen Meinung, und sie würde in der Kultur und im Staatsleben mit Recht den großen Platz einnehmen, den sie heute usurpirt.
Der Unterwürfigkeit fast aller Menschen gegen die öffentliche Meinung verdankt eins der seltsamsten Überlebsel einer längst überwundenen Gesittungsstufe sein Fortbestehen inmitten unserer Kultur, deren alle Begriffe den gewaltsamsten Gegensatz dazu bilden. Dieses Überlebsel ist der Zweikampf. Das Duell beweist, daß der Selbsterhaltungstrieb des Menschen schwächer ist als sein Herdeninstinkt; denn wenn jener stärker wäre als dieser, so würde sich niemals ein Mensch in offenbare und leicht zu vermeidende Todesgefahr begeben, blos damit seine Standesgenossen, von denen jeder einzelne ihm vielleicht vollkommen gleichgültig ist, in ihrer Gesammtheit fortfahren, von ihm eine gute Meinung zu bewahren und sein Anrecht auf einen Platz unter ihnen anzuerkennen. Das Duell ist eine vollständige Leugnung aller Grundsätze, auf welchen unsere heutige Zivilisation aufgebaut ist. Es ist ein roher Einbruch urmenschlicher Barbarei in unsere hochentwickelten Staats- und Gesellschaftseinrichtungen.
Ursprünglich war der Zweikampf gewiß natürlich und berechtigt. Er gehört zu den ersten anthropo- oder vielmehr zoologischen Erscheinungen und ist nichts anderes als die einfachste Form des Kampfes ums Dasein, in dem wir die Quelle aller Entwickelung sehen. Wenn ein Urmensch in einem andern ein Hinderniß für die Befriedigung eines Bedürfnisses oder einer Laune sah, so bekämpfte er ihn ohne Zweifel ungesäumt. Er suchte seinen Nebenbuhler bei einem Weibe, den Plünderer seiner Fruchtbäume, den Eindringling in seine Schlafhöhle oder den Besitzer einer behaglicheren zu verjagen oder zu tödten. Der Kampf wurde um ein ernstes Interesse geführt und alle Waffen waren in demselben gut. Der Stärkere erwürgte den Schwächeren, der Klügere überlistete den Dümmeren, der Wachsame überfiel den Sorglosen im Nachtschlafe. Man setzte sich und das eigene Dasein ganz ein, aber man bezweckte auch die Vernichtung des Feindes. Diesem Zustand, in welchem man unter allen Verhältnissen und allen Menschen gegenüber der Überlegenere sein mußte, wenn man nicht getödtet werden sollte, machte die Ausbildung des Rechtsstaates ein Ende. Gewiß liegt auch dem Rechte die Gewalt zu Grunde und jenes hat seine letzte Wurzeln in der Anerkennung der Thatsache, daß der Schwächere dem Stärkeren weichen und dessen Willen und Gesetz anerkennen müsse. Allein der Fortschritt in der Entwickelung des natürlichen Rechts der Stärkeren zum Rechte der gesitteten Gesellschaft liegt eben darin, daß man das ursprünglich individuelle und konkrete Recht der Kraft zu einem objektiven und allgemeinen Grundsatze erhebt, dessen Bethätigung nicht mehr von der Kraft eines gegebenen Individuums abhängt. Der Barbar sagte: »Dieses Eigenthum gehört mir, weil ich stark genug war, es an mich zu reißen und niemand darf es mir nun nehmen, denn ich würde den tödten, der es versuchen wollte.« Dieser Ausspruch war richtig, wenn der Barbar die Macht hatte, ihn zu verwirklichen; er war falsch, wenn er einem Stärkeren gegenüber angewendet werden sollte. Die Gesittung kam nun und verallgemeinerte ihn. Sie sagte: »Das Eigenthum gehört nun einmal dir, und niemand darf es dir nehmen.« Jetzt war der Ausspruch in allen Fällen wahr. Seine Richtigkeit hing nicht mehr von der Stärke desjenigen ab, der ihn anwenden wollte. Wenn das Individuum zu schwach war, sein Eigenthum gegen einen kräftigeren Angreifer zu schützen, so rief es die Gesellschaft zu Hilfe und diese war doch stärker als der stärkste Einzelne. Das objektive Recht unterdrückt also das subjektive, das in der Macht wurzelt, und das Individuum hat es nicht nur nicht mehr nöthig, mit seiner persönlichen Kraft für sein Recht einzutreten, es darf dies nicht einmal, wenn es sich nicht gegen das Grundgesetz der Gesellschaft vergehen will, welches dieser allein die Vertheidigung der von ihr aufgestellten Rechtsgrundsätze gestattet und jede Selbsthilfe der Individuen ausschließt.
Von dieser Rechtsentwickelung ist der Zweikampf völlig unberührt geblieben. Das Gesetz schützt das Eigenthum, es schützt nicht das Leben. Die Sitte und das geschriebene Recht gestattet nicht, daß ein Mensch dem andern eine Uhr aus der Tasche nehme, wohl aber gestattet die Sitte und das geschriebene Recht verhindert nicht wirksam, daß derselbe Mensch den andern, wenn er ein besserer Fechter oder Schütze ist, ersteche oder todtschieße, also ihm das Leben nehme, das doch wohl werthvoller ist als die Uhr. So lange die Menschen an persönliche Götter und eine von ihnen beherrschte Weltordnung glaubten, hatte der Zweikampf noch einen gewissen Sinn. Er bedeutete da theoretisch nicht das Faustrecht; die Gegner und ihre Zeugen gingen auf den Kampfplatz nicht mit der Annahme, daß der Stärkere den Schwächeren umbringen, sondern mit der Überzeugung, daß Gott dem Rechte den Sieg geben und der Ungerechte nicht gegen einen vielleicht schwächeren menschlichen Gegner, sondern gegen die unter allen Umständen überlegene übernatürliche Gewalt des unsichtbaren Weltherrschers und Weltrichters zu kämpfen haben werde. Bei einer solchen Weltanschauung war der Zweikampf eine Rechtseinrichtung und nicht ein Triumph der Gewalt. Diesen rechtlichen Charakter verliert er aber in einer Gesellschaft, die an keinen persönlichen Gott und an keine übernatürlichen Eingriffe in die Verhältnisse von Einzelwesen glaubt. Der aufgeklärte Duellant weiß, daß er keinen unsichtbaren Beschützer bei sich hat, wenn er sein gutes Recht vertheidigt, und er fürchtet nicht gegen Gott selbst zu fechten, wenn er das Schwert für eine ungerechte Sache zieht. Da ist denn der Zweikampf eine cynische Verfälschung aller Rechtsgrundsätze und eine Verkündigung des Urweltsgesetzes, welches das Leben des Schwächeren ohne Vorbehalt in die Hand des Stärkeren legt.
Wie in allen ihren übrigen Thorheiten und Vorurtheilen ist aber die Gesellschaft auch in ihrem Verhalten dem Zweikampfe gegenüber völlig inkonsequent. Wenn sie schon gestattet, ja geradezu fordert, daß ihre Mitglieder auf den Standpunkt des menschenfressenden Wilden zurückkehren und frei einem jeden ans Leben gehen, dessen Nase ihnen nicht gefällt, so müßte sie logischer Weise auch zugeben, daß dies unter den Bedingungen des wilden Urdaseins geschehe. Wenn man schon im allerwesentlichsten Punkte aus der Zivilisation heraustritt, so ist es lächerlich und unsinnig, sich noch mit irgendwelchen Rücksichten der Zivilisation zu beschweren und in der Freiheit der Bewegung hindern zu lassen. Es steht mir frei, Kulturmensch oder Rothhaut zu sein; wenn ich mich aber für das letztere entscheide, so muß ich doch ganz Rothhaut sein dürfen. Ich will dann das Recht haben, im Kampfe mit einem Gegner alle Vortheile zu benutzen, die ich mir verschaffen kann. Ich will ihn überfallen und ihm das Messer in den Rücken pflanzen, wenn ich besorge, ihn nicht anders bestehen zu können; ich will nachts sein Haus anzünden und ihm in der Verwirrung die Gurgel abschneiden. Auf dasselbe mache ich mich gefaßt und bin auf meiner Hut. Mag der Gegner sich auch vorsehen, soviel er kann. Auf welchen Grundsatz will sich die Gesellschaft berufen, um mir diese Art des Kampfes zu verbieten, um mich zu verhindern, den Hinterhalt und den rothen Hahn zu meinen Bundesgenossen zu machen? Doch nicht auf die bestehende Rechtsordnung? Wenn diese gelten soll, so muß ich zunächst die Möglichkeit ausschließen, daß zwei Menschen einander um eines in der Regel leichtfertigen und geringen Anlasses willen mit Mord und Todtschlag bedrohen.
Aber nein. Die Gesellschaft erkennt die Logik nicht an. Sie befiehlt Selbsthilfe und verbietet zugleich, daß sie wirkungsvoll sei. Der Duellant soll sein Leben wie die Rothhaut auf der Hand tragen, aber er soll nicht wie die Rothhaut allen natürlichen Eingebungen des Selbsterhaltungstriebes gehorchen. Er soll nur halb wildes Thier werden und halb raffinirter Kulturmensch bleiben. So will es die Gesellschaft in ihrer Weisheit und Gerechtigkeit. Ein muthwilliger Tagedieb ist dir auf den Fuß getreten, du möchtest ihn am liebsten verachten oder seine Flegelhaftigkeit höchstens mit einer Maulschelle bestrafen? Das steht dir nicht frei. Du mußt ihn fordern, mußt dein Leben aufs Spiel setzen. Aber du hast dein Leben über Bücher gebückt zugebracht und nie ein anderes Mordwerkzeug gehandhabt als eine Nagelscheere, während der Beleidiger ein Müßigganger ist, der seit seiner Kindheit alle seine Zeit auf Fechtstuben und Schießständen verbracht hat? Du bist wirklich zu bedauern, denn da hast du kein Glück; aber du mußt losgehen. Du hast heilige Pflichten in der Welt, du bist der Ernährer deiner Familie, deine Eltern, deine Frau und Kinder müssen zu Grunde gehen, wenn du stirbst, während dein Beleidiger allein dasteht oder reich ist und mindestens nur sein eigenes Leben, nicht aber das seiner Theuern mit auf den Kampfplatz nimmt? Das kümmert niemand. Schlage dich, tödte oder stirb, denn thust du es nicht, so bist du ein Feigling und entehrt. Wenn du fällst und dein Weib bettelt und deine Kinder zu Dirnen oder Verbrechern werden oder alle zusammen Hungers sterben, so hast du von Niemand Mitleid oder Hilfe zu erwarten. Wenn du aber aus dieser Rücksicht dein Leben nicht aufs Spiel setzen willst, so spucken wir dir Alle ins Gesicht. So spricht die Gesellschaft und wer in ihr leben will, der muß sich vor diesen scheußlichen Anschauungen beugen.
Die Schuld am Fortbestehen der Einrichtung des Zweikampfs trägt zweifellos in hohem Maße der Militarismus. Es ist kein Zufall, daß gerade in den stehenden Armeen das Duell ein ausdrückliches Gesetz ist und der Offizier mit Schmach und Schande aus dem Heere gejagt wird, wenn er sich nicht so leicht schlägt, wie er eine Zigarre anzündet. Der Krieg ist auch eine Anrufung der Stärke als letzten Quelle des Rechts und somit eine zeitweilige Aufhebung der Zivilisation und Rückkehr zum Urzustande. Was Wunder, daß Menschen, deren Lebensberuf der Krieg ist, geneigt sind, dessen Grundsätze auch in ihr Privatleben hineinzutragen und in ihrem Säbel und Revolver das einzige Gesetzbuch des gesellschaftlichen Verkehrs zu sehen, wie Kanone und Gewehr das einzige Gesetzbuch der Völkerbeziehungen sind? Da finden wir aber auch ein Mittel, dieses rohe Vorurtheil zu bekämpfen. Die beste Methode, ihnen Unsinn einleuchtend nachzuweisen und damit zu widerlegen, ist, ihn bis zu seinen äußersten Konsequenzen zu verfolgen. Es müßten sich entschlossene Männer finden, die, wenn man sie herausfordert, die Forderung annehmen, den Gegner auf beliebige Weise unterdrücken, sich dann verhaften und vor Gericht stellen lassen und zu den Richtern so sprechen: »Ich bin ein Kulturmensch und kein Rennthierjäger der Steinzeit. Meine Anschauungen sind die der Zivilisation. Ich achte das Gesetz und halte den Richter für die einzige Autorität, der es zukommt, dasselbe anzuwenden und seine Verletzung zu strafen. Da ist nun aber ein Mensch gekommen und hat mich in die Nothlage versetzt, mir selbst ein Gesetz zu machen, mein eigener Richter zu sein und meinen Schutz in den Waffen zu suchen. Mit einem Worte, er hat die normalen Bedingungen des zivilisirten Daseins für mich aufgehoben und mir den Krieg erklärt. Ich konnte nicht anders darauf eingehen. Ich habe aber den Krieg genau nach den Vorschriften geführt, die für die Kriege zwischen Kulturvölkern gelten. Die Aufgabe der Diplomatie eines Volks, das einen Krieg führt, ist, für Alliirte zu sorgen. Ich habe mir also Bundesgenossen gesucht. Ich beglückwünsche mich zu meinem diplomatischen Erfolge. Es gelang mir, mit zwei Circus-Preisringern, drei Fechtmeistern und fünf Schützenkönigen eine Allianz zu schließen. Die Aufgabe der Heeresleitung ist, dem Feinde überall mit Übermacht entgegenzutreten. Diese Aufgabe habe ich gewissenhaft erfüllt. Der Sieg ist demjenigen sicher, der rasch mobilisirt und geschickter operirt. Meine Mobilisation war eine raschere als die des Gegners. Ich habe ihn mit meinen Verbündeten überfallen, als er sich dessen am wenigsten versah. Er beklagte sich, daß ich ihn vom Ort und von der Zeit der Begegnung nicht im Voraus verständigt habe. Dieser Anspruch macht mich lachen. Ich habe in keinem modernen Lehrbuche der Kriegswissenschaft gefunden, daß es üblich sei, zu Entscheidungsschlachten Stelldichein zu geben. Wie immer war Gott mit den stärkeren Bataillonen. Wir haben unseren Feind übel zugerichtet. Wir hätten ihn tödten können, thaten es aber nicht. Wir wollten bis ans Ende zivilisirte Kriegführende bleiben. Dem Besiegten wurde eine entsprechende Schätzung auferlegt. Er hatte meine Kriegskosten, das heißt den Lohn meiner Verbündeten, und diesen etliche Flaschen Wein zu bezahlen. Bis zur Erfüllung dieser Friedensbedingungen hielten wir ihn besetzt, das heißt unter unseren Fäusten. Als er die Kriegsentschädigung entrichtet hatte, ließen wir ihn laufen. Das ist Alles. Da man mir einen Privatkrieg aufgenötigt hat, so habe ich ihn nach allen anerkannten Regeln diplomatisch, strategisch, taktisch und finanziell geführt.«
Der so spräche, würde wahrscheinlich verurtheilt werden, etwa wegen Erpressung oder körperlicher Verletzung. Aber das schadet nichts. Jeder Fortschritt wird mit Opfern erkauft. Für die Denkfreiheit haben sich unzählige edle Männer foltern und verbrennen lassen. Einige Freiheitsstrafen dürfen nicht in Betracht kommen, wenn sie der einzige Preis sind, um den der Triumph der Gesittung über die Rohheit und der Vernunft über den Unsinn zu erlangen ist. Wenn sich nur hundert ernste und entschlossene Männer in einem Land opfern und das Duell auf diese Weise ad absurdum führen wollten, so wäre ein bestialischer Brauch der wildesten Barbarei bald ausgerottet, den unsere Zeit des Rechts und der Gesittung so zärtlich hegt.
Neben den großen – wie viele kleine Lügen durchsetzen und durchwuchern unser ganzes Leben und tragen gleich einer Schimmelvegetation in alle Theile derselben Verderbniß und Fäule! Aber es ist ja nicht anders möglich. Wenn man in Lügen geboren wird und aufwächst, beständig von Lügen umgeben ist, lügen muß, so oft man öffentlich den Mund aufthut oder zu den staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen handelnd in Beziehung tritt, wenn man die Gewohnheit hat, immer anders zu sprechen und zu thun, als man fühlt und denkt, den beständigen Widerspruch zwischen den inneren Überzeugungen und den äußeren Lebensformen als etwas Selbstverständliches zu dulden, die Heuchelei als Weltklugheit und Bürgerpflicht und die Ehrlichkeit als Extravaganz zu empfinden, wie soll man da ein gerader Charakter bleiben, in den menschlichen Verhältnissen aufrichtig und im Privatleben wahr sein? Man lügt denn auch auf der Promenade und im Salon, wie man in der Kirche, in der Wählerversammlung, auf dem Standesamte und auf der Börse lügt.
Aller gesellschaftlicher Verkehr hat den Charakter der Verlogenheit. Jener hat seine Wurzeln in der Herdenthiernatur und dem Solidaritätstriebe des Menschen. Er ist ursprünglich aus dem Drange desselben hervorgegangen, sich von Artgenossen umgeben zu sehen und die Vereinsamung als einen ihm unnatürlichen Zustand zu vermeiden. Die Formen des Verkehrs lassen noch diesen Ursprung erkennen. Sie deuten Freude am Beisammensein und sympathische Theilnahme der Menschen für einander an. Erblickt man einen Bekannten, so grüßt man ihn, das heißt man drückt ihm Wünsche für sein Wohlergehen aus; erhält man einen Besuch, so zeigt man sich darüber erfreut, überredet den Besucher, zu bleiben, dringt in ihn, bald wieder zu kommen; man gibt Feste, um den Nebenmenschen eine Gelegenheit zu mannigfaltigem Vergnügen zu bieten; man veranstaltet Gastmähler zu ihrer Sättigung; man macht ihnen Geschenke; wenn ihnen etwas Trauriges oder Heiteres widerfährt, so eilt man zu ihnen, um sie zu trösten oder sich mit ihnen zu freuen; hat man sie eine Weile nicht gesehen, so sucht man sie auf, um sich von ihrem Wohlergehen zu überzeugen und zu fragen, ob sie keiner Dienste bedürfen. Das ist der theoretische Sinn unserer Umgangsformen. Thatsächlich aber ist ungefähr jede Berührung eines Menschen mit seinem Nachbar eine Heuchelei und Unwahrheit. Wir wünschen einem Vorübergehenden einen guten Tag und würden am liebsten hören, er habe beim nächsten Schritt beide Beine gebrochen. Wir fordern einen Besucher auf, bald wiederzukommen, und haben bei seinem Anblick dieselbe Empfindung, wie wenn wir unversehens eine Blindschleiche berühren. Wir veranstalten Feste und laden zu ihnen Leute, die wir verachten, die wir hassen, denen wir hinter dem Rücken alles Böse nachsagen, oder, die uns im besten Falle so gleichgültig sind, daß wir nicht einen Handschuh ausziehen möchten, wenn wir ihnen mit dieser geringen Anstrengung ein Vergnügen bereiten könnten. Wir gehen zu Festen Anderer, verbringen Nachtstunden, die wir tausendmal lieber dem Schlafe widmen möchten, mit albernem Geschwätz, lächeln verbindlich, während uns der Gähnkrampf fast überwältigt, drechseln Komplimente, von denen wir kein Wort glauben, danken der Hausfrau für ihre liebenswürdige Einladung, für die wir sie im Herzen zu allen Teufeln wünschen, versichern den Hausherrn unserer beständigen Ergebenheit und lassen uns am nächsten Morgen von unserem Diener verleugnen, wenn er etwa kommt, uns um eine ernste Gefälligkeit zu bitten. Leute, die wir verabscheuen, besuchen wir, blos weil wir ihnen den Besuch schulden; wir machen um Weihnachten oder bei anderen Gelegenheiten Geschenke und ärgern uns schwarz darüber, zu solchen Auslagen gezwungen zu sein; wir verkehren in anscheinender Intimität mit Leuten, von denen wir alles Böse denken und sagen und von denen wir wissen, daß sie uns gegenüber ganz so handeln. Durch diese innere Unwahrhaftigkeit wird uns das gesellschaftliche Zusammenleben, das theoretisch die Ergänzung des fragmentarischen Einzellebens und die Vermehrung des individuellen Wohlbefindens bezweckt; zu einer Quelle beständigen Unbehagens, und so oft wir mit den Nebenmenschen in Berührung kommen, bringen wir davon Langeweile, Ärger, Neid, Verachtung, Beschämung, Hohn, kurz die widerwärtigsten und peinlichsten Empfindungen heim.
Und doch verurtheilt man sich freiwillig zu diesen Unannehmlichkeiten, und die meisten Menschen aus den sogenannten besseren Ständen gehen ganz in dem Gesellschaftsleben auf, von dem sie wohl wissen, daß es ihnen weder Freuden, noch Anregungen, noch Erhebungen gewähren kann. Was veranlaßt sie zu dieser unaufhörlichen anstrengenden Komödie, in der sie lächeln müssen, wo sie die Zähne fletschen möchten, und mit Leuten schön thun, die ihnen den Tag verleiden, an dem sie ihnen vor die Augen kommen? Die Selbstsucht, welche wir als Grundgedanken aller heutigen Einrichtungen kennen gelernt haben. Der Eine, der noch die Welt zu erobern hat, läuft zu Festen und Empfängen, zu Nachmittagsthees und Abend-at homes, um Bekanntschaften zu machen, die er zu Gönnerschaften zu züchten trachtet, um eine gute Partie aufzujagen, um seinen Ruhm zu pflegen, um sich durch die Schwächen und Fehler der Anderen sicher und bequemer fördern zu lassen, als es durch die Bethätigung eigener Vorzüge möglich wäre. Der Andere, der bereits eine Stellung errungen hat, verurtheilt sich zu den Mühen und Geldopfern der Repräsentation, um gegen Ranggenossen zu intriguiren oder sie einfach zu ärgern, um den Leuten einen hohen Begriff von seinem Reichthum, seinem Ansehen und Einflusse beizubringen, um Hofmacher um sich zu versammeln, kurz um seine Eitelkeit mannigfach zu befriedigen. Im dicksten Menschengewühle sehen diese Geschäftsleute nur eine einzige Person: ihre eigene; im lebhaftesten Gespräche, während sie auf zehn Stimmen zu horchen, den Gedankengang von zehn Anderen in sich aufzunehmen, ganz von sich abzusehen und im Worte Anderer zu leben scheinen, denken sie nur an eins und hören sie nur eins: ihr Ich. So fälscht der Egoismus auch die harmlosesten Beziehungen der Menschen zu einander und alle Umgangsformen, die vom Solidaritätstriebe geschaffen worden sind, werden zu Lügen, weil rücksichtsloser, selbstsüchtiger Individualismus sie als einziger Inhalt erfüllt.